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Inhaltsverzeichnis
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Kap. I.
Grundlegende Verständigung über das Wesen des Erkennens.
Kap. II.
Das natürliche Denken und die Sprache als Erkenntnismittel.
Kap. III.
Das rationalisierende Denken.
Kap. IV.
Das singularisierende Erkennen.
Kap. V.
Das instinktive Erkennen.
[149] 1. Die Instinkterkenntnis als Problem
[151] 2. Der auswählende Charakter der Instinkte
[154] 3. Spontaneität und Mechanismus im Instinkt
[156] 4. Das emotionale Instinktbewußtsein
[162] 5. Der Erkenntnischarakter des emotionalen Bewußtseins
[164] 6. Das Gegenstandsbewußtsein im Instinkterkennen
[170] 7. Beispiele für Instinkterkenntnis
[172] 8. Instinktives Raum- und Zeiterkennen
[175] 9. Dinglichkeit und Ursächlichkeit als Instinktsetzungen
[181] 10. Der Instinktcharakter der Modalitätskategorien
[181] 11. Das Irrationale des Instinkterkennens
[183] 12. Der Instinkt in der Philosophie
[186] zum Ende des 5. Kapitels
Kapitel 5 als Text-File
Kap. VI.
Die Einfühlungserkenntnis.
Kap. VII.
Das schöpferische Erkennen (Die Intuition).
Kap. VIII.
Die Selbsterkenntnis.
Kap. IX.
Irrationalistische Philosophie.
Kapitel V.
Das instinktive Erkennen.
Ganz leise spricht ein Gott in unsrer Brust,
Ganz leise, ganz vernehmlich, zeigt uns an,
Was zu ergreifen ist und was zu fliehn.
Goethe.
1. Die Instinkterkenntnis als Problem
Unsere bisherigen Darlegungen zeigten allenthalben, daß weder der Bewußtseinsbefund im begrifflichen Denken, noch der im Empfinden allein ihre Bezeichnung als „Erkenntnis” rechtfertigen kann,; daß stets ein weiterer Faktor hinzutreten muß: eine motorische Einstellung, ein aktives Verhalten, durch dessen Beteiligung das Bewußtseinserlebnis erst zur Erkenntnis wird. Man muß der Kantschen Formel: ”Begriffe ohne Anschauungen sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind” als drittes Glied hinzufügen: Beides, auch zusammengenommen, ohne Umsetzung in Aktivität, ohne Übergreifen ins Willensleben sind unlebendig, tot, sind belangloses Gekräusel auf der Oberfläche des Bewußtseins. Immer wieder müssen wir betonen: Die Umsetzung in Tätigkeit ist kein beliebiges Anhängsel im Erkennen, sondern dessen eigentümlicher Lebensnerv!
Entwicklungsgeschichtlich läßt sich denn auch dartun, daß sowohl das begriffliche, wie das singularisierende Empfindungs und Vorstellungsleben nur späte Sonderentwicklungen einer Erkenntnisform sind, in der wir die Wurzel alles Erkennens zu sehen haben, und die auch in unspezialisierter Form noch neben dem rationalisierenden und singularisierenden Denken weiter besteht. Ich meine das instinktive Erkennen.
Im Rahmen einer einseitig rationalistischen Erkenntnislehre ist natürlich für solche Instinkterkenntnis kein Raum, was
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jedoch ein großer Mangel ist. Denn es ist menschlicher Dünkel, wenn man der Schlupfwespe, die von den tausend möglichen Ablagerungsstätten für ihre Eier just die zur Nahrung für die auskriechenden Maden geeigneten Raupen aussucht, „Erkenntnis” absprechen will, oder dem Vogel, der, sorgfältig auswählend, die für den Nestbau geeigneten Materialien zusammensucht, oder den Bienen oder Brieftauben, die sich in ganz fremdem Gelände wieder zu ihrem Ausgangspunkte zurückfinden. Es ist um so weniger Grund zum Hochmut, als viele hochrationalisierte Gelehrte nicht im Entferntesten zu solchen Orientierungsleistungen fähig sind, ja sich oft genug bei den einfachsten militärischen Geländeübungen höchst ungeschickt benehmen.
Vielleicht aber erwidert man demgegenüber, daß zwar diese Leistungen der Tiere recht erstaunlich seien, daß ihnen aber trotzdem nicht der Titel Erkenntnis zukäme, da die verbreitetste Definition der Instinkte diese als eine starre Kette von Reflexen ansähe, also eine rein mechanische Aufeinanderfolge von Bewegungen, für die weder die für alles Erkennen charakteristische Auswahl, die bejahende oder verneinende Wertung, noch das Kriterium des geistigen Vorgangs zutreffe, da sie unbewußt verliefen.
Es wird diesen Einwänden gegenüber festzustellen sein, daß die Instinkte gewiß vielfach in hohem Grade automatisiert sind, daß sie aber trotzdem wertende Akte im Dienste der Lebenserhaltung des Individuums wie der Gattung sind, und zweitens, daß man sehr wohl ein Instinktbewußtsein annehmen muß, mag es auch vom rationalen Denken, wie es die Logik postuliert, weit entfernt sein.
Gelingt dieser Nachweis, so wird man den Instinkten die Bezeichnung Erkenntnis nicht versagen dürfen. Sie sind auch keineswegs bloß auf das Tierreich beschränkt, sondern spielen auch im menschlichen Seelenleben eine bedeutende Rolle und zwar, wie zu zeigen sein wird, nicht bloß als selbständige Akte, sondern als wesentliche Faktoren auch des rationalisierenden und singu-larisierenden Denkens. —
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2. Der auswählende Charakter der Instinkte.
Sind die Instinkte wirklich nichts als starre, unveränderliche Automatismen, als welche sie sich besonders beim Tiere dem Beobachter vielfach darstellen?
Es ist gewiß nicht zu leugnen, daß viele Instinkthandlungen selbst dann noch geübt werden, wenn sie völlig nutzlos geworden sind. So war es gewiß für viele Raubtiere sehr nützlich, daß sie ihren Kot verscharrten, weil so dessen Geruch ihre Anwesenheit den Beutetieren nicht verraten konnte: wenn aber der Haushund nach der Entleerung und nachdem er einige Schritte gegangen ist, plötzlich anfängt, mit den Hinterbeinen, wohl gar auf Asphalt, an einer Stelle, wo sein Kot gar nicht liegt, Kratzbeweguugen zu machen, so wirkt hier die Handlung als Automatismus, dem gewiß jeder Erkenntnischarakter abgeht.
Trotzdem wäre es verkehrt, von solchen immerhin absonderlichen Erscheinungen auf den Instinkt überhaupt zu schließen. Wenn sich der Instinkt auch leicht automatisiert, so beweist das noch nicht, daß er immer rein automatisch gewesen ist.
Ich verweise auf die schönen Beobachtungen Lloyd Morgans, der nachgewiesen hat, daß das Tier innerhalb des Umkreises seiner angeborenen Instinkte noch mancherlei zu lernen hat. Das eben dem Ei entschlüpfte Hühnchen pickt ohne Unterschied nach Körnern, Steinchen, Beeren, Papierschnitzeln, Knöpfen, Maden, Zwirnsfäden, nach Flecken auf den Dielen, den Augen seiner Kameraden, seinen eigenen Zehen. Die Auslösung der Handlung geschieht also offenbar nicht durch bestimmte Eigenschaften, nur nach einem unbestimmten, vor allem in der Größe des Objekts liegenden Reiz, bis das Tier allmählich durch Erfahrung lernt, das Gutschmeckende vom Schlechtschmeckenden zu unterscheiden. Auch konnte Morgan zeigen, daß der Widerwille der Hühnchen gegen bestimmte Raupen nicht angeboren war, sondern erlernt wurde.
Aber auch das erwachsene Tier „lernt” noch, was beweist, daß nicht bloß kurz nach dem Beginn des individuellen Lebens der Instinkt kein unabänderlicher Automatismus ist. So lernen (nach Yerkes und Spaulding) Krebse den Ort, wo sie
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Futter erhalten haben, wieder aufsuchen, und sie meiden Wege, die sich als Sackgassen erwiesen haben. Und ein Hecht, den man in einem, durch eine Glasplatte zweigeteilten Bassin hielt, in dessen anderer Hälfte sich kleine Fische befanden, lernte, nachdem er sich beim Schnappen nach diesen eine Weile den Kopf heftig angestoßen hatte, eine solche Zurückhaltung, daß er selbst dann nicht mehr auf die Fischlein stieß, als man die Platte entfernt hatte. Diese Tatsachen (von tausend anderen, bei Hunden und Affen beobachteten Fällen gar nicht zu reden) beweisen, daß der Instinkt keineswegs eine starre Folge von Bewegungen ist, sondern daß ihm eine Anpassung zugrunde liegt.
Geben wir das aber zu, so werden wir dem Instinkt, der sich geänderten Verhältnissen anpaßt, der es lernt, gutes und schlechtschmeckendes Futter zu unterscheiden, nicht mehr bestreiten können, daß eine Bewertung in ihm eingeschlossen ist, daß er also — die Bewußtseinsfrage vorläufig beiseite gesetzt — Erkenntnischarakter hat. Er ist also von Hause aus keine starre Kette von Bewegungen, er wird nur leicht zu einer solchen. Aber ein starr gewordener Automatismus ist noch lange nicht wesensgleich einem, der es immer gewesen ist. Selbst von Instinkten, die sich als Automatismen vererben, müssen wir doch annehmen, daß sie in früheren Generationen einmal nach Auswahlakten sich als zweckmäßig konstituiert und verfestigt haben. Können sich doch auch beim Menschen sogar ursprünglich mit vollem Bewußtsein eingeübte, unzweifelhafte Erkenntnisakte, so das Ablesen und Spielen von komplizierten Akkorden beim Klavierspieler, völlig automatisieren! Und doch wird man nicht alles Primavistaspielen als erkenntnislosen Automatismus ansehen! Eine solche Charakteristik übersieht auch beim Instinkt, daß, ehe er zum Automatismus wurde, eine Wertung vorlag, und man wird daher diese, später allerdings oft mechanisch werdende Auswahl- und Anpassungsfähigkeit in die Definition des Instinkts aufnehmen müssen.
Und auch dann, wenn man den Instinkt als Kette von „Reflexen” auffaßt, wird der Wertungscharakter nicht aufgehoben. Denn, wenn man den einfachen Reflex als starre Reaktion
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definiert, macht man den gleichen Fehler wie bei den Instinkten, daß man etwas automatisch Gewordenes als von jeher automatisch Gewesenes ansieht. Gewiß sehen auch wir im Reflex die Grundform der animalischen Lebenstätigkeit, aber wir betonen, daß auch der einfache Reflex nicht unwandelbar ist, sondern bei veränderten Lebensverhältnissen sich anpaßt. Normalerweise biegt die kriechende Amöbe jedem harten Gegenstand aus, wird sie aber ins Wasser geworfen, so ändert sie ihr Verhalten und klammert sich an den ersten ihr sich bietenden festen Gegenstand an.
