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RICHARD MÜLLER-FREIENFELS

IRRATIONALISMUS

Kapitel 6

Leipzig 1922 / Verlag von Felix Meiner

(Seitenzahlen im Text am Anfang der Seite in eckigen Klammern mit Link zum Inhaltsverzeichnis)


Inhaltsverzeichnis

zum gesamten Inhaltsverzeichnis

Kap. I.
Grundlegende Verständigung über das Wesen des Erkennens.


Kap. II.
Das natürliche Denken und die Sprache als Erkenntnismittel.


Kap. III.
Das rationalisierende Denken.


Kap. IV.
Das singularisierende Erkennen.


Kap. V.
Das instinktive Erkennen.


Kap. VI.
Die Einfühlungserkenntnis.


[187] 1. Der Tatbestand der „Einfühlung”
[189] 2. Die Einfühlung als Weg zur Erkenntnis fremder Individualitäten
[191] 3. Erkenntnistheoretische Voraussetzungen der Einfühlungserkenntnis
[194] 4. Psychophysiologische Erklärung der Einfühlung
[198] 5. Gegenfühlung und Einfühlung als sich ergänzende Akte
[200] 6. Das Verständnis des Menschenlebens durch Einfühlung
[203] 7. Verständnis des nichtmenschlichen Lebens durch Einfühlung
[204] 8. Verständnis menschlicher Schöpfungen durch Einfühlung
[205] 9. Die Einfühlung gegenüber der anorganischen Welt
[208] 10. Der Einfühlungscharakter der Kategorien
[209] 11. Einfühlung im Raum- und Zeiterkennen
[211] 12. „Gedankenübertragung” als Einfühlung
[212] 13. Einfühlung in der Philosophie
[214] 14. Der irrationale Charakter der Einfühlung
Kapitel 6 als Text-File

Kap. VII.
Das schöpferische Erkennen (Die Intuition).


Kap. VIII.
Die Selbsterkenntnis.


Kap. IX.
Irrationalistische Philosophie.



zum Anfang des Inhaltsverzeichnisses

[187]

Kapitel VI.

Die Einfühlungserkenntnis.

„Ihr folget falscher Spur,
Denkt nicht, wir scherzen!
Ist nicht der Kern der Natur
Menschen im Herzen?”



1. Der Tatbestand der „Einfühlung”

Von der Instinkterkenntnis gliedere ich eine Gattung von Erkenntnissen ab, die zwar jener als Unterart zugeordnet werden kann, indessen eine durchaus selbständige Wesenheit zeigt und eine besondere Entwicklung genommen hat. Auch diese Art von Erkenntnissen ist von der rationalen Erkenntnistheorie ganz vernachlässigt worden, ja es führt von dem starren Schematismus der traditionellen Logik keine Brücke herüber, und doch bauen sich sogar ganze Wissenschaften auf dieser Erkenntnisweise auf! Ich meine die Erkenntnis durch Einfühlung, in der sich uns vor allem die Charaktere unserer Mitmenschen, aber noch viele andere Tatbestände erschließen, und die vor allem den geschichtlichen Wissenschaften zugrunde liegt.

Denn die Bedeutung der Instinkte und ihrer Bewußtseinsbegleiter, der Gefühle, für das Erkennen ist mit den bisher erörterten Tatsachen nicht erschöpft; alles das war Stellungnahme und Fühlung eines Subjekts einem Gegenstand gegenüber oder, wie ich kurz sagen will: Gegenfühlung. Ich kann aber mit dem Gegenstand, besonders dann, wenn es sich um einen Menschen oder überhaupt ein lebendes Wesen handelt, auch mitfühlen oder, wie man neuerdings sagt, ich kann mich in ihn einfühlen; denn das Gefühl scheint dann nicht in erster Linie mir, sondern in gewissem Sinne dem Objekt anzugehören. Dabei kann gleich bemerkt werden, daß man in der Regel niemals sich einfühlt, ohne zugleich auch dem Gegenstand gegenüber Gefühle zu erleben.

[188] Ein Beispiel mag ein solches Erlebnis veranschaulichen: Ich sehe einen Krüppel an der Straße betteln, und ganz instinkthaft fühle ich mit ihm, wobei Vorstellungen und Begriffe kaum beteiligt sind. Dieses unlustvolle Gefühl erlebe ich aber gleichsam aus dem Ich des anderen, dem „Du”, heraus, und das ist es, was man mit dem Begriffe „Einfühlung” bezeichnet. Aber ich leide nicht nur in und mit dem anderen, ich leide auch über das Leid des anderen, also als Ich dem Du gegenüber, ja dies Gefühl, das ich dem andern gegenüber habe, ist konstitutiv für das Gesamterlebnis, und das meine ich, wenn ich sage, daß sich sehr oft die Einfühlung mit der Gegenfühlung verquickt, daß sie sich notwendig ergänzen.

Diese Tatsache der Einfühlung ist erst in verhältnismäßig neuer Zeit entdeckt und zunächst vorwiegend beim ästhetischen Genuß beobachtet worden, den man vielfach ganz als Einfühlung glaubte erklären zu können. Daß die Einfühlung auch der Erkenntnis dienen kann, wurde weniger beachtet.

Und doch ist die Einfühlung nicht nur ein überaus wichtiges Erkenntnismittel neben den anderen, das einzige, das wir haben, um seelische Zustände, ja überhaupt das Leben zu erkennen oder zu verstehen: sie ist auch ein wesentlicher Faktor innerhalb alles übrigen Erkennens. Denn, wie ich schon bei der Analyse des Instinkterkennens andeutete, sind die Kategorien, die sowohl der Rationalist wie der Sensualist beständig brauchen, außer auf Gegenfühlung auch auf Einfühlung zurückzuführen; erschließt uns die Gegenfühlung den Gegenstand, so erschließt uns die Einfühlung den „Einstand”, wenn ich dieses Wort für die Tatsache des Analogieverständnisses bilden darf, nach dem wir die Außenwelt deuten, sie erschließt uns auch den Zustand (statt Einfühlung sagen manche Theoretiker auch Zufühlung) nicht nur belebter, sondern in freierer Analogie auch unbelebter Wesen.

Man hat neuerdings für die Einfühlungserkenntnis dem Terminus „verstehen” auch wissenschaftlich Geltung zu schaffen gesucht. Es ist dagegen um so weniger einzuwenden, als das dem alltäglichen Sprachgebrauch entspricht; denn wir sagen, [189] wir „verstünden” einen Menschen, wenn wir sein Innenleben erkennen. Indessen darf man die Doppelheit der Begriffe nicht zu einer radikalen Gegenüberstellung treiben; denn, wie ich zeigen werde, enthält alles „Erkennen” auch ein „Verstehen”, wie natürlich jedes Verstehen auch sinnhafte und rationalisierte Erkenntniselemente in sich beschließt.

Es gilt also zunächst eine psychologische Kennzeichnung des Einfühlungserkennens, dann aber die Abgrenzung seines Erkenntnisbereiches.

In der Ästhetik geht der Begriff der „Einfühlung” auf die Zeit der Romantik zurück. Neuerdings ist er besonders von Th. Lipps, J. Volkelt, K. Groos, V. Lee und anderen Ästhetikern behandelt worden. Vgl. Finbogason: L'Intelligence sympathique 1913. Müller-Freienfels: Psychologie der Kunst I2 1921 (nur in der zweiten Auflage zu nutzen. Dort auch ausführliche Literatur).

2. Einfühlung als Weg zur Erkenntnis fremder Individualitäten.

Ich erläutere das Wesen der Einfühlungserkenntnis an einem Beispiel. Denn eine begriffliche Analyse könnte das Problem höchstens von außen ertasten, ein von jedem selbst erlebbares Beispiel führt eher ins Innere.

Als solches Beispiel gilt mir das Erkennen fremder Persönlichkeiten, das vom Standpunkt der reinen Logik, falls sie sich überhaupt damit abgäbe, fast als „Wunder” erscheinen müßte. Es ist eine leicht darzulegende Tatsache, daß die meisten Menschen ganz unfähig sind, die Charaktere ihrer nächsten Freunde begrifflich zu analysieren. Selbst gute Psychologen vermögen das nicht! Die begrifflichen Feststellungen, die sie machen können, legen zwar einige wesentliche Tatsachen fest, einige Hauptzüge der fremden Art, aber das Ergebnis behält etwas Skelettartiges. Das, was sinnhaft wahrgenommen wird, hat in bezug auf das „Wesen” des Menschen auch höchstens als Anhalt für weitere Ausdeutung Wert. Das eigentlich lebendige Wesen des anderen wird durch begriffliche oder sinnhafte Feststellungen so wenig erfaßt, als man eine vielgewundene Kurve durch Anlegen gerader Tangenten fassen kann; wohl kann man so die Hauptrichtungen der Kurve festhalten, aber das eigentliche [190] Kurvenhafte, das Nichtgerade, entgeht. Selbst die eindringlichsten Charakterbilder, wie wir sie in Geschichtswerken finden, behalten dies Schematische, Starre, Unbewegliche. Dagegen ist die menschliche Persönlichkeit etwas beständig sich Wandelndes, mit sich selber keineswegs immer Identisches, ein immer neu sich Entfaltendes, das in kein Schema, und wäre es das weiteste und feinsterdachte, hineingeht. Sie muß also grundsätzlich jeder begrifflichen Fassung entwischen!

