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RICHARD MÜLLER-FREIENFELS

IRRATIONALISMUS

Kapitel 4

Leipzig 1922 / Verlag von Felix Meiner

(Seitenzahlen im Text am Anfang der Seite in eckigen Klammern mit Link zum Inhaltsverzeichnis)


Inhaltsverzeichnis

Zum gesamten Inhaltsverzeichnis

Kap. I.
Grundlegende Verständigung über das Wesen des Erkennens.


Kap. II.
Das natürliche Denken und die Sprache als Erkenntnismittel.


Kap. III.
Das rationalisierende Denken.


Kap. IV.
Das singularisierende Erkennen.


[119] 1. Die Sinnesempfindungen und die Singularisierung
[120] 2. Die „Gegebenheit” der Sinnesempfindungen
[126] 3. Die sprachliche Rationalisierung der Sinnesempfindung
[131] 4. Das singularisierende Erkennen
[134] 5. Antagonismus und Zusammengehörigkeit von Rationalisierung und Singularisierung
[136] 6. Die Irrationalität der sensorisch-singularisierenden Erkenntnis
[138] 7. Die Unmöglichkeit einer rein sensorischen Weltanschauung
[141] 8. Der Erkenntniswert der Singularisierung
[144] 9. Das singularisierende Erkennen in der Philosophie
[147] 10. Rückblick und Ausblick
Kapitel 4 als Text-File

Kap. V.
Das instinktive Erkennen.


Kap. VI.
Die Einfühlungserkenntnis.


Kap. VII.
Das schöpferische Erkennen (Die Intuition).


Kap. VIII.
Die Selbsterkenntnis.


Kap. IX.
Irrationalistische Philosophie.



zum Anfang des Inhaltsverzeichnisses

Kapitel IV.

Das singularisierende Erkennen.

[119]

Den Sinnen hast du dann zu trauen;
Kein Falsches lassen sie dich schauen,
Wenn dein Verstand dich wach erhält.
Mit frischem Blick bemerke freudig,
Und wandle, sicher wie geschmeidig.
Durch Auen reich begabter Welt.
Goethe.

1. Die Sinnesempfindungen und die Singularisierung

Als zweiten Erkenntnisweg betrachten wir einen, der in gewissem Sinne der Rationalisierung entgegenläuft, und den ich, da er nicht auf Erkenntnis des Gemeinsamen, sondern des Einzelnen gerichtet ist, als Singularisierung bezeichne. Für diese Erkenntnisweise gewinnen die Sinnesempfindungen (die sekundären Qualitäten), die in der Rationalisierung schematisiert, ja unterdrückt wurden, eine besondere Bedeutung, wenn auch keineswegs singularisierendes Erkennen etwa mit „rein sensorischem Erkennen” gleichgesetzt werden darf. Im Gegenteil, wie das rationalisierende Erkennen sich nur kraft sensorischer Inhalte in der Wirklichkeit orientiert, so schließt das singularisierende Erkennen Denkakte ein. Das singularisierende Erkennen ist „umgekehrte Rationalisierung”, das Einzelne wird zum Einzelnen erst in der Abhebung gegen ein, wenn auch unbestimmtes Allgemeines.

Immerhin hat man seit alters als Hauptinstanz gegen übertriebenen Rationalismus die begrifflich nicht verarbeiteten Empfindungen ins Feld geführt. Daß wir den von uns vertretenen Irrationalismus nicht mit radikalem Sensualismus gleichsetzen, wurde bereits gesagt, so gern wir diesen in vieler Hinsicht als. Bundesgenossen gegen den einseitigen Rationalismus begrüßen. Eben deshalb aber ist es notwendig zu betonen, daß wir auch den ausschließlichen Sensualismus nicht als ausreichende Welterklärung [120] gelten lassen können, daß auch er — ebenso wie der Rationalismus — nur einen Teil des menschlichen Erkennens umfaßt, und daß es niemals möglich ist, Welterkenntnis aus sinnhaften Gegebenheiten allein zu erbauen. Wir meinen das nicht bloß im Sinne des Kantianismus, für den die Sinnesempfindungen nur Rohstoff sind, der erst dadurch Wert erhält, daß er sich kategorial verarbeiten läßt; wir schreiben den Sinnesempfindungen auch außerhalb der rationalen Verarbeitung selbständige Erkenntnisbedeutung zu, hier aber wesentlich als Ergänzung des Rationalismus, als Ausgleich gegen dessen Schematisierung der Weit, nicht aber, indem wir — wie die extremen Sensualisten — glauben, auch die ganze Rationalisierung aus der sinnhaften Gegebenheit ableiten zu können, von den später hier zu erörternden anderen irrationalen Erkenntnismitteln gar nicht zu reden.

Um meine Abweichung von jedem extremen Sensualismus klar herauszustellen, betone ich, daß erstens die Sinnesempfindungen zwar auch „gegeben”, aber nicht rein gegeben sind, zweitens, daß Sinnesempfindung an sich keine Erkenntnis, am wenigsten restlose Erschließung der gesamten Welt ist, drittens, daß die Sinne zwar Erkenntnismöglichkeiten bieten, aber einerseits nur als Grundlage einer nicht aus den Empfindungen allein ableitbaren Rationalisierung, andererseits in der ebenfalls nur in Ergänzung zu dieser Rationalisierung wertvollen Singularisierung. Aus diesem Grunde stelle ich der rationalisierenden Erkenntnis nicht eine sensorische Erkenntnis schlechthin, sondern die auf Grund der Sinnesempfindungen singularisierende Erkenntnis entgegen, die uns an Stelle der grauen, starren, schematischen Welt der Rationalisierung, eine bunte, unendlich mannigfaltige Welt ewigen Wechsels erschließt, die ebensosehr wie jene andere Anspruch auf „Wirklichkeit” erheben darf, auch wenn sie irrational ist, d. h. in ihren Einzelheiten keinen Anspruch auf absolute Allgemeingültigkeit erheben kann.

2. Die „Gegebenheit” der Sinnesempfindungen.

Für den radikalen Sensualismus sind die Sinnesempfindungeu „gegeben”; alle andere Erkenntnis ist daraus abgeleitet. [121] Auch von meinem Standpunkt aus kann ich die Sinnesempfindungen als „gegeben” ansprechen, muß aber diesen Begriff nach mehreren Richtungen stark einschränken. Sie sind uns gleichnisweise so gegeben, wie der Kohlenstoff oder der Sauerstoff in der Kohlensäure oder zum mindesten (alle Vergleiche hinken ja ein wenig) wie der Sauerstoff und der Stickstoff in der Luft. Wir „haben” sie nicht als „reine” Gegebenheiten, sondern müssen, um zu ihnen zu gelangen, erst einen oft mühseligen Läuterungsprozeß vornehmen, und auch damit werden wir kaum zu absoluter „Reinheit” vordringen. Im Gegensatz zum Sensualismus und der sensualistischen Psychologie also können wir in den Empfindungen nicht vorhandene Konkreta, sondern nur in abstracto isolierbare Elemente unseres Seelenlebens sehen. Wir glauben nicht, ein Weltbild mosaikartig aus Empfindungen und deren Reproduktionen zusammensetzen zu können, aber sie sind uns auch mehr als bloßer Rohstoff fürs Erkennen, der unter Aufhebung seiner Wesensart verarbeitet wird.

Es gilt daher zunächst zu untersuchen, wieweit wir überhaupt von „reinen” Empfindungen sprechen können, d. h., wieweit die Gegebenheiten der gewöhnlichen Wahrnehmung von nichtsensorischen Schlacken zu befreien sind. Diese Tara in allem Bruttowahrnehmen setzt sich aus folgenden Faktoren zusammen;

  • a) anderen Empfindungen,
  • b) der zeitlichen und räumlichen Zusammenordnung,
  • c) reproduzierten Empfindungen oder wenigstens latenten Gedächtnisspuren,
  • d) Gefühlen,
  • e) begrifflicher Verarbeitung,
  • f) motorischen Reaktionen.
  • ad a) Zunächst ist es schon darum unmöglich, von einer einzelnen Empfindung zu reden, weil alle Empfindungen stets im Plural „gegeben” sind. Von einer Empfindung zu reden, ist so sinnlos wie von einem Differential oder einem Atom zu sprechen. Die Enge des Bewußtseins ist niemals ein so schmaler Spalt, daß dies sich nur auf eine Empfindung beschränken und gegen alle anderen Erlebnisse absperren könnte, schon darum [122] weil ja immer mehrere Eingangstore zur Seele nebeneinander offenstehen. Auch wenn wir im Konzerte „ganz Ohr” sind, mischen sich doch, obgleich nicht als klar gesonderte Elemente, beständig Körperempfindungen, Gesichtsempfindungen, vielleicht auch Geruchsempfindungen infolge des Parfüms einer schönen Nachbarin, in den Ohrenschmaus, und dieser selbst ist, auch wenn wir einem Geigensolo lauschen, niemals mono-sensorisch, sondern das Erleben jedes einfachen Geigentons ist aus mehreren Empfindungen zusammengesetzt; neben dem reinen Klang machen sich Obertöne und allerlei Geräusche, die zusammen die Klang„farbe” bedingen, im Bewußtsein geltend. Aber die Enge des Bewußtseins ist nicht nur gegen das Nebeneinander der Eindrücke nicht absolut isolierend, auch das Nacheinander spielt hinein: jeder einzelne Ton erhält einen Charakter von den unmittelbar vorhergehenden Eindrücken und dem Platze, den er in einer Folge von Tönen einnimmt. Der Ton C weckt nicht dasselbe Erlebnis, wenn er in einem C-Dur Dreiklang oder einem A-Moll Dreiklang ertönt, wenn er nach einem tieferen Ton oder einem höheren angegeben wird.