Ja, der einfachste Reflex ist mehr als ein rein mechanischer Vorgang, darum weil er der Erhaltung eines Organismus dient, und es ist eine kühne Behauptung, daß die Reflexe der Amöbe, darum weil sie unserer grobschlächtigen Beobachtung wie Mechanismen vorkommen, wirklich rein mechanisch seien. Auch wenn wir die Bewußtseinsfrage ganz aus dem Spiele lassen, müssen wir doch anerkennen, daß sie sich eingliedern in den Selbsterhaltungsprozeß eines Organismus, wofür wir unter rein mechanischen Vorgängen keinerlei Analogen haben. Schon aus diesem Grunde geht es nicht an, den Reflex als reinen Mechanismus anzusehen, im Gegenteil, weil der Reflex eine Auswahl im Dienste des vitalen Bestehens darstellt, haben wir in ihm die primitivste Form des Erkennens zu erblicken. Mögen auch rein von außen gesehen viele „Tropismen” der Anziehung, die ein Magnet auf Eisenfeilspäne ausübt, sehr ähnlich sein, so fehlt doch bei dem magnetischen Vorgang jedes vitale Moment, daß diese Handlung in einen Lebensprozeß eingeht und ihn fördert. Das schließt natürlich nicht aus, daß chemische Einflüsse sehr stark bei den Instinkten im Spiel sind; sie allein aber vermögen doch den komplizierten Reaktionsvorgang nicht zu erklären, zum mindesten sind wir bis heute noch weit davon entfernt, die vitalen Reaktionen rein chemisch-physikalisch zu deuten.
(Für die Instinkttheorie vgl. vor allem Lloyd Morgan, Instinkt und Gewohnheit. Eine wesentlich mechanistische Theorie des tierischen Seelenlebens entwickelt z. B. v. d. Strassen, Die neuere Tierpsychologie.)
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3. Spontaneität und Mechanismus im Instinkt.
Wir müssen, also in allen Instinkt- und Reflexhandlungen einen grundsätzlichen Unterschied machen zwischen der nicht automatischen Spontanaktion einerseits und der automatisch gewordenen Mechanismusaktion andererseits. Gewiß bleibt, wenigstens scheinbar, bei den meisten Instinkten der reine Mechanismus übrig, besonders die ererbten Instinkte stellen sich so dar, aber nur scheinbar, denn auch mechanisierte Instinkte können unter Umständen ihren Spontancharakter wiedergewinnen, indem sie sich „anpassen” und „lernen”. Nur insofern als der Spontanfaktor wirksam ist, können wir Instinkte Erkenntnis im aktuellen Sinne nennen, der mechanisierte Instinkt dagegen ist eine stereotyp gewordene Erkenntnis. Wenn wir also von instinktivem Erkennen sprechen, so meinen wir zunächst immer den Spontanfaktor, sind uns jedoch bewußt, daß dieser sich leicht mechanisiert und dadurch bis zu einem gewissen Grade den aktuellen Auswahlcharakter einbüßt, ohne darum immer aufzuhören. Erkenntniswert zu haben.
In dem Spontanfaktor der Reflexe und Instinkte aber haben wir die „Urzelle” aller Erkenntnis; hier ist die letzte Etappe, bis zu der alle Erkenntniskritik vordringen kann: der Tatsache nämlich, daß die lebende Substanz die Fähigkeit hat, zwischen solchen motorischen Akten, die ihrem Bestehen nützlich, und solchen, die ihm schädlich sind, zu wählen, d. h. zu werten. Ohne die Bewußtseinsfrage vorläufig zu streifen, müssen wir bei den primitivsten Lebewesen diese Wertungsfähigkeit anerkennen, der man — allerdings in einem ganz unintellektualisierten Sinne — die Bezeichnung als Erkenntnis zubilligen muß.
Über die Art, wie diese Auswahl vor sich geht, können wir noch aussagen, daß ihr zunächst ungeordnete Probierbewegungen vorausgehen, die sich, soweit sie sich als vital nützlich erweisen, mehr und mehr organisieren, d. h. in ebenfalls nützlicher Weise wiederholen oder auch, unter veränderten Umständen, korrigieren.
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Im letzteren Fall tritt die Spontanreaktion, die bei reiner Wiederholung zurücktritt, wieder in den Vordergrund. Wir haben also als Grundbestandteile aller Instinkthandlungen, der spontanen wie der automatisierten, nur anzunehmen: 1. daß die lebende Substanz auf innere oder äußere Reize durch (zunächst bloß probierende) Bewegungen reagiert, 2. daß die lebende Substanz zu werten vermag, ob diese Reaktionen ihrem Bestehen nützlich sind oder nicht, und 3. daß sie die Fähigkeit hat, nützliche Bewegungen zu wiederholen.
Über die Bewußtseinsbeteiligung ist mit alledem nichts ausgemacht. Diese drei Feststellungen beruhen auf äußeren Beobachtungen, die auch kein Mechanist bestreiten wird. Dessen Behauptung geht nun dahin, daß sich, wenigstens beim Tier, alle diese Akte ohne Bewußtsein vollzögen, und zwar beruft er sich für diese Annahme nicht auf empirische Feststellungen, sondern auf das „Sparsamkeitsprinzip”. Nun sind auch wir geneigt, so sparsam wie möglich mit Erklärungsprinzipien zu sein; indessen ist nicht einzusehen, warum die Natur beim Menschen auf einmal so verschwenderisch sein soll, daß sie ihm die Gabe des Bewußtseins verliehe, die sie niederen Lebewesen prinzipiell versagen soll. So gut wie bei der Amöbe können wir auch das Handeln des Menschen rein mechanisch konstruieren: der psy-chophyische Parallelismus nimmt einen geschlossenen physiologischen Kausalnexus an, neben dem die psychische Kette nebenherläuft, eigentlich ohne verständlichen Grund, wenn schon die physische Kette eine geschlossene Ursächlichkeitsreihe ergibt. Entweder also ist hier das Sparsamkeitsprinzip durchbrochen und dann ist nicht einzusehen, wo in der Entwicklungsreihe das Bewußtsein einsetzt; oder aber, wir beharren bei dem Sparsamkeitsprinzip auch für den Menschen, setzen uns dann aber mit der primitivsten Erfahrung, der Tatsache unseres Bewußtseins, in Widerspruch. Da wir das nicht wollen können, so werden wir dem Bewußtsein eine Bedeutung für das Zustandekommen nützlicher Handlungen beim Menschen zubilligen müssen, wir werden aber zugleich auch den höheren Tieren es nicht absprechen können, und tun wir das nicht, so ist schlechthin nicht
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einzusehen, wo eine Grenze zu setzen ist. Das Sparsamkeitsprinzip wird uns also nicht abhalten dürfen, auch den niederen Lebewesen ein (wenn auch gewiß kein menschliches) Bewußtsein zuzuerkennen. Es besteht kein ernsthafter prinzipieller Anlaß, die Tiere als reine Maschinen anzusehen, was selbst dann unmöglich ist, wenn wir von Bewußtsein jeder Art absehen, da es keine Maschine gibt, die, wenn auch ohne Bewußtsein, spontane Handlungen, die ihre Erhaltung förderten, vorzunehmen und sie nach Bedürfnis zu wiederholen oder zu unterlassen wüßte.
Wir sind also berechtigt, auch bei tierischen Reflexen und Instinkten das Problem der Bewußtheit zum mindesten aufzuwerfen.
Angemerkt sei noch, daß sich die Mechanisierung der Instinkte im individuellen Leben bilden kann (sie heißt dann in der Regel Gewohnheit); vererbt sie sich jedoch, wird sie ein „mnemisches Faktum”, so heißt sie im engeren Sinne Instinkt. Ein prinzipieller Unterschied zwischen Instinkt und Gewohnheit besteht also nicht; ausschlaggebend ist nur, daß die konstituierende Spontanaktion im ersten Falle ein phylogenetisches Faktum ist, im zweiten Fall im Individuum sich herausgebildet hat.
In meiner Deutung der tierischen Handlungen stehe ich den „Psychovitalisten” am nächsten, vor allem z. B. E. Becher (vgl. bes. seine „Naturphilosophie” 1914).
4. Das emotionale Instinktbewußtsein.
Indem wir nunmehr die Frage nach dem Bewußtsein aufnehmen, das bei Reflexen und Instinkten allenfalls ins Spiel treten könnte, gilt es vor allem zu bedenken, daß der Begriff „Bewußtsein” zu den unbestimmtesten und vieldeutigsten Worten der Sprache und auch der wissenschaftlichen Terminologie gehört. Wir können auch den Handlungen anderer Menschen von außen nicht ansehen, wie weit sie mit „Bewußtsein” geschehen oder nicht. Auch ist die Frage in jener Allgemeinheit unzulässig; denn es gibt auch beim Menschen verschiedene Arten des Bewußtseins. Beobachten wir z. B. einen Hypnotisierten, so scheint er in vielen Fällen mit durchaus normalem Bewußtsein
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zu handeln, obwohl wir doch höchstens von einem, vom gewöhnlichen Zentralbewußtsein abgespaltenen Bewußtseinskomplex reden dürfen. Auch kann man dem spielenden Pianisten von außen nicht ansehen, wieviel bei seiner Tätigkeit „bewußt” ist, wieviel rein automatisch verläuft.
Noch weit vorsichtiger müssen wir natürlich Tieren gegenüber sein: Hier gibt höchstens das Studium des Nervensystems und des Gehirns einen gewissen Anhalt, und wir können danach wenigstens das in negativer Hinsicht feststellen, daß ein Zentralbewußtsein, wie es der Mensch hat, bei den meisten niederen Tieren nicht bestehen kann, und daß auch bei den Wirbeltieren die geringere Ausbildung des Gehirns zum mindesten eine geringere Bedeutung des zentrierten Bewußtseins annehmen läßt.
Immerhin wäre es gewagt, solchen Tieren, die den unseren ähnliche Sinnesorgane (Augen, Ohren usw.) besitzen, ein Reizbewußtsein, also Empfindungen abzusprechen. Das wird auch selten getan, dagegen wird der isolierten Empfindung öfters der Charakter des „Psychischen”, des Bewußtseins im menschlichen Sinne versagt und mit gewissem Grunde, denn vom Bewußtsein im höheren Sinne darf man erst dort sprechen, wo sich die isolierten Empfindungen zu einem Komplex zusammenschließen. Hätten wir nur momentane Empfindungen, die sofort wieder vergessen würden, die sich nicht einem kontinuierlichen Ichbewußtsein einfügten, so wäre jedenfalls von Bewußtsein im menschlichen Sinne nicht die Rede. Wir können deshalb die Frage nach dem isolierten Empfindungsbewußtsein dahingestellt sein lassen.
Das eigentliche Problem, dem wir zusteuern, beginnt erst, sobald wir die Frage nach der Bewußtseinsbeteiligung bei den auswählenden Reaktionen und weiterhin deren Wiederholbarkeit anschlagen. Nach der Meinung vieler Forscher geht gerade jene Auswahl, d. .h. die motorische Aktion, rein mechanisch vor sich, also ohne Bewußtsein. Das aber ist für den Menschen bestimmt, für die Tiere mit hoher Wahrscheinlichkeit zu bestreiten.
