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RICHARD MÜLLER-FREIENFELS

IRRATIONALISMUS

Kapitel 7

Leipzig 1922 / Verlag von Felix Meiner

(Seitenzahlen im Text am Anfang der Seite in eckigen Klammern mit Link zum Inhaltsverzeichnis)


Inhaltsverzeichnis

zum gesamten Inhaltsverzeichnis

Kap. I.
Grundlegende Verständigung über das Wesen des Erkennens.


Kap. II.
Das natürliche Denken und die Sprache als Erkenntnismittel.


Kap. III.
Das rationalisierende Denken.


Kap. IV.
Das singularisierende Erkennen.


Kap. V.
Das instinktive Erkennen.


Kap. VI.
Die Einfühlungserkenntnis.


Kap. VII.
Das schöpferische Erkennen (Die Intuition).


[216] 1. Das Wesen der schöpferischen Erkenntnis
[219] 2. Die wichtigsten Gebiete des schaffenden Erkennens
[220] 3. Die künstlerische Sonderwirklichkeit u.d. künstlerische Erkennen
[223] 4. Die religiöse Überwirklicbkeit und das religiöse Erkennen
[225] 5. Die sittliche Innenwirklichkeit und das sittliche Erkennen
[226] 6. Rationalismus und schöpferisches Erkennen
[231] 7. Die Irrationalität des künstlerischen Erkennens
[234] 8. Die Irrationalität des religiösen Erkennens
[237] 9. Die Irrationalität des sittlichen Erkennens
[240] 10. Das schöpferische Erkennen als psychologisches Phänomen
[243] 11. Das schöpferische Erkennen und die praktische Wirklichkeit
[244] 12. Das schöpferische Erkennen und die Wissenschaft
[249] 13. Das mathematische Erkennen als schöpferisches Erkennen
[251] 14. Die Überrationalität des schöpferischen Erkennens
Kapitel 7 als Text-File

Kap. VIII.
Die Selbsterkenntnis.


Kap. IX.
Irrationalistische Philosophie.



zum Anfang des Inhaltsverzeichnisses

Kapitel VII.

Das schöpferische (intuitive) Erkennen.

[216]

Tief in uns liegt die schöpferische Kraft,
die zu erschaffen vermag, was sein soll
und uns nicht ruhen und rasten läßt,
bis wir es außer uns oder an uns,
auf eine oder die andere Weise,
dargestellt haben.
Goethe.

1. Das Wesen der schöpferischen Erkenntnis.

Schon in früheren Erörterungen über die Wirklichkeit als Gegenstand der Erkenntnis hatte ich darauf aufmerksam gemacht, daß nicht nur das Wirklichkeit ist, was wir als fertige Objektivität vorfinden, sondern, daß wir auch Wirklichkeit erschaffen, daß auch das Wirklichkeit ist, was werden wird und werden soll. Wirklichkeit liegt nicht nur in der Vergangenheit und Gegenwart, es gibt auch eine Wirklichkeit der Zukunft, an deren Zustandekommen der Erkennende durch sein Erkennen selbst mitwirkt. Insofern ist das Erkennen schöpferisch, nicht nur im Hinblick auf seinen Bewußtseinsinhalt, sondern auch in Betracht der außerbewußten Realität. Wirklichkeit ist also nicht bloß Sache erfahrender Rezeptivität, sondern überempirischen Schaffens, das gewiß stets den Kontakt mit der rezipierten Erfahrung wahren muß, damit es nicht wie ein fundamentloser Bau zusammenstürzt, das jedoch als prinzipiell neues Gebäude über dem Boden der Erfahrung emporwächst. Auch in der bloßen „Möglichkeit” liegt Wirklichkeit, wenn auch keine abgeschlossene. Schöpferisches Erkennen ist Erkennen des Möglichen, soweit dies Erkennen zugleich dazu dient, das Mögliche zu verwirklichen, und zwar im Sinne einer im Subjekt selbst liegenden Notwendigkeit.

Das Moment des Wirkens, das wir als wesentlich bei allem Erkennen fanden, tritt hier selbstherrlich heraus. Während das Ich im rationalisierenden und singularisierenden Denken sich der [217] Außenwelt gegenüber gleichsam empfangend zu verhalten strebt, im instinktiven und einfühlenden Erkennen aktiv sich ihr anpaßt, stellt es sich jetzt kühn über die Außenwelt, indem es sie nach seinem Willen zu formen übernimmt. Nicht mehr als Zuschauer steht der Mensch neben dem Strome des Weltgeschehens, auch nicht bloß als ein Mitgetriebener, der sich darin durch seine Instinkte zu erhalten strebt, schwimmt er darin; nein, er unterfängt sich, dem Strom des Geschehens den Lauf zu weisen, den seine Subjektivität fordert.

Ich betone diesen Begriff der subjektiven Notwendigkeit. Nur dort liegt Schöpfung vor, nur dort erhält sich Geschaffenes, wo vitale Erfordernisse, die allerdings weit über den Umkreis der Individualität hinausgreifen, erfüllt werden. Niemals ist launenhafte Willkür schöpferisch, stets nur der aus vitaler Notwendigkeit aufsteigende Wille, der sich im Schaffen selbst erst seiner bewußt wird. Wo aus Willkür, ohne Notwendigkeit, ein Schaffen versucht wird, haben die Ergebnisse keinerlei Lebenskraft, bleiben leblose Gehäuse. So wenig die Erkenntnis der Erfahrungswelt, obwohl wir auch sie nicht als reines Kopieren, sondern als Gestalten ansahen, ein willkürliches Verfahren ist, sondern in (allerdings wesentlich äußeren) Notwendigkeiten ruht, so wenig ist das schöpferische Verhalten, von dem hier die Rede ist, Kopie oder Willkürprodukt. Nicht in losem Phantasiespiel schafft der Künstler seine Werke, erschaut der Gläubige seinen Gott, stellt der sittliche Führer seine Gebote auf, nein, sie handeln alle im Dienste einer Notwendigkeit, einer Notwendigkeit, die keineswegs bloß in ihrer Individualität wurzelt, sondern in einer tieferen vitalen, bald in individueller, bald in überindividueller Form sich auswirkenden Macht, die allerdings mit dem Intellekt nicht vorauszuberechnen ist. Indem ich also das schöpferische Erkennen als irrational bezeichne, meine ich damit nicht etwas Negatives, also etwas Vernunftwidriges, Chaotisches, Willkürliches; im Gegenteil: ist die Schöpfung vollendet, vermag die Vernunft sogar in hohem Maße, wenn auch niemals restlos, darin eine Gesetzlichkeit zu erkennen. Mit dem Begriffe „irrational” soll [218] hier wie überall ein Positives bezeichnet werden, eine faktische Lebensmacht, ein mit innerer, wenn auch nicht berechenbarer Notwendigkeit sich vollziehendes Geschehen, ein überrationaler Sinn, der sich vor allem in den Werken der Kunst, der Religion, der Sittlichkeit erspüren läßt. Wer in diesen Auswirkungen des Menschengeistes nur Willkür oder Laune sieht, ahnt nichts von ihrer Bedeutung, daß sie nämlich notwendige Äußerungen des schöpferischen Lebens sind, das eine besondere Art des Erkennens sich dienstbar macht.

Wir rühren mit diesen Fragen an große Probleme, an Tatbestände, in denen sich für das sehende Auge zwar nicht eine Vernunft im rationalen Sinne, aber eine Art Übervernunft offenbart, die für uns das eigentliche Subjekt des irrationalen Erkennens ist. Sie offenbart sich in der Geschichte des menschlichen Wirkens, die nicht nach rationalen Gesetzen verläuft und doch keineswegs ein bloßes Chaos ist, sondern innerhalb einer scheinbaren Chaotik einen Sinn, eine Richtung aufweist, die nicht mit dem Verstand gemacht sind und doch unverkennbar sich durchsetzen und einander in ihren Sonderformen merkwürdig ergänzen. In der Geschichte der Künste, der Religionen, der Sittlichkeit, der Wissenschaften, sogar des Wirtschaftslebens und des Staates gibt es unbestreitbar „Entwicklungen” (neben Rückbildungen), die weder aus den Individuen, noch aus einer rationalen „Menschheit” zu verstehen sind. Und indem das Erkennen im Dienst dieser Entwicklungen steht, hat es Anrecht auf den Namen des Schöpferischen im Sinne eines aus innerer Notwendigkeit, von tieferem Sinn getragenen Gestalteus.

Träger aber dieses schöpferischen Erkennens ist nicht „der Mensch” im rationalen Sinne, als überall identisches Subjekt, es sind aber auch nicht die „zufälligen” Individuen, sondern es sind die Einzelmenschen, die zugleich Repräsentanten von Gruppenbildungen sind, Gruppenbildungen, die wiederum untereinander in einem höchst merkwürdigen Verhältnis von Ergänzung und Polarität stehen, durch das der Charakter des [219] Zufälligen fast ganz aufgehoben wird, und wodurch sich eine tiefere Einheitlichkeit des Lebens in einer ganz unrationalen Art abzeichnet, der nachzuspüren einen unendlichen Zauber für den philosophischen Geist hat und ihn einen Sinn im Weltall erahnen läßt, der nicht in rationalen Formeln ausdrückbar noch gar Zufallsprodukt ist, sondern irrational in der hier gemeinten positiven Bedeutung.

2. Die wichtigsten Gebiete des schaffenden Erkennens.

Zunächst sei nochmals ein kurzer Überblick über jene Gebiete der Welt gegeben, auf denen sich der erkennende Mensch nicht bloß als Auffinder fertiger Wirklichkeit, sondern als Schöpfer künftiger Wirklichkeit erweist, mag auch oberflächliche Anschauung den Begriff Wirklichkeit hier nicht verwenden. Und zwar können wir das schöpferische Erkennen naturgemäß gerade in solchen Sphären finden, die von der gewöhnlichen, vorgefundenen Wirklichkeit etwas abliegen, wo also äußere Notwendigkeiten am wenigsten seine Betätigung hemmen.

So kann sich der Mensch eine Wirklichkeit schaffen, die im wesentlichen außerhalb des Alltagsdaseins steht, obwohl die Elemente zu ihrem Ausbau zum Teil der gewöhnlichen Wirklichkeit entnommen werden, und obwohl ihre Produkte sich wiederum dahinein einflechten lassen. Es ist das die Welt des Ästhetischen, und als vornehmste Form desselben gilt seit alters die Kunst. Es ist gleichsam eine außerhalb der gewöhnlichen, aber neben ihr stehende Sonderwirklichkeit, die hier entsteht.

Zweitens kann sich der Mensch auf transzendenter Ebene eine Ergänzung in seiner Vorstellung zu der stets nur fragmenthaften Erfahrungswelt schaffen, eine Überwelt, durch die die irdische Welt erst Wert und Sinn empfangen soll und zu der der Mensch doch in Beziehung treten kann. Deshalb ist auch sie nicht Unwirklichkeit, sondern Überwirklichkeit. Ihr Reich ist das „Göttliche”, die Form, in der es erlebt wird, die Religion.

Drittens kann der Mensch seine eigene Welt, die Menschenwelt, nach seinem Willen umschaffen wollen, indem er sein eignes [220] und das Tun seiner Mitmenschen sittlichen Zielen unterordnet, die er schöpferisch aus sich selbst bestimmt. Die so vorgezeichnete, seinsollende Welt ist auch keineswegs Unwirklichkeit, sondern eine Innenwirklichkeit, in der es nicht allein auf die äußere Tat, sondern ihre seelische Motivierung ankommt, und die doch auch wieder hineinragt in die gewöhnliche Wirklichkeit.

