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Inhaltsverzeichnis
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Kap. I.
Grundlegende Verständigung über das Wesen des Erkennens.
[016] 1. Der Begriff der Erkenntnis als Problem
[018] 2. Die Erkenntnis als Wert (die subjektive Seite des Erkennens)
[025] 3. Die Wirklichkeit als Erkenntnisziel (die objektive Seite des
Erkennens)
[029] 4. Das theoretische Erkennen als mittelbares Wirklichkeitserkennen
[033] 5. Subjekt und Objekt des Erkennens. Vitalrealismus
[038] 6. Konfrontation mit anderen Erkenntnislehren
[045] 7. Die Bewußtseinskriterien für die „Richtigkeit” des Erkennens
[052] 8. Zusammenhangsgemäßheit der Erkenntnis
[058] 9. Rationales und irrationales Erkennen
Kapitel 1 als Text-File
Kap. II.
Das natürliche Denken und die Sprache als Erkenntnismittel.
Kap. III.
Das rationalisierende Denken.
Kap. IV.
Das singularisierende Erkennen.
Kap. V.
Das instinktive Erkennen.
Kap. VI.
Die Einfühlungserkenntnis.
Kap. VII.
Das schöpferische Erkennen (Die Intuition).
Kap. VIII.
Die Selbsterkenntnis.
Kap. IX.
Irrationalistische Philosophie.
Kapitel I.
Grundlegende Verständigung über das Wesen des Erkennens..
. . . Und er will – Wahrheit. Wahrheit!
Und will sie so, – so baar, so blank, – als ob die Wahrheit Münze wäre! . . .
Wie Geld im Sack, so striche man im Kopf
Auch Wahrheit ein?
Lessing (Nathan der Weise).
Was fruchtbar ist, allein ist wahr!
Goethe.
1. Der Begriff der Erkenntnis als Problem.
Zwei Parteien also stehen einander in der Erkenntnisfrage entgegen: die scheinbar geschlossene Phalanx der Rationalisten und die buntscheckigen Heerhaufen der Irrationalisten. Beide Parteien erklären, Erkenntnis zu erbringen; jede aber behauptet zugleich, die Erkenntnis der anderen sei unzulänglich.
Ehe wir in den Streit selber eintreten, gilt es das Ziel, um das gekämpft wird, genau zu bestimmen. Zu fragen: was ist überhaupt Erkenntnis? Zu unserem Erstaunen bemerken wir nämlich, wenn wir bei der zuständigen Instanz, der Philosophie, anpochen, daß diese jenen Begriff entweder ungeprüft vorausgesetzt oder aber einseitig auf den der wissenschaftlichen, rationalen Erkenntnis eingeschränkt hat. Ja nicht einmal die gesamte Wissenschaft läßt man immer als vollwertige Erkenntnis gelten. Für die meisten Kantianer ist die mathematisch-naturwissenschaftliche Erkenntnis die einzige, die im Ernste diesen Namen verdient. Andere Denker lassen daneben die Ergebnisse der Geistes- oder Kulturwissenschaft als Erkenntnisse gelten. Aber außer der Wissenschaft wollen die Philosophen in der Regel nicht von Erkenntnis sprechen.
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In dieser Einschränkung liegt sicherlich eine Gewaltsamkeit. Denn die lebendige Sprache braucht die Begriffe „Erkennen” und „Erkenntnis” in viel weiterem Sinne. Man „erkennt” aus Anhalten, die man nicht genau bezeichnen kann, sofort, ob einem ein neuer Mensch sympathisch ist oder nicht. Ein Börsenmann „erkennt” aus vielen Anzeichen, daß es höchste Zeit ist, gewisse Werte zu veräußern. Ein Politiker „erkennt”, daß seine Diplomatie in schwierige Lage geraten ist. Ein Maler „erkennt”, daß auf seinem Gemälde an bestimmter Stelle die Valeurs zu ändern sind. Ja auch bei Tieren, die gefährliche Feinde fliehen, unter mannigfachen Früchten die giftigen meiden, die schmackhaften bevorzugen, zumal beim Vogel, der sich in schwierigem Gelände orientiert, muß man doch von „Erkennen” sprechen!
Ohne Zweifel sind alle diese Erkenntnisse nicht in allgemeingültigen Begriffen und Sätzen formuliert, sie sind oft nur in einer unwiederholbaren Situation gültig, sie sind Erkenntnisse nur für eine bestimmte Subjektivität, ja,sie erschließen überhaupt nicht etwas rein Objektives, sondern nur eine zwar notwendige, aber nicht allgemeingültige Beziehung zwischen Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt. Der Rationalismus aber rechnet mit einem „allgemeinen” Subjekt und einem ebenso „allgemeinen” Objekt der Erkenntnis, die, als überall gleiche Faktoren, aus der Rechnung auch herausfallen können. Erkenntnis in diesem Sinne ist etwas von allem Wandel der Subjekte wie der Objekte Loslösbares, etwas „Absolutes”, das ohne tiefere Beziehung zur Individualität des Erkennenden wie zur Individualität des zu Erkennenden weitergegeben werden kann wie Bargeld. Eine solche Erkenntnis ist jedoch, an der uns zugänglichen Wirklichkeit gemessen, eine Fiktion, die praktisch wertvoll sein kann, aber mannigfacher Korrekturen bedarf. Denn versuchen wir, sie ins Leben überzuführen, so stoßen wir mit Schritt und Tritt auf die Irrationalität der Außenwelt wie der Innenwelt. Es gibt täglich tausenderlei Lagen des Lebens, in denen wir mit einer rein rationalen, wissenschaftlichen Erkenntnis so hilflos wären wie mit Kanonen auf der Vogeljagd. Und ebenso zeigt uns das Leben, daß nicht ein „erkenntnistheoretisches
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Subjekt”, sondern lebende Individuen und Gruppen von solchen die unausschaltbaren Träger des Erkennens sind. Wir dürfen also auf keinen Fall nur die rationale Erkenntnis als Erkenntnis ansehen, wenn wir uns nicht mit dem Leben in unüberbrückbaren Gegensatz bringen und reine Bücherstubenerkenntnis kultivieren wollen. Die Welt ist viel zu reich, als daß sie auf nackte rationale Formeln zu bringen wäre, und es sind uns andere Wege als die der streng rationalen Wissenschaft offen zu diesem Reichtum! Ja, es wird sich darlegen lassen, daß fast alle Wissenschaften sich außer rationaler Methoden auch irrationaler Denkmittel bedienen, so daß es ebenso falsch ist, die wissenschaftliche Erkenntnis als rein rational zu fassen, wie es falsch ist, alle Erkenntnis auf die angeblich rein rationale Wissenschaftserkenntnis einzuschränken.
Es ist also notwendig, zunächst einen Erkenntnisbegriff zu entwickeln, der rationales und irrationales Erkennen zugleich umspannt.
Das Unzureichende der Einschränkung des Erkenntnisbegriffs auf das mathematisch-naturwissenschaftliche Erkennen ist in neuerer Zeit oft ausgesprochen worden, am energischsten wohl von Rickert (bes. „Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung”), obgleich auch er nicht alle übrigen Denkwege berücksichtigt.
2. Die Erkenntnis als Wert (die subjektive Seite des Erkennens).
Um den Begriff der Erkenntnis in seinem ganzen Umfang positiv zu bestimmen, sei zunächst, nach dem logischen Hausrezept, das Genus proximum aufgesucht! Als solches ergibt sich der Begriff: „seelischer Vorgang” oder auch „seelisches Erlebnis”. Ausdrücklich nehme ich dabei den Oberbegriff sehr weit, setze nicht etwa das „Denken” oder das „Vorstellen” als genus proximum; denn ohne Zweifel muß man, wofür ich Beispiele genug erbringe, von Gefühls-, Instinkts-, Sinneserkenntnis reden, die wohl vom Oberbegriff seelischer Vorgang, nicht aber von dem des Denkens oder Vorstellens umspannt werden. –
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Nun zur Frage der besonderen Merkmale! Vielleicht scheint die Antwort nahezuliegen, Erkenntnis sei eben richtiges Denken, Vorstellen, Empfinden oder was sonst für ein seelisches Erleben vorliege. Der Gegenbegriff zu Erkenntnis sei der „Irrtum”. Zugegeben! Nur sind wir mit dieser Lösung nicht viel weiter; denn nun müßten wir wissen, was denn das „richtige” Denken usw. kennzeichnet. Ich werde später zu zeigen haben, wie außerordentlich verschiedene Merkmale man für die „Richtigkeit” des Denkens erbracht hat: bald soll es die Evidenz, bald die Urteilsnötigung, bald das Prinzip des kleinsten Kraftmaßes oder der consensus gentium oder ein anderes Kriterium sein, was Erkenntnis von Irrtum scheidet. Indessen zeigt die Geschichte des menschlichen Geistes, daß keines dieser Merkmale absolut gilt, daß das, was heute auf Grund solcher Kriterien Irrtum heißt, vielleicht gestern noch als höchste Erkenntnis gepriesen wurde. Können doch selbst die Grundsätze der Newtonschen Physik, an denen Kant seine Erkenntnislehre hauptsächlich illustrierte, im Zeitalter der Relativitätstheorie nur noch sehr bedingt als Erkenntnisse gelten. Ein objektives Merkmal, an dem man Erkenntnisse und Irrtümer voneinander unterscheiden könnte, wie Basen und Säuren nach ihrer Reaktion auf Lackmuspapier, gibt es nicht. Ein geistiger Inhalt als solcher ist niemals „an sich” richtig oder unrichtig, sondern es steckt im Begriffe des Richtigen eine Relation, die „Gerichtetheit”, die „Richtung” eines Subjekts auf ein Objekt, und je nachdem ein geistiger Inhalt dieser „Richtung”, die ihrerseits nicht immer die gleiche zu sein braucht, gemäß oder nicht gemäß ist, ist er „richtig” oder „unrichtig”. Wir müssen also hinter den genannten Kriterien, die alle nur den aktuellen Bewußtseinsbefund berücksichtigen, ein tieferes Prinzip suchen, das uns gestattet, die Bewußtseinsinhalte als „Erkenntnis” oder „Irrtum” anzusprechen.
Die Tatsache, daß bei allem „Erkennen” die Gerichtetheit eines Subjekts auf ein Objekt, deren Wesen wir vorläufig dahingestellt sein lassen, vorauszusetzen ist, wird auch durch eine genauere Analyse der genannten Erkenntniskriterien bestätigt.
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Sie alle, Evidenz und Urteilsnötigung oder Kraftersparnis usw. haben das gemein, daß sie Wertungen sind, daß sie, wenn auch nach verschiedenen Prinzipien bejahen oder verwerfen. Wir können, auf dem Boden der Erfahrung (in diesem Fall der menschlichen Geistesgeschichte) bleibend, sagen, als Erkenntnis hat je und je nur ein solcher seelischer Inhalt gegolten, der unter irgendeinem Gesichtspunkt als wertvoll erschienen ist.
Damit kommen wir zu der allgemeinsten Charakteristik alles Erkennens im Hinblick zunächst auf das Subjekt. Es kreuzen, wenn wir über ein Problem nachdenken, eine Fülle von geistigen Inhalten unser Hirn: sie alle sind nicht Erkenntnis, solange sie nicht einen besonderen Wertcharakter tragen, solange sie nicht einer bestimmten Gerichtetheit des Subjekts entsprechen. Kurz, wir müssen zu der Bestimmung des Erkennens außer der Feststellung seines seelischen Charakters noch die Feststellung eines Wertcharakters hinzunehmen. Erkenntnisse sind, vorläufig definiert, Denk-, Empfindungs- oder andere seelische Inhalte mit Wertcharakter.
Aber auch der Begriff des Wertes bedarf genauerer Bestimmung, besonders angesichts der Tatsache, daß vielfach in einer logisch nicht zu rechtfertigenden Abstraktion der Wert vom Subjekt gelöst, von absoluten Werten geredet wird. „Wert” kann etwas nur für jemand haben, auch Wert ist stets ein Relationsbegriff; und etwas, was für niemand und nichts Wert hat, ist kein absoluter Wert, sondern eine logische Unmöglichkeit. Wir schließen uns also mit Entschiedenheit jenen Denkern an, die in aller Wertung eine subjektive Beziehung (sei sie „biologisch” oder „psychologisch” oder „soziologisch”) als notwendig mitdenken, und lehnen jede absolutistische Werttheorie ab.