Denn unter „Bewußtsein” verstehen wir nicht nur Empfindungen, Vorstellungen und Denkakte, wir verstehen darunter auch „Gefühle”. Und solche den Tieren abzusprechen,
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erscheint noch weit gewagter als das Leugnen der intellektuellen Prozesse. Treten doch allzu deutlich alle jene körperlichen Äußerungen, nach denen wir bei Menschen auf Gefühle und Affekte schließen, bereits bei niederen Tieren auf. Gewiß sind Fehlschlüsse möglich. Wenn in Emilia Galotti auf das Sichkrümmen des getretenen Wurms als Ausdruck des Schmerzes verwiesen wird, so belehren uns neuere Biologen (Loeb), daß wir darin nicht Ausdruck des Schmerzes, sondern Desorientierung der motorischen Komplexe zu sehen haben (obwohl damit noch nicht ein lokales Schmerzbewußtsein ausgeschaltet ist). Aber wer kann im Ernste zweifeln, daß beim Todesschrei des getroffenen Wildes, bei den orgiastischen Bewegungen des begattenden Stieres Bewußtseinskomponenten vorhanden sind?
Immerhin, seien wir zurückhaltend und gehen wir vom Menschen aus, dessen Innenleben allein uns unmittelbar gegeben ist, und fragen wir hier an, ob dessen bejahende oder verwerfende Reaktionen völlig bewußtlos verlaufen.
Nun ist es durchaus irrtümlich, anzunehmen, der Mensch habe keine Instinkte, nur „Vernunft”. Der Mensch hat sogar mehr Instinkte als das Tier; sie ragen sogar hinein in sein Verstandesleben, wenn sie allerdings auch vielfach durchkreuzt und unsicher gemacht werden. Und wenn ein Kind beim Genuß einer schädlichen Speise von Ekel gepackt wird und sie ausspeit, wenn es vor einem großen Hunde, auch wenn es nie einen solchen gesehen hat, von Angst erfaßt, zurückweicht, wenn der heranwachsende junge Mann beim Anblick eines schönen jungen Mädchens von einer niegekannten Sehnsucht, sich ihr zu nähern, erfaßt wird, so sprechen hier überall Instinkte. Gewiß sind diese Handlungen nicht von klaren Vorstellungen oder gar Begriffen geleitet, aber sie sind darum doch nicht völlig unbewußt, vielmehr sind sie von solchen Bewußtseinszuständen begleitet, die wir als Gefühle oder Affekte bezeichnen.
In der Tat haben wir in diesen Zuständen das spezifische Instinktbewußtsein zu sehen. Und wir dürfen von hier aus rückwärtsschließend annehmen, daß auch die Instinkte der Tiere von Gefühlen und Affekten als Bewußtseinserscheinungen begleitet sind.
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Freilich haben wir mit dem Begriff des „Gefühls” keineswegs ein wissenschaftlich völlig geklärtes Denkmittel in der Hand, im Gegenteil, gerade die Gefühlspsychologie ist die schwächste Stelle der gesamten Seelenkunde. Während manche Denker im Gefühl nur eine unklare Vorstellung oder eine sekundäre Eigenschaft der intellektuellen Phänomene sehen, neigt die Mehrzahl der heutigen Forscher dazu, in den Gefühlen doch Bewußtseinserlebnisse eigener Art zu erblicken, die vor allem an motorische Vorgänge unseres Körpers geknüpft sind. Man kennt diese Anschauung als die „periphere” Gefühlstheorie, die in ihrer ersten Fassung die Gefühle als Summe der kinästhetischen Empfindungen (Lange, James), in einer neueren (Störring), sie lieber als Begleiterscheinungen dieser kinästhetischen Erlebnisse ansehen will. Wie dem auch sei: sicher scheint schon heute die nahe Verknüpfung mit den motorischen Vorgängen, und das bestätigt denn auch durchaus unsere Annahme, daß die Gefühle die Bewußtseinsbegleiter der wesentlich motorisch ablaufenden Instinkte sind. Sie melden im Zentralbewußtsein, wenn auch nicht in inhaltlich adäquater Form, die Erregungen jener körperlichen Vorgänge an, die wir als spontane Instinktreaktion bezeichnen. Es ist nach dieser Lehre nicht so, daß wir zurückschauen, weil wir erschrecken, sondern weil wir reflektorisch zurückfahren, erleben wir das Schreckgefühl, das an den höchst komplexen Mechanismus der ganz fälschlich sogenannten „Ausdrucksbewegung” geknüpft ist.
Aber auch bei solchen Automatismen, die nicht als Affekte ins Bewußtsein steigen, fehlt doch das Bewußtsein nicht ganz. Ich möchte hier den Begriff des „negativen Bewußtseins” einführen, worunter ich die Tatsache verstehe, daß der regelmäßige Ablauf des Geschehens zwar ohne Bewußtsein geschieht, daß jedoch jede Abweichung, Stockung, Unregelmäßigkeit unlustvoll bewußt werden. Es gibt Gewohnheitshandlungen, die als solche ohne besondere Bewußtseinserscheinungen ablaufen, von denen jedoch quälende Unlust ausgeht, wenn sie gehemmt werden. Wir haben kein Bewußtsein von unserem Gehen, Sprechen oder anderen automatischen Akten, erst wenn eine
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Unregelmäßigkeit eintritt, werden sie unlusthaft bewußt. Auch die Affekte treten erst dort in ganzer Intensität auf, wo der normale Ablauf der Instinkthandlungen gehemmt ist. Die Gefühle sind also nicht bloß an Erfüllung, sondern noch stärker an die Nichterfüllung der Instinkthandlungen geknüpft.
Bei dieser Gelegenheit ein paar Worte über die Stellung von Lust-Unlust innerhalb des Gefühlsbegriffs! Manche Forscher wollen nur Lust und Unlust als Gefühle gelten lassen. Das ist zunächst eine rein terminologische Frage, in der die praktische Brauchbarkeit entscheidet. Bedenklich ist dabei nur, daß sich diese Einengung des Gefühlsbegriffs nicht mit dem lebendigen Sprachgebrauch vereinen läßt, für den nun einmal auch Haß, Liebe, Stolz usw. „Gefühle” sind, {wirklich falsch jedoch wird jene Einengung, sobald man alle solchen Affekte und alle anderen subjektiven Bewußtseinsreaktionen aus Lust-Unlust „zusammensetzen” zu können behauptet. Das ist etwa so, als wollte man alle Farben des Spektrums aus Mischung von Schwarz und Weiß erklären. In Wahrheit haben wir in Lust und Unlust nur Teilphänomene größerer Komplexe, vor allem des Instinktbewußtseins zu sehen, dessen eigentlicher Charakter in den spezifischen Affekten sich offenbart und innerhalb deren Lust und Unlust nur den adäquaten oder inadäquaten Ablauf oder die Bereitschaft oder Gestörtheit des Gesamtzustandes des Organismus anzeigen. Deshalb sind die meisten Affekte, wenn sie nur schwach erregt werden, lustgefärbt; sobald sie aber sehr stark erregt werden, und damit eine Störung des gesamten inneren Gleichgewichts eintritt, werden sie unlustbetont. Im Kunstgenießen, wo alle Affekte infolge der „ästhetischen Distanz” nur leise angeschlagen werden, können selbst Furcht und Trauer lustbetont sein, weil sie hier nur als „Funktionsbetätigung” ohne Störungen des Gesamtzustandes auftreten. Sobald sie jedoch in hohen Intensitätsgraden angeschlagen werden und so eine Erschütterung des seelischen Gleichgewichts erregen, können selbst an sich zur Lustbetonung neigende Affekte wie Lieb oder Freude zur Qual werden, ebenso wie das stets dann eintritt, wenn ihr normaler Ablauf gehemmt wird. In der Regel haben wir also in Lust und
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Unlust Teilphänomene der Affekte zu sehen, wie denn auch die meisten „einfachen” Lustgefühle, bei denen diese Affektfärbung nicht ins Bewußtsein tritt, genauerer Analyse doch stets ihren depressiven oder sexuellen oder aggressiven Affektgrund enthüllen.
Hinzuzufügen ist nur, daß auch nichtaffektive Prozesse, wie Empfindungs- und Denkakte, lust- oder unlustbetont sein können; auch in diesen Fällen zeigen die Gefühle nur den harmonischen oder unharmonischen Ablauf, resp. die Adäquatheit oder Inadäquatheit an die Gesamtdisposition des Ich an.
Ich verwende also den Begriff Gefühl in einem weiteren Sinne als bloß für Lust und Unlust; ich bezeichne damit alle subjektiven Bewußtseinsstellungnahmen, worunter die Affekte in erster Reihe stehen. Ich bezeichne aber als „Gefühle” auch alle jene subjektiven Erlebnisse, wie die Neuheit, Fremdheit, Vertrautheit, Bekanntheit usw., die ein Empfindungs-, Vorstellungs- oder Denkerlebnis subjektiv charakterisieren, und die ihrerseits wieder lust-oder unlustgefärbt sein können, je nach der Adäquatheit oder Nichtadäquatheit an den Gesamtzustand des Ich.
Nach alledem werden wir berechtigt sein, wenigstens beim Menschen und sicherlich auch bei höheren Tieren, die Instinkte nicht als völlig „bewußtlos” anzusprechen, sondern in einem freilich irrationalen Sinne als „bewußt”. Das Instinktbewußtsein ist kein Vorstellungsbewußtsein, sondern ist zunächst nur ein Begleitbewußtsein, es tritt auf, sobald ein motorischer Komplex erregt wird und wird in der Regel als „Gefühl” zu bezeichnen sein, unter welcher Klasse von Bewußtseinserscheinungen Lust-Unlust allerdings nur eine Teilgruppe bilden.
Als physiologische Basis aller Gefühle in dem hier gekennzeichneten weiten Sinne aber haben wir eine motorische Reaktion des Ich anzusehen, worin sich dessen Selbsterhaltung betätigt; umgekehrt ausgedrückt aber heißt das auch: die der Selbsterhaltung dienenden motorischen Akte sind keineswegs ohne Bewußtsein, sondern sind von Gefühlen begleitet, sei es auch nur jenem negativen Gefühlsbewußtsein, das ich oben kennzeichnete. Da die Gefühle als Bewußtseinskomponenten dauernder
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physiologischer Dispositionen anzusehen sind, so darf man ihnen den Begriff des Bewußtseins im höheren Sinne nicht versagen, zumal viele neuere Psychologen (Th. Lipps, Oesterreich u. a.) gerade in den Gefühlen Äußerungen des Ichbewußtseins, also eines übermomentanen Bewußtseinskomplexes sehen. Sind also Gefühle bei den Instinktaktionen beteiligt, und wir dürfen das wohl bis tief ins niedere Tierleben hinab annehmen, so haben wir, auch wenn keine Vorstellungs- und Denkakte darin eingehen, doch das Recht, von Bewußtsein zu sprechen. In diesem Sinne aber sind die Instinkte, vor allem die Spontanreaktionen sicher bewußt, und auch die mechanisierten Instinkte werden von dem „negativen Bewußtsein” geleitet.