In diesen drei Formen der Neben-, Über- und Innenwirklichkeit, die alle doch in nahem Kontakt mit der gewöhnlichen Außenwelt und Außenwirklichkeit stehen, prägt sich das schöpferische Erkennen, weil es hier am freiesten schalten kann, am reinsten aus. Indessen betätigt es sich auch in direkter Richtung auf die Außenwirklichkeit, ja es nimmt diese als einen sehr unvollkommenen Tatbestand, den es nach seinem Willen formt. Ein solches Erkennen üben die schöpferischen Männer der Tat, es üben es auch die schöpferischen Männer der Wissenschaft, deren Leistung ebenfalls nicht bloß Auffinden fertiger Wahrheiten, sondern schöpferisches Gestalten ist. Und so werden wir auch dem schöpferischen Gestalten dort nachzugehen haben, wo es sich auf die Wirklichkeit im gewöhnlichen Sinne richtet.

3. Die künstlerische Sonderwirklichkeit und das künstlerische Erkennen.

Es sei jedoch für jene menschlichen Schaffenssphären, die man oft als Unwirklichkeit ansieht, zunächst der Wirklichkeitscharakter noch näher ausgeführt und geprüft, wie weit man darin von Erkennen sprechen kann. Denn vom rationalistischen Standpunkt aus, für den das Erkennen ein Reservat der Wissenschaft ist, muß es paradox erscheinen, von einem ästhetischen, religiösen oder sittlichen „Erkennen” zu sprechen.

So gerate ich besonders mit verbreiteten Anschauungen in Konflikt, wenn ich die Welt des Ästhetischen und im engeren die Welt der Kunst als „Wirklichkeit” anspreche. Denn vielfach werden diese Gebiete als „Schein” charakterisiert, denen keinerlei „Existenz” zukomme, die daher auch nicht Gegenstand eines Erkennens, sondern höchstens der „Einbildungskraft” sein könnten.

[221] Nun ist zuzugeben, daß die Welt des Ästhetischen nicht im gleichen Sinne Wirklichkeit ist wie das tägliche Brot oder der Steuerzettel. Aber die Kennzeichnung als „Schein” wird heute nur noch von wenigen Ästhetikern aufrechterhalten. Gewiß ist im ästhetischen Erleben das gewöhnliche Handeln ausgeschaltet, seine Inhalte sind „interesselos”, und doch ist darum das ästhetische Erleben kein passives Hinnehmen, sondern eine sehr aktive Stellungnahme.

Das gilt unbedingt vom schaffenden Künstler. Wir wissen aus zahllosen Aussprüchen, daß die Schöpfer ihre Werke keineswegs als Schein, sondern als Wirklichkeit erleben, der gegenüber die Alltagswelt sogar verblaßt. Nicht nach Willkür, sondern auf Grund innerer Notwendigkeit errichten sie ihre Werke und als Bereicherung der Welt, nicht als Kopien oder spielerische Phantasmagorien werden sie empfunden. Der ahnt wenig vom schöpferischen Erleben, der da glaubt, ein Künstler, der eine Landschaft malt oder ein Drama gestaltet, habe die Wirklichkeit „kopiert”. — Kunst, vom Künstler aus gesehen, ist Schöpfung, ist eine Sonderwirklichkeit neben, ja über der Alltagswirklichkeit.

So wird sie auch im Kunstgenießen erlebt. Wer ein Portrait oder einen Roman auf ihre „Naturtreue”, ihren Kopiewert hin prüft, auch wer in ihnen nur willkürliches Phantasiespiel erblickt, angenehm anzusehen wie bunte Seifenblasen, dem ist der Begriff der Kunst niemals aufgegangen. Gewiß wird der wahrhafte Kunstgenießende den „Faust” oder die „Neunte Symphonie” nicht auf gleicher Basis mit der Alltagswelt sehen, aber er wird darin ein Sein eigener Art verspüren, eine Welt für sich, die sogar als höheres, geballteres, intensiveres Leben wirkt als das des Alltags.

Und wenn ich die Welt des Ästhetischen als „Sonderwirklichkeit” kennzeichnete, so soll damit nicht gesagt sein, sie stünde abseits vom Strome der übrigen Welt. Nein, einmal geschaffen und erlebt, wirkt sie tausendfältig hinein in das übrige Weltgeschehen. Sind uns nicht heute noch, nach vielen Jahrtausenden, Achill und Odysseus, der Zeus von Otrikoli und das Parthenon [222] Wirklichkeiten, ja Wirklichkeiten viel lebendigeren Lebens als alle Kriegserklärungen oder Straßenbauten aus jener Zeit? Nein, Kunst ist gewiß nicht Wirklichkeit im Sinne des Banausen, aber sie ist menschengeschaffene, notwendige Wirklichkeit anderen Grades.

Und wenn wir sie so verstehen, verliert sich auch das Paradoxe, daß wir in bezug darauf von „Erkennen” reden, und es widerspricht höchstens dem gewaltsam verengten Erkenntnisbegriff des Rationalismus, nicht dem des lebendigen Sprachgebrauchs. Niemand wird zögern, von Erkennen zu sprechen, wenn ein Maler unter vielen Möglichkeiten eine bestimmte Farbe auswählt, wenn ein Tonschöpfer seine Akkorde als die in diesem Zusammenhang notwendigen formt, wenn ein Dichter beim Arbeiten eine Handlung seines Helden als nicht sinngemäß abändert. In allen diesen Fällen findet ein Auswählen, Bejahen oder Verwerfen zum Zwecke eines Wirkens statt; nur ist dies Wirken nicht auf Beherrschung der Außenwelt, sondern auf Schöpfung einer Wirklichkeit eigener Art, einer ästhetischen Wirklichkeit gerichtet. Jene Außenwirklichkeit wird gerade zerstört zugunsten einer von innen her orientierten Wirklichkeit. Der Maler gibt im Bilde andere Farben, der Dichter, selbst wenn er ein Modell aus der Außenwelt benutzt, ändert dessen Züge ab, aber nicht nach Laune und Willkür, sondern auf Grund einer in seinem Ich liegenden Notwendigkeit.

Und nicht im Erzeugen der Werke allein, auch im künstlerischen Nacherleben des Geschaffenen liegt schöpferisches Erkennen. Nur wer den Gestalten Shakespeares, den Tönen Wagners Leben von seinem Leben, Blut von seinem Blute zu leihen weiß, versteht sie. Ein solches Nacherleben ist kein träges Hinnehmen, wir erkennen, wenn auch gewiß nicht im rationalen Sinne, im Werke des Künstlers unser eigenes Ich, wir fühlen uns bereichert und gewandelt auch in unserer empirischen Persönlichkeit.

So wird in der Kunst zunächst außerhalb der empirischen Wirklichkeit und doch in sie zurückstrahlend eine Wirklichkeit eigener Art geschaffen, und dies Schaffen stellt sich als spezifischer Akt des Erkennens, und zwar eines schöpferischen Erkennens dar, das gleichberechtigt neben dem wissenschaftlichen Erkennen steht.

[223] Die Kunst als gesamtes Kulturphänomen ist nicht ein aus Zufälligkeit gewordenes Gebilde, sondern notwendiger Ausdruck der schaffenden Individuen und darüber hinaus, da nur Repräsentatives sich durchsetzt, auch Ausdruck und Offenbarung des überindividuellen Lebens ganzer Zeiten, Völker, und darum in gewissem Sinne der Menschheit. Im Schaffen wie im Genießen wird sich dieses Leben seiner selbst bewußt, es befreit sich von überkommenen Bildungen, es verwirklicht sich, indem es zunächst eine Sonderwelt schafft und diese dann hineingreifen läßt in die Alltagswirklichkeit. Kunst ist schöpferische Selbsterkenntnis, die wie alle echte Selbsterkenntnis zugleich Auseinandersetzung mit der Außenwelt ist. Daß dieses Erkennen in seiner Gesamtheit aber nicht bloß Sache des Bewußtseins ist, daß es einen nicht bewußten Handlungsfaktor einschließt, der sogar im Kunstschaffen besonders deutlich hervortritt, gerade das rückt auch das ästhetische Erkennen den früher von uns besprochenen Formen des Erkennens nahe und kennzeichnet seine irrationale Art.

Näher ausgeführt, auch mit ausführlichen Literaturangaben sind diese Gedanken in meiner Psychologie der Kunst 1922. 2. Aufl.

4. Die religiöse Überwirklichkeit und das religiöse Erkennen.

Auch die Welt des religiösen Erlebens ist gewiß nicht Wirklichkeit im Sinne des Alltagslebens, und doch würde jeder religiöse Mensch es mit Entrüstung von sich weisen, wollte man seine Glaubensinhalte als Phantasiegebilde, als Schein oder sonstwie als Unwirklichkeit kennzeichnen. Es heißt den religiösen Glauben von Grund aus verkennen, wenn man ihn für unsicheres Erkennen, bloßes „Fürwahrhalten” ansieht. In Wahrheit ist für den religiösen Menschen die göttliche Welt nicht eine blassere Wirklichkeit, nein, eine Überwirklichkeit, deren Dasein durch keinerlei empirische Gegenbeweise erschüttert werden kann. Im Glauben richtet sich der Geist auf eine vom Gemüt geforderte, weder durch die Sinne noch durch den Verstand erfaßbare Überwelt, die transzendente Ergänzung der Erfahrungswelt zu einer Totalität von höchstem Wertgehalt. Einerlei wie [224] sie sich mit Alltag und Wissenschaft verträgt, für den schöpferischen religiösen Geist ist das Göttliche die höchste aller möglichen Realitäten. Niemals wäre Jesus am Kreuz gestorben, niemals wäre Luther nach Worms gegangen, niemals hätten ungezählte Tausende um ihren Glauben geblutet, wäre ihnen das Göttliche nicht als höhere Realität erschienen als die ganze irdische Welt, die sie darum dahingaben. Ich spreche hier nicht von dem auch dem Verstande zugänglichen Inhalt ihres Glaubens, nur von der Kategorie der Wirklichkeitsetzung. Diese besteht, auch wenn ihre Inhalte irrtümlich sein sollten; denn sie ist nicht aus Willkür erwachsen, sondern aus innerster Notwendigkeit. Ihr Wesen ist nicht Kopie, sondern Schöpfung. Gewiß waren jene Gläubigen überzeugt, daß ihrem Glauben ein transzendentes Objekt entspräche, darüber wird später zu reden sein. Jedenfalls aber erschufen sie zunächst im Bewußtsein eine neue Welt, die nicht nur von ihnen, die von ungezählten Millionen als wirklich empfunden wurde, und die sich als „wirklich”, d. h. wirksam erwiesen hat über Jahrtausende hin. Ein Historiker, der in den geschichtlichen Religionen nur zufällige Wahngebilde, nicht Notwendigkeiten und historische Wirklichkeiten erblickte, mißverstünde das historische Geschehen aufs gröbste.