    ad b) Aber nicht nur das mehr oder minder zufällige Zusammensein von Empfindungen ist uns ebenso wie diese selbst gegeben, sondern auch jenes besondere Neben- oder Nacheinander, das wir als mehr als „zufällig” erleben, jene Gestaltqualitäten, die wir als räumliche und zeitliche Einordnung bezeichnen, und die uns ein Sein eigener Art, jenseits der Einzelempfindung, zu erschließen scheinen. Unter den mannigfachen Konstellationen der Empfindungen werden gewisse simultane und sukzedierende von uns als zusammengehörig erlebt, als Gegebenheit eigener Art neben oder über den einzelnen Empfindungen, eben als räumliche oder zeitliche Gestalten. Auch von diesen gilt, was wir von den einzelnen Empfindungen sagten: sie sind uns gegeben, aber sie sind uns nicht rein gegeben.

    Solche Rationalisten, die die Sinnesempfindungen wenigstens als Rohmaterial des Erkennens gelten lassen, erklären jedoch, diese wären, ehe die Formen des Geistes sie ordneten, ein bloßes Chaos, ein „Gewühl”. Diese Anschauung ist auf jeden Fall [123] unrichtig, auch wenn man die Bedeutung der Verarbeitung durch das Subjekt anerkennt. Im Gegenteil, es muß hervorgehoben werden, daß auch unabhängig vom Subjekt die Reize und Empfindungen räumlich und zeitlich geordnet sind. Denn arbeiten etwa die Camera obscura oder der Phonograph auch mit Kategorien? Und doch kann man auf der photographischen Platte wie auf der Phonographenwalze durch Messungen objektiv eine Ordnung der Wirkungen feststellen, die der subjektiv wahrgenommenen Ordnung entspricht. Nicht nur die einzelnen Empfindungen sind uns gegeben, auch ihre Beziehungen zueinander.

    Gewiß ist die Gestaltqualität, wie wir sie apperzipieren, nicht ganz in den Sinnen gegeben; es müssen vielmehr, wie ich später darlege, noch mancherlei andere seelische Funktionen ins Spiel treten, aber sie sind auch keineswegs reine Schöpfungen unseres Geistes. Sie sind gleichsam „vorgezeichnet”, obwohl das eigentliche „Bild” in der Seele erst durch hinzutretende Arbeit nichtsensorischer Faktoren entsteht. Nur in diesem Sinne nennen wir die Gestaltqualitäten auch sensorische „Gegebenheiten”.

    Ich möchte auf das Problem des Gestalterlebens hier nicht näher eingehen, zumal kaum ein anderes psychologisches Problem heute so umstritten ist wie dies. Hier genügt es festzustellen, daß es nicht als rein rationaler Akt gedacht werden darf. Für das nähere verweise ich auf die Arbeiten der österreichischen Schule (Ehrenfels, Meinong, Benussi u. a.) einerseits und auf die Gruppe Wertheimer, Koffka, Köhler, Gelb usw. andererseits.

    ad c) „Rein” sind uns aber die Empfindungen und ihre Kombinationen auch deshalb nicht gegeben, weil sie in der Seele — vom Säugling vielleicht abgesehen — stets auf Spuren früherer Empfindungen stoßen, die ihre Wirkung mannigfach beeinflussen. Auch dort, wo nicht reproduzierte Empfindungskomplexe als selbständige seelische Inhalte neben den frischen Empfindungskomplex treten (wie im Vergleich), auch wo nur unbestimmtes Wiedererkennen stattfindet, ja selbst dort, wo wir eine Empfindung ausdrücklich als „neu” bewerten, spielen Spuren früherer Eindrücke in das Erlebnis hinein, Spuren, [124] die von der Assoziationspsychologie als latente Vorstellungen angesehen werden und sicherlich zum guten Teil auf frühere Empfindungen zurückgehen, mögen sie sich im Bewußtsein auch oft in einer Weise geltend machen, die sie den „Gefühlen”, die ich gleich bespreche, sehr naherückt.

    ad d) Denn nicht nur mit Elementen, die aus der Rezeption stammen, verschmelzen die Empfindungen, auch aus dem Ich selber, aus seiner Reaktion, treten allerlei Elemente hinzu. Dazu gehören vor allem die Lust-Unlustgefühle, die bei keinem Empfinden ganz fehlen, ferner alle jene nichtalgedonischen(sic!) Stellungnahmen der Vertrautheit, der Fremdheit, der Größenbewertung, der Nah- und Ferneinschätzung und vieles andere, was in der Schulpsychologie meist wenig beachtet wird. Alle diese Dinge sind nicht etwa gleichgültige Begleiterscheinungen, die man abstreifen könnte wie oberflächlichen Staub, sie sind sehr wesentlich fürs Empfindungsleben, weil sie oft die Ursache sind, daß wir überhaupt die Empfindungen apperzipieren. Es ist nicht so, daß Lust- und Unlust etwa Folgeerscheinungen der Empfindungen sind, nein, oft wird ein Reiz nur dadurch in unser Fokalbewußtsein gehoben, weil er uns Lust oder Unlust erweckt! Und jedenfalls ist die subjektive Reaktion auf die Empfindung nicht ein gesondertes Erlebnis, sondern modifiziert die Empfindung selber, geht mit ihr eine Verschmelzung zu einer besonderen Bewußtseinseinheit ein, aus der die „reine” Empfindung schwer auszusondern ist.

    ad e) Zu den residuären Beimischungen rechnet, außer Reproduktionen und Gefühlen, auch die begriffliche Verarbeitung. Es beschäftigt uns hier nicht die neuerdings umstrittene Frage, ob diese sich — wie der Assoziationismus will — auf Vorstellungen zurückführen läßt oder ob — wie andere Psychologen wollen — Gefühle vor allem sie ausmachen oder ob sie seelische Tatsachen eigener Art sind, sicher ist, daß ich den Baum vor meinem Fenster nicht als Komplex von allerlei Farbenempfindungen, sondern eben als „Baum” apperzipiere, d. h., daß ich mit den reinen Sinnesempfindungen ein begriffliches Element — einerlei welcher [125] Herkunft es sei — verschmelze. Auch von dieser begrifflichen Verarbeitung muß ein konsequenter Sensualismus, der auf „reine” Empfindungen hinstrebt, erst mühsam abstrahieren, auch dann, wenn er glaubt, jene ganz aus früheren Empfindungen ableiten zu können, ein Verfahren, das der Kritik nicht standzuhalten vermag.

    ad f) Wie jedoch die subjektive Verarbeitung der Empfindung zur Wahrnehmung auch zu erklären sei, sie schließt immer motorische Reaktionen ein, in deren Bewußtseinsbegleitung wir eine weitere Beimischung zur reinen Empfindung zu sehen haben. Indem wir in der „Aufmerksamkeit” einige Empfindungskomplexe durch „Fixierung” isolieren, indem wir durch Bewegungen des Augapfels oder des Kopfes einen Empfindungskomplex als „dreidimensional” apperzipieren, indem wir durch andere Bewegungen des Auges einen fliegenden Vogel in seinem Flug verfolgen, tragen wir an den visuellen Sinneseindruck Bewußtseinsinhalte heran, die ihn außerordentlich bereichern, freilich aber seine „Reinheit” trüben. Ja, wenn die Reflexpsychologie recht hat, wie ich selbst glaube, so ist die motorische Reaktion nicht eine äußere Zugabe zur Empfindung, sondern erst dadurch, daß der Reiz motorische Reaktionen erweckt, wird er überhaupt als Empfindung ins Bewußtsein erhoben, ist damit aber nicht mehr reines Reizbewußtsein, sondern Bewußtwerden eines komplexeren, wenn auch einheitlichen Erlebens.

    Die in dieser Zusammenstellung gesonderten Phänomene spielen im lebendigen Wahrnehmungsakt mannigfach zusammen; es ist sogar unmöglich, sie praktisch zu isolieren und im Einzelnen ist dabei noch manches problematisch. Indessen genügen wohl bereits diese Feststellungen, um zu zeigen, wie mannigfach durchwachsen die Empfindung mit anderen Faktoren ist. Die „reine” Empfindung ist eine Art Grenzwert, der nie ganz erreicht wird. Zum Ausgangspunkt, wie das die sensualistische Philosophie und Psychologie tat, können wir sie jedenfalls nicht nehmen. Es zeigt sich vielmehr, daß, wenn der reinen Empfindung ein Erkenntniswert zukommen soll, dieser nicht am Ausgang, sondern am Ziel eines Prozesses liegt, den wir genauer besprechen müssen.