Ich verweise hier auf die großangelegte „Psychologie des emotionalen Denkens” von H. Maier, wo er dies dem kognitiven Denken gegenüberstellt. Mein Problem ist insofern ein anderes, als ich das Kognitive des emotionalen Denkens untersuche.
5. Der Erkenntnischarakter des emotionalen Bewußtseins.
Mit welchem Rechte sprechen wir nun den Gefühlen, Affekten und Willensregungen Erkenntniswert zu? Der Intellektualismus hat den Erkenntnisbegriff derart intellektualisiert, daß jene Behauptung fast paradox klingt. Und doch steht dem die Volksmeinung entgegen, daß richtiges Gefühl, richtiger Instinkt ein besserer Kompaß durchs Leben sei als Wissen und Gelehrsamkeit. Ich muß auch hier die Partei des gesunden Menschenverstandes gegen den Rationalismus nehmen und dartun, daß dieser mit seinem abstrakten, von allen lebendigen Beziehungen losgelösten Erkenntnisbegriff den Boden unter den Füßen verloren hat. Der Boden aber, auf dem alle Erkenntnis fußt, aus dem sie wie weiland Antäus ihre Kraft erhält, ist die Lebenserhaltung, die zugleich Lebensentfaltung in sich schließt. Wenn ich also den Gefühlen Erkenntniswert zuspreche, so bin ich weit davon entfernt, die Gefühle und Instinkte intellektualisieren zu wollen, was zuweilen geschehen ist; ich will vielmehr die Erkenntnis wieder zurückführen zu den Quellen, aus denen allein sie ihr Lebensblut erhält.
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Vielleicht aber erwidert man hier, man könne zwar zugeben, daß die Instinkte von Gefühlen begleitet seien, indessen den Namen Erkenntnis verdienten die Gefühle erst, wo sie nicht bloß begleiteten, sondern wo sie leiteten. Geben wir zu, daß die zurückfahrenden Bewegungen beim Erschrecken von einem Schreckgefühl, daß die reflektorischen Angriffsbewegungen beim Zornerlebnis vom Zornaffekt begleitet seien, sind derartige Zornerlebnisse darum Erkenntnisse? Sind sie nicht vielleicht nur sehr unwesentliche Spiegelungen eines physiologischen Vorganges im Bewußtsein? Ist ein in plötzlichem Schreck Zusammenfahrender darum ein Erkennender? Und muß nicht gar erst ein Erkennen im intellektualistischem Sinne des Vorstellens da sein, ehe überhaupt die Schreckreaktion samt dem Begleitgefühl auftreten kann?
Ich erwidere zunächst auf den Einwand, die Gefühle seien nur Begleit-, kein Leitbewußtsein. Wir kommen damit auf die Frage, die wir als ganze hier nur streifen können: wieweit das Bewußtsein als solches überhaupt eingreift in den Kausalnexus. Auch solche Forscher, die eine gesonderte Bedeutung des Bewußtseins beim aktuellen Reiz bestreiten, können doch nicht umhin, für Gedächtnisleistungen Bewußtsein anzunehmen und diesem insofern auch eine gewisse ursächliche Bedeutung zuzuweisen. Stellen wir uns also auf diesen Standpunkt, d. h. nehmen wir an, daß für die erste Reaktion das Gefühl nur Begleitbewußtsein wäre, so würden wir es doch als Leitbewußtsein ansprechen müssen, sobald es aus dem Gedächtnis auftaucht und etwaige Hemmungen einleitet.
Ich erwidere zunächst auf den Einwand, es seien die Gefühle nur Begleit-, nicht Leitbewußtsein. Daran ist richtig, daß sie zunächst als Begleitbewußtsein entstehen, daß sie jedoch dadurch, daß sie sich im Gedächtnis aufspeichern und sich später, nachdem sie einmal erlebt sind, leicht assoziieren, auch zu Leitbewußtsein werden können. Ein Beispiel! Ein Kind habe eine stark riechende Speise gekostet und dabei einen heftigen Ekelaffekt mit Erbrechen erlebt: Hier war das Ekelgefühl nur Begleitbewußtsein. Riecht es nun die Speise wieder, so assoziiert sich
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dem Geruch sofort das Ekelgefühl; auch ohne daß es die Speise in den Mund nimmt, treten leichte Ekelerregungen motorischer wie affektiver Art ein, die Hemmungen auslösen, so daß das Begleitbewußtsein jetzt zum Leitbewußtsein geworden ist, ohne doch darum aufzuhören, Begleitbewußtsein zu sein. Im zweiten Falle wird das Gefühl, dem man als bloßem Begleitbewußtseih vielleicht noch den Namen Erkenntnis versagen möchte, sicherlich Anspruch auf Erkenntniswert haben.
An diesem Beispiel wird die Rolle des Bewußtseins und hier speziell der Gefühle klar. Indem sich die Gefühle assoziieren, hier also von dem Geschmack auf die Geruchsvorstellung übergehen und, schon ehe die Speise den Mund erreicht hat, die unangenehme Ekelreaktion auslösen, greift es dem Geschehen gleichsam voraus, wird es von einem Begleitbewußtsein zum Leitbewußtsein. Hier ist es nicht etwa die Vorstellung, also eine intellektuelle Erinnerung (die ganz vergessen sein kann), was die Reaktion bewirkt, sondern die Geruchswahrnehmung löst ohne intellektuelle Zwischenglieder die Instinktreaktion der Unlust aus, die nun gegenüber den Greiftendenzen zur Hemmung wird. Das Instinktbewußtsein wird hier, obwohl es bei der Ekelreaktion nur Begleitreaktion ist, gegenüber dem Greifwillen zur Hemmung, also zum Leitbewußtsein.
Der Unterschied zwischen Begleit- und Leitbewußtsein ist hier zunächst rein zeitlich gefaßt, denn auch dem Leitbewußtsein ordnen wir motorische Prozesse zu; indessen scheint es, um ein Leitbewußtsein hervorzurufen, oft nicht nötig, die ganze motorische Reaktion ins Spiel zu bringen, sondern es genügt eine leichte Erregung, um eine Hemmung zu bewirken. Es braucht (in unserem Beispiel) kein wirkliches Erbrechen einzutreten, nur die ersten Anfänge davon erregen das Bewußtsein schon stark genug, um die Hemmung zu innervieren [anzuregen].
6. Das Gegenstandsbewußtsein im Instinkterkennen.
Hier aber greift der zweite Einwand ein, daß nämlich dem Gefühl das Erkennen voraus gegangen sei, daß nicht das Gefühl, sondern die es erregende Vorstellung der eigentliche
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Erkenntnisträger sei. Dem ist zu erwidern, daß in sehr vielen Fällen der erinnernden Affekterkenntnis, wo das Gefühl Leitbewußtsein wird, gar keine Vorstellung nachweisbar ist. Es kommt sehr häufig vor, daß uns ein Mensch antipatbisch [antipatisch = mit Abneigung, Widerwillen erfüllt gegen etwas oder jemanden] anmutet, obwohl wir erst nach langem Nachgraben im Gedächtnis den Anlaß ins Vorstellungsbewußtsein heben können. Hier hat nicht eine bestimmte Vorstellung, sondern das ganz unbestimmte Gefühl die „Leitung” gehabt. Der Intellektualismus führt hier, um seine Position zu retten, eine „unbewußte” Vorstellung ein. Aber ganz abgesehen davon, daß die unbewußte Vorstellung deutlich den Charakter des Lückenbüßers an sich trägt, wie ist es dann mit dem ererbten Instinkt, dem Falle also, wo wir bei bestimmten Gerüchen Ekelgefühle erleben, auch wenn wir sie zum ersten Male empfinden? Hat sich da die unbewußte Vorstellung vererbt? Nun wissen wir, daß sich Vorstellungen als bewußte niemals vererben, sollen wir dann für unbewußte Vorstellungen diese Annahme wagen? Das widerspricht aller gebotenen Vorsicht. Daß sich jedoch Bewegungsmechanismen vererben, ist nicht zu bestreiten. Wir werden also annehmen, daß sich die Ekeldisposition vererbt hat und die damit verknüpfte Gefühlsmöglichkeit auch. Indem nun dieses Ekelgefühl, das dispositionell vererbt ist, ohne Vorstellung Hemmungen auslöst, wird es zum Leitbewußtsein, wird es Erkenntnis. Wir haben hier also den Fall einer reinen Gefühlserkenntnis ohne intellektuelle Führung. Es soll gewiß nicht geleugnet werden, daß vielfach beim Menschen zugleich mit dem Affekt auch Vorstellungen auftreten, indessen ist hervorzuheben, daß in der Regel nicht die Vorstellung, sondern der Affekt in solchen Fällen die Leitung hat. Ein Kind, dem man den Stock zeigt, wird nur dann sich dadurch imponieren lassen, wenn neben der intellektuellen Erinnerung auch Affekte ins Bewußtsein treten: die reine Vorstellung ohne Affekt ist ganz unwirksam.
Mit den letzten Erörterungen sind wir einem weiteren Problem bereits nahegekommen, dem des gegenständlichen Inhalts des Instinktbewußtseins. Man wendet vielleicht ein, daß zwar die Gefühle als Begleit- und auch als
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Leitbewußtsein eine Rolle im Instinktleben spielen möchten, daß aber die Rolle des gegenständlichen Bewußtseins damit nicht gelöst sei. Denn die Instinkte richteten sich doch auf Objekte und könnten denen gegenüber unmöglich ganz blind sein. Der Hunger richtet sich auf Nahrung, der Geschlechtsinstinkt auf Personen des anderen Geschlechts: diese aber müßten entweder in mehr singularisierender oder typisierender Wahrnehmung oder Vorstellung gegeben sein, und so sei in Wahrheit das Instinktbewußtsein gar nichts Neues, sondern ordne sich den beiden bisher besprochenen Erkenntnisformen unter, die ja ihrerseits auch motorische Faktoren einschlössen.
Wir lassen es gelten, daß das Instinktbewußtsein nichts von den beiden anderen Erkenntnisformen völlig Verschiedenes ist, aber wir ordnen es darum nicht etwa jenen unter, sondern sehen vielmehr darin die Grundform, aus der sich jene beiden durch Sonderentwicklungen verselbständigt haben. Denn gewiß hat das Instinktbewußtsein in seiner unspezialisierten Form auch ein Gegenstandsbewußtsein, aber dies ist weder ausgesprochen rationalisiert noch ausgesprochen singularisiert, sondern ist ganz unbestimmt, ist bloß eine Auslösung von höchst komplizierten Akten, bei denen das bewußte Vorstellungsleben nur wenig eingreift. Das aber ist der Unterschied vom rationalisierenden wie vom singularisierenden Denken: hier tritt das Zentralbewußtsein mit seinem ganzen Schatz an gegenständlichen Erinnerungen ins Spiel, so daß der neue Eindruck entweder klassifiziert oder spezialisiert und als solcher in den geistigen Bestand aufgenommen wird.