Auch die wissenschaftliche Erforschung von Charakteren läßt das erkennen. Man hat zwar neuerdings eine feingliedrige Methodik ausgearbeitet, um Charaktere und Individualitäten zu erfassen: die Psychographik. Diese stellt, z. T. unter Zugrundelegung von Experimenten, Psychogramme auf, die über Art und Gradverhältnis der seelischen Funktionen möglichst exakte Angaben bringen sollen. Aber trotzdem erscheinen die Ergebnisse dieser Forschungsweise unzulänglich, wenn auch gewiß nicht uninteressant. Es ist ganz sicher, daß wir unsere besten Freunde nach ihrem Psychogramm so wenig erkennen würden als nach einem anatomischen Präparat ihres Gehirns.

Und dennoch besteht die Tatsache, daß wir andere Menschen auch ohne Begriffe in ihrem Wesen erkennen, ja daß wir oft beim ersten Begegnen dies Wesen „erfühlen”. Es braucht ein Mensch, von dem wir nicht das Geringste wissen, uns nur flüchtig vor Augen zu treten, und wir erspüren ganz „instinktiv” vielerlei von ihm, ohne daß wir das „begründen” oder begrifflich zu fassen vermöchten. Ja, die begriffliche Fassung scheint solche Erkenntnisse zu entfärben, als wollten wir Schmetterlinge mit groben Händen greifen. Es sind bezeichnenderweise nicht die logischsten, es sind oft ganz unbegriffliche Naturen, die den anderen in seiner Eigenart am besten erraten: Frauen, Menschen des praktischen Lebens, Künstler, die ganz unfähig sind, von ihren Erkenntnissen begrifflich Rechenschaft abzulegen. Fragt man sie, woher sie ihre Erkenntnis des fremden Charakters haben, so berufen sie sich aufs „Gefühl”, auf ihren „Instinkt”. Oft genügt ein Blick ins Gesicht des anderen, um sie dessen Charakter erraten zu lassen; auch der Gang, die Haltung, die Sprechweise, die Schrift [191] und vieles andere können den Charakter des anderen offenbaren, ohne daß wir das mit dem Verstand erklären könnten. Betritt im Theater eine neue Person die Szene, so sind wir in der Regel nach wenigen ihrer Worte über sie soweit im Klaren, daß wir ihre Handlungen vorausahnen können und ein falsches Wort, eine unechte Geste sofort als solche verspüren.

Dieses „Erfühlen” der fremden Wesenheit ist, auch wenn es nicht in Begriffen geschieht und auch nur höchst ungenau in Begriffe zu fassen ist, ohne Zweifel Erkenntnis, denn es ist von höchstem vitalen Werte, unser ganzes soziales Leben ist darauf aufgebaut, und es erschließt uns eine Wirklichkeit außerhalb unseres Ich sogar viel unmittelbarer als aller Verstand, aber auch nichtmenschliche Wesenheiten werden uns in ähnlicher Weise verständlich, daß wir uns gleichsam in sie hineinversetzen, was ich später genauer beschreibe.

Dies ist der Tatbestand der Einfühlungserkenntnis, die übrigens nur selten soweit geht, daß wir uns ganz im anderen vergessen, die vielmehr fast immer durch gleichzeitige Gegenfühlung ergänzt wird, wodurch erst ihr „Erkenntnischarakter” sich bildet, daß wir den anderen auch zugleich als anderen erkennen.

Über die Irrationalität der Individualität vgl. Müller-Freienfels: Philosophie der Individualität 1922 2. Die Literatur über Psychogramme ausführlich bei W. Stern: Die differentielle Psychologie 1920 3.

3. Erkenntnistheoretische Voraussetzungen der Einfühlungserkenntnis.

Wir erkennen also kraft der Einfühlung zunächst das Innenleben unserer Nebenmenschen. Diesen Tatbestand wird die rationale Erkenntnistheorie nicht abstreiten, sie wird jedoch darauf hinweisen, daß dieser Erkenntnis die Setzung fremder Iche überhaupt vorausgehen müsse und wird, wenigstens im extremen Conscientialismus, diese Setzung für unmöglich halten, da sie ja überhaupt Realitäten außerhalb des Bewußtseins bestreitet. Ich brauche mich mit dieser grauen Theorie in bezug auf die Realität anderer Iche hier ebensowenig zu beschäftigen wie mit der Leugnung einer außerbewußten Wirklichkeit [192] überhaupt. Diese müßte schnurgerade zu einem. Solipsismus führen, der sich selber durch seine praktische Unmöglichkeit am besten widerlegt.

Der dümmste Säugling ist in dieser Hinsicht klüger als eine solche Philosophie; denn er setzt ganz unmittelbar fremde Individualitäten, da sich ihm frühzeitig aus seinen übrigen Bewußtseinsinhalten die Komplexe anderer Menschen herausheben und er an deren besonderen Beziehungen zu seinen Bedürfnissen merkt, daß sie nicht bloße Traumgesichte seines Hirns sind. Wie die Wirklichkeit aller übrigen Teile der Außenwelt ihm aus deren Wirksamkeit aufgeht, so hier ganz besonders; ja es ist anzunehmen, daß er, wenn auch sehr verschwommen, fremde Iche „setzt”, lange ehe er andere „Dinge” als Realitäten „setzt”.

Diese Setzung von „Ichen” müssen wir als Kategorie ansprechen, und zwar als die Kategorie der „Individualität”, durch die sich gewisse Einheiten, insbesondere die lebender Wesen, aus dem Gesamtkomplex der Umwelt herausheben, wenn auch gewiß zunächst in sehr unbestimmter Form. Und zwar geht diese Setzung instinktmäßig, durch Gegenfühlung vor sich. Hervorzuheben ist dabei, daß sich nicht etwa, wie viele Denker meinen, die „Du”setzung aus der Ichsetzung entwickelt, sondern daß beide sich in Korrelation ausbilden, ja vieles spricht dafür, daß beim sich entwickelnden Kinde die „Dusetzung” sich rascher als die Ichsetzung herausbildet. Rein sprachlich hat in der Regel das Kind viel früher Bezeichnungen für andere Individuen als für sich selbst; ja man kann sagen, daß es die Kategorie des Ich erst auf Grund der Kategorie des Du bildet, daß es erst allmählich lernt die am Du geübte Individualitätskategorie auf sich selber anzuwenden.

Es ist also falsch, die Setzung fremder Individualitäten etwa auf Analogieschluß vom Ich auf andere Iche zurückzuführen. Es ist auch falsch, zu glauben, das Kind käme von einer allgemeinen Setzung neutraler Realität zur Realität der fremden Individualitäten; nein gerade umgekehrt, faßt es auch nichtmenschliche Realitäten zunächst nach der Individualitätskategorie auf und lernt erst sehr allmählich, den nichtmenschlichen Dingen [193] gegenüber seine vermenschlichende Realitätssetzung zu entanthropomorphisieren. Wir haben es also in der Individualitätssetzung nicht etwa mit einer späteren Differenzierung aus einer allgemeineren Realitätskategorie zu tun, sondern es ist sehr viel wahrscheinlicher, daß die allgemeine Realitätskategorie eine Erweiterung und Verarbeitung der weit ursprünglicheren Individualitätskategorie ist. Das alles wird durch Feststellungen der Kinder- wie der Völkerpsychologie empirisch bestätigt.

Die erkenntnistheoretische Voraussetzung der Einfühlungserkenntnis ist also nicht eine rationale Setzung fremder Iche und noch weniger eine rationale Setzung der Realität im allgemeinen, sondern ein instinkthaftes Erfassen der Individualitätskomplexe, die kraft der sich ergänzenden Gegen- und Einfühlung zugleich mit eigenen Zuständen identifiziert und davon geschieden werden. Es ist allerdings wesentlich, darauf hinzuweisen, daß wir uns im praktischen Leben niemals bloß einfühlen, ohne zugleich „gegenzufühlen”, d. h. mit unserem Ich instinkthaft Stellung zu nehmen gegen das fremde Ich. Bedenken wir das, was empirisch erweislich ist, so fallen auch die Einwände gegen die einseitige Einfühlungstheorie hinweg, daß sie uns die fremden Iche nicht als fremde zum Bewußtsein zu bringen vermöge. In der instinkthaften Gegenreaktion, die im Leben neben der Einfühlung besteht, beruht das Wesen der Dusetzung, wie das Recht zu dieser Setzung, das sich praktisch als Erkenntnis bewährt.