Das Problem ist uns nicht, ob zu aller Wertung, also auch der Erkenntniswertung, ein subjektiver Faktor als wesentlich hinzugehört, sondern wie dieser zu charakterisieren ist. Die Meinungen gehen da auseinander: bald soll es ein Wollen, bald ein Gefühl oder ein geistiger Akt besonderer Art sein: mir scheint es notwendig, einen Begriff zu finden, der alles das umspannt,
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und als solcher bietet sich nur der des Bedürfnisses. Wert ist alles, was einem Bedürfnis des Subjekts entgegenkommt, einerlei, ob sich dies als Wollen oder Gefühl oder sonstwie im Bewußtsein geltend macht, ja es kann auch unbewußt sein, denn es kann etwas von Wert sein, ohne als Wert bewußt zu werden.
Höchstens der Ausdruck „Streben” könnte auch eingeführt werden, da er ebenfalls das unbewußte Bedürfen umfaßt und die Aktivität des Ich noch mehr betont. Wir sagen also, Wert ist alles, was einem Bedürfnis oder einem Streben genugtut.
Indem wir also die Erkenntnis als einen „Wert” ansprechen, ist vorläufig wenigstens etwas Wichtiges festgestellt: die Beziehung zum Subjekt. Eine Erkenntnis setzt stets einen Erkennenden voraus, einen, der ihrer bedarf. Wenn von manchen Logikern erklärt wird, der Satz, daß Wasser sich aus H und O zusammensetze, sei eine Erkenntnis, einerlei, ob ein Subjekt ihn denke oder nicht, so verwechselt sie Gegenstand der Erkenntnis und Erkenntnis selbst. Erkenntnis wird jener Satz erst in dem Augenblick, wo ein Subjekt seiner bedarf, wo es ihn als Wert erlebt. Man mag einen Knaben, der keinerlei Erkenntnisstreben hat, solche Sätze auswendig lernen lassen und sie ihm hundertmal erklären: solange es dem Lehrer nicht glückt, den Willen zum Erkennen zu erwecken, solange bleiben jene Sätze toter Ballast, werden aber niemals Erkenntnis. Der Logismus verwechselt Erkenntnismöglichkeit mit der lebendigen Erkenntnis selbst, ein Fehler, auf den ich später noch zurückkomme. Der Logist macht den Fehler, daß er einen Mittelwert für einen unmittelbaren Wert hält, er verhält sich wie der Geizige, der das Gold nicht als Mittel zu Eigenwerten schätzt, sondern es fälschlich für einen Eigenwert erklärt, so daß er zuletzt wie Midas in der tiefsinnigen Sage für das wirkliche Leben untauglich wird. Wie das Gold nur an Wert ist, wenn es gelingt, es in unmittelbare Lebenswerte umzusetzen, so sind auch die abstrakten Erkenntnisse nur dann Werte, wenn sie Bedürfnissen lebendiger Subjekte entgegenkommen.
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Als wertsetzende Subjekte aber kommen in erster Linie Individuen, in zweiter Linie Gruppen von Individuen und in dritter Linie etwa „die Menschheit” in Betracht, obwohl alle Gruppen, wie auch „die Menschheit”, sich aus Individuen zusammensetzen. Daß manche neuere Logiker auch noch die Logik des göttlichen Denkens gleich miterledigen, mag ihnen im Himmel gut angeschrieben werden, für menschliches Erkennen sind solche Spekulationen belanglos. Vermutlich ist dem lieben Gott der Satz, daß 2x2=4 ist, der ein Beispiel für angeblich absolute Erkenntnis sein soll, keinerlei Erkenntnis, sondern ziemlich gleichgültig. Auch das abstrakte „erkenntnistheoretische Subjekt” kann zwar für manche Fälle eine brauchbare Fiktion sein, ist aber doch nur eine Abstraktion, die das allen Menschen Gemeinsame zusammenfaßt, zugleich aber jeden Zusammenhang mit den lebendigen Trägern der Erkenntnis darum preisgibt.
Ich betone jedoch mit aller Schärfe, daß mir als Wertsubjekt nicht der Einzelmensch allein, sondern auch die soziale Gemeinschaft gilt, Wenn ich von Subjektivität des Erkennens spreche, lehre ich keinen wilden Individualismus, sondern der Begriff des Subjektiven ist scharf zu scheiden von dem Begriff des Individuell-subjektiven oder auch kurz des Individuellen. Wir sind alle in unseren Wertungen niemals rein individuell, sondern sind stets zugleich Glieder von Gemeinschaften: zeitlichen, völkischen, ständischen und anderen. Je nachdem die Zugehörigkeit zu solchen Gruppen hervortritt, ist unsere Wertung verschieden. Allerdings setzen sich die Gruppen aus Individuen zusammen, und so ist alles tatsächliche Werterleben ein seltsames, tausendfältig verflochtenes Hin- und Widerspiel von individueller und überindividueller Subjektivität, hinter der sich in weiter Ferne die „Menschheit”, eine allgemeinmenschliche Subjektivität, als blasses Abstraktum abzeichnet.
Man muß sich diese ungeheure Kompliziertheit und mannigfache Wandelbarkeit des Subjektbegriffs vor Augen halten, um das Primitive der rationalen Logisten einzusehen, die nur ein
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abstraktes, farb- und charakterloses „erkenntnistheoretisches Subjekt” kennen und daneben höchstens noch ein ganz individuelles Ich. Die wahren Erkenntnissubjekte aber sind weder abstrakt „allgemein” noch pur „individuell”, sondern sind stets in Individuen verkörperte soziale Subjektivitäten, Persönlichkeiten in mannigfachem Zusammenspiel mit überindividuellen Einheiten.
Wert und also auch Erkenntnis sind mir demnach weder absolute „allgemeine”, noch rein individuelle, sondern soziale Phänomene, die allerdings in Individuen repräsentiert werden. Die Bewertung eines Gedankens als Erkenntnis hängt also von der sozialen Zugehörigkeit des Individuums ab, von den überindividuellen Strebungen innerhalb sozialer Gruppen, die allerdings aus rein individuellen entspringen und wieder in solche münden.
Damit muß der Erkenntnisbegriff seinen absoluten Charakter einbüßen, ohne jedoch etwa zum Gegenstand individueller Laune zu werden. Ich verweise auf die historische Tatsächlichkeit. Zu allen Zeiten hat wesentlich das als „Erkenntnis” gegolten, was den Bestrebungen sozialer Gemeinschaften genugtat. Die Griechen zur Zeit des Perikles, die Chinesen der Ming-Dynastie, die Deutschen der Staufenzeit, die modernen Europäer werten alle recht verschiedene Denkinhalte als Erkenntnis. Gewiß gibt es darunter Inhalte, die in der Hauptsache sich gleich sind, jedoch im Zusammenhang der Gesamterkenntnis sehr verschiedene Bedeutung haben. Indessen lassen wir vorläufig die Frage nach der Sicherheit, dem Dauerbestand, dem Fortschritt der Erkenntnis ganz außer Frage.
Wir wollten nur die Tatsachen feststellen, um zu einer möglichst umfassenden Charakteristik des Erkennens zu gelangen. Ohne also die Frage der objektiven Richtigkeit aufzuwerfen, können wir sagen: In der Praxis des Lebens haben zu allen Zeiten allein solche seelischen Inhalte als Erkenntnis gegolten, die empirischen Subjekten, das heißt letzten Endes den in Gemeinschaften eingegangenen und
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von diesen umgeformten Individuen, unter nunmehr zu erörternden Gesichtspunkten als „Werte” erschienen. Welcher Art von Bedürfnissen dabei genügt werden mußte, ist vorläufig offen geblieben, ja wir müssen, empirisch vorgehend, feststellen, daß eine scharfe Grenze zwischen logischen Werten und ästhetischen, religiösen, ethischen Werten sehr lange überhaupt nicht gezogen ward, daß in der menschlichen Geistesgeschichte vielmehr erst sehr allmählich diese Unterschiede hervortraten. Ja, selbst heute noch ist die Scheidung nicht ganz scharf zu ziehen, vielmehr ist bei der Gemeinsamkeit des Wertsubjekts für die verschiedenen Wertungen es durchaus verständlich, daß sich die Werte beständig miteinander verquicken.
Auch in dem, was der lebendige Durchschnittsmensch heute an „Erkenntnisbesitz” mit sich trägt, pflegen neben rein logischen Werten auch ethische, religiöse, ästhetische Werte verschiedenstet Art einzugehen, ja selbst die Wissenschaft ist kein reines Erkenntnisgebilde, sondern auch in ihr – am stärksten in den Geisteswissenschaften – verquicken sich mit der Tendenz nach reiner Erkenntnis andere Wertungen. Wir werden deshalb gewiß versuchen müssen, methodisch die logische Wertung von den übrigen zu scheiden, wir müssen aber zugeben, daß im empirischen Denken diese Scheidung nicht vollkommen durchzuführen sein wird.
Daß das Erkennen ein Werten sei, ist neuerdings ebenfalls oft betont worden, besonders in der badischen Schule, bei Rickert , Münsterberg u. a., wenn auch der Wertbegriff dort wesentlich anders gefaßt ist als hier. Auch dort, wo – wie bei Simmel – das Erkennen des Seins der Wertung entgegengesetzt wird, muß doch auch die Verwandtschaft zugegeben werden. (Vgl. Simmel, Philos. des Geldes. 3. Aufl., S. 5.)
Daß das Werten in einem Bedürfen, Begehren, Wollen wurzelt, kann heute als die verbreitetste Wertlehre gelten, nicht nur die „psychologischen” Werttheoretiker, wie bes. v. Ehrenfels, Lipps u. a., auch Windelband (Einl. in die Philosophie) stimmen darin überein. Genauer habe ich die hier skizzierte Wertlehre begründet in meiner „Philosophie der Individualität 1920” und in „Psychologie der Kunst”, 922, Bd. II. 2. Aufl.
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3. Die Wirklichkeit als Erkenntnisziel (die objektive Seite des Erkennens).
Wir haben also, indem wir das Erkennen vorläufig als Akt des Wertens definieren, nach zwei Seiten hin diese Lehre einzuschränken: erstens wird man ein Unterscheidungsmerkmal anderen Werten gegenüber fordern, da ja nicht alles Streben auf Erkenntnis gerichtet sei, es also noch andere Werte als Erkenntniswerte gäbe; zweitens könnte man einwenden, so würde Erkennen zu einem Akt subjektiver Willkür. Die Beantwortung beider Fragen liegt auf der gleichen Linie: für beide gilt es zu erweisen, daß Erkennen bei aller subjektiven Verwurzelung doch auch ein transsubjektiver, auf ein Objekt gerichteter Akt ist, und daß durch seine Beziehung zu diesem Objekt die Erkenntniswertung sich wesentlich von anderen geistigen Wertungen unterscheidet.
Gegen die physiologischen Werte grenze ich die Erkenntniswertung zunächst dadurch ab, daß ich sie zur Gruppe der seelischen Werte rechne, womit ich nur aufnehme, was ich früher gesagt habe, wo ich als Oberbegriff den des „seelischen Vorgangs” einführte. Physiologische Werte sind z. B. der Schlaf oder die Ernährung, die beide physiologische Bedürfnisse des Subjekts befriedigen, ohne darum seelische Erlebnisse zu sein. Von Erkenntnis sprechen wir nur dort, wo ein seelischer Inhalt vorhanden ist oder wenigstens war; denn es können Erkennungsakte auch automatisch werden, so daß sie wenigstens nicht mehr einen aktuellen seelischen Inhalt bilden. Darüber später; vorläufig genüge die Bestimmung, daß die Erkenntniswertung einen seelischen Inhalt hat.
Doch gibt es auch andere geistige Werte, die nicht Erkenntnisse sind. Darunter aber kann besonders die Abgrenzung gegen die ästhetischen Werte erleuchtend für unsere Bestimmung werden. Ästhetische Werte nämlich sind nach der im wesentlichen heute angenommenen, wenn auch verschieden formulierten Meinung solche seelischen Erlebnisse, die ihren Wert in sich tragen, keinerlei Zwecken dienen, vor allem
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von Wirklichkeitsbeziehungen gelöst sind. Sie sind „interesseloses Wohlgefallen”, die sich gegen die „Existenz” des Gegenstandes gleichgültig verhalten. Im ästhetischen Erleben, wird der Inhalt als solcher nach seinen formalen Qualitäten gewertet, ohne Rücksicht auf seine Wirklichkeitsbeziehung, seine Stellung in der Außenwelt.