Weil aber das Göttliche als Wirklichkeit gesetzt wurde und als Wirklichkeit wirkte, so ist es — wiederum freilich nicht im rationalen Sinne — möglich, von einem religiösen Erkennen zu reden. Mögen alle Glaubensinhalte vor dem Forum der Ratio nur symbolische Bedeutung haben, auch als Symbole doch sind sie Wirklichkeit, und wer sie erlebt, wer von ihrem Geiste geleitet, sein Leben gestaltet, der erkennt. Gewiß ist es wie in der Kunst eine innere, eine subjektive Wirklichkeit, die sich in der Setzung solcher Symbole ihrer selbst bewußt wird, aber indem sie sich zu objektiven Formungen gestaltet, wirkt sie auch hinein in die Alltagswirklichkeit. Weil sie subjektiven Notwendigkeiten entspringt, gibt die Religion gewiss nicht allgemeingültige und objektive Erkenntnis, aber der versteht die Religion nicht, der das von ihr heischt: ihr tiefstes Wesen ist eben [225] nicht rationales, sondern irrationales Erkennen, ein Erkennen, das seine Wahrheiten nicht wie Früchte von Bäumen abpflückt, sondern selber den Baum pflanzt und veredelt, von dem es ernten wird.

5. Die sittliche Innenwirklichkeit und das sittliche Erkennen.

So ist auch die Welt des sittlichen Lebens nicht empirische Gegebenheit, obwohl das ethische Verhalten allenthalben eingreift in die Welt der gewöhnlichen Wirklichkeit. Aber es tut das in dem Bewußtsein, eine (wenn auch nicht im transzendent - religiösen Sinne) höhere, edlere Macht zu sein, als es das Alltagsleben ist, im Bewußtsein, einer Welt höherer Wertungen anzugehören, denen sich die Erfahrungswelt zu fügen habe wie der Ton dem Griff des Bildners. Indem wir sittlich handeln, bauen wir mit an einer Welt, die sein soll. Auch die Welt des Sittlichen ist Schöpfung wie die Welt des Ästhetischen und des Göttlichen, aber auch sie ist nicht Produkt der Laune oder äußerer Berechnung, sondern sie folgt Notwendigkeiten, die im Menschen selber liegen. Gewiß ist es falsch, mit dem Rationalismus das Sittliche als Komplex starrer, ewiger Gesetze zu denken, die der ethische Mensch gleichsam kopierend erfüllen müsse. Nein, das Sittliche wird in jedem Volke und in jeder Zeit neu geschaffen. Ich rede damit nicht wildem Individualismus das Wort. Auch das Sittliche wie das Ästhetische und Religiöse wurzelt im Überindividuellen; aber dies Überindividuelle ist nicht zu allen Zeiten und an allen Orten gleich, sondern es wechselt je nach dem Wesen der Gruppen, die Träger eines Ethos sind. Sie müssen es auf Grund ihres besonderen Wesens erschaffen, verwirklichen. Indem aber von einzelnen Menschen, den ethischen Genies, den typischen Repräsentanten des aus den inneren Notwendigkeiten der Gruppe erwachsenden Lebens ethische Forderungen aufgestellt werden, werden diese als Wirklichkeiten geschaffen, denen die „natürliche” Wirklichkeit sich zu beugen hat. Und zwar wirken sich diese ethischen Forderungen nicht nur in den großen Sittenlehrern aus, die neue Tafeln aufrichten; sie wirken, wenn auch weniger deutlich und vernehmlich, aus jedem sittlich handelnden [226] Individuum. Nicht im äußeren Erfüllen von Vorschriften zeigt sich die Sittlichkeit, nein, im Ausbau einer Innenwelt, die sich in Auseinandersetzung mit der Außenwelt im tätigen Sinne verwirklicht. Und darum ist jedes sittliche Verhalten schöpferische Wirklichkeit.

Deshalb aber, weil sittliche Gebote nicht mit Willkür erzeugt, sondern als ideale Notwendigkeit im Wesen der sozialen Gruppen, für die sie gelten sollen, vorgezeichnet sind, das heißt als ideale Wesenheiten Wirklichkeit haben, deshalb kann man auch von einem ethischen Erkennen reden. Freilich ist's kein rationales Erkennen! Man kann ethische Notwendigkeiten nicht erkennen, wie man die Zusammensetzung einer Säure oder die Wellenlänge eines Tones erkennt, es ist ein schöpferisches Erkennen eigener Art nötig, das wie das ästhetische und das religiöse Erkennen vom Ich her in erster Linie bestimmt ist. Wir nennen es das „Gewissen” oder den sittlichen Takt. Gewiß ist das sittliche Erkennen nicht objektiv und allgemeingültig im Sinne des Rationalismus, eben das aber kennzeichnet es als irrational in unserem Sinne.

6. Rationalismus und schöpferisches Erkennen.

Es ist nun bezeichnend für die Herrschaftsgelüste des einseitigen Rationalismus, daß er unablässig bemüht ist, auch die der irrationalen schöpferischen Erkenntnis erwachsenden Sphären der Kunst, der Religion, der Sittlichkeit seinem starren Erkenntnisbegriff unterzuordnen. Immer wieder, obwohl alle schöpferischen Geister seit je dagegen rebelliert haben, bemüht er sich, das ästhetische, religiöse und sittliche Leben unter das Joch starrer Begriffe und Gesetze zu pressen, die angeblich von Ewigkeit gesetzt seien und für alle Ewigkeiten gelten. Selbst von der sonst von ihm stets angerufenen Wissenschaft, die als Geschichte der Künste, der Religionen, der Sitte zeigt, wie unendlich wechselnd die Welt des schöpferischen Wirkens ist, läßt er sich da, wo es ihm nicht paßt, keineswegs belehren, sondern behauptet, jenen wissenschaftlichen Feststellungen zu Trotz, im Besitz einer höheren Erkenntnisquelle, der apriorischen reinen Vernunft oder [227] einer verwandten Fähigkeit zu sein. Er preßt aus der lebendigen Fülle des Geisteslebens ein paar dürre Abstraktionen heraus, die er für ewig und unveränderlich erklärt, und an denen er die Kunstwerke und Religionen und sittlichen Taten mißt, allerdings mit dem Erfolg, daß dies wahre Leben auf all diesen Gebieten jenen abstrakten Netzen vollkommen entwischt. Trotz alles Aufgebots logischer Künste ist es bis heute nicht gelungen, eine rationale Kunst, eine Religion der reinen Vernunft, eine allgemeingültige Ethik aufzustellen, und je länger diese Versuche währen, um so dürftiger nehmen sie sich aus neben der unendlichen Fülle des ästhetischen, religiösen, sittlichen Lebens, in dem täglich neue Formen entstehen, die nicht zu deuten sind aus den angeblich apriorischen Sätzen des Rationalismus. Und erreicht es der Rationalismus schon nicht, die geschaffenen Formen mit seinen Mitteln zu verstehen, so scheitert er noch kläglicher, wenn er gar versucht, auf Grund seiner Erkenntnisse selbst schöpferisch aufzutreten. So wenig je aus Retorten ein lebendiger Mensch ward, so wenig hat man nach ästhetischen Gesetzen ein Kunstwerk geschaffen, auf Grund der reinen Vernunft eine Religion ergrübelt, aus reinen Verstandeserwägungen eine zündende sittliche Idee erzeugt! Ödeste Nüchternheit ist seit je das Schicksal solcher Versuche gewesen!

Das Gebiet der Kunst hat der Rationalismus zum ersten Male in Plato zu erobern gesucht, der da lehrte, das Schöne sei im Tiefsten eins mit dem Wahren, d. h. der Erkenntnis der Ideen. Diese Lehre ist später immer wieder von nüchternen Köpfen herabgezogen worden zur Theorie, daß es die Aufgabe des Künstlers sei, das „Allgemeine”, wenn auch in sinnhafter Form darzustellen, also rationale Erkenntnisse gleichsam im konkreten Bilde vorzuführen. Bei Plato selbst hat jener Gedanke einen erhabenen Schwung, denn seine „Ideen”, mögen von ihnen später auch die trockenen Allgemeinbegriffe aller Scholastiker abstammen, waren doch zum guten Teil selbst ästhetische Gebilde; [eidos (giechisch)] war ja bei ihm nicht „Allgemeinbegriff”, sondern Gestalt, etwas ästhetisch Erschautes! In dieser Form kann man dem ästhetischen Rationalismus gern zustimmen, besonders wenn man zugibt, [228] daß diesem platonischen Rationalismus eine gute Dosis irrationalen Schauens mythisch-mystischen Charakters beigemischt war. Weit trockener zeigt sich der ästhetische Rationalismus bereits bei Aristoteles, von dem der Versuch unternommen wird, ästhetische Regeln aus den Kunstwerken zu gewinnen. Freilich hat er sich nicht träumen lassen, wie verheerend seine Lehre in späteren Jahrhunderten für das lebendige Kunstschaffen wurde, daß die Rationalisten der Neuzeit daraus die Schablonen schmiedeten, in die alles Kunstschaffen gezwängt und damit ertötet wurde. Die Geschichte unseres neueren Dramas gibt die beste Illustration dafür. Ein lebendiges Drama vermochte erst zu wachsen, als der selbst recht rationalistische Lessing endlich die Herrschaft des Rationalismus theoretisch brach und durch Herder die Bahn für das irrationale ästhetische Schaffen freigemacht wurde. Gewiß sind selbst Goethe und Schiller zuweilen der Gefahr unterlegen, durch rationale Hilfen den nicht immer sprudelnden Quell des Schaffens beleben zu wollen, aber die Folge war völliges Versiechen. Goethes rationalistischste Zeit, die nach der italienischen Reise, ist zweifellos seine unfruchtbarste gewesen. Und die nach rationalistischer Ästhetik gebaute „Braut von Messina” ist fraglos Schillers leblosestes Werk, gar nicht zu vergleichen mit jenen anderen, worin er sich seinem freien Schöpfertum überließ. Will man aber sehen, welche Wirkung konsequentestes Suchen nach allgemeingültigen Gesetzen im Drama hat, so sehe man das tragische Schicksal Otto Ludwigs an, der sein Talent in rationalen Schlingen regelrecht erdrosselt hat.

Vollends humoristisch aber wird die Geschichte der Ästhetik dort, wo versucht wurde, die Kunst mathematisch zu fassen. Die aus abstraktester Spekulation gewonnene Theorie vom „Goldenen Schnitt” ist nur ein groteskes Beispiel. Um derartiges durchzuführen, konnte man sich nur mit ziemlich derben Fälschungen helfen, weil sonst kein lebendiges Kunstwerk in diese spanischen Stiefel hineingegangen wäre. Daß gelegentlich selbst große Künstler wie Dürer in rationale Spekulationen verfielen, ist darum weniger zu beklagen, als sie nachweislich in ihrem Schaffen sich den Teufel um ihre Theorien gekümmert haben. [229] Es ist der tiefste Sinn des Wortes „Bilde Künstler, rede nicht!”, daß er gut tut, rationale Betrachtungen möglichst auszuschalten, Rationalismus führt stets zu unfruchtbarstem Akademikertum, wofür die Kunstgeschichte aller Zeiten traurige Beispiele genug aufzuweisen hat. Kurz, in rationalistische Netze geht die Kunst nirgends ein!