    [126]

    3. Die sprachliche Rationalisierung der Sinnesempfindung.

    Sind nun die „Gegebenheiten” der Sinne, wie sie sich kritischer Betrachtung darstellen, als solche schon Erkenntnis? Können wir einen Menschen, der es vermöchte, die Reize, die aus der Außenwelt auf seine Sinne wirken, wie eine Camera obscura rein rezeptiv in sich einströmen zu lassen, dessen Seele also gleichsam ein passiver Spiegel wäre, einen Erkennenden nennen? Greifen wir, um diese Frage zu beantworten, auf unsere frühere Charakteristik der Erkenntnis überhaupt zurück, so werden wir Nein sagen müssen. Denn bei solcher passiven Spiegelung fehlt gerade das, was wir als wesentlich für alles Erkennen fanden: die Wertung, die Nutzbarmachung fürs Handeln, fürs Leben. Zur Erkenntnis werden vielmehr die Sinnesempfindungen erst, indem sie uns zu tätiger Stellungnahme veranlassen. Wer an schönem Sommertag im Grase liegt, allerlei Farben-, Ton-, Geruchs- und Temperaturempfindungen in sich einströmen läßt, verhält sich nicht „erkennend”; das tut er erst, indem er beobachtet, d. h. gliedert, ordnet, analysiert, reagiert, kurz, indem er „Stellung nimmt”.

    Vielleicht aber entgegnet uns hier der Rationalist, jetzt kämen wir in sein Fahrwasser; denn die „reine” Empfindung sei gleichgültiger Rohstoff, sie habe nur soweit Erkenntniswert, auch im Sinne der Wirksamkeit, als sie rationalisiert würde. Um mit Empfindungen, die als solche rein subjektiv und ganz unkontrollierbar seien, arbeiten zu können, müsse man sie eben rationalisieren, d. h. in Begriffe bringen.

    Dem ist zu erwidern, daß die Rationalisierung der Empfindungen zwar eine wichtige Form der Nutzbarmachung ist, daß sie aber zugleich ein sehr Wesentliches des Empfindungserlebnisses, seine Singularität, zerstört; es besteht jedoch außer der rationalen Nutzbarmachung der Empfindungen eine irrationale, und diese eben ist es, auf die es hier ankommt, und die ich die „Singularisierung” nenne.

    Immerhin müssen wir zunächst feststellen, daß eine sehr wichtige Nutzbarmachung der Empfindung in deren [127] Rationalisierung besteht, vor allem in ihrer sprachlichen Fassung. Ja, diese Rationalisierung ist so verbreitet, daß die meisten Menschen gar nicht merken, wie sehr ihre angeblich „reinen” Empfindungen in Wahrheit schematisiert sind.

    Das zeigt sich am deutlichsten, wenn wir das Verhältnis der Sprache zu den Empfindungen untersuchen, da bei vielen Menschen in der Tat die singularisierende Erkenntnis nicht weiter vordringt, als die sprachliche Erfassung der Empfindungen geht.

    Bei dieser Untersuchung begegnen wir an der Schwelle einer nur wenig beachteten Tatsache, daß die Sprache überhaupt nicht fähig ist, Empfindungen als solche zu bezeichnen, vielmehr nur insoweit, als die Empfindungen verbegrifflicht sind. Alle Worte nämlich, die die Sprache für Sinneserlebnisse bereithält, treffen gar nicht deren Besonderheit, sondern allein deren Zugehörigkeit zu begrifflichen Schematen. Wenn ich die Blumen vor mir auf dem Tische „blau” nenne, so ist damit nicht die Eigenheit gerade dieser Empfindung bezeichnet, sondern nur deren Ähnlichkeit mit anderen, die ich im Begriffe „blau”, zusammenzufassen gewohnt bin. Dabei ereignet sich nun das Merkwürdige, daß uns in der Regel gar nicht bewußt wird, daß wir das Schema für das Erlebnis selber halten und es das Erlebnis ganz verdrängen lassen! Wir glauben wirklich die Empfindung zu bezeichnen, merken gar nicht, daß wir nur eine schematisierte Empfindung benennen, und das geht so weit, daß die Sprache zu einer Abstumpfung der Sinne führt, und viele Menschen sich gar nicht der unendlichen Mannigfaltigkeit ihrer Erlebnisse, sondern nur der schematisierten Empfindungsbegriffe bewußt werden! Sie „sehen” nicht, was sie „sehen”, sondern was sie wissen!

    Seinen Grund hat dies merkwürdige Phänomen in dem Überwiegen der sozialen Werte der Sprache über die individuellen. Für das soziale Leben aber kommt es in der Regel nicht auf exakte Bezeichnung des Einzelerlebnisses, sondern auf eine allgemeine Verständigung an. Die generelle Zugehörigkeit ist für die Zwecke des Lebens wichtiger als die Besonderheit.

    [128] Beginnen wir mit den Empfindungen des Auges, also den Farben. An Grundworten für Farben hat die deutsche Sprache nur: rot, gelb, grün, blau, wozu noch für neutralere Töne: schwarz, weiß, braun, grau treten. Diese können durch Zusammensetzungen vervielfältigt werden, aber den unendlichen Möglichkeiten gegenüber ist das geradezu lächerlich wenig. Man gehe etwa in ein großes Seidengeschäft und betrachte dort die hunderterlei Schattierungen „derselben” Farbe nebeneinander, dann wird man einsehen, daß jene Bezeichnungen überhaupt nicht eine Farbe treffen, sondern unendlich viele zusammenfassen. Das heißt aber, anders ausgedrückt, daß sie Begriffe sind, die Wirklichkeit also schematisieren! Wie weit das geht, zeigt sich darin, daß viele Menschen (besonders Männer, die in viel höherem Grade als die Frauen unserer Kultur stumpfen Farbensinn haben) überhaupt gar nicht merken, wie sehr ihr Empfindungsvermögen durch die Armut der Sprache vergewaltigt wird. Die Geschichte des Impressionismus ist die eines heftigen Kampfes gegen die Rationalisierung des Farbensinns, und ein wenig ist in neuester Zeit, wenigstens für Kreise, die der Kunst nahestehen, die Herrschaft der Begriffe über die Sprache gebrochen worden. — Nun hat die Sprache allerdings eine weitere Möglichkeit, die geringe Zahl ihrer Farbenbezeichnungen zu erweitern. Sie bildet Vergleichsworte, d. h. sie schafft dadurch neue Begriffe, daß sie einen bestimmten farbigen Gegenstand als typisch für eine Kategorie von Nuancen erklärt. Meist sind es Mineral-, Blüten- oder Tiernamen, die herangezogen werden: Smaragdgrün, Kirschrot, Pfauenblau, Hechtgrau. Besonders leicht bilden sich solche Vergleichsbegriffe im Französischen, das ohne weiteres jede Bezeichnung für farbige Objekte als Farbenadjektiv verwendet: Ivila, orange, taupe, mauve usw., Ausdrücke, die in unsere Sprache als Begriffe übergegangen sind, bei denen man nicht an das Vergleichsobjekt denkt. Denn wer erinnert sich bei „lila” an den Flieder oder bei „violett” an das Veilchen, zumal wir damit gar nicht die Veilchenfarbe meinen, sondern eine andere! Aber selbst diese „Vergleichsbegriffe” kommen der tausendfältigen Wirklichkeit nicht viel näher. Sie sind ein etwas engeres, aber [129] auch noch grobes Netz, zwischen dessen Maschen unendlich viele Nuancen durchrutschen.

    Etwas besser scheint die Sprache zunächst der Welt der Klänge gegenüberzustehen. Hier hat sie, da sie selber aus Klängen besteht, die Möglichkeit, durch Lautmalerei zahlreiche Klänge nachzuahmen. Wie reich darin zum Beispiel die deutsche Sprache in der Hand eines Meisters sein kann, beweist Goethes Hochzeitslied. Welche Fülle von Klängen werden da lautlich nachgeahmt: „Da rappelts und dappelts und klapperts im Saal . . .”, „da pisperts und wisperts und flüsterts und schwirrts!” Gerade nach dieser Seite hin steht die Sprache sogar für Neubildungen weit offen. Jeder Dialekt hat seine eigenen lautmalenden Ausdrücke, die große Variationsmöglichkeiten hergeben. Auch die Nachahmung von Tierstimmen ist in der Sprache möglich. Indessen zeigt bereits der Umstand, daß der Hahn im Deutschen Kikeriki, im Französischen coquerico, im Englischen cock-a-doodl-doo, im Chinesischen kiao-kiao kräht, daß wir es bei diesen Nachahmungen mit einer schematisierenden Begriffsbildung zu tun haben. So verhält sich's aber mit allen Sprachbezeichnungen für Geräusche. Entweder durch Ähnlichkeiten, d. h. Vergleichsbegriffe, oder frei geschaffene Begriffe wird eine Gattung von Geräuschen allgemein bezeichnet, nicht etwa wirklich die spezifische Besonderheit des Tones getroffen.