Im Instinkterkennen ist das Gegenständliche ohne Selbständigkeit, nur Signal für die motorische Reaktion und wird ganz überwogen von dieser. Es besteht gewiß nur ein Gradunterschied zwischen Instinkt- und rationalisierender und singularisierender Erkenntnis, aber der Grad der Ichbeteiligung ist sehr verschieden: die Intellektualisierung besteht gewiß nicht in völliger Unterdrückung, aber in starker Zurückdrängung des Motorisch-reflektorischen, sie ist nicht rein objektiv, nur objektiver, ebenso wie die Instinkterkenntnis nicht rein subjektiv, nur subjektiver ist
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als die anderen Erkenntnisformen. Beim Menschen ist ja das Instinkterkennen immer verhältnismäßig intellektualisiert, während wir uns beim Tier nur ein sehr unbestimmtes Gegenstandsbewußtsein zu denken haben, das trotzdem die Handlungen auslöst.
Nehmen wir als Beispiel einen sich beim Trinken überwiegend instinktiv verhaltenden Menschen, so wird es ihm ziemlich gleichgültig sein, was er trinkt: er schluckt den Gegenstand hinunter, ohne ihn geistig einzuordnen oder sensorisch zu spezialisieren, sein Bewußtsein ist vor allem von Lustgefühlen erfüllt, deren sensorische Komplemente sehr unbestimmt bleiben. Er ist nur insofern ein Erkennender, als er schlecht Schmeckendes zurückweist, Wohlschmeckendes bevorzugt. Der Gegenstand als solcher interessiert ihn nicht, weder nach seiner begrifflichen Einordnung, noch nach seinen sinnhaften Qualitäten: nur deren Lustbewertung kommt in Frage. Der „Kenner” guter Weine jedoch genießt nicht bloß unbestimmte, massenhafte Lust, sondern klassifiziert und singularisiert die Erlebnisse, seine intellektuelle Erkenntnis hat erst allmählich gelernt, die Empfindungen nach ihrer singulären Qualität auszusondern und zu klassifizieren. Wer Musik instinktiv genießt, weiß nicht, was er hört, nur ob sein ganz vager Eindruck lustvoll oder unlustvell ist, und gewiß ist auch das ein Erkennen; aber der Musikkenner rationalisiert und singularisiert seinen Eindruck und verhält sich damit nicht mehr rein „instinktiv”. Im instinktiven Verhalten überwiegt das Reaktionsbewußtsein, also die Affekte und Gefühle; im intellektuellen Verhalten tritt das Gegenstandsbewußtsein in den Vordergrund, das nun in seiner Verfeinerung wieder Anregung für weitere Reaktionen werden kann. Vor allem aber treten beim intellektuellen Verhalten mancherlei Vorstellungen hinzu, die ihrerseits das unmittelbare Erleben komplizieren und modifizieren, wenn auch nicht als Vorstellungen, sondern als Auslösungen interkurrenter [hinzukommender] motorischer Einflüsse.
Denn das sei hier noch zur Genesis unserer Begriffe und Singulärwahrnehmungen beigefügt: sie entwickeln sich aus einem unbestimmten Eindruck so, daß neue motorische Stellungnahmen
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diesen entweder verallgemeinern oder spezialisieren. Morgans Hühnchen z. B. lernten singularisieren, indem sie auf Grund der affektiven Reaktionen unterscheiden lernten. Das menschliche Kind lernt generalisieren vor allem durch Erlernen des generalisierenden Sprechens. Damit aber sind auch Rationalisierung und Singularisierung (trotz ihres angeblich rein intellektuellen Charakters) als aktiv-motorisch enthüllt, nur daß bei höherem Geistesleben diese motorischen Faktoren zurücktreten.
Um das Erkennen genetisch zu verstehen, muß man überhaupt über das Prius der objektiven und subjektiven Faktoren umlernen. Die herkömmliche intellektualistische Theorie nimmt an, bei einer Wahrnehmung sei der Vorgang etwa der:
7. Beispiele für Instinkterkenntnis.
Es ist, wie gesagt, beim erwachsenen und gar beim gebildeten Menschen nicht ganz leicht, reine Instinkterlebnisse aufzuweisen, vielmehr sind sie meist mehr oder weniger intellektualisiert. Immerhin seien einige Beispiele genannt, die wir als relativ reine Instinkterkenntnisse ansprechen können, weil nicht Begriffe und auch nicht singularisierende Unterscheidungen auf Grund bestimmter Qualitäten, sondern wesentlich deren ganz subjektive Resonanz den Ausschlag geben.
Solche Instinkterkenntnis haben wir vor allem in den unmittelbaren, unreflektierten Wertungen, etwa den Vorlieben für bestimmte Nahrungsmittel. Das kleine Kind „weiß”, auch ohne intellektuelle Erfahrung, ganz genau, was ihm gut tut und was nicht. Es hat weder einen „Begriff” von dem, was es nimmt oder zurückweist, noch singularisierende Unterscheidungsmöglichkeiten. Der als solcher sicherlich kaum bewußte Reiz löst angeborene motorische Reaktionen aus, die sich im Bewußtsein als Lust oder Unlust geltend machen. Wenn dabei Ähnlichkeitserinnerungen auftreten oder Unterscheidungen gemacht werden, so sind diese nicht das Leitbewußtsein der Gefühle, sondern Folgeerscheinungen.
Am besten werden wir das Instinktbewußtsein an solchen Beispielen studieren, wo der Instinkt als Instinkt sich verhältnismäßig am reinsten erhält, ja mit der „Vernunft”, d. h. der zwecksetzenden Vernunft besonders leicht in Konflikt gerät: am geschlechtlichen Instinkt. Daß in ihm ein „Erkennen” steckt, eine wertende Auswahl im Dienst der Gattungserhaltung, hat in einem berühmt gewordenen Essay bereits Schopenhauer dargelegt. Daß hierbei nicht rationale Begriffe den Ausschlag geben, ist oft hervorgehoben worden. Indessen könnte es vielleicht die singularisierende Wahrnehmung sein, die entscheidet: denn oft heftet sich der Instinkt mit merkwürdiger Einseitigkeit an ein bestimmtes Individuum. Aber eine genaue
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Analyse zeigt, daß die Singularisierung nicht Ursache, sondern Folge der Instinkterregung ist. Denn es läßt sich in sehr vielen Fällen, wo der Instinkt sich auf ein Individuum konzentriert, nachweisen, daß dem schon lange vorher eine Einstellung auf einen Typus vorausgegangen ist. Der Instinkt richtet sich nämlich weder auf das Geschlecht schlechthin, auch niemals a priori auf ein Individuum, sondern auf einen Typus. So hebt bereits Schopenhauer hervor, daß Neigungen zu bestimmten Haarfarben, Gestaltgattungen usw. im Menschen angelegt sind. Sobald nun ein diesen Neigungen ungefähr entsprechender Eindruck gefunden wird, spezialisiert sich der Instinkt. Man darf trotzdem die Singularisierung nicht zu hoch einschätzen. Die meisten Liebhaber sehen gar nicht das geliebte Individuum in seiner Singularität, sondern sehen ein sehr schematisches Idealbild. Beweis: alle Schilderungen in Liebesgedichten oder Briefen! Gewiß heftet sich oft das Gefühl an Einzelheiten, oft sogar an kleine Sonderlichkeiten, eine Narbe z. B. Aber das sind alles nachträgliche, nicht verursachende Tatsachen: weil man den ganzen Menschen liebt, liebt man auch seine einzelnen Besonderheiten, nicht daß man den Menschen um dieser Besonderheiten willen liebte, selbst wenn diese sich zeitweilig stark ins Bewußtsein drängen. Überhaupt ist nicht der objektive Eindruck, sondern die subjektive Gefühlsresonanz das Primäre. Wir lieben einen Menschen nicht, weil er objektiv „schön” ist, sondern weil wir ihn lieben, nennen wir ihn schön. Das gilt von den spezialisierten Neigungen und Qualitäten wie von den generellen. Daß der primitive Mensch vollen Busen, starke Hüften, frische Farben als Zeichen der Schönheit im allgemein gültigen Sinne nimmt, liegt darin, daß der auf Gebärtüchtigkeit gerichtete Gattungsinstinkt so wertet. Gewiß zeigt die Beobachtung des Kulturlebens, daß der natürliche Instinkt durch allerlei ästhetische, wirtschaftliche, intellektuelle Einflüsse umgeleitet werden kann, so daß knabenhafte Hüftenlinien, blaßer Teint, gebrechlich zarte Hände, die das Produkt des Wohllebens sind, auch geistige Bildung, mehr geschätzt werden als die natürlichen Attribute der mütterlichen Weiblichkeit. Aber das bezeugt nicht die Unwirksamkeit der
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Instinkte, sondern die Durchkreuzung bei größerer Komplizierung des Seelenlebens, die es beim Tier und beim Naturmenschen nicht gibt. Daß die Sicherheit eines Kompasses durch einen in der Nähe befindlichen Magneten unsicher gemacht werden kann, beweist noch nichts gegen den Wert des Kompasses. In der stark individualisierenden Kultur treten die individuellen Instinkte eben gegen den Gattungsinstinkt auf, auch verstandesmäßige Berechnungen: der Erfolg ist freilich Geburtenrückgang und Dekadenz der Nachkommen!
Was lernen wir aus dieser Analyse? Erstens, daß die Instinkte eine im Dienste der Gattungserhaltung stehende Wertung, also eine Erkenntnis enthalten. Zweitens, daß das leitende Bewußtsein Gefühle sind, denn kraft dieser greift der Instinkt ins Bewußtseinsleben ein, zwingt Vorstellungen aller Art in seinen Dienst, die die Wahrnehmung stark beeinflussen. Das Gegenstandsbewußtsein, die „objektive” Wahrnehmung ist darum nicht leitend, weil der Liebende gar keine objektive Wahrnehmung hat, sondern zunächst nur einen sehr unbestimmten Eindruck, der erst dadurch, daß das Gefühl sich daran heftet, überhaupt in den Brennpunkt des Bewußtseins tritt, auch dann aber nicht stark singularisiert wird, sondern kraft der vom Gefühl erregten Phantasie in oft geradezu schöpferischer Weise umgestaltet wird. (Diese schöpferische Umgestaltung, die im Instinkt wurzelt, wird uns später noch beschäftigen.)