Ebenso unfruchtbar, ja ertötend hat der reine Rationalismus in der Religion gewirkt, sobald er seine Fangarme danach ausstreckte, ja es ist stets bereits ein Zeichen niedergehender Religiosität, wenn sie sich überhaupt mit dem Rationalismus einläßt. Die neuere Forschung hat die Meinung, die ursprüngliche Religion sei eine Art primitiver Wissenschaft, gründlich widerlegt, indem sie den emotionalen Ursprung und den praktischen Charakter der primitiven Mythen und Kulte überzeugend darlegte. Und auch dort, wo auf Stufen höherer Kultur die Religion sich vergeistigt, hört sie doch auf, Religion zu sein, wo sie rein als eine Art der Wissenschaft angesehen wird. Daß trotzdem oftmals gerade Theologen das verkannt haben und in einem Fürwahrhalten dogmatischer Lehrsätze das Wesen der Religion sahen, muß zugestanden werden; ebenso sicher aber ist, daß gerade diese Rationalisten der Religion niemals schöpferisch gewesen sind, sondern unfruchtbare Hüter von Mumien. Wo immer Religion schöpferisch war, dort also, wo sie eine Lebensfackel ins Dunkel des Weltalls trug, da gab das Gefühl die Flamme her, nicht rechnender Verstand! Vom rationalistischen Standpunkt aus waren weder die Gründer der indischen noch der griechischen Religion, weder Christus noch Muhammed noch Luther scharfe und klare Denker. Leichtlich kann man ihnen Irrtümer, Unklarheiten, ja Absurditäten nachweisen. Und doch haben ihre Lehren als „Offenbarung” gewirkt, haben über Jahrhunderte hin leuchtende Helle verbreitet, die dankbar als Erkenntnis genommen wurde, zumal diese Lehren auch praktisch wirksam wurden, ja Geschichte im größten Stile gemacht haben.

Wir stehen damit vor einem Dilemma: als rationale Erkenntnis kann die Religion und, was sie lehrt, sicher nicht gelten. Wir müssen sie daher entweder als bloßen Irrtum abtun, was [230] wieder der Tatsache ihrer gewaltigen schöpferischen Wirksamkeit widerspricht, oder aber wir müssen sie als eine Erkenntnis eigner, jedenfalls irrationaler Art ansehen.

Und nicht minder gefährlich ist der Rationalismus in der Ethik. An Stelle des irrationalen sittlichen Fühlens, des aus innerlicher Sittlichkeit entscheidenden Gewissens setzt der Rationalismus einen Codex „objektiver” Gesetze, deren Befolgung die sittliche Lebenshaltung garantieren soll. Und doch gilt von diesen „Gesetzen”, was Mephistopheles vom Rechte sagt: „Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage!” Kein ethisches Gesetz ist allgemeingültig, Sittlichkeit ist lebendige Schöpfung, die stets neu geboren werden will! Mit Sokrates, der aus „Begriffen” das ethische Leben erkennen wollte und die Tugend für lehrbar hielt, zog der Rationalismus ins Gebiet der Sittlichkeit ein. Wohl hat Kant eingesehen, daß die praktische Vernunft etwas anderes ist als die theoretische, er hat aber trotzdem auch für die Sittlichkeit rationale Formeln gesucht. Sein „kategorischer Imperativ” ist zwar tief sittlich empfunden, er ist aber trotzdem unschöpferisch. Denn von seiner rationalen Abstraktheit führt kein Weg zu der tausendfältigen Mannigfaltigkeit des ethischen Lebens, es gibt täglich Situationen, denen gegenüber er als leere Schablone wirkt und wo niemals die rationale Reflexion auf eine mögliche Allgemeingültigkeit helfen kann, sondern allein jener irrationale sittliche Takt, der der Lebensnerv alles schöpferischen ethischen Lebens ist. Kants Ethik arbeitet, bei allem auch in ihr wirksamen Irrationalismus, der auch ihr die tiefste Wirkung gibt, dennoch mit einer rationalen Schematisierung der Subjekte wie der möglichen Lebenslagen und bleibt deshalb praktisch so schwer zu verwirklichen. Gewiß können, ja müssen sich ethische Gebote bis zu einem gewissen Grade rationalisieren, aber sie dürfen niemals völlig rational werden, sie müssen den Kontakt mit der Irrationalität des Lebens wahren, wenn sie nicht zu Pharisäertum und unfruchtbarem Formalismus erstarren sollen.

Mit alledem soll nicht bestritten werden, daß Kunst, Religion, Sittlichkeit teilweise rationalisierbar sind. Aber diese [231] Rationalisierung taugt nur dann etwas, wo sie nachträglich den Spuren des schöpferischen Lebens folgt und dieses nicht vergewaltigt. Dort, wo die Ratio selbst schöpferisch sein wollte, hat sie stets unfruchtbare Totgeburten zur Welt gebracht.

Die Sachlage ist damit geklärt: da das schöpferische Erkennen nicht rational ist, anderseits aber auch der Rationalist nicht behaupten wird, daß alle Kunst, Religion, Sittlichkeit Ausgeburten des Zufalls oder blinder Unvernunft seien, so müssen wir neben dem rationalen ein irrationales Erkennen annehmen, und diesem gilt es hier nachzugehen!

7. Die Irrationalität des künstlerischen Erkennens.

Betrachten wir zunächst das schöpferische Verhalten auf dem Gebiete der Kunst! Und zwar möchte ich das Schaffen des Künstlers folgendermaßen charakterisieren:

1. Der Künstler schafft sich eine Sonderwirklichkeit, die den Forderungen seines Ich, das allerdings mannigfache überindividuelle Beziehungen wahrt, genug tut, die jedoch der Außenwelt des praktischen Lebens gegenüber unabhängig ist.

2. Wenn der schaffende Künstler in die außerkünstlerische Wirklichkeit hineingreift, um ihr Symbole zu entnehmen, so hebt er diese doch in ihrem gewöhnlichen Wirklichkeitscharakter auf, er „zerstört den Stoff durch die Form”.

3. Dieses Schaffen, d. h. die Auswahl und aktive Einstellung seiner Tätigkeit wird nicht durch Begriffe oder objektiv gültige Gesetze geleitet, sondern entspringt zunächst unbewußt wirkenden vitalen Notwendigkeiten, die dort, wo sie ins Licht des Bewußtseins treten, ganz sicherlich den Namen Erkenntnis verdienen, aber auch als solche nicht rational, sondern irrational sind.

Daß das künstlerische Schaffen wesentlich durch die Subjektivität des Schaffenden bedingt ist, daß es niemals bloßer Abklatsch eines Objekts sein könne, ist heute kaum mehr bestritten. Streit herrscht höchstens darüber, wieweit neben diesen im Ich ruhenden Bedingungen auch andere Forderungen bestehen, seien es allgemeine Regeln formaler Art oder gegenständliche [232] Rücksichten. Der Expressionismus geht so weit, daß er die volle Souveränität des schaffenden Ich ausruft und alle Rücksichten auf formale Gesetzlichkeit oder gegenständliche Forderungen verwirft. Die meisten anderen Stile jedoch sind nicht so extrem, sie fordern neben dem berechtigten Ausdruckswollen des schöpferischen Ich entweder Rücksichtnahme auf gewisse formale Konventionen oder eine gegenständliche Objektivität. Das heißt, sie fordern in der Malerei nicht bloß ein rein ichhaft verwurzeltes Formen- und Farbenspiel, wie es etwa die konsequenten Expressionisten geben, sondern auch eine Anpassung entweder an konventionelle Schönheitsforderungen oder eine, wenn auch nur annähernde, Naturtreue der dargestellten Inhalte. Über diesen Punkt wird später zu sprechen sein. Was aber in rationalistischer Ausdrucksweise als „formale Gesetzlichkeit” erscheint, ist (wenigstens im unmittelbaren Schaffen) in Wahrheit niemals unabänderliches Naturgesetz, sondern ist die feinste, instinktive Berücksichtigung von Forderungen typischer geistiger Einstellungen. Der große Künstler spricht niemals bloß in seinem individuellen Namen, stets ist er — bewußt oder unbewußt — Repräsentant typischen Erlebens, das gewiß nicht im abstrakten Sinne überzeitlich und überräumlich ist, vielmehr auch beim größten Künstler zeitlich und völkisch begrenzt bleibt und doch gerade aus dieser Besonderung Leben saugt. Was im großen Künstler zum Ausdruck drängt, sind niemals bloß seine individuellen Besonderheiten, sondern es sind stets zugleich weitere und tieferliegende Lebensgewalten, die sich im Kontakt mit der Mitwelt entfalten. Aus diesen überindividuellen Beziehungen heraus bilden sich Konventionen, die man wohl als „Gesetze” formulieren kann, die jedoch bei aller überindividuellen Geltung unendlich variabel sind und gerade in ihrer Variabilität ihren lebendigen Charakter offenbaren, die aber getötet werden, sobald der Rationalist diesen lebendigen Strom auf Flaschen füllt.

Wenn das künstlerische Schaffen seine Symbole der Außenwelt entlehnt, so tut es das in der Regel nicht in der Absicht irgendwelcher Wirklichkeitstreue. Indessen ist der Grad der subjektiven Umschaffung verschieden. Es hat gewiß [233] „Naturalisten” gegeben, die auch in der Kunst nur Wirklichkeitstreue verlangten, d. h. Abklatsch der außerästhetischen Wirklichkeit. Indessen ist diese extreme Forderung von großen Künstlern niemals erfüllt worden und — aus einiger Distanz gesehen — ergeben sich auch dem Namen nach „naturalistische” Kunstwerke als durchaus subjektive Umschaffungen der außerkünstlerischen Wirklichkeit. Auch die Romane Zolas, die Dramen des frühen Hauptmann, die Bilder Menzels, mögen sie der Absicht nach . auf Kopie der Alltagswirklichkeit gerichtet sein, sind — vielleicht gegen den bewußten Willen ihrer Schöpfer — doch vor allem Ausdruck seelischer Schaffensantriebe, und das erst macht sie zu Kunstwerken. Der Rationalismus ist bloß äußere Parole gewesen, über die das schöpferische Leben triumphierte. Und ebenso ist's mit jenen Künstlern, die ein ideell Wahres — das sie zwar in Gegensatz zur Alltagswirklichkeit, zugleich aber in Bezug zu einer rationalen Wirklichkeit bringen wollten — darzustellen versuchten. Das ist der Fall der „Idealisten”, die da glaubten, zeitlose Ideen in ihren Werken zu verkörpern. Soweit diese als lebendige Kunstwerke gezündet haben, taten sie es nicht wegen ihres angeblich rationalen Gehaltes, sondern wegen der daneben aufquellenden irrationalen Menschlichkeit.