Wenn ich also einen Menschen „rein ästhetisch” bewerte, so handelt es sich dabei nicht um diesen Menschen selbst, seine „Existenz”, sondern allein um die seelischen Inhalte, um die sensorischen oder Einfühlungsakte, die ich durch ihn erlebe. Will ich ihn jedoch „erkennen”, so sind diese Akte nur Mittel zum Zwecke einer persönlichen Stellungnahme zu dem Gesehenen oder Eingefühlten, dann kommt es mir nicht auf meine Erlebnisse an, sondern auf deren transsubjektives Bezugskorrelat: ich „meine” den Menschen selbst in seiner vollen Existenz.
So ergibt sich das Erkennen, im Gegensatz zum ästhetischen, als praktisches Verhalten; denn es ist nicht gleichgültig gegen eine außerbewußte Wirklichkeit, sondern ist auf solche gerichtet. Wir kommen damit zu einer weiteren Charakteristik der als Erkenntnisse angesprochenen seelischen Erlebnisse, daß ihr Wert nicht in ihrem Da- oder Sosein beruht, sondern in ihrer Bezogenheit auf transsubjektive Wirklichkeit. Wir erledigen also damit den Vorwurf gegen unsere Erkenntnislehre, sie sei einseitiger Subjektivismus, indem wir sagen: alles Erkennen ist ein Akt des Stellungnehmens des Subjekts zu einer mit dem geistigen Inhalt gemeinten Wirklichkeit.
Freilich auch der Begriff der Wirklichkeit birgt Probleme genug! Wir faßten diesen Begriff als etwas außerhalb der seelischen Vorgänge Liegendes auf, da diese im Erkenntnisvorgang ja erst auf die Wirklichkeit bezogen werden. Wir nehmen nicht mit dem naiven Realismus an, daß sich etwa in unseren Wahrnehmungen unmittelbar die volle Wirklichkeit erschlösse, wir sagen nur, daß in der Erkenntnis eine Wirklichkeitsbezogenheit vorliege.
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Wirklichkeit aber leiten wir der Sprache gemäß von Wirken ab. Wirklichkeit ist alles, was Gegenstand des Wirkens sein kann. Wirklichkeit ist also nicht absolutes – von aller Beziehung zum Ich losgelöstes – Sein, sondern Wirklichkeit ist alles das, zu dem wir, direkt oder indirekt, in Beziehung treten können. „Wirklich” heißt also nicht das, was uns im Bewußtsein gegeben ist, sondern dasjenige, was wir als Beziehungsfaktor unseres Bewußtseins annehmen müssen. Wirklichkeit ist uns also nicht gleich Gegebenheit, wie für den naiven Realisten, etwas rein Objektives; sie ist uns auch nichts rein Subjektives, wie für den Konszientialisten, sondern Wirklichkeit ist etwas Transsubjektives und doch in subjektive Beziehungen Eingehendes, wobei diese Beziehungen sehr verschiedener Art und Grades sein können.
Freilich, was heißt „wirken” oder „handeln”? Ich verstehe darunter alle im Dienste menschlicher Bestrebungen stehenden Bewegungsakte unseres physiopsychischen Organismus, die sich jedoch auch in mechanischen Hilfsmitteln fortsetzen können und jedenfalls auf eine Modifikation in der Welt außerhalb unseres Bewußtseins gerichtet sind. Zum Wirken gehört also alles praktische Arbeiten, es gehört dazu alles nicht gerade spielerische Sprechen und Schreiben, es gehört auch unsere Orientierung im Räume und in der Zeit. In all diesen Fällen wird eine Veränderung in der materiellen Außenwelt, in der fremdseelischen Außenwelt, oder in den Beziehungen meines Ich zur Außenwelt erreicht. Alle seelischen Inhalte, die diesem Wirken dienen, heißen praktische oder unmittelbare „Erkenntnis”. Mit anderen Worten: alles auf Erkenntnis gerichtete Streben bedarf solcher Inhalte, die der in ihm liegenden Wirkungstendenz dienen, die ihm eine außerhalb ihrer liegende, dem Wirken jedoch zugängliche „Wirklichkeit” erschließen.
Damit haben wir das besondere Kennzeichen, das einen seelischen Inhalt als Erkenntnis charakterisiert: daß er Wirklichkeitswert hat. Und das Spezifische des Erkenntnisstrebens im Gegensatz zum Streben nach ästhetischem Genuß
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ist auf die Setzung und Bestimmung einer dem geistigen Inhalt selbst transzendenten, mit ihm nur gemeinten „Wirklichkeit” gerichtet, d. h. von Tatbeständen, zu denen das Ich in Wirkungsbeziehung treten kann. Will ich also „erkennen”, welcher Weg von Berlin nach München für mich der rechte ist, so will ich damit eine Basis für ein Wirken, in diesem Fall eine Reise, schaffen. Und wenn ich erkennen will, was mich im Schuh drückt, so will ich eine Wirkung eines Objekts auf mich feststellen, um meinerseits dagegenzuwirken. Alles das sind Beispiele praktischen oder unmittelbaren Erkennens, weil hier ein praktisches, unmittelbares Wirken vorliegt, die „Wirklichkeitsprobe” also unmittelbar vorgenommen werden kann, worin zugleich auch ein Kriterium für „richtiges” Erkennen beschlossen ist.
Wir stoßen also auch hier wieder auf eine Tatsache, die uns schon bei der Analyse des Wertcharakters des Erkennens begegnet war, daß nämlich Erkennen niemals eine bloße Bewußtseinstatsache ist, sondern ein Wirken einschließt, nicht als gelegentliche Folgeerscheinung, sondern als wesentlichen Bestandteil.
Dies unmittelbare, praktische Erkennen ist die einfachste Grundform des Erkennens überhaupt; hier haben wir die Stützen, kraft derer der kühne Bau der übrigen Erkenntnisse auf dem festen Boden der Wirklichkeit aufruht, mögen sich seine höchsten Kuppeln und Wölbungen auch noch so weit von diesem Boden entfernen.
Damit aber haben wir bereits zugegeben, daß das menschliche Erkennen sich nicht in solchen praktischen, unmittelbaren Erkenntnissen erschöpft. Das Tier kommt so vielleicht aus, der Mensch aber baut auch eine theoretische Erkenntnis aus, die weit über jene hinausgeht. Denn gewiß bringt uns ein solches praktisches Erkennen mit einer Menge von Einzelheiten innerhalb der Wirklichkeit in Beziehung, sie vermittelt uns aber nur Wirklichkeiten, nicht die Wirklichkeit, nicht die Einheit, die ebenfalls für unser Wirken notwendig ist; denn innerhalb einer Unzahl einzelner, unzusammenhängender Wirklichkeitsgegenstände
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können wir uns nicht orientieren, es müssen Verbindungen geschaffen werden, die, zwar nicht unmittelbar realisierbar, doch dazu dienen, die zerstreuten Einzelheiten zu ergänzen. Und ebenso darf diese erstrebte Einheit nicht bloß individuell gelten, sondern sie muß überindividuelle Geltung haben, damit nicht zahllose individuelle Wirklichkeiten, sondern auch in sozialem Sinne eine Wirklichkeit zustande kommt. Hier aber liegen die Aufgaben des mittelbaren oder theoretischen Erkennens.
4. Das theoretische Erkennen als mittelbares Wirklichkeitserkennen.
Unsere Erkenntnisse sind, wie gesagt, nicht alle praktischunmittelbar, sondern wir verfügen alle über Erkenntnisse, die zum Teil sehr weit von praktischer Realisation entfernt sind, und die daher - wenigstens scheinbar – einen „Wert in sich” haben, unabhängig von allem praktischen Wirken. Ich brauche, wenn ich die Reisemöglichkeiten von Berlin nach München kennen lernen will, nicht nur an meine Reise zu denken, sondern an eine Reise, die irgendwer irgendwann einmal unternehmen will. In diesem Fall haben wir den Begriff der überindividuellen oder sozialen Erkenntnis im Auge, wo das als wirkend gedachte Subjekt jedes beliebige Glied einer nur sehr vage vorgestellten Gemeinschaft sein kann, wo also nicht mein individuelles Ich, sondern gleichsam die Gruppe als das wertende Subjekt angenommen werden muß. Theoretisches Erkennen ist also ein Streben nach Wirklichkeit im Hinblick auf ein überindividuelles Subjekt und auf dessen nur als möglich gesetztes Wirken.
Ich betone das so scharf, weil der Rationalismus annimmt, das Kennzeichen des theoretischen Erkennens sei, daß darin überhaupt kein Wirken erstrebt werde, daß überhaupt kein strebendes Subjekt vorhanden sei, daß diese Erkenntnis gleichsam frei schwebend im Weltall ein Dasein für sich führe; ja er umkleidet solches „Erkennen um des Erkennens willen” mit besonderer Würde. Ich betone dagegen, ein Wissen, das niemandes Wirken dienen kann, verdient den Namen „Erkenntnis” überhaupt nicht. Wenn ein Geisteskranker ausrechnet, wieviel Worte der
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Bibel den Buchstaben N enthalten, so mag das Ergebnis ein „Wissen” sein, kein vernünftiger Mensch jedoch wird darin, selbst wenn die Rechnung stimmt, eine „Erkenntnis” sehen; denn eine „Wirkung” solcher Erkenntnis, auch eine indirekte, kann als ausgeschlossen gelten. Das theoretische Erkennen emanzipiert sich zwar vom individuellen Ich, aber es setzt, wenn auch nicht immer bewußt, ein überindividuelles Subjekt voraus, für dessen Wirkungsmöglichkeiten es sorgt. Mit anderen Worten: das theoretische Erkennen geht in einen überindividuellen Zusammenhang ein, von dem später die Rede sein wird. Das Erkenntnisstreben ist nicht nur im individuellen Ich und dessen Bedürfnissen zentriert; es erhebt sich weit darüber und bezieht alle möglichen anderen Erkenntnissubjekte und ihre Bedürfnisse ein, so sehr, daß ein reales Wertsubjekt überhaupt aus dem Bewußtsein schwindet, wobei allerdings die Gefahr besteht, daß der Zusammenhang mit dem „Leben” verloren geht, in dem wir den weitesten Subjektbegriff für alle Wertungen
zu suchen haben.
Indessen noch nach einer anderen Richtung verbreitert sich das theoretische Erkennen weit über das unmittelbare Wirken hinaus. Es strebt auch nach einem sachlichen Zusammenhang, d.h. es strebt, da keine Erkenntnis isoliert bestehen kann, nach Ergänzung und Vervollständigung der Einzelerkenntnisse zu einem großen, womöglich umfassenden Komplex. Wüßte ein Mensch nur, welches der beste Weg von Berlin nach München sei, ohne auch Bescheid zu wissen über die weitere Geographie von Deutschland, ohne die Knotenpunkte und Verbindungsmöglichkeiten und tausenderlei andere Beziehungen zu kennen, so würden wir ihn nie im theoretischen Sinne einen Erkennenden nennen. Erkenntnisse im theoretischen Sinne sind niemals isoliert, sondern stets Glieder eines vielfältigen Systems; und zum Begriff des theoretischen Erkennens gehört, außer dem Besitz des Einzelwissens, auch die Kenntnis mannigfacher Beziehungen davon. Deshalb geht alles Erkenntnisstreben auch in diesem sachlichen Sinne weit über die unmittelbare Wirkung hinaus.
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Die theoretische Erkenntnis umschließt also außer solchen Inhalten, die einem nur als möglich angenommenen Wirken dienen, auch mancherlei Zwischenglieder und Verbindungen, die – weit über das praktische Bedürfen hinaus – die vereinzelten praktischen Erkenntnisse zu einer Einheit zusammenfügen. Gewiß wird vollkommene Einheit, die zugleich vollkommene Totalität des Erkennens einschließt, niemals erreicht werden, aber auch die bloße Annäherung ist ein wertvolles Ziel. Auch hier vermischen sich andere Wertungen, vor allem ästhetische, mit den praktischen, und in der Tat hat vieles in der Wissenschaft keinerlei praktischen, nur ästhetischen Wert: Werte der Fülle, der Verknüpfung, der „Rundung”, der Übersicht usw. gehören hierher, die doch alle in den Begriff des Lebensbedürfnisses eingehen, des Lebens, jenes tiefsten Subjektbegriffs, der hinter allen unseren Darlegungen auftaucht. Es geht, wie gesagt, nicht an, in der empirischen Erkenntnis das Logische rein zu scheiden von dem Nichtlogischen, und immer wieder werden wir darauf zurückkommen, daß in die Erkenntniswertungen auch ästhetische, religiöse, sittliche eingehen, ebenso wie alle diese Wertungen nicht ohne Erkenntnisakte zustande kommen, da auch sie stets mit Wirklichkeiten rechnen müssen. Es ist eine Notwendigkeit, diese Verflochtenheit des Wertlebens anzuerkennen, und es wäre Vergewaltigung und Fälschung, wollte man aus abstrakten Gründen davon absehen.