Über die Einfühlung als Erkenntnis fremder Iche vgl. besonders Lipps: P.sychol. Untersuchungen I, 709 ff., 1908 und „Weiteres über Einfühlung” 1913. Ferner Volke1t: Das ästhetische Bewußtsein 1920, III ff. — Die von mir durch Hinweis auf die „Gegenfühlung” bekämpften Einwände bei Scheler: Zur Phänomenologie und Theorie der Sym-pathiegefühle (Anhang) 1913. Interessante Beobachtungen über Ich- und Dusetzung finden sich übrigens bereits bei Ludwig Feuerbach.

Daß die Individualität eine Kategorie sei, betont besonders Driesch. Vgl. auch meine „Philosophie der Individualität” 2 1922. Mit dem scholastischen Begriff der „Individuation” hat unsere Individualitätssetzung wenig zu tun: jene entspricht vielmehr dem, was ich „Singulari-sierung” nenne.


[194] Daß übrigens die Kategorien des Ich und des Du nicht überall die gleiche Rolle spielen wie im Gebiete des europäischen Denkens, nach dem allein die Logisten ihre „allgemeingültige” Denklehre konstruieren, beweist das Studium primitiver Sprachen, aber auch solcher Kultursprachen wie des Chinesischen oder Japanischen, die alle in der Regel beim Sprechen diese Kategorien gar nicht zum Ausdruck bringen, sondern sich einer für unser Denken höchst unpersönlichen Ausdrucksweise bedienen, die auch ihrem übrigen Verhalten im sozialen Leben entspricht.

4. Psychophysiologische Erklärung der Einfühlung.

Die Einfühlung aber ist niemals abstrakte Setzung von fremden Ichen im allgemeinen, sie ist stets durchaus konkretes Erleben bestimmten So-seins innerhalb allgemeinen Daseins. Wir erleben in der Regel fremde Individualitäten nicht als Abstrakta, sondern als Konkreta, und hier beginnt das weit schwierigere erkenntnispsychologische Problem, wie das möglich sei.

Die Seelenkunde hat sich in den letzten Jahrzehnten eifrig mit dem Problem der Einfühlung beschäftigt, freilich vorwiegend mit deren ästhetischer Seite, die jedoch nur ein Spezialfall ist, da hier die ausgleichende Gegenfühlung ausgeschaltet oder wenigstens zurückgedrängt ist.

Von den bisher bestehenden Theorien scheint mir nicht zureichend die, daß die Einfühlung auf Vorstellungsassoziationen beruhe, d. h. auf Reproduktionen früherer Erfahrungen. Das Kind „versteht” vielmehr die gütigen oder zornigen Mienen der Mutter, auch ohne daß es die Erfahrung gemacht hätte, daß solche Mienen von entsprechenden Handlungen begleitet sind. Ich habe bei meinem Kinde, als es in einem Alter war, da es noch keinerlei „Erfahrungen” gesammelt haben konnte, dies unmittelbare Verständnis der Physiognomik feststellen können, indem es z. B. auf eine drohende Physiognomie sofort zu weinen begann. Gewiß verstärken im späteren Leben auch Erfahrungen den Erkenntniswert der Einfühlung; zunächst ist sie jedenfalls in einem psychologischen Sinne a priori. Man muß also entweder angeborene Vorstellungen annehmen, was in [195] jeder Hinsicht bedenklich ist, oder man muß auf die assoziative Erklärung verzichten.

Das tun denn auch alle Erklärer, die die Einfühlung motorisch deuten und — im Sinne der Instinktvererbung — angeborene motorische Reaktionen heranziehen. Nach dieser Anschauung versteht das Kind die fremde Physiognomik, indem es sie zunächst, wenn auch nur andeutend, nachahmt, wodurch dann eine der „Ausdrucksbewegung” entsprechende Gemütsstimmung entsteht, die nun Gegenaffekte auslöst. Das Kind ahmt also zunächst die drohende Miene nach, erlebt dadurch das Zorngefühl, das nun als „Gegen”instinkt im Ich die Angst auslöst. Vermutlich sind dabei Ich- und Dubewußtsein nicht klar geschieden: das tritt erst auf späterer Stufe ein. Auch da nämlich besteht die Tatsache der inneren Nachahmung, wobei freilich nur eine ganz schwache Andeutung genügt, die sich auf dieser Stufe allerdings auch mit Assoziationen verquicken mag. Zahlreiche Beobachtungen besonders im ästhetischen Genießen erhärten diese Rolle der inneren Nachahmung, die besonders deutlich bei Schauspielernaturen hervortritt, die sich durch motorisches Einspielen, bloße Nachahmung von Haltung und Gesten, leicht in fremde Individualitäten hineinzuversetzen vermögen.

Wir können also annehmen, daß die Einfühlungserkenntnis eine auf motorischen Dispositionen beruhende, in innerer Nachahmung sich betätigende Instinktreaktion ist, zu der später empirisch-assoziative Faktoren hinzutreten. Indem wir reflektorisch fremde Gesten oder Mienen nachahmen, erleben wir die damit verknüpften Seelenzustände, die wir dann infolge der unserem eigenen Ich entstammenden Gegenreaktionen als fremde, duhafte erfahren, was im ästhetischen Erleben, wo unser Ich bis zu einem gewissen Grade ausgeschaltet ist, zurücktritt. Für unser Bewußtsein bestehen allerdings die motorischen Zwischenglieder kaum, sie können nur in besonderen Fällen beobachtet werden, müssen jedoch, falls der ganze Vorgang erklärbar sein soll, erschlossen werden. Bloß vom Bewußtsein aus gesehen ist das Verstehen durch Einfühlung ein oft ganz [196] unerklärliches Erraten; im Gesamtkomplex der physiopsychologischen Tatsachen betrachtet, ist es jedoch ein sehr mittelbar, durch unbewußte motorische Zwischenglieder vor sich gehender, natürlicher Prozeß.

Wenn wir also die Einfühlungserkenntnis im Prinzip als angeboren (also im psychologischen Sinne a priori) ansehen müssen, so ist doch hinzuzufügen, daß sie durch Erfahrungen sehr verfeinert und ausgebildet werden kann. Gewiß ist Menschenkenntnis angeboren, sie beruht auf der größeren oder geringeren Fähigkeit, fremde Seelenkundgebungen instinktiv zu erraten, sie kann aber sehr ausgebildet werden durch reiche Erfahrungen, indem wir immer schärfer jene Kundgebungen auffassen und zugleich immer prompter darauf reagieren lernen.

Nur durch die neben der Einfühlung wirksame Gegenfühlung wird es auch verständlich, daß wir fremde Wesenheit als von der unseren verschieden auffassen. Die bloße Einfühlung würde uns gleichsam in den anderen verwandeln, erst indem wir gegen diese Verwandlung innerlich reagieren, wird uns der andere als von uns verschieden bewußt. In unserem Zusammenhange ist es vor allem wichtig zu betonen, daß auch diese Gegenreaktion nicht durch Reflexion, durch denkende Überlegung geschieht, sondern instinktmäßig, größtenteils unbewußt.

Wie jedoch die Einfühlungserkenntnis psychologisch auch zu erklären ist, es ist auf jeden Fall darauf hinzuweisen, daß sie nicht bloß auf das Erraten des momentanen Affekts beschränkt ist, sondern daß wir außer der momentanen Seelenkundgebung des anderen auch sein ganzes Wesen in gleicher Weise erspüren. Das beruht zum guten Teil darauf, daß das gesamte Äußere, auch die dauernde Physiognomik Ausdruck des Inneren ist, daß die Physiognomie sozusagen stationär gewordene Ausdrucksmimik ist, die wir selbst dort spüren, wo sie ein momentaner Ausdruck verändert. Wir fühlen bei einem gutmütigen Menschen seine Gutmütigkeit auch dann, wenn er augenblicklich im Zorne aufflammt.

Eine andere Erweiterung der Einfühlung über das nachahmende Erraten unmittelbaren Affektausdrucks hinaus liegt [197] darin, daß wir nicht nur die unmittelbare, sondern auch die mittelbare, objektivierte Kundgebung verstehen.