    Die Rationalisierung der Tonempfindungen zeigt sich am deutlichsten in der Sphäre der musikalischen Klänge. Mit dem Tone a' bezeichne ich sowohl das a' der Violine wie der Oboe wie der Singstimme, also ebenfalls wieder eine Gattung. Die neue Zeit ist gewiß feinhöriger geworden: während noch das 17. Jahrhundert bei polyphonen Werken Vokalstimmen durch Instrumentalstimmen ersetzte und, ohne auf die Klangfarbe zu achten, einfach „Continuo” als Begleitinstrument vorschrieb, so daß man nach Belieben Cembalo, Orgel oder ein anderes Instrument benutzen konnte, machen die modernen Musiker sehr feine Unterschiede und dulden nicht, daß die Flöte ohne weiteres durch eine Pikkoloflöte ersetzt wird. Ist indessen die [130] Differenzierung der Klangwahrnehmung weiter gediehen, so hat die Sprache doch nicht Schritt gehalten, und wir können, obwohl wir genauer hören, doch nicht differenzierter uns ausdrücken. Auch ist ein Verlust eingetreten infolge der Temperierung der Instrumente, vor allem durch die Vorherrschaft des Klaviers. Während die vor-bachsche Musik sich noch genau der Unterschiede zwischen gis und as, zwischen fis und ges bewußt war, hören wir heute gis = as, fis = ges. Alles das sind Begriffsbildungen, die sich vor die wirkliche Empfindung stellen. Unsere Musik ist eben auch eine Begriffsbildung in ihrer Art, die die fließende Mannigfaltigkeit schematisiert.

    Womöglich noch ärmer ist die Sprache gegenüber den Empfindungen der niederen Sinne. Wie hilflos ist sie z. B. gegenüber den Gerüchen, also einer Sphäre, die doch feinste Nuancen zuläßt. Ebenso gegenüber dem Geschmack, in den allerdings Geruchsmomente sehr wesentlich eingehen. Auch dies Sinnesorgan ist beim Menschen der feinsten Differenzierungen fähig, was z. B. Weinkenner beweisen, die noch Nuancen unterscheiden, für die die Sprache längst auch nicht einmal Metaphern darbietet. Wie armselig lesen sich z. B. die Charakterisierungen der Weine in den Preislisten, wo sie als „elegant”, „glatt”, „süffig”, „rund” bezeichnet werden, Begriffe, die dem Kenner zwar etwas sagen, die jedoch weit hinter der Fülle der Verschiedenheiten zurückbleiben !

    Ähnlich ist's mit dem Tastsinn. Auch dieser ist bei der Mehrzahl der „Gebildeten”, die man in Hinsicht auf die Sinnesorgane höchstens als die „Verbildeten” bezeichnen dürfte, fast verkümmert. Aber es gibt unter den Kaufleuten Warenkenner, die durch bloßes Betasten zahllose Wertunterschiede an Waren feststellen, die sich sprachlich gar nicht bezeichnen lassen.

    Entgehen bereits die einfachen Sinnesempfindungen der Sprache, so zeigt sich deren Unzulänglichkeit noch viel auffallender, sowie wir versuchen, Kombination von Empfindungen, sprachlich exakt zu fassen. Denken wir z. B. an räumliche Formen! Versuchen wir etwa, eine gebogene Linie, die Form eines Pflanzenblattes, eine Physiognomie mit [131] Worten zu schildern! Man gebe dem gewandtesten Beobachter den Auftrag, ein Gesicht genau zu beschreiben, und lasse nach dieser Schilderung durch mehrere Zeichner ein Bild herstellen: was herauskommt, werden ebensoviele ganz verschiedene Gesichter sein, als man Künstler bemüht hat. Eine nur annähernde Eindeutigkeit ist durch die Sprache nicht zu erzielen. Höchstens durch ein paar grobe Merkmale kann die Sprache ein Gesicht kenntlich machen, eine einigermaßen adäquate Erkenntnis der Sinnenwelt vermag die Sprache nicht zu fassen. Man muß sich die schwindelerregende Mannigfaltigkeit der Empfindungswelt nur einmal in ihrer unendlichen Fülle zu vergegenwärtigen versuchen, um das Bestreben einiger Philosophen, die ganze Welt auf enge rationale Formeln bringen zu wollen, nicht anders als komisch zu empfinden.

    Wir geben also zu, daß die Empfindungen durch die Rationalisierung gewiß praktisch verwertbar werden können, daß aber ihre ganze Bedeutung für die Erkenntnis auf diese Weise nicht erschöpft wird, daß jener Erkenntniswert vielmehr durch Unterdrückung zahlloser Empfindungsdata (durch „Abstraktion”) erzielt wird. Und doch sagt uns eine einfache Überlegung, daß die Sinnesempfindungen auch noch einen anderen Wert haben als den, Rohstoff für Abstraktionen zu sein. Und eben diesem nichtrationalen Erkenntniswert der Empfindungen gilt es nachzugehen.

    4. Das singularisierende Erkennen.

    Für eine (weiter als das die sprachliche Fassung gestattet) in die Mannigfaltigkeit der Welt eindringende Erkenntnis ist es daher unumgänglich, die Schemata der Sprache gewissermaßen zu durchbrechen, sich freizumachen von der konventionellen Vergewaltigung durch die Begriffssprache, und es ist verständlich, daß unbegriffliche Naturen, Kinder, Frauen, Leute des praktischen Lebens weit besser singuläre Tatsachen zu erfassen vermögen, besser „beobachten”, als hochgelehrte Rationalisten.

    Es sei zunächst an Beispielen erläutert, wie sich dieses singularisierende, nur auf ein geistiges Erfassen eines Einzelfalls [132] gerichtete Erkennen betätigt. Nehmen wir einen Maler, der beabsichtigt, ein Bild möglichst getreu zu kopieren, bei dem es also nicht etwa auf künstlerisch-schöpferische, sondern nur auf exakt wiedergebende Tätigkeit ankommt. Auch das feinstausgearbeitete System von Farbenbenennungen und die reichste Auswahl von danach geschaffenen Pigmenten reicht nicht aus, die ganze Mannigfaltigkeit der erforderlichen Farbtöne zu fassen, sondern er arbeitet mit der ganz unrationalisierten Sinnesempfindung, die ihm angibt, welchen Ton er zu wählen hat. Es handelt sich dabei ohne Zweifel um ein Auswählen, ein Bejahen oder Verwerfen, also ein Erkennen, das sich jedoch nicht im Rahmen eines Begriffssystems vollzieht, sondern gerade auf den jeder Rationalisierung spottenden Empfindungsgehalt aufbaut.

    Oder man nehme einen gewandten Kaufmann der Konfektionsbranche, der durch Betasten aus einer Anzahl von Stoffen sofort feststellen kann, welche aus reiner Wolle verfertigt sind, und der auch die übrigen je nach dem Grad der minderwertigen Beimischung in Reihen zu ordnen vermag. Es handelt sich hier um Unterscheidungen von einer Feinheit, für die die Sprache keinerlei Bezeichnungen hergibt, um leiseste Erregungen des Tastsinnes, durch die, nicht wie im rationalisierenden Erkennen eine Zugehörigkeit, nein gerade das Abweichen von einem Begriffe erkannt wird.

    Dasselbe gilt nicht bloß von einzelnen Empfindungen, sondern in noch höherem Grade von Empfindungskombinationen: räumlichen oder zeitlichen Formen. Es ist bekannt, daß Schäfer, die tausend Schafe zu bewachen haben, jedes einzelne davon kennen. Sie werden sofort „erkennen”, wenn sich ein fremdes zwischen ihre Herde verirrt hat. Sie vermögen ohne weiteres das fremde auszusondern, obwohl sie sich sicherlich nicht begrifflich über die Anhalte dieses Erkennens Rechenschaft geben. Es handelt sich hier um eine auf die „Gestaltqualität” basierte Erkenntnis, die nicht auf Begriffen beruht.

    Wir haben in diesen Beispielen auch bereits den praktischen Wert der singularisierenden Erkenntnis, das was sie über das bloße „Haben” von Sinneseindrücken hinaus zur Erkenntnis [133] macht, bezeichnet. Während die Rationalisierung auf Vereinheitlichung ausging und aus der Einheit heraus ihren Wert erhielt, liegt die praktische Bedeutung der Singularisierung im Unterscheiden, in der Vielheit. In der Rationalisierung tritt das Sinnhafte zurück, es muß auf höheren Stufen der Rationalisierung unterdrückt werden; für das Unterscheiden muß das Sinnhafte im Vordergrund stehen, hier sind die sinnlichen Faktoren Wesenselemente.