Unsere Bestimmung des Erkenntnisstrebens – auch des theoretischen – als eines Strebens nach Wirklichkeit, entspricht dem allgemeinen Sprachgefühl durchaus, sobald man nur den Begriff Wirklichkeit genügend weit nimmt. Diejenigen erkenntnistheoretischen Sonderlinge, die den Begriff Wirklichkeit überhaupt ausschalten wollen, lasse ich zunächst beiseite, da ich später mit ihnen abrechneu muß. Allerdings aber darf man den Begriff Wirklichkeit nicht bloß im grob materiellen Sinne fassen: es gibt auch eine ideelle Wirklichkeit, auf die sich ebenfalls das Erkenntnisstreben richtet. Auch die mathematischen Naturgesetze z. B. gelten mir als Wirklichkeit, obgleich sie nicht mit den Sinnen wahrgenommen, sondern nur an
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sinnlich, wahrnehmbaren Dingen verifiziert werden können. Überhaupt ist z. B. die Mathematik Erkenntnis, nicht aber, wie manche Logisten wollen, eine der Wirklichkeitserkenntnis entgegengesetzte, sondern sie ist überhaupt nur darum Erkenntnis, weil sie auf die empirische Wirklichkeit angewandt werden kann. Mathematische Deduktionen mögen in sich noch so widerspruchsfrei sein, solange sie auf keinerlei Wirklichkeit angewandt werden können, sind sie keine Erkenntnis, sondern eine Gedankengymnastik, also ein ästhetisches Phänomen. Es ist deshalb nicht möglich, durch Hinweis auf die Mathematik unsere Definition der Erkenntnis als Wirklichkeitsbezogenheit zu widerlegen.
Ja, die Wirklichkeit reicht noch viel weiter als die materielle Wirklichkeit und das, was das wissenschaftliche Denken davon abstrahiert oder an Erkenntnishilfen daran heranträgt: wir finden Wirklichkeit überhaupt nicht bloß vor, wir schaffen auch Wirklichkeit. Nicht nur das, was ist, heißt uns Wirklichkeit, auch das, was sein wird und sein soll. Und da wir selbst als Erkennende mitwirken an der kommenden Wirklichkeit, so schaffen wir Wirklichkeit und unser Schaffen selbst ist ein Faktor der Wirklichkeit. Was wir Sittlichkeit, Kunst, Religion, Recht nennen, ist nicht „wirklich” im materiellen Sinne, darum aber noch lange nicht unwirklich, sondern nur eine Wirklichkeit anderer Art; und deshalb lassen sich die Geistesakte, die auf solche Schöpfung gerichtet sind, auch als Erkennen ansprechen. Wohl mußten wir das ästhetische Erleben als Genießen dem Erkennen in gewissem Sinne entgegenstellen, besonders als Schaffen schließt die künstlerische Betätigung aber auch Erkennen ein.
Wir kommen also, indem wir als Ziel der Erkenntnis „Wirklichkeit” setzen, zu einer sehr weiten Bestimmung dieses Begriffes: Wirklichkeit heißt uns das bewußtseinstranszendente Beziehungskorrelat unseres Handelns, aber nicht bloß des individuellen und nicht bloß eines isolierten Handelns, sondern eines sowohl in subjektiver wie in objektiver Hinsicht möglichst umfassenden Handelns, so daß sich „Wirklichkeit” zwar vom Einzelsubjekt und vom Einzelwirken lösen kann, ohne jedoch darum etwas
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von aller Subjektivität und aller Wirkungsbezogenheit Gelöstes zu sein. In diesem weiten Sinne ist „Wirklichkeit” das Ziel alles Erkennens, sowohl des praktischen wie des theoretischen. Das Erkennen selbst ergibt sich aber nicht als freischwebender Akt, sondern als ein Teilvorgang eines komplizierten Prozesses, der außer dem Bewußtseinsinhalt stets noch ein Wirken einschließt. Reine Theorie ist niemals bereits fertige Erkenntnis, sondern nur mögliche Erkenntnis, Erkenntnis auf Vorrat, die erst zur Erkenntnis im vollen Sinne wird, indem ein Subjekt sie in Tat, in Wirken umsetzt. Theorie, die den Zusammenhang mit der Praxis, d. h. den wirkenden Subjekten verloren hat, ist keine Erkenntnis mehr, sondern wertloses Hirngespinst.
Wir müssen also neben der subjektiven, wertenden Seite des Erkennens eine objektive, d. h. Wirklichkeitsseite annehmen, wobei zu bemerken ist, daß die Wirklichkeit als Einheit nicht eine fertige Gegebenheit, sondern ein Ziel des Erkennens ist.
5. Subjekt und Objekt. Vitalrealismus.
Als bisheriges Ergebnis können wir feststellen, daß zum Erkennen stets ein erkennendes Subjekt und ein zu erkennendes Objekt gehört, daß Erkennen also eine Beziehung zwischen diesem vorauszusetzenden Subjekt und dem ebenfalls vorauszusetzenden Objekt, der Wirklichkeit, ist, eine Beziehung, die aber ihrerseits nur ein Teilvorgang eines komplexeren Prozesses ist, der sich erst im Wirken vollendet und dadurch erst den Erweis erbringt, ob das Erkennen „richtig” oder „falsch” war. Wir werden also Erkennen niemals als reinen Bewußtseinsakt, sondern stets nur in Verbindung mit dem Wirken ansehen dürfen.
So selbstverständlich diese Tatsachen erscheinen mögen, so müssen sie doch betont werden, weil die rationalistischen Erkenntnislehren bald das Subjekt, bald das Objekt, bald sogar beide hinwegdisputieren wollen. Ich verschiebe indessen die Widerlegung solcher Einwände auf später. Möglich sind sie überhaupt nur dadurch, daß man das Erkennen vom Wirken losgelöst hat und „an sich” ergründen wollte. Ist man sich klar, daß das Erkennen mit dem „Wirken” in untrennbarem
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Zusammenhaug steht, so muß es absurd erscheinen, ohne ein Subjekt oder eine Objektivität auskommen zu wollen, Erkenntnis bloß als Bewußtseinsvorgang in Subjekten oder als ein von aller Subjektivität losgelöstes Sein „an sich” zu denken.
Um jedoch unsere Erkenntnislehre weiter zu vertiefen, müssen wir sowohl das Subjekt wie das Objekt des Erkennens, die beiden Angelpunkte, zwischen denen das Erkennen statthat, näher bestimmen. Und zwar können wir ruhig zugeben, daß uns weder das eine noch das andere ohne weiteres oder gar „absolut” im Erkennen als Bewußtseinsinhalt mitgegeben sind, sondern daß beide als notwendige Voraussetzungen erschlossen werden müssen, daß aber im „Wirken” sich ihre „Wirklichkeit” geltend macht, ohne etwa sich restlos zu offenbaren. Aus unserem Wirken müssen wir ein Ich als Agens, als „Umschalter” etwa, der Empfindungen und Bewegungen erschließen; aus den außersubjektiven Wirkungen unserer Bewegungen müssen wir ein Objekt als „Träger” jenes außersubjektiven Geschehens erschließen. In dem Bewußtseinsinhalt des Erkennens allein, darin können wir dem Konszientialismus recht geben, finden wir weder das Subjekt noch das Objekt, erst im Wirken offenbart sich ihre Wirklichkeit. - Wenn eine vor mir stehende Lampe mich blendet, so wäre aus dem Bewußtseinsinhalt allein nicht zu ersehen, ob die Lampe Wirklichkeit oder Halluzination ist, aber indem ich sie abdrehe, so daß sie nicht mehr blendet, ergibt sich, daß etwas „hinter” der Empfindung ist, ein Objekt; denn ich drehe ja nicht die Empfindung ab, sondern deren objektiven „Träger”, und indem sich jener Reiz in mir in Bewegung umsetzt, muß auch ein subjektiver Träger dieser Umschaltung, ein Ich, angenommen werden, in dem diese (nicht im Bewußtseinsinhalt vor sich gehende) Umsetzung stattfindet, Erkenntnis ist also stets Bewußtsein plus Wirkung, und in der Wirkung erst erschließt sich uns die volle Realität (die Wirkung etwa im Sinne des extremen Konszientialismus auf Tastempfindungen reduzieren zu wollen, ist absurd).
Es fragt sich also, ob wir über das Wesen der als notwendig zu fordernden Voraussetzungen des Erkennens, des erkennenden
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Ich und des zu erkennenden Objekts, Schlüsse ziehen können, die über den einzelnen Erkenntnisakt hinausgehen.
Zuerst das Subjekt! Indem ich ihm Strebungen und Bedürfnisse zuschreibe, die einerseits Inhalte aufnehmen und in Tätigkeiten umsetzen können, fasse ich es zunächst nicht als etwas Passives, eine Art Spiegel, sondern als etwas lebendiges, d. h. ein Umschalten von Reizen in Handlungen, die dem Bestehen einer Gesamtheit dienen. Indem das Erkennen aber diesen vitalen Strebungen dient, wird es selbst zu einem vitalen Akte, und ich nenne deshalb meine Erkenntnislehre eine vitale. Da alles Wirken eines lebendigen Subjekts seiner Lebenserhaltung und seiner Lebensentfaltung dient, so auch das dieses Wirken ermöglichende Erkennen; es hat darum selbst vitale Bedeutung. Kein Wunder also, daß wir am Erkennen dieselben Eigenheiten feststellen können, die wir bei allen Lebensakten finden. Alles lieben ist ja beständiges Sichauseinandersetzen eines Subjekts mit einem außer ihm selbst liegenden Sein. Die Akte der Nahrungsaufnahme zum Beispiel sind eine Einbeziehung subjektfremder Inhalte in das Subjekt zum Zwecke der Selbsterhaltung und Selbstentfaltung des Subjekts. Denn alles Leben ist, wie man neuerdings gesagt hat, ein beständiges Transzendieren seiner selbst, ist „Mehrleben” und „Mehr als Leben”. –
Diese Charakteristik trifft auch das Erkennen. Auch dieses strebt über sich hinaus, bezieht Objektives in sich ein und strebt zu wachsen und sich zu entfalten. Ähnlich wie das lebende Subjekt in der Nahrungsaufnahme objektive Substanzen in sich einbezieht, sie aufspeichert und verwendet zu seiner Lebenserhaltung, so auch der Geist, der von der Außenwelt Eindrücke empfängt, die er zur Erhaltung und Entfaltung des Subjekts verwendet.
Eben deshalb aber ist es nicht angängig, die hier entwickelte Erkenntnislehre als „Subjektivismus” abzutun, weil sie die Bedeutung des Subjektiven im Erkennen betont. Denn sie betont ebenso die Beziehung zum Objekt, die nicht willkürlich ist, sondern durch das Wirken stets kontrolliert wird. Im Erkennen setzt sich das Subjekt stets mit dem Objekt auseinander,
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Erkennen ist weder rein subjektiv, noch rein objektiv, es ist weder Willkür noch reine Abspiegelung eines Objekts, sondern ist subjektiv-objektiv, ist eine Wechselbeziehung des Subjekts mit Objektivem, wie jeder andere Lebensvorgang auch.
Über die weiteren Erkenntnismöglichkeiten dem Subjekt gegenüber wird in einem besonderen Kapitel zu sprechen sein, nachdem wir alle andern Erkenntnismöglichkeiten geprüft haben. Was es „an sich” ist, wird uns vielleicht immer ein Geheimnis bleiben, wir kennen es nur soweit, als es sich in seinen Akten betätigt. Und zwar erscheint es dabei in einer ganz außerordentlichen Wandelbarkeit, so daß es oft scheinen will, als sei eine Einheitlichkeit dieses Subjekts überhaupt nicht vorhanden, was ich später als seine „Irrationalität” bezeichne. „Willkürlich” im Sinne von „zufällig” sind aber auch vom Subjekt allein aus gesehen seine Bedürfnisse nicht, denn, wie ich später zeigen werde, es gibt im Ich eine innere Notwendigkeit, die – ohne rational faßbar zu sein – doch weit entfernt von Zufälligkeit ist, vielmehr auch zur Außenwelt eine bestimmte Korrelation zeigt.