8. Instinktives Raum- und Zeiterkennen.
Aber die Affekterkenntnisse, bei denen angeborene Veranlagungen ins Spiel treten, sind nicht die einzigen Handlungen, bei denen man von einem „gefühls-” oder „instinktmäßigen” Erkennen spricht. Es gibt eine Unzahl menschlicher Leistungen, bei denen in der Handlung als solcher und den sie begleitenden Bewußtseinszuständen das Erkennen steckt, wo keinerlei begriffliche Leitung aufzuzeigen ist. Man muß, um solche Leistungen zu finden, ins volle Menschenleben hineingreifen, nicht in den Bücherstuben rationaler Gelehrter nachfragen, die meist zu solchen Handlungen erstaunlich unfähig sind. Aber man beobachte
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Bauernjungen, die nach einem entfernten Ziel mit Steinen werfen. Mit erstaunlicher Sicherheit treffen sie es, ohne sich irgendwelche begriffliche Rechenschaft über die Entfernung zu geben. „Eine rein manuelle Angelegenheit!” erwidert der Rationalist, falls er eine Diskussion solcher Dinge nicht für tief unter seiner Würde erklärt. Aber das ist eine Phrase; denn gewiß ist die Hand beteiligt, es liegt in der Leistung aber auch eine merkwürdig sichere Raumschätzung einbegriffen, die ohne jede Mathematik zustande kommt und ohne Zweifel als „Erkenntnis” gelten kann, wenn auch als ganz irrationale. Ebenso trifft der Geiger, der eine eben zum ersten Male gehörte Melodie nachspielt, mit Sicherheit die Intervalle auf seinen Saiten, und vollbringt so Leistungen, die als Erkenntnisse gelten können, ohne irgendwelche rationalen Elemente einzuschließen.
Auch uns kommt es an dieser Stelle nicht auf psychophysiologische Ergründung dieser Handlungen an, wir heben nur das erkenntnispsychologische Gemeinsame hervor, daß es sich nämlich um eine Raumerkenntnis dabei handelt, die nicht rational, sondern ohne Zweifel in motorischen Akten begründet ist. Und wir kommen dabei zu dem Schlusse, daß die natürliche Raumerkenntnis des Menschen, ebenso wie die des Tieres (denn auch das springende Eichhorn verfährt ähnlich), zu den Instinkterkenntnissen gehört, also durchaus irrational verläuft.
Ja, es ist dem rationalisierten Kulturmenschen, der gewöhnt ist, alle Raumorientierung mit rationalen Hilfen und Maßstäben vorzunehmen, vielleicht überraschend, daß die natürliche „Raumanschauung” durchaus irrational verläuft. Und doch verfährt auch er, indem er beim Blick in eine Landschaft nahe und ferne Gegenstände in den Raum einordnet, durchaus irrational. Es sind weder die „reinen” Empfindungsdata, noch irgendwelche Begriffe oder Koordinatensysteme, es ist vielmehr der überaus fein eingespielte motorische Mechanismus des Auges, der ihn räumlich orientiert. Es sind zahllose Handlungsgewohnheiten, die ihn befähigen, solche Raumeinschätzungen vorzunehmen. Allerdings ist der sogenannte „Gebildete”, d. h. der rationalisierte Mensch in solchen Fähigkeiten in der Regel dem
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„Ungebildeten”, etwa Jägern, weit unterlegen, er vollbringt nicht annähernd die Leistungen in der praktischen Beherrschung des Raumes, die dieser vollbringt, der auf weiteste Entfernung mit Sicherheit zu treffen vermag, aber in verkümmerter Form hat doch auch er noch solche irrationalen Erkenntnismöglichkeiten. Es ist im praktischen Leben nicht möglich, alle Entfernungen durch geometrische Messungen zu bestimmen, d. h. den Raum zu rationalisieren, aber es ist auch nicht nötig; denn es gibt auch eine irrationale Raumerkenntnis, die aus motorischen Erfahrungen stammt.
Ähnlich wie mit der Raumerkenntnis ists auch mit der Zeiterkenntnis, die für uns durch unsere Uhren noch viel stärker als der Raum rationalisiert ist. Aber es gibt auch ein irrationales Zeitbewußtsein, wie es z. B. in der Geschwindigkeitsabschätzung Bewegungen gegenüber sich betätigt. Der Wilde, der mit seinem Pfeil einen Vogel im Flug aus den Lüften holt, der Raubvogel, der mit unfehlbarer Sicherheit aus Wolkenhöhe auf den fliehenden Hasen stößt, braucht nicht nur ein irrationales Raumerkennen, sondern eine ebenso irrationale Zeit Schätzung. Ebenso ist das Zeitempfinden des Musikers, der Rhythmusalterationen, die kleinste Bruchteile von Sekunden ausmachen, sofort erkennt, ein durchaus irrationales Erkennen, das motorisch verankert ist, und gute Musiklehrer wissen, daß auch das beste Metronom das nie zu ersetzen vermag. Und erkennen wir nicht in ganz irrationaler Weise sofort an dem Tempo der Rede, ob der Sprecher aufgeregt oder ermüdet ist? Auch das ist durch keinerlei rationale Mittel zu ersetzen, und mit Recht erblicken neuere pädagogische Bestrebungen, die im Rhythmusgefühl einen erzieherischen Wert sehen, ein Ziel darin, derartiges auch im Kulturmenschen wachzuhalten. Denn so hoch wir unsere moderne, stark rationalisierte Musik einschätzen mögen, an Feinheit des rhythmischen Gefühls sind uns viele „Wilde” weit überlegen, eben weil ihre irrationale Zeitschätzung — wohl im Zusammenhang mit ihrem besser eingeübten motorischen Apparate — besser durchgebildet ist als beim sogenannten „Kulturmenschen”.
Bei all diesen Leistungen können wir, durchaus in Übereinstimmung mit der Alltagssprache — von instinktivem oder
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gefühlsmäßigem Erkennen sprechen und können dafür, ganz im Sinne unserer Definition der Instinkte, eine angeborene und durch Übung gesteigerte motorische Aktivitätsdisposition zugrunde legen. Da aber Begriffe irgendwelcher Art nicht hineinspielen, im Gegenteil, da logische Erwägungen sogar die instinktive Sicherheit zu stören pflegen, so müssen wir diese Art der Raum- und Zeiterkenntnis als irrational bezeichnen.
9. Dinglichkeit und Ursächlichkeit als Instinktsetzungen.
Es liegt durchaus auf der Linie unserer früheren Darlegungen, denen gemäß sich das intellektuelle Erkennen aus Instinkten entwickelt hat, wenn wir auch jene so überaus wichtigen, in aller intellektuellen Erkenntnis mitspielenden Faktoren, die man als Kategorien anspricht, aus Instinkten herleiten. Und zwar läßt sich das vor allem von den Kategorien der Substanz und der Kausalität dartun. Gewiß lassen sich diese Setzungen der Instinkte später rationalisieren, sie lassen sich begrifflich formulieren; das aber beweist gar nichts gegen ihren irrationalen Ursprung; denn fast alle unsere Begriffe sind ja Rationalisierungen ursprünglich instinktiv erfaßter Tatbestände.
Für die echten Rationalisten sind die Kategorien „Formen des Verstandes”, durch die das ursprüngliche „Gewühl” der Sinnesempfindungen erst geordnet wird. Nun ist jedoch für das Tier seine Umwelt ganz sicherlich kein bloßes Gewühl von Sinnesempfindungen, der Hund erlebt auch seinen Herrn sicherlich nicht bloß als ungeformten Sinneseindruck, als bloßes Rohmaterial, ja selbst Tiere weit niederer Stufe noch erfahren offenbar von ihrer Umgebung und deren für sie lebenswichtigsten Bestandteilen mehr als chaotische Reize. Man muß also entweder auch den Tieren rationale Kategorien zuschreiben, wozu gerade die Rationalisten am wenigsten geneigt sind, oder man muß annehmen, daß sie ein instinktives Kategorialbewußtsein haben.
Dieser Schritt scheint mir in der Tat unerläßlich, und ich möchte ihn zunächst für die Kategorie der Substanz oder besser der Dinglichkeit durchführen. Auch hier scheint mir die Sprache psychologisch gut gesehen zu haben,
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wenn sie das „Ding” auch als „Gegenstand” bezeichnet. Gegen-stand nämlich bedeutet Wider-stand, etwas was uns, d. h. unseren Willenshandlungen Widerstand leistet. Der Kern unseres Dingerlebens ist die Undurchdringlichkeit, etwas, was unserem Tun Widerstand leistet. Eine einfache Sinnesempfindung, ein farbiger Strahl, ein Ton, ein Geruch, sind uns noch keine „Dinge”, weil hier der Widerstand fehlt. Der Widerstand, die Undurchdringlichkeit sind auch keineswegs mit dem Tastgefühl gleichzusetzen, wie das zuweilen geschehen ist. Ein elektrischer Funke, den ich sehe und mit den Tastnerven spüre, ist noch keineswegs ein „Ding” für mich, weil er nicht undurchdringlich ist, meinem Willen keinen dauernden Widerstand bietet.
Damit aber kommen wir zu einer bedeutsamen Erkenntnis: die Dinghaftigkeit ist keine sensorische Gegebenheit, sie ist auch kein Begriff, denn für den Rationalismus ist gerade der Begriff des „Dings”, der Substanz, völlig unlösbar. Und doch geht es auch nicht an, ihn einfach als ein Nichts zu erklären, wie viele „Positivisten” wollen; denn er ist eins unserer unmittelbarsten Erlebnisse und ein Erkenntnisinhalt, ohne den wir überhaupt nicht leben könnten, ohne den sich uns die ganze Welt in eine gespenstige Phantasmagorie auflösen würde. Wir sehen gegenüber allen diesen Erklärungsversuchen die Lösung darin, daß wir das „Ding” als eine Setzung unseres Instinkts, unserer Aktivitätserkenntnis ansprechen, also einer weder rationalen noch rein sensorischen Erkenntnisweise, sondern eines fundamentalen Erkenntnismittels eigener Art. Das „Ding” ist weder in reiner Empfindung gegeben, noch aus dem Denken zu erschaffen, es wird instinkthaft, d. h. in unserem Handeln erlebt: Was die „Substanz” eines „Dinges” ist, ob es leicht oder schwer, ob es hart oder weich ist, das alles erfahren wir erst, indem wir damit tätig in Kontakt treten. Der Träumende oder Halluzinierende sucht den Inhalt seines Bewußtseins zu ergreifen, damit aktiv in Beziehung zu treten, und erst dann ist er von dessen Wirklichkeit, in diesem Fall seiner Dinghaftigkeit überzeugt. Es gibt
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Geistesstörungen, in denen Gegenstände deutlich gesehen werden, obwohl trotzdem das Bewußtsein der „Wirklichkeit” fehlt, woraus sich erkennen läßt, daß das Dingbewußtsein etwas anderes ist als sinnlicher Eindruck oder rationale Einordnung: nämlich ein Instinkt, ein Gefühl, eine aktive Stellungnahme, durch die wir die optischen Eindrücke erst verdinglichen.