    Die Singularisierung bewegt sich also in allem in einer der Rationalisierung entgegengesetzten Richtung. Die Rationalisierung hielt sich innerhalb der Sinnesgegebenheiten an die übereinstimmenden oder wenigstens ähnlichen und an die relativ dauernden Elemente, die sie in festen Begriffen zu überräumlichen und überzeitlichen Einheiten zusammenschloß, wobei alles nicht Übereinstimmende und Dauernde als akzidentiell beiseite fiel. — Die singularisierende Betrachtung hebt nicht das Übereinstimmende, sondern gerade das Unterscheidende heraus, sie beobachtet nicht nur das Gesetzmäßige, sondern auch den Wandel der Elemente, das Überraschende und Ungewohnte, und sie hebt ihre Inhalte nicht aus Raum und Zeit heraus, sondern sieht sie gerade in ihrer räumlichen und zeitlichen Verflochtenheit. Demnach geht ihre ganze Tendenz nicht auf Vereinheitlichung der Welt, sondern auf deren Mannigfaltigkeit. Dort, wo der Rationalist Einheit in der Vielheit oder gar nur Einheit wahrnimmt, sieht der Singularist gerade Vielheit in der Einheit, ja oft die reine Mannigfaltigkeit ohne Vereinheitlichung. Der Rationalist sieht oft vor Wald die Bäume nicht; der extreme Singularist sieht vor Bäumen den Wald nicht, ja er sieht kaum „Bäume”, er sieht nur Buchen, Eichen, Tannen und auch in diesen nicht das Generelle, sondern das ganz Besondere, nur das Unterscheidende, Trennende. Sein Blick verliert sich — wenn ich mein Bild ausspinnen darf — in die Einzelheiten des Ast- und Laubwerks, er erspäht hier einen seltsam verschlungenen Zweig, dort eine merkwürdige Blattbildung, ein Vogelnest, kurz tausend Dinge, die der Rationalist gar nicht wahrnimmt, weil sie „zufällig” sind, während für den Singularisten gerade diese das Interessante sind. [134] Besonders bei den, im Vergleich zu Männern, meist wenig rationalisierten Frauen kennt man (neben einem geringen Sinn für Wesentliches) das scharfe Erfassen der Einzelheiten, des Nebensächlichen, und gerade darum rühmt man Frauen die „bessere Beobachtung” nach. In Wahrheit beobachten sie nicht besser, sondern anders als Männer, eben singularisierend. Das gleiche gilt für Kinder, primitive Menschen, Jäger, kurz, alle Typen, die nicht auf Rationalisierung gedrillt sind. Mit Unrecht achtet man diese Erkenntnisweise gering. Für viele Lebenslagen ist sie mindestens so wichtig wie die Rationalisierung, ja selbst für die Wissenschaft ist neben der rationalisierenden Erkenntnis die singularisierende unentbehrlich. Wir müssen darauf dringen, daß ihr in der Erkenntnislehre ihr gebührender Platz wird.

    5. Antagonismus und Zusammengehörigkeit.

    Es ist für die Erkenntnislehre unerläßlich, die bei aller Entgegengesetztheit doch bestehende innere Zusammengehörigkeit von Rationalisierung und Singularisierung festzuhalten. Man muß darauf hinweisen, daß beide Arten der Erkenntnis in gewissem Sinne stets zusammen auftreten. In jeder Rationalisierung ist eine Singularisierung eingeschlossen, und jede Singularisierung erhält ihren Sinn erst als Gegenaktion gegen die Rationalisierung. Wo immer wir Begriffe bilden, fassen wir nicht bloß zusammen, sondern wir unterscheiden auch; indem wir eine besondere Pflanzenart zusammenfassend rational kennzeichnen, singularisieren wir sie gegen alle übrigen Arten. Ebenso ist dort, wo wir eine einzelne Tatsache als solche singularisieren, stets als Hintergrund des Prozesses auch die Vorstellung der Gattung, von der wir sie abheben; indem wir eine einzelne Pflanze einer Gattung als Abnormität singularisieren, heben wir sie doch von der Gattung ab. Deshalb setzt die tiefer eindringende singularisierende Beobachtung stets eine gewisse rationale Begabung voraus, weil sonst das Einzelne eben als Einzelnes gar nicht erkannt werden kann, mag dies Bewußtsein der Rationalität auch nur ein ganz dunkler, unbestimmter Hintergrund sein, von dem sich die Einzelheiten [135] abheben. Umgekehrt setzt aber auch die Rationalisierung eine Beobachtung von Einzelheiten voraus, denn um wesentliche Merkmale von unwesentlichen zu unterscheiden, muß man sie wenigstens ungefähr überschauen.

    In der Tat sehen wir singularisierende und rationalisierende Betrachtung sich allenthalben in die Hände arbeiten. In den beschreibenden Naturwissenschaften z. B. zerlegt genaue Beobachtung die ursprünglichen Begriffe und schließt trotzdem wieder die Einzelheiten zu neuen, differenzierteren Begriffen zusammen. So hat man nach Focke von der Brombeere (rubus) in Europa allein 1500 Arten beschrieben, deren Merkmale sehr ineinander übergehen, so daß manche Forscher es unternehmen, sie in etwa 180—200 Arten zusammenzuziehen. Die in Deutschland vorkommenden Habichtskräuter (Hieracium) teilt Koch in 52, Fries in 106, Nägeli in über 300 Arten ein. Ebenso unterscheidet bei der Bienengattung Sphecodes Sichel 3, v. Hagen 26, Förster 150 Arten.

    Daher setzt das singularisierende Erkennen ein der Rationalisierung entgegengerichtetes Streben voraus, nicht Abstraktion, sondern Konkretion. Es muß gleichsam die Sinnesempfindungen von der Schematisierung durch Begriffe reinigen, muß alles fernhalten, was die rationalisierende Gewohnheit an den Sinneseindrücken modifiziert. Eine Schulung des Erkenntnisvermögens darf daher nicht bloß auf Aufspürung von Gemeinsamem und Gesetzlichem gerichtet sein, sie muß als notwendige Ergänzung auch die singularisierende Beobachtung ausbilden. Denn beide Erkenntnisarten fordern einander als Ergänzung: nur der wird richtig rationalisieren, der auch Unterschiede wahrnimmt, nur der wird gut beobachten, der auch fähig ist, das Beobachtete in Zusammenhänge einzuordnen.

    Blicken wir nun vom Erkennen auf das Erkannte, vom Prozeß auf das Ergebnis, so finden wir überall, daß die gleichen Tatbestände sich sowohl singularisierend wie rationalisierend erfassen lassen. Das aber heißt, daß alles, was unter dem einen Gesichtswinkel als Individuum, Singularität erscheint, unter dem andern sich als Gattung, Begriff darstellt. Jede Gattung ist, [136] unter weiteren Aspekten angesehen, auch individualisiert, jedes Individuum kann in Gattungen untergebracht werden. Die Welt ist zugleich ins Unendliche rationalisierbar wie singularisierbar.

    6. Die Irrationalität der sensorisch-singularisierenden Erkenntnis.

    Es fragt sich nun, wieweit wir die sensorisch-singularisierende Erkenntnis als irrational bezeichnen dürfen. Es ist dabei zu bedenken, daß sie der rationalisierenden gewiß entgegenstrebt, daß sie sich aber trotzdem gleichsam auf derselben Ebene bewegt wie diese, daß sie bei aller Entgegengesetztheit zur Ra-tionalität doch nicht in gleicher Weise irrational ist wie später zu besprechende Erkenntnisarten, weshalb ich sie mit dem rationalen Erkennen auch als „intellektuell” zusammenfasse und dem emotionalen Erkennen gegenüberstelle. Denn zum mindesten erhebt sie den Anspruch, Objektivität zu erschließen.

    Prüfen wir also die Irrationalität der singularisierend verarbeiteten Empfindungserlebnisse nach! Als Kennzeichen der Rationalität stellten wir früher auf: die begriffliche Form, den Anspruch auf überindividuelle und objektive Gültigkeit....

    Über den ersten Punkt ist bereits gesprochen. An sich sind gewiß die Empfindungen nicht begrifflicher Art, doch sahen wir bereits, daß ihre Singularität meist als Folie gewisse Rationalitäten hinter sich hat und selbst auch oft in Rationalisierungen niederen Grades eingeht. Man könnte in dieser Hinsicht also die Irrationalität der singularisierten Empfindung eine Rationalisierung mit umgekehrtem Vorzeichen nennen.

    Davon zu trennen ist die Frage, ob den gleichen Reizen gegenüber stets dieselben Empfindungen erlebt werden, also das Problem der interindividuellen Übereinstimmung der Empfindungen.

    Man hat zwar zuweilen behauptet, es ließe sich gar nicht ausmachen, ob verschiedene Individuen genau übereinstimmende Empfindungen haben oder nicht, ob sie wirklich gleichen Tonreiz gleich empfinden. Jene Behauptung ist unrichtig. Es läßt sich sehr wohl erweisen, daß unmusikalische Menschen weit weniger scharf zu unterscheiden vermögen, als hochmusikalische, daß Farbenblinde anders sehen als Normale usw. Das Gehör [137] des Durchschnitts gebildeter Europäer vermag etwa die Stufen der chromatischen Tonleiter als „verschieden” zu apperzipieren, ein geübtes musikalisches Ohr jedoch kann noch eine Menge von Zwischenstufen genau unterscheiden. Daneben aber gibt es Menschen, die sogar Quinten und Quarten als einen Ton hören. Ebenso sehen viele Menschen dort dasselbe Blau, wo ein feinsinniger Maler noch eine Fülle von Abschattungen wahrnimmt. Gerade die Möglichkeit der Verfeinerung der Sinne beweist, daß gleichen Reizen weder in überindividueller, noch sogar in innerindividueller Hinsicht gleiche Empfindungen entsprechen.