Dem Subjekt gegenüber steht das „Objekt”, das wir in seiner nie ganz gegebenen Totalität auch als „Außenwelt” bezeichnen. Wir stellten nur fest, daß es mit Notwendigkeit gesetzt werden muß, falls die ganze im Bewußtsein sich darstellende Welt nicht als halluzinatorischer Spuk erscheinen soll, dem gegenüber jedes praktische Wirken ausgeschlossen wäre. Die Frage ist nun, ob wir über das Wesen dieser Außenwelt über die Notwendigkeit ihrer Setzung hinaus noch weitere Aufschlüsse gewinnen können, oder ob wir in bezug auf sie zu einem Agnostizismus verurteilt sind.
Indem ich eine transsubjektive Wirklichkeit als reales Beziehungskorrelat eines realen Ich annehme, stelle ich mich auf den Boden des Realismus, freilich eines kritischen Realismus, nicht eines solchen, der da glaubt, es erschlösse sich in unseren Erkenntnissen die ganze Wirklichkeit, wir „bildeten” diese gleichsam „ab” in unserem Erkennen. Diese von der Erkenntnistheorie oft widerlegte Abbild- oder Spiegeltheorie wird auch von mir verworfen; ich gehe aber nicht soweit wie die
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Konszientialisten jeder Art, die nun gleich, weil wir diese ganze Wirklichkeit nicht abbilden können, sie für eine Unmöglichkeit erklären und behaupten, es gäbe außerhalb des Bewußtseins überhaupt keinerlei Realität. Dieser Standpunkt ist nicht nur theoretisch auf irrtümlichen Voraussetzungen aufgebaut, er ist vor allem praktisch ganz unbrauchbar. Alle theoretischen Leugner der Außenwelt, die in dieser oder jener Weise alle Realität nur für Schöpfung des Bewußtseins erklären, sind gezwungen, im Leben beständig ihren Standpunkt zu verlassen. Denn welcher noch so theoretische Mensch vermöchte sich von bloßen Bewußtseinsinhalten zu ernähren, sich mit Bewußtseinsinhalten zu kleiden oder damit seine Schulden zu bezahlen? So hochmütig die meisten Konszientialisten und Idealisten auf den naiven Realismus herabsehen, im täglichen Leben fallen sie beständig in ihn zurück, sie können nicht anders, weil ihr eigener Standpunkt sozusagen in der Luft schwebt. Es gilt, den Realismus nicht zu verachten, sondern ihn kritisch so umzubilden, daß er philosophisch haltbar wird, ohne darum seine praktische Bedeutung zu verlieren.
Für den kritischen Realismus in meinem Sinne ist Erkenntnis weder totales Ergreifen des Gegenstandes wie für den naiven Realisten, noch freies geistiges Erzeugen des Gegenstands wie für manche Idealisten, sondern eine Beziehung zwischen Gegenstand und Ich. Diese Beziehung setzt sich zusammen einerseits aus gegebenen Einwirkungen des Gegenstandes auf das Ich (der Gegenstand wird wenigstens teilweise vorgefunden), andererseits aus verarbeitenden Stellungnahmen des Ich zum Gegenstande (dadurch wird der Gegenstand wenigstens teilweise subjektiv geformt). Erkenntnis also ist eine Doppelbeziehung, zugleich Empfangen und Gestalten, sie enthält ein objektives und ein subjektives Moment, sie ist weder rein objektiv noch rein subjektiv. Soweit scheinen wir mit einem psychologisch gedeuteten Kantianismus übereinzustimmen; wir weichen jedoch von diesem ab einerseits dadurch, daß wir die gestaltenden Faktoren des Ich nicht als starre apriorische Formen, sondern als lebendig sich entwickelnde Stellungnahmen fassen, andererseits dadurch, daß wir die Einwirkungen der Objektivität nicht bloß als
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Erscheinungen, die vor einem unerkennbaren Ding an sich wie ein Schleier hängen, fassen, sondern wir sind überzeugt, daß wir in unseren Sinnesempfindungen eine Realität wenigstens teilweise selbst ergreifen. Gewiß erkennen wir die Dinge nicht, wie sie „an sich” sind, sondern nur so, wie wir sie gemäß unserer subjektiven, ja individuellen geistigen Veranlagung formen, aber was wir im Erkennen ergreifen, ist doch Realität, wenn auch nur partielle, die wir zu einer Totalität ergänzen.–
Da sich uns also Erkenntnis als Inbeziehungtreten eines nicht ganz, aber teilweise sich erschließenden, lebenden Subjekts zu einer ebenfalls nicht ganz, aber teilweise sich erschließenden, außerhalb jenes Subjekts gelegenen Realität darstellt, wähle ich zur Bezeichnung dieser Auffassung den Begriff vital-realistisch. Erkennen ist lebendige Wirkungsbeziehung des denkenden Subjekts zu einem transsubjektiven Objekt, eine Wirkungsbeziehung, die zunächst der Erhaltung des Lebens, darüber hinaus auch dessen mannigfachster Entfaltung zu Kulturgestaltungen aller Art dient.
Für die Kritik des Konszientialismus und objektiven Idealismus, der die Wirklichkeit leugnet, verweise ich auf Frischeisen-Köhler, Wissenschaft und Wirklichkeit 1910, Külpe, Die Realisierung I 1912, II 1920, Messer, Becher u.a. Doch beweist z. B. Külpes zweiter Band deutlich, wie wenig Festes ein Realismus in der Hand behält, wenn er ohne den Begriff des Wirkens auszukommen glaubt. – Viel Verwandtes hat die hier entwickelte realistische Erkenntnis aber auch mit dem von Eduard von Hartmann vorgetragenen „Transcendentalen Realismus” (vgl. bes. „Kategorienlehre” und „Grundriß der Erkenntnistheorie”). Auch mit J. Volkelt, besonders seinem Werke „Gewißheit und Wahrheit” stimme ich weitgehend überein, obwohl bei allen diesen Denkern der hier in den Mittelpunkt gerückte irrationalistische Gesichtspunkt meist nur von ferne anklingt. Die Charakterisierung des Lebens als „Mehr-Leben” und „Mehr-als-Leben” bei Simmel „Lebensanschauung” 1918.
6. Konfrontation mit anderen Erkenntnislehren.
Um meinen vital-realistischen Erkenntnisbegriff noch genauer zu charakterisieren, stelle ich ihn einigen anderen Erkenntnislehren gegenüber, so daß sowohl das Gemeinsame wie das Unterscheidende deutlich hervortritt.
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Da ich das Erkennen im Gegensatz zu allem Konszientialismus und im besonderen zu allem Intellektualismus als Beziehung zwischen Subjekt und Objekt ansehe, die sich erst im Wirken vollendet, so liegt es nahe, meine Lehre als Form des Pragmatismus zu betrachten. Ich werde das nicht ganz abstreiten, möchte jedoch auf wesentliche Unterschiede gegen die landläufigen Fassungen, oder zum mindesten die landläufigen Auffassungen des Pragmatismus hinweisen. Diese Unterschiede werden erst später hervortreten, wo ich den Gegensatz zwischen richtiger und irrtümlicher Erkenntnis behandle. Es sei jedoch schon hier bemerkt, daß ich weit entfernt davon bin, jeden Gedanken, der zufällig nützliche Folgen hat, darum für „wahr” in irgendeinem absoluten Sinne zu halten. Ich vermeide es überhaupt, einzelne Erkenntnisakte als wahr oder falsch anzusprechen, sondern werde dartun, daß nur unter Beachtung mannigfacher Zusammenhänge darüber entschieden werden kann. Darüber später! Hier sei nur bemerkt, daß einer dieser Zusammenhänge die vitale Gesamtheit des Subjekts ist, daß nicht bloß die äußere Lebenserhaltung, sondern die mannigfachsten Lebensentfaltungen des Subjekts, des individuellen wie des überindividuellen, mit einbezogen werden müssen. Diese Zusammenhänge sind viel zu kompliziert, als daß sie dem simplen Begriff des „Nutzens” untergeordnet werden könnten, den man vielfach dem Pragmatismus unterlegt. Besonders das theoretische Erkenntnisstreben des Subjekts sucht nach tausenderlei Beziehungen zur Welt, für die ein „Nutzen” im banalen Sinne gar nicht besteht, und die doch von seinem lebendigen Wesen gefordert werden. Das Leben in seiner Gesamtheit will weit mehr als „Nutzen”, es strebt nach einer Fülle des Daseins, die um der darin liegenden Lebensentfaltung sogar die Lebenserhaltung gefährden kann. Deshalb wähle ich, um den ganzen weit über praktischen Nutzen hinausgehenden Reichtum der vitalen Bestrebungen zu umfassen, den Ausdruck vital, wobei ich bemerke, daß „Leben” nicht eine sich selbst erhaltende Maschine, sondern ein in unendlich vielen Formen sich entfaltendes, nie ganz zu ergründendes Agens ist, eine metaphysische Wesenheit, deren
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genauere Kennzeichnung erst am Ende unserer Betrachtungen erfolgen wird.
Vielleicht wird man deshalb meine Lehre mit neuerlich beliebtem Schlagwort als „Biologismus” abtun wollen. Man hat, um diesen Begriff zu diskreditieren, behauptet, er baue den Erkenntnisbegriff auf eine Einzelwissenschaft, die Biologie, auf. Dies trifft für meinen Vitalrealismus sicher nicht zu; denn sein Erkenntnisbegriff ist nicht aus der Biologie, sondern einer Analyse des gesamten Erkennens gewonnen. Allerdings aber setzt meine Lehre (was für den logistischen Rationalismus eine Unmöglichkeit ist), ihren Ehrgeiz darein, mit der biologischen Wissenschaft sich gut zu vertragen und ihre Erkenntnis in sich aufzunehmen. – Auch die Behauptung, der Biologismus setze Leben und Erkennen in eins, braucht nach meinen früheren Darlegungen nicht widerlegt zu werden, da ich dargetan habe, daß keineswegs, alles Erleben Erkennen ist, daß alles Erkennen zwar auf Erleben zurückführbar sein muß, daß jedoch das Erleben stark modifiziert werden muß, um zum Erkennen zu werden. Um also meine Lehre von dem in der angegebenen Weise diskreditierten Biologismus zu unterscheiden, wähle ich den Namen „Vital-Realismus”.
Ähnlich ist mein Verhalten zum Psychologismus. Seit längerer Zeit ist ein Vornehmtun diesem Begriff gegenüber in den Kreisen der Erkenntnistheoretiker in Mode, was sie jedoch, nicht hindert, gelegentlich selbst in diesen „Fehler” zu verfallen. Das müssen sie nämlich, sobald sie sich besinnen, daß die logischen-Prozesse sich zum mindesten auch in lebenden Subjekten abspielen. Wir lassen uns insofern den „Vorwurf” des Psychologismus gern gefallen, als wir stets Anschluß an das empirische Seelenleben zu wahren suchen und Erkenntnis als etwas in dem Wesen der Seele Bedingtes, daneben aber auch als eine bestimmte Beziehung zu einem transsubjektiven Gegenstand auffassen. In doppelter Hinsicht jedoch schreite ich über den „Psychologismus” hinaus. Erstens bekämpfe ich den Standpunkt, daß nur aus dem Bewußtsein der Begriff des Erkennens abzuleiten sei, ich verweise vielmehr darauf, daß das erkennende Ich niemals in seiner Totalität bewußt ist und die eine Erkenntnis verifizierende Handlung
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zum guten Teil unbewußt verläuft, daß also alles Erkennen nichtbewußte Faktoren einschließt. Zweitens aber betone ich im Gegensatz zum Kouszientialismus, daß auch der Gegenstand niemals ganz im Bewußtsein gegeben ist, sondern ihm stets nur „eine Seite” zukehrt, daß Erkennen kein „Haben” des Gegenstandes, sondern eine z. T. außerbewußte Stellungnahme dazu ist, daß also mein Erkenntnisbegriff auch außerpsychologische Faktoren umfaßt. Von meinem Standpunkt aus erscheinen dagegen gerade Logismus, Phänomenologie usw. nur als verkappte Psychologismen.