Wir müssen davon ausgehen, daß bereits die körperlichen Ausdrucksbewegungen solche Objektivierungen sind, zum mindesten auf den anderen als solche wirken: diese Ausdrucksbewegungen nun verlängern sich gleichsam in das tote Material, übertragen sich mit ihrem Charakter dahinein. Die menschlichen „Ausdruckslaute” sind bereits solche Verlängerungen, indem der zusammengepreßte Kehlkopf in der Angst, das stoßweise Ausatmen beim Lachen Schallwellen in der Luft erzeugen, die als „Verlängerungen”, als „Übertragungen”, als „Objektivierungen” jener subjektiven Zustände und ihrer körperlichen Begleiterscheinungen anzusehen sind. Ebenso pflegen im Schreiben die ängstliche Hast, die Unruhe oder die zornige Erregtheit sich der Feder und damit auch dem Papier mitzuteilen, sich zu objektivieren, so daß das Auge (wenn auch nicht ganz so unmittelbar wie das Ohr den Ausdruckslaut) diese objektivierten Bewegungen zurück-zudeuten vermag. So kommt es, daß alle Dinge, auf die ein Subjekt Einfluß hat, Ausdruck seines Seelenlebens werden; die Kleidung, die es trägt, das Zimmer, in dem es wohnt, das Kunstwerk, das es schafft, die Taten, die es vollbringt: aus allem läßt sich sein Wesen ablesen. Der geniale Historiker vermag es, aus einem Aktenstück den Charakter des Verfassers herauszulesen, aus einem Ornament den Geist des Künstlers und seiner Epoche zu erspüren.

Natürlich greifen bei dieser Methode der „physischen Zeichen” mannigfache Erfahrungen, auch Denkakte ein, aber sie bleiben doch äußerlich und verfehlen das Ziel, wenn sie nicht von einem originären Instinkt geleitet werden. Gewiß reicht dieser allein nicht aus, zumal auch die Ausdruckssymbolik vielen Konventionen unterliegt, die bei jedem Volke, in jeder Epoche Wandlungen erfahren, aber neben diesen, nur durch den Verstand festzustellenden Tatbeständen, muß doch stets eine instinktive Einfühlungsfähigkeit den Weg weisen.

Vom Standpunkt der Ratio aus sind alle die irrationalen Iiidividualitätskundgebungen ebenso wie die Fähigkeit, sich in [198] sie einzufühlen, höchst verdächtig, weil mit dem reinen Verstande schwer kontrollierbar. Aber dazu stimmt, daß sehr logische Köpfe selten gute Menschenkenner sind, wie sich denn auch Gelehrte in der Regel als schlechte Politiker und Kaufleute erwiesen haben, da ihr Instinkt hier nicht ausreichte. Einseitig aufs begriffliche Denken eingestellt, wie sie sind, übersehen sie die unendliche Fülle der individuellen Lebenskundgebungen, sie haben kein Organ für die Fülle von Beziehungen, die sich von Mensch zu Mensch spinnen, ohne mit dem Verstande greifbar zu sein.

Eine köstliche Illustration dazu ergaben seinerzeit die Untersuchungen am „klugen Hans”, dem Pferde, das angeblich rechnen konnte. Das konnte es in Wahrheit zwar nicht, es hatte aber den Instinkt, aus den unbewußten Kundgebungen der Menschen zu erraten, wann es mit dem Klopfen, durch das es angeblich die Zahlen markierte, aufzuhören hatte. Seine gelehrten Kritiker ahnten weder, daß ein solcher Instinkt bestünde noch daß sie beständig diesem Instinkte die Anhalte lieferten. So war das Pferd im rationalen Sinne zwar dümmer, in einem irrationalen Sinne jedoch weit klüger als die Menschen, da es sich weit besser in sie einzufühlen vermochte.

5. Gegenfühlung und Einfühlung.

Indem ich also die Einfühlung als Erkenntnismittel hier einführe, ist nicht gesagt, daß sie an sich Erkenntniswert habe, sondern nur, daß sie, im Sinne der Lebenserhaltung und Lebenssteigerung verwendet, Erkenntniswert bekommen kann. Die Einfühlung an sich ist nur ein sympathetisches Erleben: damit dies Erkenntnis werde, müssen mancherlei Hilfsakte ins Spiel treten. Hierin verhält es sich aber nicht anders als mit allen anderen Erkenntnismitteln: weder die sinnliche Wahrnehmung, noch die Begriffsbildung, noch die instinktive Gegenreaktion des Willens sind an sich Erkenntnis, sie alle werden es erst, indem sie sich im Dienste der Lebenserhaltung und Lebensentfaltung bewähren.

Vor allem kommt, damit die Einfühlung Erkenntniswert erhalte, der Ausgleich durch Gegenfühlung, also die gewöhnliche [199] instinktive Reaktion, in Betracht, der zwar auch in der ästhetischen und anderen Formen der nichterkenntnismäßigen Einfühlung mitspielt, in der erkennenden Einfühlung jedoch eine entscheidende Bedeutung gewinnt. Es gibt Fälle, in der Massensuggestion z. B., wo alle Ichreaktion zugunsten einer überindividuellen Massensubjektivität ausgeschaltet ist, oder in der ästhetischen Einfühlung, wo wir unter Zurückdrängung aller gewöhnlichen Ichinstinkte nur noch aus dem Ich des Roman- oder Bühnenhelden heraus zu erleben scheinen: in all solchen Fällen handelt es sich nicht um Erkenntnis, denn diese Akte stehen nicht im Dienste der normalen Selbsterhaltung und entziehen sich jeder Verifikation. Erst dort, wo sich die Einfühlung mit den Instinkten der Selbsterhaltung verquickt, wo uns das Erfühlen fremder Personen Mittel wird im Dienste eigener Stellungnahmen, dort wird die Einfühlung Erkenntnis, dort aber wird sie auch verifiziert durch antagonistische Akte. Erst dort, wo ich einen anderen durch Einfühlung zu erraten suche, um ihm als anderen freundlich oder feindlich zu begegnen, wo also auch meine Gegeninstinkte Haß, Furcht, Liebe, Hoch Schätzung ins Spiel treten und zu den bloßen Mit-gefühlen Stellung nehmen, erst dort kann von Einfühlungserkenntnis die Rede sein. Denn dann fühlen wir nicht nur Gleiches in Gleichem mit, dann stoßen wir uns auch an dem Unterscheidenden, das wir bald positiv, bald negativ bewerten.

Einfühlungserkenntnis setzt also nicht ein sich unterwerfendes Aufgeben, sondern gerade Behauptung des eigenen Ich voraus, ein Messen des anderen am eigenen Selbst, was allerdings auf Grurd eines wenigstens versteckten Mitfühlens geschieht. Gewiß können wir uns zeitweise in einen anderen hineinversetzen, aber wir dürfen dabei die Ausgangsbasis, das eigene Icherleben, das zur Kontrolle dient, nicht verlieren. Da aber eine solche Behauptung des eigenen Ich bei aller Einfühlung in fremdes Erleben nicht nur möglich ist, sondern die Basis fast aller menschlichen Beziehungen bildet, so fällt die Behauptung dahin, wir könnten durch Einfühlung nur das Gleiche, nicht das Unterscheidende im andern erkennen. Gewiß ist das [200] Gleichgewicht zwischen Ein-fühlung und Gegen-fühlung nicht immer gewahrt. Der extreme Egoist, der nur Gegeninstinkte erlebt und sich wenig in andere einfühlt, ebenso aber auch der extreme Altruist, der sich ohne Selbstbehauptung an andere verliert, sind beide nicht geeignet zur instinktiven Menschenkenntnis, sie werden sich beide auf die Dauer nicht im sozialen Leben erhalten können.

Wir pflegen das Wort „Verstehen” auch oft in einem Sinne anzuwenden, der weit über ein bloßes Feststellen hinausgeht, der zugleich ein Übereinstimmen mit dem anderen einschließt, gleichsam eine Unterdrückung der Gegenfühluug. Das Sprichwort „Alles Verstehen heißt alles Verzeihen” will das besagen. Wir können so einen Verbrecher „verstehen”, das heißt „nicht verurteilen”, wenn wir uns in seinen unglücklichen Entwicklungsgang hineinversetzen. Indessen würde ein solches „Verstehen”, überall angewendet, den Verlust der Gegeninstinkte, die für die Lebenserhaltung wichtig sind, bedeuten. Die Gegnerschaft gegen den Historismus, wie sie z. B. in Nietzsche sich verkörpert, tadelt vor allem das proteusartige Hineinschlüpfen in lauter fremde Persönlichkeiten und ihre Wertungen, bei der dann der natürliche, gegenfühlende Wertinstinkt verloren geht.

Die Theorie des „Verstehens” ist besonders von Dilthey in zahlreichen Schriften angebahnt. Von neueren Werken, die auf seinen Wegen selbständig weiterwirken, hebe ich besonders die „Lebensformen” Ed. Sprangers hervor. Auch E. Bechers: Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften 1921.