    Man berufe sich nicht auf das sogenannte Weber-Fechnersche Gesetz, das eine mathematische Formel für das Verhältnis von Reiz und Empfindung aufgestellt hat. Denn erstens hat dieses rein quantitative Verhältnisse im Auge, sagt nichts über das weit wichtigere Qualitative aus; zweitens aber zeigen ja gerade die Experimente, die seine Gültigkeit beweisen sollen, daß sehr beträchtliche innerindividuelle und zwischenindividuelle Schwankungen bestehen, daß eine unbedingte Gültigkeit jenes Gesetzes gar nicht angenommen werden darf.

    Wir werden also sagen müssen, daß die singularisierende Erkenntnis, soweit sie auf Sinnesempfindungen beruht, niemals absolute Resultate erbringen kann, daß die Welt sensorisch sicherlich nicht überall gleich erlebt wird, daß die Fähigkeit des Unterscheidens sehr starken persönlichen und zwischenindividuellen Schwankungen unterliegt, daß also von einer Allgemeingültigkeit des Verfahrens im rationalen Sinne gar keine Rede sein kann, daß auch die Singularisierung der Welt ebenso wie deren Rationalisierung ein unendlicher Prozeß ist. Es ist schlechterdings gar nicht abzusehen, bis zu welcher Feinheit der Unterscheidung wir, besonders mit künstlichen Sinneserweiterungen, noch vordringen werden!

    Indem wir aber die starken subjektiven Schwankungen des singularisierend-sensorischen Erkennens zugeben, muß auch der Anspruch auf objektive Gültigkeit fallen, der Anspruch, daß sich darin in absolutem Sinne ein gegenständliches [138] Sein erschlösse. Denn wenn schon keine absolut feste Proportion zwischen Empfindung und Reiz besteht, so ist nicht von der Empfindung her die objektive Qualität des Reizes und noch weniger der „Reizquelle” zu erschließen. Wenn nicht die gleichen Lichtstrahlen die gleiche Empfindung bei allen Menschen auslösen, so kann auch nicht der Gegenstand, der jene Strahlen ins Auge sendet, als gleich erfaßt sein. Wir müssen vielmehr annehmen, daß rein sensorisch jeder Mensch in einer eignen Welt lebt, was sich am besten daraus erkennen läßt, daß verschiedene Maler, selbst wenn sie eine Landschaft getreu kopieren wollen, doch lauter verschiedene Landschaften auf die Leinwand bringen. Wenn wir uns der unendlichen Verschiedenheiten der Welten, in denen wir sensorisch leben, nicht bewußt werden, so liegt das nur an den mangelnden Vergleichsmöglichkeiten, zumal die verbreitetste, die Sprache, die unmittelbaren Erlebnisse stark rationalisiert, ja geradezu verfälscht.

    Die sensorische Welt ist also irrational sowohl im Sinne einer interindividuellen wie einer absolut objektiven Geltung.

    7. Die Unmöglichkeit einer rein sensorischen Weltanschauung,

    Indem wir die singularisierende Empfindung als weder in subjektiver, noch in objektiver Hinsicht allgemeingültig erwiesen, fällt natürlich auch der Anspruch, daß sich aus unseren Empfindungen eine absolute Weltanschauung aufbauen ließe. Es wäre nicht nötig, darauf überhaupt einzugehen, wenn nicht von mehreren Seiten doch gerade die Empfindungen als die festesten Grundsteine des Erkenntnisgebäudes angesehen würden.

    Zunächst nimmt der naive Realist an, das Rot der vor ihm stehenden Rose sei eine objektive Eigenschaft der Rose; auch der Duft ist für ihn etwas Objektives. Diese Meinung ist besonders von idealistischen Kritikern heftig bekämpft worden, die schließlich soweit gingen, daß sie jedes außerbewußte Korrelat der Empfindung bestritten, die ganze Welt als „Vorstellung” des Subjekts erklärten, allen sinnhaften Gehalt der Erkenntnis als „phänomenal” abtaten. Damit ist natürlich der Begriff einer objektiven Wirklichkeit ausgeschaltet; man kann aber niemand [139] hindern, den Sinnesgegebenheiten trotzdem eine „subjektive” Wirklichkeit zuzuschreiben, ja es ist auch die Konsequenz gezogen worden, daß man die transsubjektive Wirklichkeit als überhaupt falsch gestelltes Problem fallen läßt, daß man also in den „Phänomenen” die einzige Wirklichkeit sieht, womit denn allerdings der Gegensatz zwischen subjektiver und objektiver Welt überflüssig ist, da die subjektive zugleich die einzige objektive Wirklichkeit wäre. So wollen Erkenntnistheoretiker wie Mach, die dem Idealismus abhold sind, die ganze Welt aus Empfindungen, Farben, Tönen, Düften, Drucken usw. bestehen lassen; sie leugnen also, daß irgend etwas „hinter” den Empfindungen stecke. Für diese Lehre sind die Empfindungen nicht bloß Erscheinungen, sondern die letzten Elemente der Welt selbst. In den Empfindungen hätten wir also die konstituierenden Elemente der Welt. Die Welt, die zu erkennende Außenwelt wie das erkennende Ich, bestünde aus nichts als Empfindungen. Gegenüber allen diesen Anschauungen, die der sensorischen Erkenntnis absoluten Erkenntniswert zuschreiben (mag der Begriff der „Absolutheit” auch verschieden gefaßt sein), müssen wir feststellen, daß unsere Empfindungen uns weder die Totalität noch eine reine Objektivität der Welt erschließen, sondern, daß sie uns nur in eine sehr relative und eine sehr partielle Beziehung zur Welt bringen; denn wir können auf anderen Erkenntniswegen feststellen; daß es vieles in der Welt gibt, wovon uns die „reinen” Sinnesempfindungen gar keine Kenntnis geben, zugleich aber auch, daß die Sinnesempfindungen durchaus subjektive, oft stark getrübte Wesenheiten sind; wenn sie trotzdem Erkenntniswert haben, so kann das nicht in irgendeinem absoluten, sondern nur in dem vitalen Sinne gemeint sein, den ich oben kennzeichnete.

    Daß unsere Empfindungen uns nicht die Totalität der Welt erschließen, sondern uns nur in partielle Beziehung zur Außenwelt bringen, mag aus folgenden Erwägungen erhellen: 1. sind unsere Sinne nur für spezifische Energien angelegt; wir können von den Beziehungen und Vorgängen in der Wirklichkeit nur solche aufnehmen, für die wir Sinnesapparate haben. Nun können [140] wir jedoch auf indirektem Wege feststellen, daß es zahllose Vorgänge um uns gibt, für die jedes Sinnesorgan fehlt. Als Beispiel nehme ich die Elektrizität. Hätten wir für die elektrischen Wellen ein Organ, wie wir ein solches für die Lichtwellen haben, so würde die Sinneswirklichkeit gleichsam eine ganz neue Dimension bekommen. 2. Aber auch innerhalb des Bereichs der spezifischen Energien können wir nur ein gewisses Mittelmaß von Reizen verarbeiten, sehr starken und sehr schwachen Reizen gegenüber versagen unsere Sinne. Es ist natürlich töricht, ihnen darum jeden Wert zu bestreiten, so töricht, als wollte man den Wert einer Kaufmannswage darum bestreiten, weil man darauf keine Zentnergewichte und keine Milligramme wiegen kann. Aber die Totalität der Welt kann aus diesem Grunde unmöglich aus „Empfindungen” bestehen. 3. Daß aber nicht nur in quantitativer, sondern auch qualitativer Hinsicht die Empfindungen nichts Absolutes sind, beweist der Umstand ihrer schier unendlichen Verfeinerung, auf die bereits hingewiesen wurde, und die durch künstliche Apparate noch gesteigert werden kann.