Das, worauf es in unserem Zusammenhang ankommt, ist jedoch der irrationale Charakter des alles künstlerische Schaffen leitenden Erkennens. Es wird von den Künstlern selbst meist als etwas Geheimnisvolles, Unfaßbares empfunden, sie vermögen selbst keine Rechenschaft abzulegen über das Wie und Warum ihres Tuns. Die meisten Künstler sind durchaus unrationale Menschen, sprechen schlecht über ihre Kunst, und mit Recht mißtraut man dem allzu „intellektuellen” Künstler. Die wahren Schaffenden wissen nichts von „Gesetzen”, denen sie angeblich folgen, und sie wollen nichts davon wissen, weil dies Wissen ihre künstlerische Freiheit einengen würde. Sie geben ihrem Erleben Form in ihren Werken, aber sie haben keine rationalen Formeln für dieses Erleben parat. Der scheinbare Widerspruch, daß sie ein angebliches Gesetz erfüllen, das sie selbst nicht kennen, besteht nur für die rationalistische Theorie. In Wahrheit schafft im [234] Künstler das irrational quellende Leben seine Formen, wie die Pflanze ihre Blüten treibt. Das, was man das schöpferische Genie oder Talent eines Künstlers nennt, hat nichts mit rationaler Logik zu tun, ist eine aus dunklen Tiefen der Persönlichkeit wirkende Macht, die von den Künstlern selbst und allen, die ihre Werke verstehen, als etwas Geheimnisvolles, Unergründliches empfunden wird. Sie wird zur „Erkenntnis”, sobald sie Bewußtseinsakte in ihren Dienst stellt, sobald sie urteilend wertet und ihr Handeln danach modifiziert. Aber sie bleibt künstlerisches Schaffen nur so lange, als auch das Urteilen von dem unbewußten Instinkt seine Leitung empfängt, die niemals in Begriffen und Gesetzen restlos zu erfassen ist. Gewiß ist in der Kunst (wie in der übrigen Welt) vieles rationalisierbar, aber diese Rationalisierungen dringen niemals in die innerste Tiefe. Von hier aus wirkt eine Macht, die wir als irrational, ja als überrational kennzeichnen können, weil sie Werke von höchstem kulturellen Werte schafft, deren Werden und letztes Sein aber allen Verstandesbegriffen unfaßbar bleibt.

8. Die Irrationalität des religiösen Erkennens.

Ähnlich wie in der Kunst läßt sich in der Religion das schöpferisch irrationale Wesen wenigstens ungefähr umschreiben. Ich fasse auch hier zunächst das Wesentliche zusammen:

1. Die Religion erschließt nicht Wirklichkeit im alltäglichen Sinne, sondern eine Überwirklichkeit, in der sich für die Forderungen menschlicher Individuen und Gruppen die gewöhnliche Wirklichkeit zu einer Totalität von höchstem Wertgehalt ergänzt.

2. Wenn der religiöse Mensch auch auf jene transzendente Überwelt seine gewöhnlichen Denkformen und Denkinhalte überträgt, so verlieren sie doch ihren ursprünglichen Charakter, sie bekommen symbolische Bedeutung.

3. Für alles religiöse Denken aber gelten keinerlei rationale Gesetze und Begriffe, es ist darum, weil es mit Bewußtsein verläuft und höchsten vitalen Wert haben kann, zwar Erkenntnis, aber es ist das darum, weil es einer Innenwirklichkeit entspringt, nicht weil es einer Außenwirklichkeit entspricht, so tief es in diese [235] auch hineinwirken mag. Da aber diese Innenwirklichkeit, diese vitalen Forderungen nicht für alle Menschen gleich, wenn auch in jedem einzelnen Fall notwendig sind, so ist das religiöse Erkennen tief irrational.

Um die Frage, ob die Religion wirklich Erkenntnisse, nicht bloß Hirngespinste bietet, müssen wir auf unsere Bestimmung des Begriffs Erkenntnis überhaupt zurückgreifen. Den Unterschied zwischen Erkenntnis und Nichterkenntnis sahen wir nicht darin, daß die Erkenntnis eine Außenwelt abbildete, gerade das erfanden wir als überhaupt unmöglich: wir sahen, daß die Erkenntnis ein Wert sei und zwar ein solcher, der auf einem Willen zur Lebenserhaltung und Lebensentfaltung beruht. Soweit sich dies an sinnhaften Gegebenheiten orientiert, sprachen wir von Wirklichkeitserkenntnis im alltäglichen Sinne.

Nun richtet sich jedoch die Religion nicht auf die sinnhaften Gegebenheiten, sondern auf eine transzendente Welt, sie kann also ihre Verifikation nicht aus einer Orientierung an den Inhalten der Erfahrung ziehen. Ihre lebenserhaltende und lebenssteigernde Macht muß wesentlich im Subjekt selber ruhen, nicht in dessen Beziehungen zur Alltagswirklichkeit. Die Werte, die sie bringt, sind also nicht solche, die sie vorfindet, sondern gerade solche, die sie nicht vorfindet, die sie aber als notwendige Ergänzungen zum Vorgefundenen braucht, um diesem Sinn zu leihen, und die sie daher ins Transzendente verlegt, sie erschaffend und kraft der emotionalen Macht jener Forderungen ihnen einen Wirklichkeitscharakter im Sinne einer Überwirklichkeit verleihend. In der Religion vervollständigt sich für Individuen und Gruppen die stets fragmentarische Erfahrungswelt erst zu sinnvoller Totalität: dieser Sinn ist nicht gegeben, sondern erschaffen, aber als Notwendigkeit erschaffen, und nur so begreift sich die Religion als jene ungeheure Lebensmacht, als die sie auch in das empirische Geschehen hineinwirkt. Trotz des grundsätzlich transzendenten Charakters der religiösen Überwelt sucht jedoch der religiöse Mensch sie auch mit seinen Erkenntnismitteln zu begreifen und mit seinen übrigen Erkenntnissen zu vereinen.

[236] Es gilt also, die seltsame Paradoxie aller religiösen Vorstellungen zu erklären, daß sie, obwohl auf Überempirisches gerichtet, doch dieses Überempirische mit empirischen Denkformen und -inhalten zu fassen suchen. Man stellt etwas prinzipiell Nicht-Vorstellbares vor, man denkt etwas grundsätzlich Nicht-Denkbares! Man wendet die an der Erfahrungswelt gebildeten Kategorien aufs Transzendente an, ja man überträgt sogar Inhalte dieser Erfahrungswelt auf die Transzendenz! Man schreibt den Göttern Sein, Substanz, Kräfte, Individualität zu, ja man überträgt menschliche Wirksamkeit und menschliche Züge auf die transzendenten Mächte.

Zu vereinen mit unserer übrigen Erkenntniswelt ist das alles nur, wenn man die religiösen Inhalte als symbolisch faßt, wenn man ihnen nicht einen realen, nur einen metaphorischen Erkenntniswert zuspricht. Das haben die großen Religiösen je und je empfunden. So Paulus, wenn er sagt: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort.” So Goethe, wenn er alles Vergängliche als ein Gleichnis anspricht.

Daß auf ein solches symbolhaftes Erkennen die rationalen Denkkriterien keine Anwendung finden können, ist einleuchtend. Der Grundfehler, wodurch der Rationalismus seit alters das Göttliche ins Irdische herabzerrt, ist vielmehr, daß er die Symbole wörtlich gefaßt hat, daß er sie, deren Erkenntniswert in einer subjektiven Lebenserhöhung beruht, als objektive Wissensmehrung begreifen, daß er aus der Religion Wissenschaft pressen wollte. Damit zerstört er das Wesen der Religion, wie er das Wesen der Kunst zerstört. Die Welt des religiösen Schauens ist nicht Abklatsch rein objektiver Gegenständlichkeit, sondern Schöpfung. Das Göttliche ist nicht außer dem Menschen, sondern in ihm und strahlt von ihm aus in die Außenwelt. Für schwaches religiöses Fühlen mag es notwendig sein, sich an Objektives anzuklammern, und auch stärkste religiöse Geister haben Stunden,


*) Der irrationale Charakter der Religion ist neuerdings stark betont, besonders bei R. Otto: Das Heilige, 1917; und H. Scholz: Religionsphilosophie, 1921. Vgl. auch meine Psychologie der Religion II, 1931.

[237] wo sie ohne Hyportasierungen nicht auskommen; das religiöse Erleben der reinen und starken Art spürt in sich selbst den Gott.

Insofern aber als religiöser Denk- und Vorstellungsgehalt symbolhafte Projektion des Innenlebens auf die Sphäre des Transzendenten ist, wird es stets irrational bleiben müssen, weil Begriffe und Gesetze nur für die Außenwelt und auch diese nur teilweise gelten, während für jene Tiefen, aus denen das religiöse Leben aufsteigt, niemals rationale Formeln gefunden worden sind. Vor dem Forum des Verstandes mag Religion Torheit sein, besonders wenn ihre Symbolik real genommen wird, für jeden, der sie im Innern erlebt, ist sie nicht unterrational, sondern überrational, aus tiefsten vitalen Notwendigkeiten aufquellende Macht, eine Schöpfung, die der Menschenwelt einen Sinn verleiht, der von allen, die ihn erlebt haben, als höchster Wert empfunden wurde.

9. Die Irrationalität des sittlichen Erkennens.

Bei einer kurzen Charakteristik des sittlichen Erkennens ergeben sich folgende Züge:

1. Es wurzelt in einer inneren Wirklichkeit, einer sittlichen Gesinnung, die es in die Außenwelt durch Handlungen auszuwirken strebt.

2. Bei dieser äußeren Verwirklichung der sittlichen Gesinnung zu einer Wirklichkeit, die sein soll, muß es jedoch mannigfache Rücksichten auch auf die Welt, die ist, nehmen.

3. Aber weder die Formulierung ethischer Normen noch deren Überführung in die Welt der Praxis geschieht aus reiner Vernunft nach Gesetzen und Begriffen, sondern erwächst aus irrationalen Tiefen und muß geleitet werden durch einen durchaus irrationalen sittlichen Takt.

Ich legte bereits dar, daß das ethische Handeln keineswegs im Sinne launenhafter Willkür frei zu nennen ist, sondern daß es aus inneren Gebundenheiten erwächst, daß in allem Zusammenleben der Menschen innerlich gesetzte Notwendigkeiten gegeben [238] sind, die ins Bewußtsein gehoben sein wollen. Das Erkenntniskriterium ist hier wie überall das vitale, daß das so geleitete Handeln im Dienste der Lebenserhaltung und Lebenssteigerung steht. Nicht im Sinne des Utilitarismus zu verstehen! Im Gegenteil, gerade nach dem Nutzen fragt der sittlich handelnde Mensch in der Regel nicht, auch nicht etwa nur nach dem Glücke, sondern er folgt seelischen Antrieben, die er rational gar nicht fassen kann. Der sittliche Mensch findet in sich seelische Einstellungen vor, deren Herkunft ihm nicht immer klar bewußt ist, die zum Teil zwar auf soziale Bedürfnisse zurückführbar sind, die aber ihrerseits auch wiederum, um sich Geltung zu schaffen, an ein bestehendes sittliches Gefühl des einzelnen anknüpfen müssen. Die sittlichen Antriebe und Gesinnungen sind niemals rein a posteriori, sondern — wieder in unserem vitalen, nicht rationalen Sinne — a priori: in ihnen wirkt sich die Tendenz alles Lebens, des individuellen wie des überindividuellen, zu Erhaltung und Entfaltung aus. So mannigfach die Beziehungen zwischen Individuum und Gemeinschaft hin- und herschwanken können, die Tendenz zu sittlichem Leben, worin dem Individuum wie der Gemeinschaft ihre reziproken Lebensnotwendigkeiten gewährleistet sind, ist eine überall, wenn auch in wandelnder Form, wiederkehrende Tatsache.