6. Das Verständnis des Menschenlebens durch Einfühlung.

Mag im einzelnen die Hinfühlung psychologisch noch manches Problem bergen, daß sie neben den bisher besprochenen Erkenntniswegen ein neuer Weg ist, der uns einen großen, überaus wichtigen Teil der Welt erschließt, ist heute bereits feststehend. Stellen wir uns einen Menschen vor, der nur die Fähigkeit des begrifflichen und sensorischen Erkennens hätte, der also nur Empfindungen und deren auf Ähnlichkeiten beruhende Zusammenordnungen zu erleben vermöchte, so müßte ihm die Welt als gespenstiges Abrollen toter Geschehnisse erscheinen, und hätte [201] er dazu auch noch die Fähigkeit der aktivistischen Erkenntnis, so würde er sich zwar darin zurechtfinden, aber tot bliebe ihm doch alles. Er würde sich wie zwischen lauter Automaten oder Maschinen bewegen, deren Mechanismus er nicht begriffe. Erst die Einfühlung leiht der Welt Leben, erst durch sie werden dem Ich die anderen Menschen zu verständlichen Wesen, erst durch sie erhält ihr Getriebe Sinn. — Dadurch erst wird ein Verkehr zwischen dem Ich und anderen Ichen möglich, durch sie erst verstehen wir die Laute der Sprache, durch sie erst können Freundschaft und andere gesellschaftliche Beziehungen entstehen, durch sie erst wird das ganze Getriebe der Menschheit uns zu mehr als einem phantastischen Spuk.

Durch sie erst wird auch die sogenannte Geisteswissenschaft möglich, deren letzter Wert doch im Erfassen fremden Seelenlebens besteht, wozu alle äußeren Daten nur Schlüssel und Hilfen sind. Die Weltgeschichte wäre eine Kette leerer Zahlen, ein unbegreifliches Marionettentheater, wenn wir sie nicht als Taten sinnvoll handelnder Menschen verstünden. Diese Innerlichkeit jedoch lernen wir niemals durch rationale Denkoperationen kennen, sondern allein durch „Einfühlung”. Niemals würden die Akten und äußeren Gegebenheiten ausreichen, uns einen Napoleon oder Goethe als leidlich geschlossene Persönlichkeiten verstehen zu lassen, wenn wir sie nicht durch Einfühlung als solche zu erleben vermöchten.

Hierin erst, nicht bloß in ihrer singularisierenden Tendenz, unterscheiden sich die geschichtlichen Wissenschaften radikal von Physik und Chemie. Während diese erst durch Zurückdrängung der Einfühlungserkenntnis zu Wissenschaften werden, ist das Wesen der Geschichte gerade durch die fundamentale Beschreitung eben dieses Erkenntniswegs gekennzeichnet.

Deshalb ist als erstes und sicherstes Feld der Einfühlungsbetätigung die Menschenwelt anzusehen, die sich uns auf Grund der Einfühlung individualisiert und so uns verständlich wird. Natürlich soll damit nicht gesagt sein, daß wir nicht auch „Begriffe” von Menschen und menschlichen Beziehungen zu [202] bilden vermöchten. Gerade die Geschichte als Wissenschaft ist ja das beste Beispiel, daß man auch überindividuelle Zusammenhänge, Regelmäßigkeiten und nur mit dem Verstande erfaßbare Komplexe aufspüren kann, aber alles das hat nur Berechtigung, wenn man weiß, daß die alle jene rationalen Faktoren tragenden Elemente die nur durch Einfühlung erfaßbaren Individuen sind. Darum wird in jedem großen Historiker, soweit er mehr als die Feststellungen von Jahreszahlen und nackten Tatsachen erstrebt, ein wenig vom Künstler stecken müssen, der instinkthaft die Zusammenhänge errät, die eben auch vielfach nicht rational sind, sondern irrational. Es ist sogar als sicher anzunehmen, daß unsere meisten Historiker die Geschichte rationalisierend verfälschen, indem sie darin rationale Ideen und bewußte Absicht sehen wollen, wo in Wahrheit irrationale Faktoren, „Zufall”, unterbewußte Bedürfnisse, Instinkte, blinde Notwendigkeiten das Getriebe leiteten. Als fiktives Verfahren mag solche Rationalisierung der Geschichte in gewissen Grenzen berechtigt sein; es dient dazu, das wirre Geschehen übersichtlicher zu machen, aber man muß sich der Fiktion bewußt sein. Selbst die Taten eines Friedrich von Preußen, eines Napoleon, eines Bismarck sind nicht rein rationale Berechnungen gewesen, sondern neben rationalen Plänen haben Zufälle, irrationale Stimmungen, vor allem aber ein „dämonisches” Instinktverhalten oft den Ausschlag gegeben, wo dem Außenstehenden nach vollbrachter Tat alles wie ein klarer Plan erscheint. Deshalb haben wir oft den Eindruck, daß Dichter auch ohne Quellenstudium historische Gestalten besser erfassen als Historiker, die nur rationale Verknüpfungen gelten lassen wollen. Es ist der Fehler aller „Professorenpolitik”, daß sie die rationalen Faktoren überschätzt. Wenige Tage vor der Kriegserklärung Amerikas erschien im Jahre 1917 ein Aufsatz eines der gefeiertsten Historiker, worin die Vernunftgründe aufgezählt waren, weshalb Amerika den Krieg nicht beginnen würde. Als ob „Vernunftgründe” in der Geschichte das Ausschlaggebende wären, und als ob es beim „Verstehen” nicht gerade auf den Sinn für das Irrationale ankäme, das man allerdings nicht beweisen kann, sondern „erfühlen” muß. Wie bedenklich aber muß ein solches [203] Fiasko der Gegenwart gegenüber in bezug auf die rationale Ausdeutung ferner Vergangenheiten stimmen!

7. Verständnis des nichtmenschlichen Lebens durch Einfühlung.

Indessen nicht auf menschliche Wesen allein erstreckt sich der Bereich der Einfühlungserkenntnis, auch andere Lebewesen „verstehen” wir auf diesem Wege. Natürlich muß, je weiter diese Wesen von den unseren abstehen, die Verwendung jener Erkenntnisweise um so kritischer gehandhabt werden, und es muß zugegeben werden, daß sie viele Quellen des Irrtums birgt. Man nennt die falsche Einfühlung meist Anthropomorphisierung, und es kann zugegeben werden, daß es ein wissenschaftlicher Fortschritt sein kann, die Einfühlung, wo sie nicht am Platze ist, einzudämmen. Das ist natürlich kein Einwand gegen das Verfahren überhaupt, denn wer wollte den Wert des begrifflichen Denkens darum ganz abstreiten, weil oft falsche Begriffe gebildet sind?

Immerhin hat besonders in den Naturwissenschaften die strenge Methodik sich gerade in der Richtung von der Einfühlung hinweg bewegt. Während die Alchimisten noch die Beziehungen der chemischen Elemente zueinander als Liebe und Haß, ja als Vermählung und Zeugung deuteten, ist man heute vielfach geneigt, selbst die Tiere ganz als Maschinen aufzufassen, auf die wir unser menschliches Erleben nicht übertragen dürfen. Und gar die Pflanzen erscheinen in den meisten neueren Werken als eine Art von Apparaten für rein chemische Prozesse.

Muß man auch zugeben, daß eine unkritische Vermenschlichung tierischer und pflanzlicher Existenz sicher falsch ist, so wird man doch sehr ernsthaft fragen dürfen, ob sie nicht doch vielleicht dem Kernproblem des Lebens noch näher kommt als die rein mechanistische Darstellung. Unser unmittelbares Erleben, unsere fundamentalste Erfahrung, läßt uns selbst als etwas Lebendiges fühlen, als etwas, was von jeder Maschine grundsätzlich verschieden ist. Wir spüren in uns im Bewußtsein Vorgänge, die bei jeder Maschine absolut ausgeschlossen sind, und diese im Bewußtsein unmittelbar und als Begleiterscheinungen [204] zum Bewußtsein mittelbar feststellbaren Prozesse nennen wir Leben. Nun scheint uns der Weg von diesem Leben in uns zu dem Leben der Tiere und Pflanzen auf jeden Fall noch bedeutend näher als der Weg von einer Maschine zum „einfachsten” Lebewesen. Aus diesem Grunde kommt ein Vitalismus, wie uns scheint, dem Problem des Lebens, auch des tierischen und pflanzlichen, immer noch weit näher als ein reiner Mechanismus. Und deshalb ist eine — kritisch geübte — Einfühlung auch dem untermenschlichen Leben gegenüber noch immer die adäquatere Erkenntnisform als ein rein rationalistischer Mechanismus, in dem kein Raum für „Leben” und „Individualität” ist.

8. Verständnis menschlicher Schöpfungen durch Einfühlung.

Indessen üben wir die Einfühlung auch toten Gegenständen gegenüber, die wir „beseelen”, denen wir Leben „leihen”, wie man zu sagen pflegt. Ein hochemporgereckter Turm scheint uns „stolz”, ein herabhängender Felsblock „drohend”, ein Gebirgsbach „wild” oder „leidenschaftlich”, der blaue Himmel „heiter” oder „lachend”. Derartige Einfühlungen sind z. T. so fester sprachlicher Besitz geworden, daß wir uns der Einfühlung überhaupt nicht mehr bewußt sind. Sie sind oft von hohem ästhetischen Reize, und vor allem ob ihrer ästhetischen Wirksamkeit sind sie lebendig geblieben auch dort, wo man die Au-thropomorphisierung längst durchschaut hat.