Auch die Bezeichnung Soziologismus werde ich für meine Lehre nicht ganz ablehnen, denn der vitalrealistische Erkenntnisbegriff legt Wert darauf, sich mit der Soziologie ebenso wie mit Biologie und Psychologie zu vertragen. Er redet nicht von einer abstrakten Allgemeingültigkeit, die ein ganz utopischer Begriff ist, sondern er meint überall dort, wo er von überindividueller Geltung spricht, die konkreten überindividuellen Zusammenhänge, von denen die Soziologie redet. Ich betone aufs stärkste, daß mein Erkenntnisbegriff kein wilder Individualismus ist, sondern daß Erkenntnis auch dort, wo ein vereinzeltes Individuum erkennendes Subjekt ist, sozial bedingte Faktoren einschließt, daß viele der Kategorien des Denkens und Vorstellens zwar nicht im metaphysischen oder abstrakt logischen, wohl aber im soziologischen ebenso wie im biologischen
und psychologischen Sinne „a priori” sind. Das erkennende Subjekt ist auch als Individuum zugleich Vollstrecker soziologischer Denkvoraussetzungen. Das aber bedeutet keineswegs, daß die Erkenntnis pure soziale Konvention sei, nur daß sie konventionelle Faktoren einschließt; im Gegenteil, gerade als Realisten betonen wir stets die im Wirken sich bewährende Beziehung zum transsubjektiven Sein und eben deshalb ist die Formel „reiner Soziologismus” für unsere Anschauung unzutreffend.
Um nun zu denjenigen Erkenntnislehren überzugehen, die nicht das erkennende Subjekt, sondern das zu erkennende Objekt zum Ausgangspunkte nehmen, so haben wir bereits gegen jede Form des Konszientialismus, die alle Wirklichkeit
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in das Bewußtsein verlegt und keine transsubjektive Wirklichkeit annimmt, eine scharfe Grenze gezogen. Auch der Unterschied gegen jeden Phänomenalismus, der da behauptet, wir vermöchten nur Erscheinungen, nicht die Dinge selbst zu erkennen, ist bereits berührt. In der Tat erkläre ich nicht, daß wir – wie der naive Realismus meint – die Dinge an sich restlos erfaßten, aber ich nehme an, daß ein gut Teil des Seins sich uns seinem Wesen nach im Erkennen einigermaßen adäquat, wenn auch nie als „Abbildung”, erschließt. Mag für die Gegebenheiten der Sinne der Ausdruck „Phänomen” ungefähr gelten, er hat keine Berechtigung für die Erkenntnis fremden Seelenlebens, die wir kraft der „Einfühlung” erfassen. Darüber später. Es sei hier nur bemerkt, daß z. B. für das „Verstehen” fremder Charaktere (aber auch für viele andere, später zu erörternde Fälle) die Kennzeichnung als Phänomenalismus durchaus abgelehnt werden muß.
Ebenso ist der Vitalrealismus weit davon entfernt, Skeptizismus oder Agnostizismus zu sein. Ein solcher Vorwurf könnte höchstens erhoben werden, wenn man die überspannten Forderungen eines logischen Absolutismus anerkennt. Das wäre jener sonderbare Standpunkt des Alles oder Nichts, der in der Welt der Wirklichkeit ganz unmöglich ist. Dabei ist solchen Absolutisten der Begriff des Skeptizismus offenbar nicht ganz klar, denn dieser bedeutet den prinzipiellen Zweifel an allen Erkenntnissen, ja die Urteilsenthaltung. Daran denkt jedoch der Relativist in meinem Sinne gar nicht, im Gegenteil, er fällt beständig Urteile mit der Überzeugung, daß sie richtig seien, allerdings zunächst nur für seine Person und weiter für solche Subjekte, die seinen Standpunkt teilen; er gibt jedoch die prinzipielle Möglichkeit zu, daß man von anderer Subjektivität aus auch zu anderen Urteilen und Erkenntnissen gelangen kann. Deshalb nimmt der Vitalrealismus noch lange nicht Willkürlichkeit an, sondern er nimmt Erkenntnis als notwendige Relation zwischen dem spezifischen Subjekt und den objektiven Gegebenheiten an; nur behauptet er nicht deren restlose Erschließung im absoluten Sinne, wohl aber ihre Erfassung in einem solchen Grade,
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daß sie Lebenserhaltung und mannigfachste Lebensentfaltung gewährleisten.
Indem er alle Erkenntnisinhalte für nicht adäquate Ab- oder Nachbildung, sondern in ihrer Gesamtheit für vielfach symbolhafte Ersatzbildung zum Zwecke des Wirkens hält, nähert er sich stark dem Fiktionalismus, dem alle Erkenntnisakte bewußt falsche Konstruktionen zum Zwecke praktischen Wirkens sind. Indessen hat der Begriff „bewußt falsch” nur dann einen Sinn, wenn man daneben die Möglichkeit einer absolut richtigen Erkenntnis annimmt. Das letztere haben wir als Unmöglichkeit erwiesen, folglich hat es auch wenig Sinn, von „bewußt-falschen” Erkenntnisgebilden zu reden, zumal einem solchen Begriff der Charakter der Willkürlichkeit anhaftet. Das aber wollen wir durchaus fernhalten, denn Erkenntnis ist niemals ein Willkürakt, sondern eine subjektiv notwendige und objektiv kontrollierbare Stellungnahme, die eine zwar unendlich variierbare, aber in ihrer Variabilität stets notwendige Beziehung zwischen Subjekt und Objekt darstellt.
»Durch diese Gegenüberstellungen dürften die Hauptkennzeichen meiner Erkenntnislehre klar herausspringen. Vom Subjekt her gesehen ergibt sich also Erkenntnis als ein biologisch, psychologisch, soziologisch bedingter Prozeß, der sich als Erkenntnis dadurch ausweist, daß er dem Wirken dient, dem Wirken im weitesten Sinne, das nicht mit banaler Nützlichkeit, sondern als Lebenserhaltung und Lebensentfaltung im weitesten Ausmaß gedacht werden muß.« Im Erkennen erweitern und bereichern sich unsere Daseinsmöglichkeiten in tausendfacher Weise; für das Individuum wie für die Gattung wird das Leben reicher, weiter, freier, und eben dadurch charakterisieren sich die zugrunde liegenden Erlebnisse als Erkenntnis.
Möglich aber ist diese Bereicherung, Erweiterung, Befreiung des subjektiven Lebens nur dadurch, daß es zugleich in aktive Beziehungen zu der realen Außenwelt tritt. In jenem Prozeß des Erkenntniswachstums wird auch die Außenwelt, die dem Naturmenschen bloß ein dunkler, unzusammenhängender Komplex von größtenteils unbekannten Faktoren ist, bekannter, weiter,
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reicher, sie wird vereinheitlicht, erobert und unterworfen und auch diese realen Beziehungen zur Außenwelt, auch wenn sie stets nur eine Annäherung, nie ein restloses Erschließen sind, machen die Bewußtseinsinhalte zur Erkenntnis.
»„Erkenntnis” in der Gesamtheit genommen, ist also nicht ein Schatz fertiger Wahrheiten, nicht ein Bau, bei dem auf festen, unverrückbaren Fundamenten weitergebaut wird, sondern Erkenntnis ist uns ein organischer Prozeß, dem Wachstum eines Organismus zu vergleichen, in dem auch scheinbar feste Teile doch beständiger Veränderung unterliegen. Dieser Prozeß ist seinem Wesen nach unendlich, in keinem Individuum und auch nicht innerhalb der als Einheit genommenen Menschheit abgeschlossen oder jemals abschließbar, was vor allem darin liegt, daß ja auch die zu erkennende Wirklichkeit sich beständig wandelt. Es hat keinen Sinn, von der Erkenntnis, sei es dem Akt, sei es dem Resultat, in irgendeinem statischen Sinne zu sprechen. Erkenntnis als Akt wie als Resultat ist etwas Dynamisches, ein unendlicher Prozeß mit unübersehbaren Perspektiven, der jedoch auch in seiner Unabgeschlossenheit höchsten Lebenswert besitzt, freilich bereit sein muß, sich unablässig zu modifizieren, zu ergänzen und zu erweitern, wie jeder Organismus nur „besteht”, indem er sich wandelt.«
Von den Formen des Pragmatismus, wie er zu gleicher Zeit bei James, Schiller, Dewey, Jerusalem und anderen entwickelt ist, steht meinen Anschauungen diejenige am nächsten, die Goethe vertrat, und die z. B. Simmel am besten in seinem Goethebuch entwickelt hat. Außer Goethe ist für mich besonders Nietzsche anregend gewesen, vor allem durch seine Nachlaßwerke.
Der hier abgelehnte, falsch verstandene Biologismus, den neuerdings Rickert sich als Zielscheibe für seine Polemik konstruiert hat, ist ernsthaft kaum verfochten worden. Ich bekenne jedoch gern, viel von solchen „Biologisten”, wie Mach, Avenarius, Petzoldt und anderen gelernt zu haben.
Unter den „Soziologisten” in der Erkenntnistheorie verweise ich vor allem auf Simmel, obwohl er keineswegs mit solchem Schlagwort erschöpfend bezeichnet ist. Ferner auf Baldwin, De Roberty, Huxley u. a.
Mit dem Psychologismus, wie ihn vor allem Husserl bekämpft, habe ich wenig zu tun. Einen Psychologismus sehr starker Art, mit dem sich
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meines Wissens jedoch die Logisten nicht auseinandergesetzt haben, vertritt Julius Schultz vor allem in seiner „Psychologie der Axiome” 1899. Den Fiktionalismus vertritt am stärksten Vaihinger (Phil, des Als-Ob 1918).
7. Die Bewußtseinskriterienfür die „Richtigkeit” des Erkennens.
Indem ich meiner vital-realistischen Erkenntnislehre gemäß nur das Erkenntnis nenne, was der Lebenserhaltung und Lebens-entfaltung dadurch dient, daß es ein Wirken des Subjekts in der Außenwelt ermöglicht, stoße ich mit jenen Theorien zusammen, die da behaupten, es ließe sich am Bewußtseinsinhalt selbst bereits sein Erkenntniswert ermitteln. Man sagt also nicht, ein Bewußtseinsinhalt sei darum Erkenntnis, weil er adäquate Lebensbeziehungen zu einer Wirklichkeit habe, sondern weil er „an sich” Erkenntnisqualität habe, so erschlösse er eine Wirklichkeit (ja er umfasse sogar alle Wirklichkeit). Nun ist sicher, daß wir im Leben vielfach nach solchen reinen Bewußtseinskriterien schätzen und auch schätzen müssen, weil die Wirklichkeitsprobe, die vollkommene Verifizierung, selten ganz und sofort vollzogen werden kann, und insofern hat jenes Verfahren als Abkürzung und vorläufige Aushilfe gewiß seine Berechtigung; es wird nur zu schwerem Fehler, wenn man darin die einzige, wohl gar eine absolute Entscheidungsmöglichkeit sieht. Denn es läßt sich dartun, daß auf Grund aller dieser rein konszientialistischen Erkenntniskriterien die skurrilsten Irrtümer legitimiert worden sind, die alle nur dadurch richtiggestellt werden konnten, daß man die vital-realistische Probe machte.
Damit aber ist zugleich eine andere, überaus wichtige Frage, die von uns bisher zurückgestellt war, aufgerollt: die Frage nach dem Unterschied zwischen „richtig” und „falsch”, zwischen Wahrheit und Irrtum.
Ehe ich jedoch diese Frage im Sinne meiner Grundposition beantworte, seien zunächst die konszientialistischen Erkenntnis-kriterien, die aus dem Bewußtseinsinhalt als solchem, ohne die Wirklichkeitsprobe, über richtig und falsch eine Entscheidung gestalten sollen, zusammengestellt:
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Es haben als Bewußtseinskriteria gegolten :
8. Zusammenhangsgemäßheit der Erkenntnis.
Aus dem Bewußtseinsgehalt des Erkennens ist also Entscheidung über seine Richtigkeit oder Irrtümlichkeit, d. h. über seinen Wirklichkeitswert niemals zu gewinnen; stets entscheidet erst das Wirken über den Wirklichkeitswert.
Indessen kann man nicht unsere empirische Argumentation gegen unser Erkenntniskriterium kehren? Man wird einwenden, daß vielfach Meinungen sich praktisch bewährt hätten, die doch in höherem Sinne Irrtümer gewesen seien! Man kann sagen, daß z. B. der Teufelsglaube sicherlich ein Irrtum gewesen, sei und doch habe er auch nützliche Folgen gehabt. Oder: es sei praktisch nützlich, mit Auf- und Untergang der Sonne zu rechnen, obwohl die Sonne gar nicht „aufgehe”.