Die Sittlichkeit ist jedoch niemals reine Bewußtseinsangelegenheit, sie aktualisiert sich erst in Handlungen, durch die sie eingreift in die Alltagswirklichkeit. Eine Ethik, die ein Sollen proklamiert, ohne auf das Sein Rücksicht zu nehmen, ist leeres Ideologentum. Hierin liegt die Gefahr des Rationalismus, der die ethischen Forderungen ohne jede Rücksicht auf die ewig sich wandelnde Welt des Lebens absolut setzt. Gewiß wird ethische Gesinnung nicht nur nach den Folgen ihres Wirkens fragen, sie wird auch nicht dem „Glück” nachjagen, aber sie wird auch nicht ganz daran vorbeigehen, sondern eben darin betätigt sich das ethische Erkennen, daß es im einzelnen Fall entscheidet, wie mit Rücksicht auf die bestehenden Wirklichkeiten die sittlichen Forderungen zu vollziehen sind. Es sind damit keine niedrigen Kompromisse, sondern feinste Rücksichtnahmen gemeint, in [239] deren Übersehen ein zweifelloser Mangel der Kantischen Ethik zu erblicken ist.

Im Gegensatz zum extremen ethischen Rationalismus hat sich anderseits ein ebenso extremer Emotionalismus entwickelt, der alle Sittlichkeit im Gefühl verwurzeln will und alle Erkenntnis, besonders eine Berücksichtigung der Folgen, ausscheidet. Solcher Emotionalismus klingt oft aus Jesu Worten heraus, und ein gut Teil der christlichen Tugenden, besonders soweit sie das Mitleid obenanstellen, ist reine Gefühlsethik. Man nehme solche Kernworte der christlichen Moral, die die „Liebe” vor allem betonen: „Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen.” Oder: „Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern, so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar. Und so jemand mit dir rechten will und deinen Mantel nehmen, dem laß auch den Mantel. — Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht von dem, der dir abborgen will.” — In allen diesen Sätzen, denen man typischen Charakter nicht absprechen kann, wird nur das Gefühl berücksichtigt, aus dem heraus gehandelt wird, jedoch keine Erkenntnis der Folgen gefordert. Aber man stelle sich eine Welt vor, in der diese Sätze blind befolgt würden! sie würden nicht nur ein wildes Durcheinander, sie würden auch sittliche Verwilderung hervorrufen; denn sie müßten ja bei anderen die Triebe großziehen, die man in sich selbst unterdrückt. An falscher Stelle, wenn auch noch so herzlich gespendetes Almosen kann sittlich schädigen, die grundsätzliche Nichtsühnung von Frevel wird diesen zu üppigster Wucherung bringen.

Das Erkennen aber, das das ethische Handeln zu leiten hat, kann nicht rational sein, weil weder das ethische Subjekt rational ist, noch weil für die unendliche Fülle der Situationen, in denen es sich zu betätigen hat, eine rationale Formel auffindbar ist. Gewiß soll der Mensch einen sittlichen Kompaß haben, aber ein Kompaß ist kein fester Wegweiser, sondern nur ein Anhalt für höchst wechselnde Orientierung; es mag auch ein leuchtendes Ziel wie ein Leuchtturm vor dem Einzelmenschen [240] stehen, aber er wird nicht starr darauflos steuern, wenn er nicht bald auf Klippen geraten will. Weder das Gewissen, noch der „sittliche Takt”, oder wie man sonst die ethische Leitung des Handelns benennt, sind rationaler Art, sie sind auch nicht bloß dumpfe Gefühle, sondern sind besondere Formen des Erkennens, die sich oft bei ganz unrationalen Naturen am reinsten ausgeprägt finden. Eher noch könnte man von Instinkt reden, einem Instinkt jedoch, der, weit über angeborene Handlungsdispositionen hinauswachsend, eine geistige Wirklichkeit, eben die der sittlichen Forderungen, zu schaffen vermag.

10. Das schöpferische Erkennen als psychologisches Phänomen.

Wir finden also in merkwürdiger Übereinstimmung beim ästhetischen, religiösen und sittlichen Erkennen, daß sie alle nicht rational verlaufen, d. h. daß sie nicht nach begrifflich zu formulierenden, allgemeingültigen, absoluten Gesetzen vor sich gehen, sondern daß in ihnen sich das schöpferische Ich nach eignen, irrationalen Notwendigkeiten Wirklichkeiten schafft, die sich zum Teil in die gewöhnliche Wirklichkeit, diese umbildend, einfügen, aber daneben und darüber hinaus ihren eignen Wert in sich selber tragen. Der schöpferische Vorgang selbst stellt sich dabei als eine zum Teil wenigstens im Bewußtsein verlaufende Auswahltätigkeit dar, die deshalb als Erkennen gelten konnte, obwohl wir die Prinzipien der Auswahl ins Unbewußte verlegen und den geheimnisvollen, unbegreiflichen Charakter des Schöpfungsaktes zugeben mußten.

Es fragt sich nunmehr, ob es der Psychologie nicht möglich ist, noch etwas tiefer in das Wesen des schöpferischen Aktes einzudringen und wenigstens eine genauere Besprechung des Vorganges zu liefern. Vielleicht scheint sich zu seiner Charakteristik der Begriff der „Intuition” darzubieten, ein Begriff, der besagt, daß die Ergebnisse nicht empirisch induziert, auch nicht syllogistisch abgeleitet, sondern „erschaut” würden. Der Begriff des „Schauens” ist dabei natürlich nicht im sensorischen, sondern in einem dem gewöhnlichen Sehen durchaus entgegengesetzten Sinne zu nehmen. Er will ausdrücken, daß das Ergebnis [241] gleichsam visionär vor dem Geiste des Erkennenden ersteht, zunächst ohne jede Begründung, nur aus innerer Notwendigkeit erwachsend. Indessen hat dieser Begriff so mannigfache Umdeutungen erfahren, er ist z. B. bei Husserl rationalisiert, bei Bergson mehr im Sinne unserer Einfühlungserkenntnis verwendet worden, so daß man im Interesse einer klaren Begriffsbildung gut tut, ihn zu vermeiden.

Man hat nun in neuerer Zeit wiederholt unternommen, das schöpferische Erkennen psychologisch zu ergründen, indem man besonders die Zeugnisse der Künstler oder die Schilderungen religiöser Offenbarungserlebnisse heranzog. Ein gewaltiges Material ist zusammengetragen und nach mancherlei Gesichtspunkten geordnet. Aber kaum mehr als geordnet; denn lassen wir uns nicht täuschen durch allerlei Wissen, das auf diese Weise zusammengetragen ist: es sagt uns nicht mehr vom innersten Wesen des schöpferischen Erkennens, als uns vom innersten Wesen des pflanzlichen Lebens durch die Botaniker, Biologen, Chemiker usw. gesagt wird, die schließlich vor den letzten, wesentlichsten Fragen doch Halt machen müssen.

Die bisherigen Ergebnisse zur Analyse des schöpferischen Denkens sind teils materialer, teils funktionaler Art.

Material ist festgestellt, daß alle Inhalte der künstlerischen wie der religiösen Phantasie ursprünglich der Erfahrungswelt entstammen, daß sie nur Umschöpfungen von Gegebenheiten sind, die letzten Endes auf Wahrnehmungen zurückweisen. Wichtiger ist bereits die andere Feststellung, die besonders durch die Psychoanalyse, wenn auch vielfach in einseitiger Weise gemacht ist, daß die Inhalte des schöpferischen Denkens in symbolhafter Weise verwendet werden, das heißt, daß sie einen ganz anderen Sinn erhalten, der in ihnen nur angedeutet, nicht erschöpft wird. Dieser Umstand aber weist bereits auf die funktionalen Tatsachen hin.

Was die im schöpferischen Verhalten wirksamen seelischen Funktionen anlangt, so ist vor allem festgestellt, daß der klare, rechnende Verstand dabei oft geradezu ausgeschaltet ist, daß der schaffende Mensch das Gefühl hat, ganz im Banne einer [242] außerpersönlichen Macht zu stehen, daß er sich gleichsam empfangend verhält, was sich seit alters in der mythologischen Vorstellung der „Inspiration” kundgibt. Dieser Zustand aber ist getragen von einer emotionalen Erschütterung, so daß das Gefühl als durchaus leitend gegenüber allen Vorstellungsinhalten erscheint, und das, was diese Inhalte zu Symbolen werden läßt, sind ebenfalls Gefühle, Triebe, Willensregungen. Das seltsamste dabei ist jedoch, daß der Schaffensvorgang selbst ganz im Dunkeln bleibt, daß in der Regel das Resultat fertig wie ein Blitz aus dunkler Wolke aus der unbestimmten Gefühlserregung aufzuckt, ohne daß der Schöpfer selbst weiß, wie und weshalb, ohne daß er den Weg überschaute, auf dem er zu diesem Ergebnis gelangt ist. So ungern man es tun mag, man muß zugeben, daß sich der eigentliche Schaffensakt nicht im Bewußtsein, sondern im Unterbewußtsein vollzieht, daß unbewußte Auswahlprinzipien am Werke sind, die die später ins Bewußtsein tretenden Inhalte formen.

Über den Schaffensvorgang selbst aber können wir nur aussagen: Voraussetzung ist eine starke Erregung des emotionalen Untergrunds der Seele, ein Zustand, der in der empirischen Wirklichkeit vergeblich adäquate Befriedigung oder Entspannung sucht, und der deshalb sich eine Objektivation, die ihm das gewährt, selbst schaffen muß. Die Möglichkeit dazu bietet die mit einer Fülle von ursprünglich empirisch gewonnenen Vorstellungen frei schaltende Phantasie, die der erregten Emotionalität das Material liefert, das, in der Glut des erregten Gefühls umgeschmolzen, nicht eher zur Ruhe kommt, bis es eine Gestalt gewonnen hat, die als geschaffene Wirklichkeit die erregten Gefühle befriedigt und entspannt. Die Möglichkeit dazu ist in der Tatsache der symbolhaften Beziehung zwischen Gefühl und Bewußtseinsinhalt gegeben, die wir bereits aus dem Traumleben kennen, die jedoch im schöpferischen Zustand in objektive Gestaltung übergeführt wird.

Alles das aber führt stets zurück zu einer irrationalen, zugleich aber, da sie über die rationalen Möglichkeiten hinausgeht, auch überrationalen Erkenntnismöglichkeit, die bei besonders [243] veranlagten Individuen, den genialen Begabungen, am deutlichsten offenbar wird, aber auch bei durchschnittlichen Menschen in schwächerem Grade vorhanden ist, ja gerade bei ganz unrationalen Naturen, bei Kindern z. B., als oft ganz überraschender ästhetischer oder sittlicher Takt in Erscheinung tritt, so daß man annehmen muß, daß rationale Schulung hier oft mehr hinderlich als förderlich ist.

Indem wir hier die Grenzen der wissenschaftlichen Forschung aufzeigen und als notwendige Ergänzung des rational nicht Beschreibbaren eine irrational-überrationale Schöpferfähigkeit nachweisen, glauben wir trotz allem auch „wissenschaftlicher” zu verfahren als solche Erklärer, die, des rationalen Prinzipes willen, das Unerklärliche vertuschen und eine hypothetische Scheinmechanik des Seelenlebens verkünden.

Der Versuch, den Schaffensvorgang psychologisch zu fassen, ist neuerdings öfters gemacht. Vgl. Ribot: Essai sur l'Imagination créatrice, 1895; Müller-Freienfels: Psychologie der Kunst, II, 1922 (nur in der zweiten, stark veränderten Auflage zu benutzen!); Richard Hennig: Das Naturgefühl, die Inspiration, 1912; Utitz: Grundlegung der allg. Kunstwissenschaft, II, 1921; Volkelt: Ästhetik, III; zahlreiche Schriften zur Psychoanalyse beschäftigen sich ebenfalls mit diesen Problemen, so die von Freud, Rank, Jung, Pfister, Silberer, Reik u. a.