    Da aber die Empfindungen nicht die Totalität der Welt ausmachen, so muß es außerhalb ihrer noch etwas geben, was zum mindesten nicht ganz in sie eingeht, das ihrer Subjektivität gegenüber sich als eine nicht restlos in den Sinnesempfindungen erfaßte Objektivität darstellt. Von dieser Objektivität nun können wir durch rationalisierende Methoden eine allerdings ebenfalls nicht absolute Erkenntnis erlangen, wir können jedoch auch außerhalb unserer Sinnesempfindungen damit in Beziehung treten. Für den radikalen Sensualisten kann zwischen einer Halluzination und einer durch reale Objektivität fundierten Empfindung kein Unterschied sein. Für unseren Realismus ist in der Empfindung eine Objektivität eröffnet, wenn auch nur teilweise, symbolhaft, nicht absolut erschlossen. Der naive Realist nimmt an, das Rot, das er empfindet, gehöre der Rose an; er schreibt es ihr als „Eigenschaft” zu. Der Physiker dagegen belehrt uns, daß das Rot nur auf den von der Rose ins Auge reflektierten Lchtstrahlen beruhe. Indessen sagt unser Erleben auch darüber nichts aus, vielmehr ist die Empfindung [141] Rot etwas völlig anderes als die Wellenlänge der Lichtstrahlen. Aber es ist auch nicht identisch mit den Vorgängen der Sinnesnerven, die der Physiologe dazwischenschiebt. Vom Standpunkt eines kritischen Realismus müssen wir die physikalischen und physiologischen Feststellungen aufnehmen, wir dürfen sie aber nicht mit den Empfindungen identifizieren, noch etwa einen durchgehenden Parallelismus annehmen. Die Empfindungen sind uns Anhaltspunkte für unsere Stellungnahme, die weder absolute Erkenntnis noch willkürliche Verarbeitungen sind, sondern eben irrationale Beziehungen zu dem transsubjektiven Sein, die ausreichen, um unser handelndes Ich daran zu orientieren. So bringen uns die Empfindungen wohl in Beziehung zur Außenwelt, sie selbst aber sind in bezug darauf nur symbolhaften Charakters, und erst durch mannigfache rationale und praktische Hilfsakte werden sie zur Erkenntnis. Im Gegensatz zum radikalen Sensualismus betonen wir also, daß die Sinnesempfindungen uns wohl Erkenntnis liefern, aber weder eine totale, noch eine absolute, sondern daß sie der Ergänzung durch andere Erkenntnismittel bedürfen.

    8. Der Erkenntniswert der Singularisierung.

    Vielleicht aber erklärt gerade hier der Rationalismus triumphierend, mit den angeführten Tatsachen sei jeder Sensualismus als Erkenntnisgrundlage erledigt, da er nur einen dürftigen, subjektiven Ausschnitt aus der Wirklichkeit zu vermitteln vermöge, während gerade die rationale Betrachtung der Welt die reine Objektivität hinter den subjektiven Sinnesempfindungen erschlösse. Indem die mathematische Physik das Licht und den Schall auf Wellenbewegungen zurückführe, indem sie es so ermögliche, unendlich viel feinere Nuancen herzustellen, als sie auch das beste Auge und das geschulteste Ohr zu unterscheiden vermögen, indem sie sogar ultrarote und ultraviolette Strahlen kennen lehre, die ein menschliches Sinnesorgan nie fassen könne, erschlösse sie nicht nur viel mehr von der Totalität der Welt als die Sinne, sie gäbe auch die objektive Wirklichkeit hinter den Sinnesempfindungen, die diesen ewig unzugänglich sei.

    [142] Wir können zugeben, daß auf dem physikalischen Wege in der Tat weite Sphären der Welt erschlossen sind, die den reinen Empfindungen unzugänglich bleiben. Trotzdem berechtigt diese Tatsache nicht dazu, eine einseitig rationale Weltanschauung aufzubauen. Denn erstens liegt auch jenen Entdeckungen die — wenn auch stark rationalisierte — Sinnesempfindung zugrunde; niemals hätten blinde Menschen aus reiner Ratio heraus die physikalische Optik, noch Stocktaube die Akustik schaffen können. Zweitens aber packt die mathematische Physik wohl die Tatbestände von einer anderen Seite, nicht aber vermag sie vollkommener Ersatz für die Sinneswelt zu sein. Denn auch eine solche rationalisierte Welt wäre nicht die ganze Welt, auch sie wäre nur ein Ausschnitt. Die „sekundären” Beziehungen zwischen Außenwelt und Ich sind keine Fata Morgana, auch sie gehören in die Welt hinein als zwar irrationale, aber doch der Rationalisierung in hohem Grade zugängliche Elemente.

    Immerhin scheint es, daß der Rationalismus gerade auf dem Gebiete, das man ihm herkömmerlicherweise versagt hat, eben der sensorischen Welt, am glänzendsten triumphiert, und wir werden ihm zugeben müssen, daß die Empfindungen gerade durch die mathematische Rationalisierung in der Tat bedeutenden Erkenntniswert erlangen können, den sie im „reinen” Zustand nicht haben.

    Aber — so hoch wir den Erkenntniswert dieser Empfindungsrationalisierung einschätzen — er ist doch nicht der einzige, und es gibt daneben einen irrationalen Erkenntniswert, der ebenfalls mannigfache Wirkungen zu zeitigen vermag. Denn, mögen wir auch theoretisch die Rationalisierbarkeit der Empfindungen in weitestem Ausmaß zugeben können, praktisch ist sie in den meisten Fällen ganz undurchführbar, und hier erst setzt die irrationale Erkenntnisbedeutung der Empfindungen ein. Gesetzt selbst, es wäre theoretisch möglich, alle Farbennuancen, alle Geräusche, alle Gerüche und Geschmäcke mathematisch zu rationalisieren, in der Praxis des Lebens können wir nicht immer die höchst komplizierten Rationalisierungsverfahren anwenden. Der Maler kann nicht in jedem einzelnen Falle die Farben, die er [143] braucht, nach ihrer Stellung in der Farbenkugel bestimmen, der Weinkenner kann für seine Praxis unmöglich — selbst wenn es theoretisch möglich wäre — den Geschmack jeder Weinprobe auf seine chemischen Grundlagen analysieren, der Geigenbauer kann unmöglich den Ton jeder Stradivari, die er abzuschätzen hat, auf rationale Besonderheiten zurückführen! Sie alle verlassen sich für die Praxis ihres Wirkens nicht auf rationale Analyse, sondern bedienen sich eines unmittelbaren irrationalen Erkenntnisverfahrens, das für die Praxis ihrer Tätigkeit vollkommen ausreicht. Ich denke dabei hier nicht, obwohl sich diese oft untrennbar mit der reinen Empfindungserkenntnis verknüpft, an die Gefühlsbewertung, sondern an die Feststellung der reinen sensorischen Qualität: der Farbennuance, der Geräuscheigenart, der Geschmacksbesonderheit. Im praktischen Leben sind diese alle nur auf Grund irrationaler Unterscheidungen zu machen, die gewiß niemals absolut „allgemeingültig” sind, aber doch immerhin für die Praxis ausreichende Annäherungswerte erzielen.

    Vielleicht wird man diese praktische Bedeutung des irrationalen Singularitätserkennens zugeben, man wird aber erklären, für die Wissenschaft, die auf allgemeingültige Erkenntnisse ausginge, sei sie wertlos.

    Schränken wir die Wissenschaft auf das Streben nach Rationalität ein, so ist in der Tat die reine Singularisierung außerwissenschaftlich. Indessen sahen wir bereits, daß sich auch die zunächst als singular festgestellten Erkenntnisse wieder rationalisieren lassen, und daß infolgedessen gerade die singularisierende Erkenntnis der Anstoß zu immer weiter vordringender Rationalisierung wird. Der Naturforscher stößt auf eine Abnormität, die er auf Grund seiner sinnhaften Wahrnehmung zunächst als singular erkennt, aber gerade diese Singularität läßt ihn nicht ruhen, er strebt danach, sie allgemeinen Begriffen und Gesetzen unterzuordnen, und in diesem Sinne, zwar nicht als Singularisierung, aber als Anregung für weitere Rationalisierung wird auch das singularisierende Erkennen für die Wissenschaft von höchster Wichtigkeit. Vor allem aber der Begriff der Singularität selbst: als die rationale Zusammenfassung der zahllosen, im sensorischen [144] Erkennen festgestellten Besonderungen, darf in der Wissenschaft nicht fehlen. Mag man die Welt noch so weit rationalen Begriffen und Gesetzen unterwerfen, das Studium des Einzelfalls, wie er sich unseren Sinnen darbietet, offenbart uns doch, daß die Welt niemals ganz sich jenen Begriffen unterordnen läßt. Kein Naturvorgang entspricht ganz den mathematischen Gesetzen, kein Kristall deckt sich restlos mit dem rationalen Schema, am wenigsten aber gehen die organischen Formen restlos in rationale Begriffe ein, sondern überall treffen wir neben der Rationalität nichtrationale Tatbestände. Indem also die singularisierende Erkenntnis gerade wegen ihrer Irrationalität dem rationalen Denken entgegenarbeitet, wird sie zu der stärksten Anregung für den Fortschritt auch der auf Rationalisierung ausgehenden Wissenschaft. Niemals kann eine ausschließliche Singularisierung als solche Wissenschaft ergeben, ihr wissenschaftlicher Erkenntniswert beruht vielmehr darin, daß sie notwendige Ergänzung der Rationalisierung ist.

    9. Das singularisierende Erkennen in der Philosophie.

    Der Begriff der Singularität des Seins, als der rationalen Zusammenfassung des Nichtrationalen der Welt, ist aber auch für die Philosophie von ganz wesentlicher Bedeutung. Selbst wenn man für die Philosophie ebenso wie für die Einzelwissenschaften die tunlichste Rationalisierung der Welt als Hauptziel ansieht, darf man doch die Augen nicht schließen vor dieser Tatsache, daß innerhalb der Wirklichkeit die Rationalität allenthalben mit irrationalen Tatbeständen zusammenstößt.