Dem ist zunächst zu erwidern, daß der Satz, eine Erkenntnis müsse sich praktisch bewähren, noch lange nicht in der Umkehrung richtig ist, überall wo sich praktischer Nutzen ergäbe, läge Erkenntnis vor. Gewiß können bei der Kompliziertheit alles
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Seins „Irrtümer” gelegentlich lebensfördernd sein; untersucht man aber den Tatbestand näher, so wird man stets finden, daß solche „Irrtümer” etwas Richtiges, wenn auch in unvollkommener oder symbolischer Form, enthalten.
Wir müssen überhaupt, um in diesen schwierigen Fragen zu entscheiden, die plumpe Trennung, die die absolutistische Logik zwischen „wahr” und „falsch” zu machen pflegt, über Bord werfen und zunächst feststellen, daß im absoluten Sinne „richtig” überhaupt keinerlei menschliche Erkenntnis ist. Der Begriff der Relativität des menschlichen Erkennens setzt voraus, daß ein Einzelgedanke in dem einen Fall Erkenntnis sein kann, im anderen jedoch nicht, daß es stets auf den Zusammenhang ankommt, in dem eine einzelne Erkenntnis wirksam wird; es kommt an sowohl auf das erkennende Subjekt, wie auf die zu erkennende Objektivität, die ja niemals „absolute” Gegebenheiten sind, und auch auf das spezifische Erkenntnisstreben, das „Gerichtetsein”, dem ein Erkenntnisinhalt genug tun soll. Statt „wahr” oder „falsch” sagt man besser, um jeden Anklang an absolutistische Theorien zu unterdrücken, zusammenhangsgemäß, wobei die gekennzeichneten drei Arten der Zusammenhänge zu berücksichtigen sind.
Vielleicht kann eine Parallele zur Ästhetik und zur Ethik für die Erkenntnislehre erleuchtend sein. Auch auf diesen Gebieten sprechen nur Leute ohne Kenntnis der verflochtenen Tatbestände noch von „schön” und „häßlich”, bzw. von „gut” und „böse” im absoluten Sinne. Gewiß, man muß gelegentlich im Leben solche Urteile fällen, aber man sollte sich, soweit man Anspruch auf philosophische Betrachtungsweise erhebt, klar sein, daß jene Urteile nur in sehr relativem Sinne gelten können.
Der Kunstkenner wird sich hüten, einen Akkord oder eine Linie im absoluten Sinne schön zu nennen. Er weiß, daß es auf den Zusammenhang, in dem sie verwendet werden, ankommt. Das schönste klassische Ornament wirkt an einer gotischen Kirche ebenso häßlich wie eine in Beethovens letzten Quartetten tiefergreifende Disharmonie unerträglich wäre, wollte man sie in ein Haydnsches Menuett einführen. Der Zusammenhang erst,
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der „Stil” entscheidet, und in solchem Sinne sagt man besser „stilgerecht” statt schön. Es kann aber auch die Relation zum Subjekt gemeint sein; denn ein Beethovensches Quartett ist „schön” nur für einen, der auf der Höhe abendländischer Musikkultur steht; für einen gebildeten Chinesen oder einen Griechen der „Perikleischen Zeit” wäre es leerer Lärm. Es bleibt darum „schön”, aber nur solange man diesen Begriff in Relation zu dem Subjekt nimmt, für das er bestimmt ist.
Ähnlich ist's mit der Ethik. Nur sehr primitive Anschauung sondert die Menschen in „Böcke” und „Schafe”, unterscheidet bei den Handlungen „schwarze” und „weiße”. In Wahrheit ist keine Handlung „an sich” gut oder böse, sie wird es erst durch den Zusammenhang, in dem sie geschieht, sei es der Zusammenhang der sittlichen Kultur oder im Zusammenhang der subjektiven Gesinnung des Täters oder ihrer objektiven Folgen.
In gleicher Weise haben wir die Begriffe „wahr” und „irrtümlich” aufzufassen. „Wahr” auf eine Wirklichkeit bezogen, heißt niemals, daß der Gedanke eine getreue Kopie sei oder in irgendeinem absoluten Sinne der Wirklichkeit adäquat; er heißt nur, daß er in bestimmten Zusammenhängen wertvolles Wirken ermöglicht, daß er „zusammenhangsgemäß” ist.
Der Begriff der Relativität der Erkenntnis, der da bestreitet, daß wir keine im absoluten Sinne „richtigen” Erkenntnisse haben können, ist jedoch nicht so zu verstehen, als verböte er uns, Entscheidungen darüber zu treffen, was ganz sicherlich falsch sei. Man komme uns nicht mit dem Einwand, es sei von unserem Standpunkt aus unmöglich, Sätze wie die folgenden abzulehnen: Moskau ist die Hauptstadt Italiens, Alexander von Makedonien befehligte das Heer der Preußen, 2 X 2 = 5. Der Verzicht auf absolute Erkenntnis schließt nicht den Verzicht auf Feststellung absoluter Irrtümer ein. Wir können sagen, ein Irrtum in diesem absoluten Sinne liegt dann vor, wenn kein Erkenntnissubjekt, keine Erkenntnissituation, kein Erkenntnisstreben denkbar sind, für die eine praktische Verifizierung möglich wäre, kurz, daß der Gedanke in irgendeinem Sinne
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„zusammenhangsgemäß” sein kann, daß er in keiner Weise praktisch realisierbar ist.
Die eigentlichen Schwierigkeiten des Erkenntnisproblems liegen dort, wo ein irgendwie begründeter Anspruch auf Wirklichkeitswert vorliegt, weil hier meist eine partielle Erkenntnis im Irrtum enthalten ist. Hier erst beginnt die wahre Problematik des Wahrheitsbegriffs, die einem konsequenten Logismus, der nur die grobe Unterscheidung zwischen „wahr” und „falsch” kennt, überhaupt unzugänglich ist.
Von meinem Standpunkt aus sind auch im Zeitalter Einsteins die Behauptungen, die Sonne gehe auf und unter, die Sonne drehe sich um die Erde, die Erde drehe sich um die Sonne keineswegs blanke Irrtümer, sondern begrenzte Wahrheiten, die jede vor gewissem Standpunkt aus Erkenntnis genannt werden können, die jedoch von höherem Standpunkt aus, d. h. in größerem Zusammenhang gesehen, ihren Erkenntniswert verlieren. Das Wachsen der Erkenntnis geht in der Weise vor sich, daß immer weitere Zusammenhänge überschaut und so die begrenzten Wahrheiten in ihrer Begrenzung erkannt werden.
Indessen hören darum die begrenzten „Erkenntnisse” nicht auf, in ihren Grenzen Erkenntnisse zu sein. Für die Zwecke des Alltags kann man mit der Kopernikanischen oder Einsteinschen Welttheorie sogar recht wenig anfangen: da stellen wir uns alle auf den primitiven Standpunkt, daß die Sonne auf und untergehe und fahren gut dabei. In praktischem Sinne ist die Ptolomäische Weltansicht noch heute relativ „richtige” Erkenntnis.
Nun liegt es jedoch im Wesen des theoretischen Erkennens, daß es für alle überhaupt möglichen Fälle Vorsorge tragen will, daß es deshalb die größtmöglichen Zusammenhänge anstrebt und die größeren Zusammenhänge den kleineren überordnet, d. h. die begrenzten Erkenntnisse von dem erreichten Standpunkt aus als „Irrtümer” anspricht. Es ist jedoch ebenfalls „irrtümlich”, wenn man jene begrenzten Erkenntnisse mit den absoluten Irrtümern, etwa dem, die Erde drehe sich um den Mars, auf eine Stufe stellt. Aber ein
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absolut größter Zusammenhang ist niemals zu erreichen, immer tauchen noch neue Horizonte auf, und so ist auch von diesem Standpunkt aus absolute Erkenntnis ein Widersinn.
Im Grunde steckt in allen absolutistischen Erkenntnislehren, mögen sie auch verbaliter die Abbildtheorie des Erkennens ablehnen, doch noch irgendwie das „Ideal” einer Übereinstimmung zwischen Bewußtseinsinhalt und gemeinter Wirklichkeit darin. Hat man sich jedoch erst ganz klar gemacht, daß in bezug auf die Objektivität unsere Erkenntnisse alle, wenn auch nicht in allen Teilen, so doch in der Gesamtheit symbolhaft sind, so wird für die Erkenntnis statt des Begriffs des „Richtigen” oder „Wahren” im absoluten Sinne besser der Begriff des Zusammenhangsgemäßen vollauf genügen. Auch der Rationalismus gibt zu, daß streng genommen vereinzelte Erkenntnisse nicht wahr oder falsch genannt werden können, daß sie stets auf ein „System”, den Zusammenhang aller Erkenntnisse bezogen werden müssen. Er macht nur den Fehler, daß er den von ihm erreichten größtmöglichen Zusammenhang als absolut setzt und mit einer absoluten Totalität der Erkenntnis als einer erreichbaren, ja erreichten Tatsächlichkeit rechnet. In Wahrheit gibt es jedoch keinerlei Erkenntnisse, die nicht in ganz neuem Zusammenhang als sehr begrenzte Wahrheiten, ja als Irrtümer gelten müssen. Es ist kein schlechter Witz der Weltgeschichte, daß in unseren Tagen gerade jene Erkenntnis, die vielen Kantianern als Typus absoluter Erkenntnis galt, die Newtonsche Physik, das Schicksal erfahren, daß sie im Zusammenhang neuer Feststellungen, vor allem der Michelsonschen Versuchsergebnisse, sich als unzulänglich erwies.
Es ist absurd, irgendeine Erkenntnis als absolut anzusehen, wo doch die Geschichte der Wissenschaften gerade die unendliche Wandelbarkeit der Erkenntnis bezeugt. Wer will von irgendeiner „Wahrheit” sagen, daß sie nicht in zwanzig Jahren schon als partieller Irrtum erschiene? Wir werden deshalb keinen einzigen Satz als „absolut wahr” ansprechen, sondern nur sagen, im Zusammenhang der Erkennenden von heute, der von diesen erkannten Inhalte und der heutigen Erkenntnisbestrebungen ist
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ein Denkinhalt ausreichend, um allen Wirklichkeitsansprüchen genug zu tun.
Der Zusammenhang nun, in den die Erkenntnis passen soll, kann ein verschiedener sein. Er kann ein objektiver Zusammenhang sein, d. h. es kann sich um das Zueinanderpassen verschiedener Erkenntnisse handeln; es kann auch der Zusammenhang der verschiedenen Subjekte untereinander gemeint sein, und es kann sich um neue Wirkungsbedürfnisse zwischen Objektivität und Subjektivität handeln.! Alle diese Zusammenhänge aber sind niemals abgeschlossen, sondern in unablässiger Wandlung und Erweiterung begriffen und deshalb kann von einer „Allgemeingültigkeit” nur im relativen Sinne, mit Bezug auf den heute erreichten Standpunkt, gesprochen werden, womit allerdings der Anspruch des Rationalismus auf Absolutheit preisgegeben werden muß.
Wenn ich das alles durch ein Gleichnis (ich betone: ein Gleichnis!) verdeutlichen darf, so möchte ich, indem ich die zu erkennende Wirklichkeit einem neuzuentdeckenden Lande vergleiche, sagen: die Erkenntnis sei nie ein Bild, höchstens eine nachweisbar nicht bildhafte Karte der Wirklichkeit, die der praktischen Orientierung zu dienen hat. Und zwar macht sich gleichsam jeder Reisende seine Karte, indem er das ihn zunächst Interessierende vor allem einträgt. Gewiß gibt es auch Punkte, die alle Reisenden gleichmäßig eintragen, vor allem die Relationen der einzelnen Punkte werden eine gewisse Festigkeit aufweisen. Indessen sind auch diese Relationen nicht immer in objektiven Raummaßen berechnet, sondern jeder trägt sie nach seiner Art des Erlebens ein, also nicht in Kilometern, sondern in Wegstunden, die je nach der individuellen Gangart verschieden sind. Auch ist das Objekt nicht immer dasselbe: der eine sieht es im Sommer, der andere im Winter, wodurch große Verschiedenheiten gesetzt sind. Auch ist das spezifische Erkenntnisstreben verschieden: der Geologe entwirft eine andere Karte als ein Kaufmann oder ein Maler. Kurz, jede Karte wird, bei allem Wirklichkeitsstreben, doch sehr verschieden ausfallen, ohne falsch zu sein. Sie gilt nur für das Individuum und seinen Typus. Gewiß
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kann man nun (als theoretische Erkenntnis) durch Zusammenarbeiten vieler Einzelkarten eine für möglichst alle denkbaren Subjekte und Erkenntnisstrebungen gültige Karte schaffen, aber sie wird stets weit davon entfernt sein, für absolut alle Subjekte und für alle Zwecke zu genügen, vor allem wird sie nie ein absolut getreues Bild geben. Lassen wir aber diese unmögliche Forderung fallen, so wird man sich des auf jene Weise Erreichten aufrichtig freuen können und ihm gern den Namen Erkenntnis geben.