Eine andere Frage ist jedoch die nach dem Erkenntniswert dieser Einfühlungen. Man muß hier zweierlei scheiden: menschliche Werke und Naturgegenstände. Den Werken von Menschen gegenüber ist die Einfühlung nicht nur als ästhetisches Mittel, sondern auch als Erkenntnismittel durchaus berechtigt, da wir imstande sind, durch Einfühlung die Stimmung, den Willen, ja den Gesamtcharakter zu unterscheiden. Hier handelt es sich nicht um bloßes „Leihen”, hier handelt es sich um wirkliches Re-subjektivieren objektivierter Subjektszustände. Wir hören aus einer Symphonie, wir erkennen aus der Schrift oder dem künstlerischen Stil eines Menschen mit ziemlicher Sicherheit, was er hat hinein legen wollen oder auch unbewußt hineingelegt [205] hat. Die ästhetische Wirkung ist wenigstens z. T. erst Folge dieses Erkennens. Hier haben wir es nicht mehr mit „toten” Dingen im wörtlichen Sinne zu tun, sondern mit Gegenständen, in die hinein sich das Leben verlängert und worin es sich objektiviert hat. Insofern wir also dies aufgespeicherte Leben wieder auferwecken, erkennen wir einfühlend nicht die Gegenstände als tote Gegenstände, sondern als Formungen des Lebens. Auch die Wissenschaft macht in dieser Weise von der Einfühlung Gebrauch, so wenn sie aus dem Linienspiel, der Farbengebung, der Verteilung von tragenden Kräften und lastenden Massen den spezifischen Geist eines schaffenden Künstlers, ja ganzer Menschheitsepochen, wie der Gothik, des Barocks, des Rokoko „erfühlt”. Man hat zwar neuerdings und mit gewissem Erfolg versucht, auch begrifflich solche irrationalen Dinge festzuhalten; es kann sich dabei aber natürlich nur um Annäherungswerte handeln. Letzten Endes muß auch eine solche Betrachtung, die den Geist des Barocks z. B. aus den objektiven Wirkungen der Linie, der Farbengebung, der Formgebung usw. erschließt, doch ans Gefühl appellieren, denn dieses ist es im tiefsten Grunde, was jene Elemente zusammenschließt, wie ein Gefühl auch, eine gemeinsame Lebensstimmung, als schöpferisches Agens angenommen werden muß, das die verschiedenen Formen hat entstehen lassen. Voraussetzung bei alledem ist, daß der Mensch befähigt ist, auch aus objektiven Gebilden, Linien, Farben, Melodien, die als Ausdruck von Gemütsstimmungen entstanden sind, durch Einfühlung jene schöpferischen Gemützsustände nachzuerleben. Das ist ja die Voraussetzung der gesamten Kunst. Gewiß ist die „Erkenntnis” fremden Seelenlebens in seinen Objektivationen in der Kunst nicht Hauptzweck, wohl aber eine wichtige Voraussetzung der Kunst. Im Grunde aber sind es doch noch immer menschliche Seelenzustände, die wir in der Kunst erleben, da wir die Kunstgebilde eben als Ausprägungen des schaffenden Kunstwollens empfinden.

9. Die Einfühlung gegenüber der anorganischen Welt.

Wie aber steht es mit der Einfühlung rein anorganischen Naturgegenständen gegenüber? Entwicklungspsychologisch kann [206] festgestellt werden, daß das Kind wie der primitive Mensch allenthalben auch in solche Objekte sich „einfühlen”, ja daß sie die Einfühlung zu wirklicher Beseelung treiben. Für den Neger steckt in dem Termitenhaufen, der ihn den Blicken seiner Feinde entzog, ein guter Geist, der ihn gerettet hat, und dem er nachher dankbar Opfer darbringt, und noch in der germanischen Mythologie waren es Nixen, die den Menschen ins gefährliche Wasser hinabzogen.

Nun werden wir ohne weiteres zugeben, daß diese Art der Einfühlung ganz unberechtigt ist, daß es im Interesse der Erkenntnis als nützlicher Stellungnahme im Dienste der Lebenserhaltung liegt, derartiges zurückzudrängen. Gegenfühlung, Rationalisierung und Singularisierung vereinen sich hier, um die Welt zu entgöttern oder, was dasselbe ist, zu entmenschlichen. Kommt aber deshalb unsere heutige Wissenschaft, auch die Wissenschaft des Anorganischen, ganz ohne Einfühlung aus?

Wir antworten: Nein! So sehr wir den Fortschritt der Wissenschaft, der in der Entmenschlichung der anorganischen Natur liegt, anerkennen, so dürfen wir doch nicht übersehen, daß gewisse Einfühluugsakte, wenn auch in sehr korrigierter Form, noch in unserem wissenschaftlichen Denken stecken, ja überhaupt gar nicht entbehrt werden können, weil wir keinen Ersatz dafür haben. Ja, die wichtigsten unserer Kategorien umschließen, wenn auch sehr abstrakt gewordene, Einfühlungsakte. Goethes Wort, der Mensch wisse gar nicht, wie antropomorph er sei, enthält eine tiefe Wahrheit.

Hätten wir nur die Sinnesempfindungen, die wir als unserem Ich entgegengestellt erleben, und vermöchten wir weiter nichts, als diese nach Gleichheit oder Ähnlichkeit zu Begriffen zu ordnen, so bliebe uns diese Welt, von der dazu unsere Gegenfühlung das Ich scharf abhebt, ewig fremd und unverständlich. Das ist aber nicht so, im Gegenteil, wir machen sie uns dadurch vertraut, daß wir sie instinktiv (nicht auf Grund von Schlüssen) in Analogie mit unserem Ich deuten. Wir „individualisieren” auch die anorganische Außenwelt, indem wir sie in Analogie mit menschlichen Individuen gliedern. In unserer Dingvorstellung steckt [207] eine Individualisierung, in der Vorstellung von „Ursache” und „Kraft” ebenfalls eine Belebung. Gewiß ist das im kritischen Denken alles sehr abgeblaßt, aber es bleibt auch so noch ein wesentlicher Bestandteil unseres Erkennens. } Wenn Mach einmal gesagt hat, Erkenntnis sei Anpassung unserer Gedanken an die Tatsachen, so muß man dem hinzufügen, daß Erkenntnis auch eine Anpassung der Tatsachen an unser Ich einschließt. Wohl hat Mach mit einem gewissen Recht Substanz und Kausalität als ontologische Wesenheiten ausgeschaltet, sie sind aber nicht zu entbehren als ordnende Formen unseres Denkens, als Verständlichmachung des sonst unverständlichen Seins. Das Weltbild Machs, das nur ein Nebeneinander von Empfindungen annimmt, bleibt nicht nur „unverständlich”, es wäre praktisch gar nicht brauchbar. Wir lassen die ontologische Frage, sowohl was die Substanz und Kausalität der Außenwelt wie der Ichwelt anlangt, zunächst außer Diskussion, erkenntnispsychologisch müssen wir feststellen, daß wir ohne solche formenden Prinzipien wie Substanz und Ursächlichkeit nicht auskommen.

Was auch Substanz und Kausalität, Raum und Zeit an sich sein mögen, ob sie überhaupt „an sich” sind, bleibe dahingestellt: daß sie jedenfalls unentbehrlich sind für unser praktisches Weltverständnis, scheint unabweisbar, und daß sie überhaupt zustandekommen, beruht, neben dem früher gekennzeichneten gegenfühlenden Instinkt, auf dem einfühlenden. Unsere früheren Darlegungen bedürfen also nach dieser Richtung einer Ergänzung. Machs Kritik der Kategorien ist theoretisch in vielem berechtigt, praktisch schießt sie über das Ziel hinaus: denn was hilft es uns, theoretisch ein nicht vermenschlichendes Weltbild zu konstruieren, da wir nun einmal Menschen sind und bleiben und es uns — zum mindesten zunächst — auf menschliche Erkenntnis ankommen muß! Und diese kann die auch eine Einfühlung einschließenden Kategorien nicht entbehren.

Durch die Erklärung der Kategorien vermittelst der Einfühlung fällt auch Licht auf das seltsame Problem des grammatischen Geschlechts, daß nämlich tote Dinge als männlich oder weiblich angesprochen werden. Wir können gewiß heute im [208] einzelnen Fall dieses Problem nicht genau entscheiden, was die Zuweisung zum einen oder anderen veranlaßt hat, im Prinzip jedoch war eine solche Zuweisung nur möglich, wenn eine Einfühlung, eine Belebung des Toten bestand.