    Für uns, die wir den Begriff der Philosophie nicht auf das rationale Verfahren festlegen, die wir in der Philosophie die persönliche Vereinigung aller Erkenntnismöglichkeiten zum Zwecke möglichst allseitiger Stellungnahme zur Totalität der Welt sehen, kann solche Abblendung nach der einen Seite der Welt nicht in Frage kommen. Wir müssen, auch wenn wir die Rationalisierung der Welt als wichtiges Erkenntnisziel der Philosophie zugeben, zugleich die Augen offen halten für die Singularität der Wirklichkeit, die ebenso real ist wie ihre Rationalität. [145] Wir wollen gewiß die Möglichkeit einer Vereinheitlichung nicht abstreiten, wir müssen aber zugleich die unendliche Mannigfaltigkeit betonen, die sich uns daneben, ja in untrennbarer Verbindung damit erschließt. Das Weltbild, das sich uns in der Vereinigung des rationalisierenden und singularisierenden Erkennens ergibt, hat gleichsam zwei Dimensionen. Alle Linien, die wir darin erspähen, scheinen nach der einen Seite zu immer größerer Vereinheitlichung zusammenzustreben, nach der anderen Seite spalten sie sich immer wieder bis ins Unendliche.!. Die menschliche Erkenntnis schreitet nach beiden Richtungen fort, ohne nach der einen oder der anderen ein Ende abzusehen. In der zweiten Richtung glückt es, die unübersehbare Vielheit immer mehr zu vereinheitlichen, sie Begriffen und Gesetzen unterzuordnen, ohne daß je völlige Einheit erreicht wäre. Was man bisher als solche letzte Einheit angenommen hat, ist bei genauerem Zusehen unzulänglich und hat höchstens den Wert einer „Grenze”. Es ist die Hoffnung, vielfach sogar ein Dogma der Rationalisten, daß es gelingen müsse, eines Tages wirklich bis zu jener letzten Einheit vorzudringen, vorläufig sind wir noch weit davon entfernt. Was man als solche Einheit angesehen hat, „Gott”, die „Substanz”, die „Urmonade” oder etwas Ähnliches, ist in Wahrheit nur eine Art X, mit dem man vielleicht rechnen kann, das uns aber durchaus unbekannt ist.

    Nach der anderen Richtung des Erkennens aber vervielfältigt sich die Welt ins Unendliche. Bei genauerem Nachprüfen sind alle, auch die letzten Singularitäten, die man erschlossen hat, niemals letzte Einheiten. Kein Individuum ist wirklich Individuum, ist letzte Singularität, stets ist es noch spaltbar, wandelbar, unvergleichlich. Es ist auch nicht zu erwarten, daß man jemals nach der Seite des singularisierenden Erkennens zu Identitäten kommt. Die Welt erscheint, je weiter wir in sie eindringen, auch qualitativ unendlich. Auch die kleinsten Wesenheiten, die wir erspähen konnten, sind nicht etwa vollkommen identische Wesen, sondern auch die Infusorien, auch die winzigsten Kristalle sind nicht restlos in rationaler Formel zu fassen, sondern sind singularisierbare Wesenheiten.

    [146] Es ist ein erkenntnispsychologisch ungemein interessanter Versuch des Rationalismus, daß er, um die Einheit des Universums zu retten, die durch die unendliche Singularisierung bedroht scheint, und die er von der rationalen Einheit der Gesamtheit her nicht erklären konnte, die Rationalität im Unendlich-Kleinen gesucht hat, indem er letzte Einheiten: Monaden, Atome, Elektronen, Quanten annahm, die qualitativ gleich sein sollen, und aus deren Kombination die unendliche Mannigfaltigkeit der Welt aufgebaut werden soll. Es ist bewundernswert, wie weit auch in dieser Hinsicht das rationalisierende Denken sich die Welt unterwerfen kann. Und doch ist auch dies Verfahren nur eine praktisch brauchbare Fiktion, der ernste Bedenken entgegenstehen. Es ist kein Grund, anzunehmen, daß die Singularität, die wir in der unserer Beobachtung zugänglichen Welt überall feststellen, in der letzten Tiefe plötzlich verschwindet, Gewiß hindert uns nichts, einen idealen Geist anzunehmen, der in der unendlichen Vielheit immer größere Einheitlichkeit und Gesetzlichkeit entdeckt, wir müssen aber zugleich auch annehmen, daß er in die andere Richtung blickend unendliche Vielheit und Singularität wahrnimmt, die uns verschlossen ist. Ihm würden auch die Infusorien und Atome, an denen wir keine quantitative Verschiedenheit mehr wahrnehmen, demnach sich ins Unendliche weiter singularisieren. Wir stehen hier vor unlöslichen Fragen: sicherlich aber ist die Wahrscheinlichkeit ebenso groß, daß die Singularisierung ins Unendliche fortsetzbar ist, als die andere, daß sie schließlich bei identischen Einheiten ankäme. Soweit unsere Verifizierungsmöglichkeit reicht, müssen wir jedenfalls eine ins Unendliche reichende Singularisierungsmöglichkeit neben einer ebenfalls ins Unendliche reichenden Rationalisierbarkeit annehmen.

    Selbst dann also, wenn wir es als Ziel philosophischen Erkennens ansehen, die Unendlichkeit der Welt als Einheit zu denken und in ein rationales System zu bringen, so müssen wir dabei doch stets im Bewußtsein behalten, daß daneben auch die Vielheit besteht, und daß jedes System nur eine gewaltsame Vereinfachung ist. Auch das rationalste System muß diese irrationalistische Einschränkung in sich aufnehmen. Wie man es als zulässig [147] erklären kann, daß ein Maler dreidimensionale Gegenstände auf eine zweidimensionale Fläche bringt, wobei die stillschweigende Voraussetzung ist, daß wir die dritte Dimension in sein Bild hineinsehen, so gilt eine ähnliche Voraussetzung für jedes philosophische System: es muß vereinheitlichen und vereinfachen, aber es schließt die Forderung in sich, daß man die irrationa-listische Voraussetzung mitdenkt, daß innerhalb der Rationali-sierbarkeit unendliche Singularität besteht.

    10. Rückblick und Ausblick.

    Zwei entgegengesetzte und doch zusammengehörige Erkenntniswege haben wir beschrieben: die auf der Konkretion des Erlebens beruhende singularisierende und die auf der Abstraktion des Erlebens beruhende rationalisierende Erkenntnis. Jene erschloß uns eine unendliche Vielfältigkeit der Welt, diese daneben die Möglichkeit, jene Vielfältigkeit in mannigfachster Weise zu vereinen. Ein Erkennender, ein Philosoph, verdient nur der zu heißen, der in beide Dimensionen der Welt hineinschaut.

    Ist aber damit wirklich die Gesamtheit der Welt erschlossen ? Malen wir uns einmal aus, wie sich einem möglichst rein vorgestellten singularisierend Erkennenden die Welt darstellen müßte: er wäre eingetaucht in einen unendlichen Strom von wechselnden Farben, Tönen, Gerüchen, Tast- und Temperaturempfindungen, die gewiß mannigfache, dauerndere Kombinationen einzugehen schienen und doch, besonders wenn wir in Gedanken das Rad der Zeit rascher kreisen ließen, vorüberrauschen würden wie eine kaleidoskopische Phantasmagorie, innerhalb deren keinerlei fester Zusammenhang zu erkennen wäre. — Einem rein rationalen Geist dagegen müßte die Welt als Summe abstrakter, grauer Gesetzmäßigkeiten erscheinen, als ein gespenstiges Gerüst mathematisch berechenbarer Schemata. Beides entspricht natürlich unserer Wirklichkeit nicht. Und auch wenn man beide Welten, die singularisierte und die rationalisierte zusammennimmt, ist damit unsere Wirklichkeit, am wenigsten in dem von uns gekennzeichneten Sinne der Wirklichkeit erreicht. Denn damit Wirklichkeit werde, ist noch mehr erforderlich als eine [148] Sukzession von Empfindungen und eine formale Möglichkeit der Zusammenordnung. Wer sagt uns denn, daß das alles nicht eine Halluzination ist? Keine der beiden Erkenntnismöglichkeiten führt uns überhaupt heran an die Tatsache des Seins und des Wirkens, des realen Raumes und der realen Zeit, die wir brauchen, damit jene Erkenntnisse uns als „wirklich” sich darstellen. Und noch weniger erklären sie uns jenes merkwürdige Faktum, das wir in uns erfahren, und durch das uns weite Bezirke der Außenwelt erst verständlich werden, indem wir sie dieser Erfahrung gemäß deuten: das Leben. Und wie sollen wir aus Rationalisierung und Singularisierung die Tatsache ableiten, daß es auch ein schöpferisches Erkennen gibt, daß unser Geist die Möglichkeit hat, eine von der vorhandenen abweichende Wirklichkeit zu schaffen?

    Alle diese Fragen zwingen uns, nach weiteren Erkenntnismöglichkeiten zu suchen!

    Berlin-Halensee 1922. Richard Müller-Freienfels.


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    Erstellt am 16.12.2010 - Letzte Änderung am 17.12.2010.