11. Das schöpferische Erkennen und die praktische Wirklichkeit.

Indessen ist das schöpferische Erkennen keineswegs auf die Sphären beschränkt, in denen ich sein Wirken zunächst kennzeichnete, weil es sich dort am freiesten entfalten kann; es betätigt sich auch allenthalben in der Welt des praktischen Lebens. Auch der Kaufmann, der große Unternehmungen einleitet, der Politiker, der kühne Pläne spinnt und durchführt, der Pädagoge, der junge Menschen bildet, der Arzt, der gewagte Operationen durchführt, und viele andere Typen, die organisatorisch in die Welt eingreifen, sie alle sind nicht bloß erkennend im Sinne rationaler Feststellung, sie sind schöpferisch Erkennende. Das ist der Volksmeinung durchaus vertraut, indem sie zugibt, daß ein echter Kaufmann, ein echter Politiker, ein echter Arzt oder Pädagoge alle etwas wie „Künstler” seien, [244] und indem sie bei ihnen allen von „Genialität” redet, womit sie besagen will, daß zum Wirken jener Männer nicht bloß rechnender Verstand, sondern noch etwas mehr, eben „Intuition”, gehöre. Wir wissen auch aus Aufzeichnungen großer Kaufleute, Erfinder, Feldherren, Staatsmänner, daß sie rein „intuitiv” verfuhren, daß sie die entscheidenden Entschlüsse nicht verstandesmäßig errechneten, sondern einer irrationalen Eingebung verdankten. Außerdem vollziehen sich solche Eingebungen oft unter ganz ähnlichen Begleiterscheinungen, wie wir sie bei Künstlern und religiösen Propheten fanden. Wir müssen also für derartige Leistungen ebenfalls eine unterbewußte Auswahltätigkeit des Geistes annehmen, wie bei dem Schaffen der Künstler, nur daß diese sich nicht frei schöpferisch betätigt, sondern noch mehr den Kontakt mit der empirischen Wirklichkeit wahrt, ihre Schöpfungen nicht als selbständige Gebäude über dem Boden der Realität errichtet, sondern ganz in dessen Umbildung aufgeht. Sobald es sich um tiefgreifende Umgestaltung der Wirklichkeit handelt, reicht rechnender Verstand nicht aus, dann muß der Geist schöpferisch werden, und in der Tat sind die größten Schöpfungen genialer Feldherren, Staatsmänner, Organisatoren, niemals klare Rechenaufgaben gewesen, sondern kühne Intuitionen. Und genau besehen haben die Taten solcher Männer ebensogut einen persönlichen „Stil” wie nur irgend die Schöpfung von Musikern oder Dichtern.

12. Das schöpferische Erkennen und die Wissenschaft.

Zum Schlusse komme ich noch zu der vielleicht merkwürdigsten Betätigung des schöpferischen Denkens, die seine Erkenntnisbedeutung auch denen aufzwingen muß, die für die Welt des ästhetischen, religiösen und sittlichen Lebens die Begriffe „Wirklichkeit” und „Erkennen” nicht zugeben wollen. Denn das schöpferische Erkennen betätigt sich auch auf jenem Gebiete, das für die rationale Logik vielfach die Wirklichkeit schlechthin repräsentiert: auf dem Gebiete der Wissenschaft. Es ist eine Tatsache, daß auch hier die bedeutendsten Erkenntnisse, alle wahrhaft genialen Einsichten nicht rational deduziert oder streng empirisch induziert, sondern „intuitiv” erkannt [245] worden sind. Und zwar gilt das nicht bloß von der Philosophie, deren Verfahren ich besonders behandeln werde, es gilt auch von streng exakten Wissenschaften. Dafür haben wir ganz sichere Selbstzeugnisse von sehr gewissenhaften Forschern, an deren Verläßlichkeit nicht zu zweifeln ist.

Ich gebe nur einige Beispiele, und zwar lasse ich der Mathematik den Vortritt, weil von den Rationalisten gerade diese Wissenschaft immer wieder als ausschließliche Domäne der reinen Logik, das heißt eines streng rationalen Denkens in Anspruch genommen wird. So wird von Gauss der Ausspruch berichtet, er habe seine Resultate alle, er müsse nur sehen, wie er dazu gekommen sei! — Ein derartiges Geständnis hat wenig zu tun mit dem Denkverfahren, das die rationale Logik schildert! Und ebensowenig wird sie sich über das berühmte Selbstzeugnis freuen, das Helmholtz in der Tischrede an seinem 70. Geburtstag ablegte. „Wer will solche Geistesblitze zählen und wägen, wer den geheimen Wegen der Vorsehungsverknüpfung nachgehen, dessen 'was von Menschen nicht gewußt oder nicht bedacht, durch das Labyrinth der Brust wandelt in der Nacht' ... Ich muß sagen, als Arbeitsfeld sind mir die Gebiete, wo man sich nicht auf günstige Zufälle und Einfälle zu verlassen braucht, immer angenehmer gewesen. Da ich aber ziemlich oft in die unbehagliche Lage komme, auf günstige Einfälle harren zu müssen, habe ich darüber, wann und wie sie mir kamen, einige Erfahrungen gewonnen, die vielleicht anderen noch nützlich werden können. Sie schleichen oft ganz still in den Gedankenkreis ein, ohne daß man gleich von Anfang an ihre Bedeutung erkennt; dann hilft später zuweilen nur noch ein zufälliger Umstand zu erkennen, wann und unter welchen Umständen sie gekommen sind; sonst sind sie da, ohne das man weiß, woher. In anderen Fällen aber treten sie plötzlich ein, ohne Anstrengung, wie eine Inspiration.” — Und vielleicht noch deutlicher tritt der intuitive Charakter des schöpferischen Denkens heraus in folgendem Bericht über die Aufstellung der Benzolformel C6H6, einer der bedeutsamsten theoretischen Funde der neueren Chemie, durch den Forscher Kekulé von Stradonitz: Tagelang hatte er [246] vergeblich darüber nachgegrübelt, wie wohl die Struktur des Benzolkörpers beschaffen sein könne, da die obige Formel mit der Vierwertigkeit des Kohlenstoffatoms und der Einwertigkeit des Wasserstoffatoms durchaus nicht in Einklang zu bringen war. Da nun passierte es ihm, wie er selbst erzählt, daß er eines Tages, als er auf dem Verdeck eines Omnibus fuhr, unter den mannigfachen Gestalten und geometrischen Gebilden, die vor seinem unausgesetzt arbeitenden Geiste auf und ab wirbelten, plötzlich eine Schlange erblickte, die sich in den Schwanz biß — die geniale Inspiration war da; der Benzolring und mit ihm des Rätsels Lösung war gefunden:

„Benzolring”         H
        |
H      C      H
 \  ///   \\\  /
   C       C
  |||      |||        „Benzolring”
   C       C
 /  \\\   ///  \
H      C       H
        |
        H

Das alles aber ist exakte Wissenschaft! Aus dem Bereiche der Geisteswissenschaften sind naturgemäß die Beispiele solcher „Inspirationen” noch weit häufiger.

Der psychologischen Erscheinung nach stehen solche wissenschaftlichen Entdeckungen jedenfalls der Kunst weit näher als aller Methodenlehre, wie sie in Lehrbüchern der Logik geschildert wird. Und doch wird man jenen Meistern der Forschung, die aus Erfahrung sprechen, mehr trauen müssen, als allen „Methoden”, die von in der Regel selbst wenig schöpferischen Geistern am Schreibtisch ausgeklügelt sind.

Aber es ist keineswegs die Form des seelischen Geschehens allein, was das wissenschaftliche Schaffen den übrigen Arten des schöpferischen Denkens so nahe rückt: es ist auch jene tiefere Beziehung zwischen Persönlichkeit und Werk, die wir in der Kunst als „Stil” bezeichnen, und die auch im wissenschaftlichen Forschen [247] besteht. Es gehört zu den feinsten Reizen der Geistesgeschichte, dem nachzuspüren. Freilich nach vielen Darstellungen rein rationalen Charakters sieht es aus, als stünden die zu machenden Entdeckungen wie Meilensteine an der Straße, und es sei nur Sache des zufällig daherkommenden und methodisch weiterschreitenden Mannes, die weiteren Etappen der klar vorgezeichneten Straße zu erreichen. , Feinere Beobachtung aber hat schon längst gesehen, daß auch große Entdeckungen nicht „zufällig” geschehen, daß nicht jeder sie auflesen kann wie Steine von der Straße, sondern daß sie ebenso „geschaffen” werden wie große Kunstwerke, daß sie „erschaut” werden, wie ein großer Künstler sein Bild im Naturgegenstand erschaut. Ja, nicht nur der Charakter der individuellen Persönlichkeit drückt sich in wissenschaftlichen Schöpfungen aus, auch der Charakter des Volkes und der Zeit. Auch im überindividuellen Sinne haben wissenschaftliche Entdeckungen „Stil”. Die von Descartes entdeckte analytische Geometrie hat nicht nur den gleichen Charakter wie seine Philosophie, sie hat auch zugleich den Stil des französischen Geistes und der ausgehenden Renaissance, genau wie es kein Zufall war, daß der vielbewegte Leibniz, der die Substanz gleich Kraft setzte, die Differentialrechnung erfand, die sowohl im germanischen Geiste wie im Geiste der Barockzeit, der er angehörte, konzipiert war. Die großen Leistungen der Forscher sind nicht bloß „Entdeckungen”, das heißt äußerliches Auffinden eines gegebenen Tatbestandes, sie sind zugleich Schöpfungen, in denen sich das schaffende Ich die Wirklichkeit nach seinem Bilde formt, ohne darum deren Charakter als Wirklichkeit aufzuheben. Die wissenschaftlichen Weltbilder, die uns die Geistesgeschichte zeigt, sind keineswegs bloß objektive Abspiegelungen, die sich in immer größerer Abbildtreue steigern, sondern jedes steht in notwendiger Korrelation zu den Individuen und der Zeit, die es geschaffen haben. Die Geistesgeschichte pflegt oft gerade diese persönlichen Elemente zu unterdrücken zugunsten eines rationalen Fortschrittes der Wissenschaft. Das mag praktisch berechtigt sein, ist jedoch eine Einseitigkeit. Philosophisch betrachtet gehören auch die „Irrtümer” [248] in jedes historische Weltbild als Notwendigkeiten hinein, ja oft kommt es vor, daß das, was früher als Irrtum schien, später wieder den Charakter der Wahrheit erhält. So glaubte das Mittelalter an den Erkenntniswert der Träume, das 19. Jahrhundert lehnte das als Irrtum ab, bis jetzt in der Freudschen Psychoanalyse die Traumdeutung, wenn auch stark modifiziert, erneut Erkenntnischarakter bekommt. Der Vitalismus, von Lotze und Claude Bernard mausetot geschlagen, ersteht in der neuesten Biologie vertieft und vervollkommnet wieder. Die Huygenssche Theorie vom materialen Charakter des Lichtes lebt in der neuesten Physik wieder auf, und tausend andere Beispiele ließen sich nennen.