10. Der Einfühlungscharakter der Kategorien.

Ohne also zunächst die Frage zu prüfen, ob unsere Kategorien ontologische Bedeutung haben oder bloß fiktiv sind, stellen wir vorläufig fest, daß sie unentbehrliche Bestandteile des Erkennens sind, weil durch sie allein sich uns die Welt zu einer Ordnung gestaltet, die wir auf Grund unmittelbarsten Erlebens verstehen, so daß die für unsere Lebenserhaltung und Lebensentfaltung notwendigen praktischen Stellungnahmen dazu möglich werden.

Ich beginne mit der Dinglichkeit, die ich oben als Gegenstand, im Sinne von Widerstand gegen unser Handeln deutete. Indessen ist uns der Gegenstand nicht nur Widerstand, er ist uns gleichsam von innen heraus verständlich; wir erleben seine Undurchdringlichkeit nicht nur als etwas uns ganz Fremdes, sondern als etwas uns Bekanntes, indem wir ihm eine Art Körpergefühl nach Art des unseren leihen. Denn wir nehmen unser eigenes leibliches Ich nicht bloß als sichtbaren und tastbaren Gegen-stand, nicht bloß als leere Form wahr, sondern gleichsam als erfüllte Form, dank unseren Organempfindungen und den damit verknüpften Gefühlen. Ähnlich erleben wir auch die äußeren Gegenstände nicht als leere Formen, sondern ebenfalls als gleichsam innerlich erfüllt. Ein Mensch, den wir sehen, ist uns nicht ein sichtbarer Schemen, sondern „Substanz”, in Analogie unseres eigenen Innenlebens. Und so, wenn auch in sehr abstrakter Weise, ist uns auch ein Tisch oder ein Baum nicht bloß Form, sondern wir erleben ihn als etwas Substanzielles, als Erfülltes. Die Undurchdringlichkeit ist uns nicht bloß Wider-stand, sondern auch Zustand, und das eben ist die Leistung der Einfühlung.

Diese einfühlende Kategorie der Dinglichkeit ist jedoch nicht bloß ein überall gleiches Schema, wie der Rationalismus will, sondern ein stark spezifizierendes Erleben. Die Dinge [209] scheinen uns nicht eine abstrakte, immer gleiche Substanz zu haben, sondern wir erleben sie als schwer oder leicht, dicht oder locker, fest oder elastisch. Alles das weist auf sehr verschiedene „Substanzialität” hin, die nicht etwa aus reinen Sinnesempfindungen stammt, sondern aus Gegen- und Einfühlung, die sich im Bewußtsein als „Gefühle” geltend machen. Die Schwere des Steins, die Leichtigkeit eines Korks „sehen” und „tasten” wir nicht, wir „fühlen sie ein”. Die Kategorie der Substanz setzt nicht bloßes Dasein eines Zustandes, sondern — wenn auch in sehr irrationaler Weise — ein Sosein desselben.

Leichter noch wird die Bedeutung der Einfühlung bei der Kategorie der Kausalität eingesehen, in der wir eine abstrakte Umbildung jener „Kraft” zu sehen haben, die der primitive Mensch in alles Geschehen einfühlt. Das ist seit Hume so oft erörtert worden, daß es nicht nötig ist, dabei zu verweilen. Hervorzuheben ist an dieser Stelle nur, daß auch diese Einfühlung sich stark spezialisiert, daß sie nicht bloß ein überall gleiches Schema im Sinne des Kantianismus ist. Wir fühlen nicht bloß „Kraft”, „Verursachung” schlechthin in das Geschehen ein, sondern wir unterscheiden stark und schwach, schnell und langsam wirkende Kräfte. In einen perlenden Lauf von Geigentönen fühlen wir eine ganz andere Kraft ein, als in wuchtig daherschreitende Posaunengänge, einen fallenden Felsblock scheint eine andere Kraft zu bewegen als ein fallendes Blatt Papier. Derartige Ausdeutungen sind gewiß keine rationale Erkenntnis, aber sie sind doch als irrationale Ausdeutungen, als symbolische Chiffern nicht ganz ohne Wert, so daß menschliches Denken ihrer nie ganz entraten kann.

11. Einfühlung im Raum- und Zeiterkennen

Auch die Raumerkenntnis, die wir oben zunächst aus Handlungen, die man den Gegenständen gegenüber ausführt, und den aus diesen Erlebnissen erwachsenden Gefühlen erstehen ließen, hat gleichsam eine innere Seite, die wir durch Einfühlung erleben.

Das sieht man am besten am Erleben von Innenräumen. Ein Zimmer oder das Innere einer Kirche besteht für unser Gefühl [210] nicht bloß als leerer Raum, aus der Umgrenzung der Wände, nein, der Innenraum ist nicht etwas rein Negatives, er ist durchaus positives Erlebnis. Er hat eine erfühlte Räumlichkeit, aber nicht als „Gegen”stand, sondern als Einfühlungserlebnis, als „Zu”stand. Ein Innenraum erscheint uns als „gedrückt”, als „weitatmig”, als „frei”, als „tot”. Das sind auch keineswegs rein ästhetische Erlebnisse, sondern Erkenntnisse, freilich solche irrationaler Art, obwohl sie sich sogar rationalisieren lassen. Sie sind nicht rein objektiv, sondern ichbezogen, aber auch die Ichbezogenheit ist ja eine Wirklichkeit und als solche Gegenstand der Erkenntnis. Was z. B. den Architekturformen der Klassik eine so besondere Wirkung verleiht, hat man neuerdings auf ihre Verwandtschaft zum Körpergefühl des Menschen zurückführen wollen und darauf hingewiesen, daß das Raumerlebnis in einer gothischen Kirche ein ganz anderes sei. In allen diesen Fällen ist das Raumerleben nicht „abstrakte Anschauung”, kein überall gleiches Koordinatensystem, an dem wir die Räume mäßen, nein, es ist ein sehr spezifizierendes Einfühlungserlebnis, ja, indem wir den abstrakten Raum selbst als „etwas”, nicht als ein bares Nichts denken, fühlen wir etwas in ihn ein, einen Zustand, der allerdings bis an die Grenze der Abstraktionsmöglichkeit getrieben ist, ohne doch ins reine Nichts auszulaufen.

Ebenso muß die Zeiterkenntnis, vor allem die der Geschwindigkeit von Bewegungen, durch Einfühlung erklärt werden. Daß wir nicht nur einen fliegenden Vogel, sondern auch den geschleuderten Stein oder eine Folge von Tönen in einer Melodie als „bewegt” empfinden, ist kein rationales Erleben, die Bewegtheit ist für unser natürliches Bewußtsein ein Zustand, den wir aus unserem eigenen Erleben in den Gegenstand übertragen. Das hängt, wie wir bereits sahen, mit der „Krafteinfühlung” zusammen, ist jedoch auch davon abtrennbar. Wie wir den Raum nicht bloß als leeres Schema, sondern als etwas in gewissem Sinne Substanzielles erleben, so auch die Zeit als eine sehr abstrakt empfundene „Kraft”. Und auch dies einfühlende Zeiterleben wird spezialisiert und zwar stets nach Analogie eigener Zeitwirkungen. In den meisten Schätzungen über „schnell” und [211] „langsam” stecken Analogien zu unserem Ich. Der Ablauf unseres Lebens erscheint uns ja nicht immer das gleiche Tempo zu haben, sondern oft scheint die Zeit zu „fliegen”, oft „zu schleichen”. Für unser Erleben ist eine Stunde nicht immer eine Stunde, ein Tag nicht immer ein Tag. Wir können in „Augenblicken” Jahre zu erleben glauben, und für einen absoluten Geist müßten wirklich, wie es in der Bibel heißt, tausend Jahre wie ein Tag sein. Wir haben das Zeiterleben durch unsere Uhren gewiß weitgehend rationalisiert, aber es besteht daneben noch ein irrationales Zeiterleben, das jenes rationale Schema in mannigfacher Weise durchkreuzt und kompliziert. Das Zeiterleben einer Eintagsfliege ist vermutlich ein ganz anderes als das des Menschen, und daß dem so ist, hat seinen Grund in einer „Einfühlung”.

Wir sind natürlich weit davon entfernt, diesen irrationalen Zeit- und Raumerlebnissen absolute Gültigkeit zuzuschreiben, als erkenntnispsychologische Tatsachen aber dürfen sie nicht übersehen werden, weil sie bis in das wissenschaftliche Weltbild hinein in ihrer korrigierten Form nicht entbehrlich sind.

12. „Gedankenübertragung” als Einfühlung.

Es sei jedoch der Kreis der Untersuchung noch auf ein Gebiet ausgedehnt, das die Wissenschaft vielfach als unwissenschaftlich verwirft, und das doch von jeher großen Reiz ausgeübt hat, zumal es immerhin nicht an Tatsachen fehlt, die eine ernsthafte Diskussion nicht ausschließen, ja sogar fordern. Ich meine das merkwürdige Gebiet der Gedankenübertragung, innerhalb dessen ich wiederum die Nahwirkung und die Fernwirkung (Telepathie) unterscheide. Bei der Nahübertragung besteht die Möglichkeit eines sinnhaften Kontakts, bei der Fernübertragung ist diese ausgeschlossen.