Erst wenn wir uns die Dingerkenntnis nach ihrer Aktivitätsgrundlage klarmachen, werden wir auch einsehen, wie oberflächlich die rationalistische Erkenntnisweise und auch die rein sensorische bleiben! Eine wie unendlich tiefre Erkenntnis der Dinge hat der Mann des praktischen Lebens, der in aktiven Beziehungen dazu steht, im Vergleich mit allen Rationalisten und reinen Sensualisten. Es mag einer in seiner Bücherstube sich den Begriff eines Pferdes nach allen seinen Oberbegriffen und spezifischen Merkmalen klargemacht haben, es mag einer in reiner Betrachtung alle Sinnesdata des Pferdes kennen, haben sie darum eine bessere Erkenntnis als der Reiter, der täglich mit seinem Pferde umgeht, der jede Besonderheit, jedes Lebensbedürfnis, jede Reaktion seines Tieres kennt? Man kann ein gelehrter Zoologe und ein trefflicher Tiermaler und doch dem lebendigen Tiere gegenüber lächerlich fremd und unbeholfen sein, weil eben die Instinkte nicht genügend entwickelt sind, weil grade das spezifische „Dingbewußtsein” fehlt, das sich nur in der tatsächlichen Handlung ergibt. Ein guter Tischler hat vom Holz eine viel bessere „Dingkenntnis” als ein gelehrter Biologe, der die Struktur des Holzes nur rational kennt: das „Ding”, die „Substanz” lernt man nur in der Aktivität kennen, und diese „Gegenstandskenntnis” des Tischlers ist weder rein sensorisch noch rational, sondern ist instinkthaft, liegt in seinem Gefühl.
Vielleicht aber wendet man hier ein, es sei das Substanzbewußtsein doch sehr weit entfernt von allen Affekten, die wir oben als typisches Instinktbewußtsein ansprachen. Indessen sagten wir einerseits, daß es Gefühle gibt, die von jedem spezifischen Affektcharakter frei sind (wie Neuheit, Andersheit usw.) andererseits aber ist zu bedenken, daß zwar das Dingbewußtsein des „objektiven”, wissenschaftlichen Menschen, der in der Regel
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zu einseitig von sich selbst verallgemeinert, stark abgeblaßt und abstrakt ist, daß jedoch der naive Mensch ganz anders erlebt. „Unobjektive” Individuen, Künstler, Frauen, Kinder mischen in jedes Dingbewußtsein ihre Affekte hinein; wie sie jeden Menschen sofort als „sympathisch” oder „antipathisch” empfinden, so auch die Dinge, und viele sprachliche Begriffsbildungen lassen noch deutlich den ursprünglich weit affektiveren Charakter des Dingbewußtseins erkennen, ehe es zur „Substanz” verblaßte.
Ähnlich wie mit der Erkenntnis der Dinghaftigkeit ist es mit einer andern Crux der rationalistischen wie der sensualistischen Philosophie: mit der Ursächlichkeit, der Kausalität. Vom Standpunkt des Rationalismus ist sie eine Kategorie, eine Setzung des Verstandes, auch wohl eine Fiktion, was aber natürlich nicht ausreicht, denn was ist mir damit geholfen, wenn man mir sagt, die Wirkung, die ich ausübe, wenn ich einen Bleistift spitze, sei eine Setzung des Verstandes! Oder gar, wenn der extreme Sensualismus mir erklärt, sie sei eine funktionale Beziehung zwischen Empfindungen oder so ähnlich.
Hume war auf dem rechten Wege, wenn er auf unser Tätigkeitsbewußtsein als Grund des Kausalitätserlebnisses verwies; aber er irrte, wenn er darum die Kausalität überhaupt leugnen zu können glaubte. Wir erleben die Ursächlichkeit ganz unmittelbar, instinkthaft. Auch das Tier muß fühlen, daß seine Handlungen Folgen haben: die Wespe sticht, die Schlange beißt, der Hase flieht, nicht weil ihr Verstand ihnen eine kategoriale Beziehung von Ursache und Wirkung vorstellte, sondern weil ihr Instinkt sie leitet. Das „Wissen” um die Folgen ihrer Handlung leuchtet diesen allerdings nicht als eine Fackel voraus, es steckt gleichsam in den Handlungen selbst, sie fühlen sich als tätig, als verursachend, als wirkend, nicht eine Vor-stellung leitet sie, sondern eine Ein-stellung, ein Instinkt. In dem Zorn- und Angstaffekt, der jene Tiere erfüllt, haben wir einen seelischen Vorgang, der zu für sie wertvollen Folgen führt, sie haben wohl auch ein dumpfes Gefühl von Wirkungen dabei. Sicherlich können wir beim Menschen ein solches instinktives Wirkungsbewußtsein feststellen: denn wenn wir im blinden Zorn um uns schlagen,
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wenn wir in einer Panik fliehen, so haben wir gewiß keine klare Vorstellung vom Erfolg, wohl aber das Gefühl einer Tätigkeit, eines Wirkens — und mehr sagt ja Kausalitätsbewußtsein nicht aus. Das Ursachbewußtsein ist zunächst ein Begleitbewußtsein, wird aber beim Wiederholen ein Leitbewußtsein. Bekanntlich kann man komplizierte Körperbewegungen willkürlich erst dann ausführen, wenn man probierend einmal die Innervation gefunden hat. In dem bei der Wiederholung zum Leitbewußtsein gewordenen Bewußtsein, besonders aber dem damit verknüpften Gefühl des Könnens, dem Machtgefühl, steckt das Bewußtseinserlebnis der Ursächlichkeit, das wir später auch anderen Wesen einfühlen.
Indem wir die Kategorien der Dinglichkeit (Substanz und Kausalität) als Setzungen des Aktivitätsbewußtseins erkennen, sehen wir auch ein, wie weder der konsequente Rationalismus noch der konsequente Sensualismus dazu gelangen konnten, die Substanz oder die Causalität als Realitäten aufzufassen, wodurch sie sich mit der Praxis des Lebens in so grellen Widerspruch setzen. Denn wenn wir mit den Rationalisten die Substanz nur als Form unseres Denkens ansehen, der keinerlei Realität entspricht, oder wenn wir sie mit dem Sensualismus nur als funktionale Beziehungen der Empfindungen betrachten, so bleibt das graue Theorie, die für das Leben nicht ausreicht. Denn wie wollen wir im Leben auskommen, wenn wir etwa einen gereizten auf uns zustürmenden Stier nur als Erzeugnis des Denkens oder als funktionale Beziehung von Empfindungen ansehen? Wenn sich das Dasein der Welt und die in ihr wirkenden Kräfte nicht „vorstellen” oder begrifflich denken lassen, wenn sie auch nicht in „Empfindungen” gegeben sind, so darf man darum noch lange nicht den grotesken Schluß ziehen, sie wären gar nicht vorhanden oder sie wären Erzeugnisse unseres Denkens, sondern man sollte einsehen, daß jene Erkenntnismöglichkeiten eben nicht ausreichen, daß wir aber in unserem irrationalen Instinkte ein Erkenntnismittel haben, das tiefer in die Welt eindringt.
Allerdings behaupten wir damit, daß wir jene Kategorien als ihrem Ursprung nach instinktiv, irrational erweisen, keineswegs,
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sie seien stets nur irrational. Sie lassen sich bis zu hohem Grade rationalisieren, besonders, indem man sie mathematischen Berechnungen unterwirft: dann wird das „Ding” zur Masse, die Kraft zur „Energie”, die sich in rationalen Formeln ausdrücken lassen, dafür aber alle Qualitäten einbüßen. Für die Praxis des Lebens aber muß die primitive Instinkterkenntnis wieder eintreten.
Man hat nun neuerdings mit guten Gründen nahegelegt, daß den meisten Tieren die Kategorie der Dinglichkeit fehle, daß die Gesamtwahrnehmung des Tieres sich nicht in einzelne dinghafte Komplexe gliedert. So erkennt eine Spinne eine Fliege außerhalb ihres Netzes, selbst wenn die Fliege zwischen die Spinnenfänge gerät, nicht als Nahrungsgegenstand, sondern schiebt sie sogar von sich. Daraus hat man den Schluß gezogen, daß für das Spinnenbewußtsein nur in einem sehr engen Umkreis von Situationen Konstanz der dinghaften Gebilde besteht. Ja, man nimmt an, daß die objektiven Inhalte des tierischen Bewußtseins ohne Gegliedertheit und Abgrenzung sind.
Positiver gewendet würde das Ergebnis lauten: die Tiere erkennen nicht in objektiven Vorstellungen oder Begriffen, sie erkennen in Handlungen, vermittels ihrer Tätigkeitsdispositionen. Da diese bei den Tieren ganz anders geartet sind als beim Menschen, so wird man auch eine ganz andere seelische Verarbeitung der Eindrücke anzunehmen haben, man wird nicht annehmen dürfen, daß die Spinnen z. B. Dinghaftigkeit im menschlichen, d. h. rationalisierbaren Sinne erleben, und zwar darum nicht, weil ihre Handlungsmöglichkeiten so ganz andere und viel begrenztere sind. Sie haben aber darum nicht überhaupt kein Dingbewußtsein, sondern ein anderes. Für die Spinne ist „Fliege außerhalb des Netzes” nicht etwa überhaupt kein Ding, sondern ein anderes, da ihre Tätigkeit sich in anderer Weise darauf einstellt. Auch für uns sind ja der Löwe im Käfig und der Löwe im Freien nur rational „identisch”, praktisch, instinktiv sind sie in der Tat ganz verschiedene Wesen.
Die Kategorien auf Instinkte zurückzuführen, ist seit Hume öfters unternommen worden. Von neueren Darstellungen verweise ich besonders auf Jul. Schultz, „Psychologie der Axiome” 1899, eine glänzende Darstellung, der ich weitgehend zustimme. Dasselbe gilt von H. Gomperz: Weltanschauungslehre, dessen „pathempirische Methode” vieles hier Dargelegte unter anderen Gesichtspunkten, aber mit ähnlichen Ergebnissen bringt. Von Eduard v. Hartmanns bewundernswerter Kategorienlehre und seinem „Grundriß der Erkenntnistheorie”, trennt mich vor allem der Umstand, daß ich die Kategorien nicht
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unbewußt nenne, sondern ein emotionales Kategorialbewußtsein annehme.
Über das Dingbewußtsein der Tiere vgl. H. Volkelt: Die Vorstellungen der Tiere 1914.
10. Der Instinktcharakter der Modalitätskategorien.
Ähnlich wie die bisher besprochenen kategorialen Setzungen lassen sich auch die übrigen auf Instinkte, d. h. auf Tätigkeiten und ein sie begleitendes Tätigkeitsbewußtsein zurückführen.
Es sei dies noch für die Setzungen der sogenannten „Modalität” in Kürze durchgeführt. Auch die Erlebnisse, die den Urteilen über Möglichkeit, Wirklichkeit, Notwendigkeit zugrunde liegen, sind nicht rein sensorischer Natur, noch weniger freie Akte des Verstandes, sondern instinkthafte Einstellungen, die auch dann bestehen, wenn sie nicht in Urteilen formuliert werden. Auch das Raubtier, das in der Ferne einen Beutegegenstand erblickt, erlebt ganz sicherlich einen Unterschied zwischen „Möglichkeit” und „Sicherheit”. Und zwar sind es, so wenig wie beim Alltagsmenschen in ähnlichen Lagen, ganz gewiß nicht Reflexionsakte, die darüber entscheiden, sondern instinktive Reaktionen, „Gefühle”.