Alles das beweist, daß auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht absolute Wahrheiten sind, sondern schöpferische Erzeugnisse des Menschengeistes, um die stets nur fragmentarisch gegebenen und verschieden bewertbaren Tatsachen zu geschlossenem Zusammenhang zu komplettieren.

Die Wissenschaft ist eben in keinem Falle bloß Feststellung garantiert sicherer Tatsachen, sondern schöpferische Bearbeitung von an sich vieldeutigen Tatbeständen, die soweit als Wahrheit gilt, als sie den vitalen Notwendigkeiten einer Zeit genugtut. Der einen Zeit stellt sich die Weltgeschichte als bewußte Gestaltung von Individuen dar, der folgenden als Auswirkung unpersönlicher, vor allem wirtschaftlicher Mächte usw. Die „Natur” gilt bald als Komplex starrer Gesetze, bald wird sie mehr im organischen Sinne gefaßt.

Stets aber ist die Wissenschaft subjektgeborene Gestaltung der Welt, die allerdings alles in sich aufnehmen muß, was sich empirisch verifizieren läßt, die jedoch mannigfach durchsetzt ist von Fiktionen und Hypothesen und gerade durch diese erst fruchtbar wird. Aus unmittelbar verifizierten Tatsachen (an sich bereits ein recht unkritischer Begriff!) läßt sich keine Wissenschaft aufbauen. Wissenschaft aber ist mehr als nur unmittelbar verifizierte Empirie, sie ist Gestaltung, Schöpfung! Und [249] das eben ist das „Wunderbare”, rational nicht ganz Erklärbare, daß die schöpferisch arbeitende Erkenntnis, aller Empirie vorausgreifend, Ergebnisse erschaut, die sich nachher exakt in den bisherigen Erkenntnisbestand einfügen lassen, so daß sich subjektive Notwendigkeit mit objektiver Notwendigkeit begegnen.

Sehr brauchbar scheint mir, um die Verschiedenheiten des Denkens zu charakterisieren, der Ausdruck „Denkdialekt”, den P. Feldkeller verwendet, in seinem Buche „Graf Keyserlings Erkenntniswege zum Übersinnlichen”, 1922, das mehr gibt als sein Titel verspricht, und das mir erst nach Abschluß dieser Untersuchungen bekannt geworden ist.

13. Das mathematische Erkennen als schöpferisches Erkennen.

Als schöpferische Erkenntnis muß man sogar den „rocher de bronze” alles Rationalismus, die Mathematik charakterisieren. Wir ließen sie früher mit Vorbehalt als „a priori” gelten, in dem Sinne, daß ihre Denkinhalte als „allgemeingültig” angesehen werden können. Indessen besteht in der neueren mathematischen Theorie eine Richtung, die abführt von jener Annahme.

Wenn von rationalistischer Seite behauptet wird, die mathematischen Sätze müßten für jedes, nicht bloß das menschliche Denken schlechthin gelten, so ist diese Behauptung zunächst gar nicht nachprüfbar. Das tierische Erkennen kommt sicherlich ohne Mathematik aus, und wir können uns auch ein göttliches Denken vorstellen, das ohne Zählen, Messen, Rechnen Tatsachen erfaßte, die wir nur auf diesem Wege zu beherrschen vermögen.

Aber selbst für das menschliche Denken haben die mathematischen Lehren mancherlei von ihrem a priorischen Charakter eingebüßt. Zugegeben war seit je, daß die Axiome der Geometrie nicht rational zu begründen seien. Die neuere Forschung hat nun, indem sie das Euklidische Parallelenaxiom anders formulierte, Möglichkeiten eröffnet, die die Alleinherrschaft der Euklidischen Geometrie und damit ihren Anspruch auf Absolutheit bedeutend einschränken. Natürlich suchen auch die Rationalisten die metageometrischen Tatsachen in ihr Weltbild einzufügen. Es ist hier nicht der Raum, das eingehend zu erörtern. Ich erwähne hier nur, daß ein Denker vom Range Henri Poincares den Anspruch auf absolute Logizität, auf rationale Allgemeingültigkeit [250] der Euklidischen Geometrie jedenfalls unbedenklich preisgibt, indem er einen Standpunkt vertritt, den man in meinem vital-realistischen Sinne als irrationalistisch ansprechen muß. Nach Poincare nämlich beruht der Vorzug der Euklidischen Geometrie nicht darin, daß sie in einem absoluten Sinne richtig ist, sondern daß sie für Wesen just unserer Organisation die brauchbarste ist. Ich führe seine eigenen Worte an: „Man sagt oft, daß die individuelle Erfahrung des Einzelnen zwar niemals die Geometrie schaffen konnte, daß aber die Erfahrungen unserer Vorfahren dazu wohl imstande waren. Was meint man damit? Will man damit behaupten, daß man das Euklidische Postulat zwar nicht experimentell prüfen könne, daß aber unsere Vorfahren es gekonnt haben? Nichts weniger als dies; man will vielmehr sagen, daß unser Verstand sich durch natürliche Zuchtwahl den Bedingungen der äußeren Welt angepaßt hat, daß er diejenige Geometrie angenommen hat, welche für die Gattung am vorteilhaftesten war, oder mit anderen Worten: die am bequemsten war.” In diesem Sinne meine ich es, wenn ich auch die mathematische Erkenntnis als schöpferisch ansehe: sie ist es darum, weil sie unserer Organisation gemäß entwickelt wird, nicht willkürlich, sondern mit notwendiger Beziehung zu den Lebenstendenzen eben der menschlichen Subjektivität. Da wir für diese jedoch nicht Allgemeingültigkeit schlechthin postulieren dürfen, da wir, wie das auch Poincare und andere Metageometriker tun, Wesen ganz anderer Organisation denken können, so ist eben die Euklidische Geometrie nicht rational im absoluten Sinne, sondern Schöpfung im Dienste der Beherrschung der Wirklichkeit.

Von den Werken H. Poincares nenne ich vor allem: „Der Wert der Wissenschaft” (deutsch 1906) und „Wissenschaft und Hypothese” (deutsch 1906). Das Zitat aus dem zweiten Werke, S. 90. — Die Irrationalität der mathematischen Gebilde auch innerhalb der menschlichen Sphäre hat neuerdings in geistreicher Weise O. Spengler durchzuführen gesucht. Wenn ich auch mit ihm annehme, daß selbst bis in die Mathematik hinein die psychophysischen Verschiedenheiten der Menschen-typen reichen, so ist mir doch die Durchführung dieses Gedankens bei Spengler allzu hypothetisch.

[251]

14. Die Überrationalität des schöpferischen Erkennens.

Die selbständige Bedeutung des schöpferischen Erkennens als eines eigenen Erkenntnisweges ist durch seine Erfolge auf allen Gebieten außer Zweifel gerückt. Sie wird auch nicht dadurch herabgedrückt, daß unsere heutige Psychologie sie nicht restlos zu erklären vermag. Wir werden nicht wie mythengläubigere Zeiten eine göttliche Inspiration anzunehmen brauchen, und doch muß man es offen aussprechen, daß auch für uns die schöpferische Tätigkeit des menschlichen Geistes viel Geheimnisvolles birgt. Es ist „wissenschaftlicher”, das offen auszusprechen, als unzulängliche oder trügerische Erklärungen, z. B. solche aus der Pathologie, als zureichende zu unterschieben.

Sobald wir die menschliche Geistesgeschichte einmal nicht als unpersönlich zusammengekommene Anhäufung von allerlei Wissen, das unter abstrakten Gesichtspunkten geordnet ist, anschauen, sondern so, wie sie zustande kommt, als Schöpfung, in unmittelbarstem Konnex mit den schöpferischen Subjekten, dann gewinnt alles ein ganz neues Gesicht. Vieles, was bis dahin zufällig erschien, erhält den Charakter einer subjektiven, statt der bisher fiktiv angenommenen objektiven Notwendigkeit. Hinter all den tausend Formen wirken sich bestimmte, wenn auch nicht rational erfaßbare Subjekte aus, die sich wiederum (nicht durch äußere Beeinflussung, sondern durch eine innere, metaphysische Ergänzung) zusammenschließen zu höheren Subjektivitäten, die, sich staffelnd und sich kreuzend, als Völker, Zeitalter, als die Menschheit und vielleicht darüber hinaus als metaphysische Wesenheit erscheinen, für die ich den Namen „das Leben” eingeführt habe. Daß die landläufige Geschichtsschreibung berechtigt ist, die Entwicklung der Kunst, der Religion, der Wissenschaft unter rationalisierenden Gesichtspunkten anzuschauen und das Persönliche zurückzudrängen, soll nicht bestritten werden; sie muß sich aber des fiktiven Charakters dieses Verfahrens bewußt sein und auch die andere Seite sehen, daß alle Geistesgeschichte nicht bloß Objektivität enthüllt, sondern zugleich sich aus einer Reihe persönlicher, schöpferischer Leistungen aufbaut, die nicht zufällig sind, sondern den Charakter vitaler Notwendigkeiten haben.

[252] Erst kraft der schöpferischen Geistestätigkeit wird der Bau der menschlichen Erkenntnis, der durch die übrigen Erkenntnismittel nur fragmentarische, wenn auch notwendige Fundamente bekam, zu einem (stets allerdings relativen) Abschluß gebracht, indem man seine Fundamente mit kühnen Wölbungen überdeckt, die zwar nicht alle auf dem Boden der Empirie aufruhen, aber dennoch sich durch eigene Stützkraft halten. So schafft sich jede Gruppe der Menschheit eine Wohnung, die für ihre Zwecke ausreicht, wenn sie auch unablässigen Umbauten unterworfen bleibt und bleiben muß, die oft sogar in die Fundamente hinabgreifen. So, nicht im Bilde der berühmten rationalen Begriffspyramide stellt sich das menschliche Erkenntnisleben dar; denn die bauende Erkenntnis ist niemals völlig rational, sondern bei allem Streben nach Rationalität im tiefsten irrational.

Irrational aber nannte ich das schöpferische Erkennen zunächst in dem negativen Sinne, daß es nicht durch die Ratio zustande kommt. Ein Überblick über seine Leistungen jedoch zeigte uns deutlich, daß diese negative Kennzeichnung nicht genügt, daß es darum keineswegs als „unvernünftig”, zufällig, chaotisch anzusehen ist, sondern daß das irrationale Erkennen positive Züge trägt, indem sich darin eine innere Notwendigkeit auswirkt, die nicht unterrational, sondern eher überrational ist, da sie Leistungen vollbringt, die von der Ratio nicht vollbracht werden können.

Wir müssen also im Irrationalen ein positives Prinzip anerkennen, das wir in der Subjektivität zu suchen haben, also im Ich, im Leben. Dies verfährt irrational, und wir können nicht nur sein Verfahren, sondern auch dies Prinzip selbst als irrational bezeichnen in dem Sinne, daß wir von einer irrationalen Betätigung auf ein irrationales Subjekt schließen, genau wie der Rationalismus von der rationalen Betätigung auf ein dieser wesensgleiches Subjekt schloß: die Ratio, die absolute Vernunft. Auch wir nehmen ein solches Subjekt an, das jedoch nicht im menschlich-rationalen Sinne vernünftig ist, auch nicht etwa unvernünftig, sondern das wir als „Übervernunft” kennzeichnen müssen.

Berlin-Halensee 1922. Richard Müller-Freienfels.


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Erstellt am 25.12.2010 - Letzte Änderung am 26.12.2010.