9. Rationales und irrationales Erkennen.
Jetzt endlich sind wir in unseren Voruntersuchungen weit genug, um das eigentliche Problem dieses Buches in Angriff zu nehmen, d. h. die Frage, ob man allein die rationale Erkenntnis als Erkenntnis gelten lassen, oder ob man daneben auch irrationales Erkennen zulassen müsse. Als rational aber gilt ein Erkennen, das „Allgemeingültigkeit” einschließt, d. h. dessen Inhalte sowohl für jedes Erkenntnissubjekt, als auch für die Objektivität ein für allemal unbedingte Geltung haben sollen. Das aber setzt voraus, daß sowohl das erkennende Subjekt wie das zu erkennende Objekt, ebenso das Erkennen selbst (als die Beziehung zwischen beiden) stets mit sich selbst identisch gedacht werden müssen.
In der Tat hat der Rationalismus dort, wo er konsequent auftrat, nicht nur für den Erkenntnisakt, sondern für Erkenntnissubjekt und -objekt diese Voraussetzungen bejaht. Er hat entweder, soweit er nicht Subjekt oder Objekt oder beide aus der Welt hinausdisputieren wollte, behauptet, alle Erkenntnis sei Angelegenheit eines abstrakten, hoch über alle individuellen Unterschiede, erhabenen „erkenntnistheoretischen Subjekts”, und andererseits sei auch das Wesen der Welt dieser Erkenntnis entsprechend ewig und unveränderlich; Zeit und Raum, Relation und Qualität, gehörten nur der „Erscheinungswelt” an, hinter der das „An sich” der Dinge in ewiger Identität ruhe. Da aber alle derartigen Theorien sich auf Schritt und Tritt
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als unzulänglich erwiesen, so hat man das rationale Erkennen selbst verabsolutiert und ließ, um solche Schwierigkeiten zu vermeiden, entweder die zu erkennende Objektivität oder das erkennende Subjekt oder gar beide überhaupt ausfallen, so daß das Erkennen als in der Luft schwebender Prozeß, der alle Wirklichkeit in sich selbst trüge, erscheint.
Ich werde später meine Einwände gegen diese Lehren entwickeln. Die so gekennzeichnete Art der Erkenntnis ist eine rein ideale Forderung, die sich keineswegs mit der uns allein zugänglichen menschlichen Erkenntnis vereinen läßt. Ich aber erforsche nicht ideale, utopische Fälle, sondern Tatsächlichkeiten, das menschliche Erkennen, so wie es sich uns in der Geschichte des menschlichen Geistes und im gegenwärtigen Leben offenbart. Und wenn wir dies zum Ausgangspunkt nehmen, so müssen wir sagen, daß es weder im Hinblick auf das erkennende Subjekt, noch im Hinblick auf das zu erkennende Objekt, noch im Hinblick auf den Erkenntnisakt selbst den Voraussetzungen des Rationalismus entspricht.
Fassen wir zunächst die erkennenden Subjekte, d. h. die menschlichen Individualitäten und die Gruppenbildungen solcher ins Auge, so kann unmöglich behauptet werden, daß sie irgendwie als identisch zu denken sind. Nicht nur, daß die einzelnen Menschen untereinander überaus verschieden sind, ist unabweisbar; nein, auch innerhalb des Einzelmenschen selbst herrscht nicht Identität; das erkennende Ich ist beständigen Schwankungen, Wandlungen und Spaltungen unterworfen. Der Hinweis darauf, es sei doch nicht zu bestreiten, daß jeder Mensch in gewissem Sinne gleichgebaute Augen, Ohren, Vorstellungen und Denkfunktionen habe, ist unzutreffend. Er übersieht neben gewissen groben Äußerlichkeiten die unzähligen Verschiedenheiten in der Funktion des Sehens etwa, die nicht nur angeboren, sondern auch anerzogen sind (z. B. den Farbenempfindungen gegenüber); er übersieht auch vollkommen, daß wir durch äußere Hilfen, Tele- und Mikroskope, unsere Augen weit über das „Normalmaß” hinaus zu steigern vermögen, daß also für den
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Astronomen das Auge in der Tat ein ganz anderes Erkenntnismittel ist als für einen Neger, der nie ein Fernrohr gebraucht. Und wenn man sagt, der Neger könne auch das Fernrohr brauchen lernen und sich auf die Stufe des Astronomen erheben, so übersieht man doch, daß er trotzdem nicht dasselbe sehen wird, weil das „Sehen”, die visuelle Apperzeption nicht bloß Sache des Auges, sondern des gesamten Geistes eines Menschen ist, daß all unser Wissen und all unsere Bildung uns sehen helfen, und da jeder Mensch ein anderes Wissen und eine andere Bildung hat, auch jeder Mensch prinzipiell anders sieht. Diese Verschiedenheiten treten natürlich im nichtsinnhaften Geistesleben noch viel stärker hervor. Es wird später zu zeigen sein, daß auch die „Kategorien des Verstandes” nicht etwa starre Formen sind, sondern innerhalb gewisser Grenzen unendlich variable Einstellungen des Geistes, also daß z. B. „Kausalität” für einen primitiven, wundergläubigen Menschen etwas ganz anderes ist als für einen modernen Physiker, um nur ein grobes Beispiel zu nennen. Noch steht ja die vergleichende Psychologie in den Anfängen, das aber muß schon heute zugegeben werden, daß von einheitlicher seelischer Struktur aller Menschen nicht geredet werden kann, und daß das „allgemeine” Ich der Rationalisten eine blasse Abstraktion ist, der nur fiktiver Wert zukommt, daß dagegen sehr wohl überindividuelle Gruppenbildungen bestehen, die jedoch wie die Einzeliche irrationalen Charakter haben.
Aber nicht nur das erkennende Ich, auch die zu erkennende Objektivität ist nicht als stets identisch zu denken. Gewiß ist dieser Satz nicht so leicht durchzuführen wie der von der Irrationalität des Subjekts, die wir z. T. unmittelbar erleben; denn jede Behauptung über die Außenwelt setzt gewissermaßen eine wenigstens fiktive Identität des erkennenden Ich und des Erkenntnisvorgangs voraus. Indessen selbst vom Standpunkt des Rationalismus aus ist die Identität der Wirklichkeit nicht durchzuführen. Nehmen wir einmal an, es gäbe ein ideales, stets mit sich selbst identisches erkenntnistheoretisches Subjekt und es gäbe ein absolutes Erkennen im Sinne des Logismus, so muß doch selbst dieser die wenigstens partielle Irrationalität der
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Außenwelt zugeben. Er kann zwar keck alles „Werden”, alle Veränderung in der Welt als „Nichtsein” erklären, indessen ist ein solches Verfahren doch sehr dem Verfahren des Vogels Strauß verwandt, der den Kopf in den Sand steckt und meint, nun sei das nicht da, was er fürchtet. Die verständigeren Rationalisten haben daher die Irrationalität der Außenwelt nie ganz geleugnet, sondern nur beklagt, daß sie mit rationalen Denkmitteln nicht einzufangen sei. Für uns, die wir neben den begrifflichen auch irrationale Erkenntnismöglichkeiten anerkennen, ist kein Grund zu solchem Verzagen: wir behaupten, es gibt auch ein irrationales Erkennen und ein Erkennen des Irrationalen. Wenn wir auch die unendliche Vielfältigkeit der Welt, die Singularität alles Seins, vor allem der organischen Natur nicht in starre Begriffe einfangen können, so können wir doch auf andere Weise damit in Beziehung treten. Besonders aber wird man die Irrationalität der Wirklichkeit dann zugeben müssen, wenn man einsieht, daß wir die Wirklichkeit ja nicht fertig vorfinden, sondern, daß wir selbst Wirklichkeit schaffen und damit die ganze Irrationalität des Subjekts in die Wirklichkeit hineintragen. Nein, wir werden auch den Gegenstand des Erkennens, die Wirklichkeit, als irrational, als selbst dann, wenn wir über absolutes, rationales Erkennen verfügten, niemals ganz damit faßbar bezeichnen müssen.
Denn nicht nur das erkennende Subjekt und die zu erkennende Objektivität, auch der Erkenntnisakt selbst, wie er sich unserer Analyse darstellte, ist nicht dem Satz der Identität zu unterwerfen. Wir sahen zwar, daß alles Erkennen einem Wirklichkeitsstreben entspringt, d. h. daß nur solche geistigen Vorgänge Erkenntniswert haben, die einem Wirken zu dienen vermögen; indessen ist das Wirken und das darauf gerichtete Streben nicht eine abstrakte Identität, sondern schließt eine unübersehbare Mannigfaltigkeit ein. Für den Rationalismus ist Erkennen gleichsam ein stets identisches Hamstern von geistigen Inhalten, die – allem realen Streben entrückt – an sich selbst abstrakten Erkenntnischarakter tragen. Wir haben nun nachgewiesen, daß kein Bewußtseinsinhalt als solcher Erkenntnis ist, daß es kein
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absolutes Erkenntniskriterium im Sinne des Logismus gibt, daß vielmehr jeder Bewußtseinsinhalt erst dadurch zur Erkenntnis wird, daß er einem Wirklichkeitsstreben, dem Wirken, genugtut. Dieses Wirken jedoch stellte sich uns als überaus verschieden dar. Selbst wenn es sich auf „denselben” Gegenstand richtet, kann es überaus verschieden sein, und es gibt keinen Begriff, der allen Wirkungsmöglichkeiten genug zu tun vermöchte. Es gibt keinen Begriff des Pferdes, der alles das umspannte, was ein Zoologe, ein Jockey, ein Maler, ein Bauer, ein Kavallerist daran zu erkennen vermögen. In gewissem Sinne liegt ja schon in der Nichtidentität der Subjekte einbeschlossen, daß auch ihr Erkenntnisverhalten nicht identisch ist; indessen schaffen die Situationen des Lebens von sich aus noch immer neue Erkenntnisfälle, die aus dem Subjekt allein nicht zu begreifen sind. Die Erkenntnis als Akt, auch als theoretischer Akt, ist stets ein unendlicher Prozeß, ein Erobern und Vordringen mit stets neuer Operationsbasis, das zwar alles tun wird, Gewonnenes zu sichern, das sich aber nie in trügerische Gewißheit einlullen darf, sondern stets bereit sein muß, unhaltbare Positionen zu verlassen und neue Stützpunkte zu schaffen 1).
Das Problem einer irrationalistischen Erkenntnislehre wird es also sein müssen, alle – auch die nichtrationalen – Erkenntnismöglichkeiten zu erforschen. Es wird sich zeigen, daß das rationalisierende Erkennen nur eine Form des Erkennens neben vielen anderen ist, deren jede in bezug auf die Gegenständlichkeit auch nur einen Teil des Erkennbaren zu erfassen vermag. Der Irrationalismus aber wird erstens die nichtrationalen Erkenntnismöglichkeiten prüfen, er wird zweitens damit zugleich auch solche Erkenntnisgegenstände, die dem Rationalismus verschlossen sind, in den Kreis seiner Forschung einbeziehen, und er wird drittens auch den Begriff des erkennenden Subjekts nicht nur nach seiner Rationalisierbarkeit, sondern auch nach seiner Irrationalität hin
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zu erforschen haben, Wir erkennen die Rationalität gewiß als ideales Ziel an, das freilich längst nicht für alle Lagen des Lebens gilt; wir betonen aber, daß man in dem tatsächlich in Menschenhirnen vor sich gehenden Denken niemals von rein rationalem, höchstens von rationalisierendem Denken reden kann, und daß diese Rationalisierung als Spezialfall des an sich irrationalen Erkenntnisstrebens zu begreifen ist.
l) Es muß hervorgehoben werden, daß der Begriff der Erkenntnis als eines unendlichen Prozesses sich auch bei Rationalisten, vor allem bei Natorp, findet, wenn wir auch in der Fassung dieses Begriffs stark von ihm abweichen.
Berlin-Halensee 1922. Richard Müller-Freienfels.
Erstellt am 10.12.2010 - Letzte Änderung am 17.12.2010.