Wir erleben diese Zustände am deutlichsten bei unserem eigenen Handeln. Es ist ein großer Unterschied des Erlebens, ob wir eine von uns zu vollbringende Tätigkeit, etwa einen Sprung oder einen Wurf, als möglich oder als sicher charakterisieren. Mög-lichkeit und Wirk-lichkeit sind, die Worte verraten es, zunächst aus eigenem Tun gewonnene Begriffe, ebenso wie Notwendigkeit, das Erlebnis des Zwanges. Übertragen wir sie auf Nichtichhaftes, so spielen auch hier Einfühlungserlebnisse mit. Auch als Setzungen des Verstandes gehen diese Kategorien auf jene instinkthaften Einstellungen zurück.
11. Das Irrationale des Instinkterkennens
Wir hätten also als Ergebnis dieses Kapitels neben der rationalen und der sensorischen Erkenntnis eine dritte Erkenntnisform gefunden, die nicht etwa aus jenen beiden abzuleiten oder
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zusammenzusetzen ist, die im Gegenteil vielmehr die Urform ist, aus der sich jene beiden Sonderformen erst abgezweigt haben, die aber in alle rationalen und sensorischen Erkenntnisse noch hineinragt. Die hier geschilderte Aktivitätserkenntnis, die als solche im Bewußtsein nur als dumpfer Gefühlszustand erscheint, bewirkt es allein, daß unsere Begriffe nicht leere Vorstellungsschemata und unsere Wahrnehmungen nicht leere Empfindungskomplexe bleiben: durch sie allein werden jene Sonderformen erst Erkenntnis, weil sie die Verbindung mit dem Handeln aufrecht erhält, durch die ein abstrakt „gedachtes” Sein uns erst zur „Wirk-lichkeit” wird.
Da aber die Entscheidungen der Instinkterkenntnis überwiegend subjektiv sind, ja, da ihr Subjekt nicht ein allgemeines oder nur irgendwie nach überindividueller Geltung strebendes Subjekt ist, so ist es wie seine Entscheidungen zunächst irrational. Während in der Rationalisierung und auch in der Singularisierung das Ich zurückzutreten strebte zugunsten einer überindividuellen, womöglich einer „allgemeinen” Subjektivität, macht es sich in der Instinkterkenntnis selbstherrlich geltend. Allerdings nicht etwa chaotisch und willkürlich! Und wir gelangen also an diesem Punkte zu einer positiveren Bestimmung des Begriffs des Irrationalen. Während das irrationale Erkennen im Hinblick auf die Objektivität nicht zu bestimmen war, ist es nicht so im Hinblick auf das Subjekt. Von ihm aus gesehen sind die Instinkte nicht etwa willkürlich oder zufällig, sondern im höchsten Grade notwendig und zwar im Hinblick auf das Bestehen des Individuums und der Gattung. Irrational heißt also, auch wenn es niemals in Bezug auf das Objekt „eindeutig bestimmt” bedeutet, dennoch bestimmt vom Subjekt aus, dessen Erhaltung und Entfaltung es dient. Es gibt also in der Welt nicht nur rationale Gesetze, objektive Notwendigkeiten, sondern auch subjektive, irrationale, und ihnen dient das Instinkterkennen. Einerlei ob diese irrationalen Subjekte sich einem absoluten Geiste als rational, als mathematisch berechenbar erweisen würden, für uns sind sie irrational; wenn wir sie „erkennen” wollen, müssen wir zugeben, daß wir sie nicht mit unseren rationalen
Maßstäben [183]
berechnen können, wie diese Subjekte ja selbst auch durchaus irrational verfahren.
Ich nenne die Gesamtheit dieser irrationalen Subjekte das „lieben”, das zwar nur in „Individuen” in Erscheinung tritt, dennoch aber als Inbegriff aller Individuen gedacht werden kann und muß, ein Überich, das trotz der Individualisierung noch weiter besteht. In den Spontaninstinkten offenbart sich uns die in millionenfachen Formen sich betätigende und doch als irrationale Einheit zu fassende Aktivität dieses Ich, das gemäß seiner Erhaltung und Entfaltung auswählt und wirkt und sich, in unablässiger Auseinandersetzung mit der Außenwelt, zu immer komplizierteren Daseinsformen ausgestaltet. Das aber führt bereits über die Erkenntnislehre hinaus.
12. Der Instinkt in der Philosophie.
Zum Schluß die Frage nach der wissenschaftlichen und philosophischen Bedeutung der Instinkterkenntnis.
Der Begriff der Wissenschaft ist ja vielfach so einseitig rational gemacht, daß es ein Sakrileg erscheint, wenn man darin von Instinkten redet. Trotzdem dürfte bereits aus unseren bisherigen Darlegungen hervorgehen, wie stark selbst die Naturwissenschaften, sobald sie Begriffe wie Substanzen und Kräfte verwenden, instinkthaft bedingt sind. Von allen jenen Wissenschaften, die Wertgesichtspunkte einschließen, gilt das in noch höherem Grade. Denn die gesamte Kultur ist aus menschlichen Wertungen erwachsen, die letzten Endes alle auf Instinkte zurückgehen. Niemals hätte rationalisierende oder singularisierende Vernunft die Religion, die Kunst, die Sitte, die Gesellschaft, den Staat aus sich heraus erschaffen; alles das wurzelte in Instinkten. Und selbst wenn man die Kultur wissenschaftlich betrachtet, darf man die Instinkte dabei nicht auslassen, wenn man nicht das eigentliche Leben darin ganz verkennen will.
Damit haben wir auch bereits die Frage nach der Bedeutung der Instinkte für die Philosophie beantwortet. Da uns Philosophie der Versuch ist, mit unserem gesamten Wesen, nicht mit dem
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Kopf allein, eine Stellung zur Gesamtheit der Welt zu finden, so darf der Instinkt nicht fehlen, selbst wenn er nicht restlos in die rationale Form eingebt, deren die Philosophie sich zu bedienen pflegt.
Man male sich nur einen Menschen aus, der ohne Instinkte, nur mit der Ratio der Welt gegenüberstünde. Diese müßte ihm als ein gesetzmäßig ablaufender Mechanismus ohne Substanz und Leben erscheinen, zu dem er keinerlei Stellung gewinnen könnte. Unfähig würde er den einfachsten Lebenslagen gegenüberstehen und all seine Ratio würde ihm nichts helfen. Er würde in den einfachsten Verrichtungen des Lebens ganz hilflos sein, denn sein Essen und Trinken, sein Gehen und Bewegen ist niemals mit dem Verstand zu regeln, sondern mit dem Instinkt. Es geht jedem Menschen, wie dem Tausendfuß der bekannten Erzählung, der sich auch nur bewegen konnte, solange er seine Beine nicht zählte. Statt von den sterilen Höhen der „reinen” Logik auf den Instinkt herabzusehen, sollte man umgekehrt ihm gerade die höchste Bewunderung zollen, denn er vollbringt Leistungen, deren keine Logik fähig ist, umgekehrt aber ist die Logik aus Instinkten erwachsen. Wenn etwas in der Welt wunderbar ist, so ist es die Fähigkeit des Lebens, das ihm Wertvolle auszuwählen, und im Sinne seiner Erhaltung und Steigerung weiterzuverarbeiten. In der Tat liegt in dieser „einfachsten” Handlung, die doch zugleich unendlich geheimnisvoll ist, das ganze Wunder der physischen wie der psychischen Entwicklung einbeschlossen.
Trotz seiner gewaltigen Bedeutung ist jedoch in der Philosophie das Instinktleben wenig beachtet worden, und es ist zuzugeben, daß es als reiner Instinkt auch schwer philosophisch brauchbare Resultate zu liefern vermag. Das zeigt sich bei Bergson, der am bewußtesten bisher die Instinkte als philosophisches Erkenntnismittel proklamiert hat. Sieht man nämlich zu, was sich bei seiner Instinkterkenntuis ergibt, so sind die Resultate ziemlich nebulos und schwer faßbar (vgl. seine Einführung in die Metaphysik). Das liegt z. T. allerdings an seiner Fassung des Instinktbegriffs, der ziemlich unklar bleibt, und ich
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möchte deshalb hier auf die Unterschiede hinweisen, die zwischen meiner und der Bergsonschen Instinktlehre bestehen. Abgesehen davon, daß ich zwischen Intellekt und Instinkt nicht einen Wesensunterschied mache, sondern überall betone, daß Ratio wie Singularisierung nur Sonderentwicklungen der instinktiven Grundhaltung sind und stets noch stark von Instinktfaktoren getragen werden, analysiere ich das Instinktleben selbst schärfer, indem ich darin — worauf bereits das nächste Kapitel eingeht — Gegenfühlung, Einfühlung und schöpferische Intuition grundsätzlich unterscheide, die bei Bergson vielfach ineinanderfließen.
Aber der Instinkt ist nicht nur als Erkenntnismittel, er ist auch als metaphysisches Prinzip in der Philosophie zu Ehren gelangt. Klar bewußt hat das als erster Schopenhauer getan, der freilich „Wille” sagte, damit aber ungefähr das meinte, was sonst als Instinkt gefaßt wird. Bei ihm ist der Wille ein zwecklos, wenn auch vielfach bewußt wirkendes Prinzip. Bei Eduard von Hartmann dagegen wird er zu einem zweckhaft aber unbewußt wirkenden Weltprinzip. Ich habe gegen das „Unbewußte” bei Eduard von Hartmann bereits oben einige Bedenken geäußert: da ich keine Metaphysik schreibe, sondern nur eine Erkenntnislehre, habe ich hier die metaphysische Verwendung des Instinkts nur zu buchen, nicht zu kritisieren. Auch Nietzsches „Wille zur Macht” und Bergsons „Elan vital” sind metaphysische Hypostasierungen des Instinkts, wie überhaupt die ganze neuere „Lebensphilosophie” in hohem Grade Instinktphilosophie ist.
Erkenntniskritisch werden wir zusammenfassen dürfen, daß der reine Instinkt zwar von fundamentaler Bedeutung für alle Erkenntnis und auch die Philosophie ist, daß er jedoch bestimmte Resultate, die in einen Erkenntniszusammenhang einzugehen vermögen, erst dann zu liefern vermag, wenn er sich einerseits zu Ratio oder Singularisation oder andererseits zur „Einfühlung” oder schöpferischer Intuition spezialisiert. Diesen Sonderformen der Instinkterkenntnis wende ich mich nunmehr zu. Immerhin sei zum Schluß ein Stammbaum unserer Erkenntnisse
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skizziert, der, wenn auch stark vereinfachend, ein Entwicklungsschema gibt, in dem freilich nicht alle Korrelationen aufgezeigt werden können.
Berlin-Halensee 1922. Richard Müller-Freienfels.
Erstellt am 20.12.2010 - Letzte Änderung am 20.12.2010.