Die Nahübertragung ist ohne jeden Zweifel wissenschaftlich erklärbar. Gemeint ist damit zunächst die experimentell belegbare Möglichkeit, einen anderen ohne Zuhilfenahme der Sprache, ja ohne und selbst gegen eigenes Wissen und Wollen dem eigenen Denken gemäß zu beeinflussen. Es ist ein in Gesellschaften vielfach geübtes Spiel (willinggame), daß eine Person, diezunächst [212] das Zimmer verlassen hat, eine von den anderen verabredete Handlung, etwa das Berühren eines Gegenstandes, auszuführen hat, nachdem sie hereingerufen ist, während die anderen Anwesenden alle ihre Gedanken auf diese Handlung konzentrieren. In der Regel gelingt das Verfahren, wenn das „Medium” einigermaßen brauchbar ist, in ganz überraschender Weise. Ich hatte selbst Gelegenheit, mit einem in europäischen Hauptstädten auftretenden Gedankenleser zu experimentieren und konnte dabei sowohl den Erfolg als auch die Art der Übertragung genau feststellen.

Etwas „Wunderbares” im Sinne einer Durchbrechung der Naturgesetze ist darin nicht zu suchen. Es handelt sich überhaupt nicht eigentlich um Gedankenübertragung, sondern um eine Bewegungsübertragung; d. h. nur solche „Gedanken” lassen sich dem anderen suggerieren, die ins Motorische ausstrahlen, im Grunde vor allem die Gedanken „Ja” und „Nein”! Kraft der Einfühlung werden diese unbewußt gegebenen Bewegungszeichen verstanden.? „Wunderbar” erscheint uns das ganze Phänomen nur darum, weil wir nicht gewohnt sind, auf die motorischen Zeichen zu achten, die wir ganz unbewußt geben, und die eine feine Einfühlungsfähigkeit ebenso unbewußt aufnimmt und in entsprechende Instinkthandlungen umsetzt.

Ganz anders als mit der Nahübertragung liegt die Sache bei der Fernübertragung. Hier fehlen motorischer Ausdruck und andere physische Zeichen, so daß gerade derartige Erlebnisse den Charakter des Übernatürlichen haben. Es ist sehr schwer, diese Dinge wissenschaftlich zu behandeln, und doch gibt es andererseits wieder zuviel Zeugnisse dafür, um jede „Telepathie” ohne weiteres als Schwindel abzutun. Eine Möglichkeit der Erklärung, auf die allerdings hier nicht eingegangen werden soll, läge wohl in einer außerordentlich gesteigerten Einfühlung, die über rational nicht bemerkte Zwischenglieder hinweg wirksam werden könnte.

13. Einfühlung in der Philosophie.

Indessen wird die Einfühlungserkenntnis, ohne daß dabei Belebtes und Nichtbelebtes sorgsam geschieden würde, auch auf das Weltganze angewendet: in der Philosophie. [213] Gewiß, nicht alle philosophischen Systeme gehen im innersten Kern auf ein Einfühlungserlebnis zurück, es gibt, wie wir sahen, Rationalisten und Sensualisten, wenn diese beiden auch meist, ohne sich dessen klar bewußt zu sein, irrationale Kategorien voluntaristischer Herkunft zugrunde legen. Daneben aber gibt es einen Typus von Philosophen, die da glauben, das innerste Wesen des Weltalls kraft einer Analogie mit dem eigenen Innenleben erschließen zu können.

Ich sehe hier davon ab, daß auch vielen sich rational gebenden Systemen dennoch im tiefsten Innern ein Einfühlungsakt zugrunde lag, wenn sich das im ausgearbeiteten System auch verbirgt. Aber während die meisten früheren Philosophen bestrebt waren, ihr System nur auf Begriffe oder auf Sinneserfahrungen zu stellen, tritt in neuster Zeit ganz offen das Bestreben heraus, das Weltgeschehen nach Analogie des Ichlebens, d. h. die Welt durch Einfühlung zu deuten. Schon bei Leibniz, Fichte, Schelling ließen sich Spuren aufzeigen. Wundersam tief, wenn auch niemals systematisch gefaßt, blitzen besonders bei Goethe oft derartige Gedanken auf.

Als Einfühlungsprodukt größten Stils ist jedoch das System Schopenhauers aufzufassen. Seine Grundvision, die ihm seine besondere Stellung in der Geschichte der Philosophie gibt, ist die, daß die Welt im Innersten Wille sei. Wir wiesen bereits darauf hin, daß als metaphysisches Prinzip dieser Wille besser Instinkt hieße; die Art und Weise jedoch, wie Schopenhauer zu dieser Erkenntnis gelangt ist, ist ein Akt der Einfühlung, was besonders deutlich dadurch wird, daß er auch seine ganz persönliche, pessimistische Willensfärbung in die Welt einfühlte. Nietzsche, Enthusiast und Sehnsuchtsmensch von Temperament, fühlte dagegen eine „dionysische”, eine Rausch- und Machtfärbung in die Welt ein. Ebenso läßt sich Eduard von Hartmanns Erklärung der Welt als durch Einfühlung gewonnen begreifen. Und Bergsons „Intuition” ist ebenso wie sein „Instinkt” als Einfühlung zu verstehen, wenn auch der, wie mir scheint, für alle Erkenntnis unerläßliche Unterschied zwischen Gegenfühlung und Einfühlung kaum bemerkt ist.

[214]

14. Der irrationale Charakter der Einfühlung

Schon dieser Überblick zeigt, wie verbreitet die Einfühlungserkenntnis ist, daß vom primitiven Wilden bis hinauf zu gelehrten Philosophen sich der Mensch die ihm sonst kalt und starr gegenüberstehende Welt durch Einfühlung verständlich zu machen sucht, wie er die Saiten seiner Seele durch fremde Töne zum Mitschwingen bringen läßt und seinerseits selbst in die unbelebte Natur die Schwingungen seiner Seele hinauszutragen strebt, um diesen Widerhall dann zu genießen und einen Sinn in dem zu finden, was er selbst aus sich hinausprojiziert hat.

Aber auch wenn man berechtigte und unberechtigte Anthropomorphisierung scharf scheidet, wird man einräumen müssen, daß das Reich der Einfühlung viel weiter geht als gemeinhin angenommen wird, ja daß Sensualismus wie Rationalismus ohne Einfühlung leere Schemata, nichts weiter zu liefern vermöchten, daß für den Menschen Erkenntnis im Sinne einer Deutung und Beherrschung der Welt ohne Einfühlung unmöglich ist.

Im Zusammenhang dieses Buches ist es vor allem wesentlich, auf den durchaus irrationalen Charakter der Einfühlung hinzuweisen. Sie geht ohne Begriffe im rationalen Sinne vor sich, unbewußte Prozesse spielen in ihr eine sehr bedeutende Rolle, und Allgemeingültigkeit kann für ihre Ergebnisse selten in Anspruch genommen werden. Was wir Kraft der Einfühlung vom Wesen fremder Individuen erfahren und an Raum- und Zeitschätzungen vornehmen oder als Besonderheit der Dinge und Geschehnisse erleben, ist nicht für alle Erkenntnissubjekte gültig, aber unentbehrlich für das eigene Leben. Wir stehen wieder vor jener tiefen Erkenntnis, die Goethe einmal formuliert hat: daß an das Wahre wie an das Falsche notwendige Bedingungen unserer Existenz gebunden sind, d. h., daß es Erlebnisse gibt, die für das Individuum „richtig” sind, die jedoch, sobald sie in rationale Form gebracht werden, d. h. auf ein allgemeines Erkenntnissubjekt bezogen werden, „falsch” sind. Die ganze wundersame Verflochtenheit des Erkenntnislebens steht hier vor uns, die durch keine Rationalisierung aufgehoben werden kann, wenn sie uns nicht dem Leben entfremden soll. Gerade die Einfühlungserkenntnis [215] zeigt uns, daß etwas im rationalen Sinne falsch und in einem irrationalen Sinne richtig sein kann. Auch hierfür möge die Erkenntnis vom Wesen anderer Individuen das Beispiel sein. So viele Menschen sich von einem gemeinsamen Bekannten ein Bild machen, so viele Bilder entstehen, die stark differieren und doch alle nicht ohne weiteres falsch sind, sondern die individuelle Prägung der erkennenden Subjekte tragen. So sind auch die Weltbilder des Pessimisten und des Optimisten, so sehr sie sich widersprechen, keineswegs ohne weiteres „irrig”, sondern sie haben im Zusammenhang mit der erkennenden Persönlichkeit dennoch Erkenntnischarakter.

Berlin-Halensee 1922. Richard Müller-Freienfels.


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Erstellt am 21.12.2010 - Letzte Änderung am 23.12.2010.