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RICHARD MÜLLER-FREIENFELS

IRRATIONALISMUS

Kapitel 2

Leipzig 1922 / Verlag von Felix Meiner

(Seitenzahlen im Text am Anfang der Seite in eckigen Klammern mit Link zum Inhaltsverzeichnis)


Inhaltsverzeichnis

zum gesamten Inhaltsverzeichnis

Kap. I.
Grundlegende Verständigung über das Wesen des Erkennens.


Kap. II.
Das natürliche Denken und die Sprache als Erkenntnismittel.


[064] 1. Notwendigkeit einer Erforschung des verwissenschaftlichen Denkens und der Sprache
[067] 2. Aufgabe und Möglichkeit einer Denk- und Sprachkritik
[071] 3. Die Sprache als akustisch-motorischer Tatbestand
[073] 4. Das Problem der „reinen” Sprache
[078] 5. Die verschiedenen Funktionen der Sprache
[084] 6. Das Wesen des sprachlichen Denkens
[092] 7. Die vorwissenschaftliche Rationalisierung
Kapitel 2 als Text-File

Kap. III.
Das rationalisierende Denken.


Kap. IV.
Das singularisierende Erkennen.


Kap. V.
Das instinktive Erkennen.


Kap. VI.
Die Einfühlungserkenntnis.


Kap. VII.
Das schöpferische Erkennen (Die Intuition).


Kap. VIII.
Die Selbsterkenntnis.


Kap. IX.
Irrationalistische Philosophie.



zum Anfang des Inhaltsverzeichnisses

Kapitel II.

Natürliches Denken und Sprache als Erkenntnismittel.

[064]

Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen.
Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?
Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat
und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!
Goethe.

1. Notwendigkeit einer Erforschung des vorwissenschaftlichen Denkens.

Als wichtigstes Erkenntnismittel nimmt man in der Regel, besonders von seiten des Rationalismus, das Denken an, freilich nicht das natürliche, d. h. verwissenschaftliche, sondern das logisch bearbeitete, zu rationalen Begriffen geläuterte Denken, neben dem man höchstens den Sinnesempfindungen eine gewisse, meist allerdings geringer eingeschätzte Erkenntnisbedeutung zuspricht. Da also das rationale Denken eine Sonderform einer Geistesbetätigung ist, die auch außerhalb dieser strengen Sonderform mannigfach betätigt wird, so scheint es mir notwendig, zunächst einmal das Denken überhaupt in seiner lebendigen Wirksamkeit zu studieren, ehe wir die rationale Sonderform betrachten: denn bei einiger Unbefangenheit wird auch der Rationalismus zugeben, daß es stets außerhalb der Wissenschaft wertvolle Denkakte gegeben hat, daß daher auch das natürliche Denken nicht ohne weiteres mit unlogischem Denken gleichgesetzt werden darf.

Freilich ist es von unserem Standpunkt aus nicht leicht, gegen die Logisten zu fechten, weil diese sich auf ganz anderer Ebene bewegen als wir. Während wir stets mit dem tatsächlich in Menschenhirnen vor sich gehenden Denken als Erkenntnismittel rechnen, meinen die Logiker nicht dieses reale Denken, sondern, ein „ideales”, ein Denken, wie es sein sollte, ein absolutes [065] Denken. Nun ist gewiß nichts dagegen einzuwenden, daß man eine Theorie dieses Denkens, wie es sein sollte, versucht: es ist jedoch Irreführung, wenn viele Logisten dies ideale Denken als Realität (wenn auch besonderer Art) behandeln, wenn sie tun, als läge es nur an uns, in unseren menschlichen Hirnen dieses ideale Denken zu verwirklichen, ja als wären sie selbst im gesicherten Besitz dieser unfehlbaren Fähigkeit. Wir werden deshalb zunächst das menschliche Denken, also das empirische Erkenntnismittel, zu prüfen haben, ob es überhaupt seiner Natur nach fähig ist, absolute Erkenntnisse zu erbringen, zu bewahren und zu vermitteln.

Dabei wird sich zeigen, daß es weit entfernt ist, den Ansprüchen der Logiker genugzutun, daß es dagegen Vorzüge aufweist, die von jenen nicht geschätzt werden.

Mit dieser Kritik des menschlichen Denkens müssen wir eine Kritik der Sprache verbinden, die ja das beinahe einzige Mittel ist, um das Denken, das natürliche wie das rationalisierte, zu verfestigen und zu überindividueller Bedeutung zu bringen. Auch die Logisten, die mit vornehmer Geste das natürliche (psychologische) Denken beiseite schieben, verwenden für ihr angeblich absolutes Denken dieses Übertragungsmittel unablässig, ja sie lassen vielfach nur das sprachlich, in Urteilen, formulierte Denken als Erkenntnismittel gelten, während wir gerade auch sprachlich nicht oder nur unvollkommen formulierbare Erkenntnismöglichkeiten annehmen.

Es ist ein vernichtender Einwand gegen allen Logismus, daß er es versäumt, die Sprache, deren er sich beständig bedienen muß, auf ihre logische Verwendbarkeit zu prüfen, ja, daß er in völlig unkritischer Weise diese Verwendbarkeit voraussetzt. Das aber tut er, indem er behauptet, es sei möglich, absolute „reine” Wahrheiten in „Sätzen” zu formulieren. Sein Verfahren ist dem eines Chemikers zu vergleichen, der behauptet, chemisch-reines Wasser zu verkaufen und der gedankenlos sein destilliertes Wasser in Gefäße gießt, die nicht selbst in absoluten Reinheitszustand gebracht sind. — Gesetzt selbst, es sei Menschenhirnen möglich, absolute „reine” Erkenntnis zu erfassen, so verlöre sie doch [066] sofort diesen Charakter, sobald sie in die Worte der Sprache verstaut wird. Der Einwand, diese Schwierigkeit träfe auch die Irrationalisten, sobald sie ihre Erkenntnisse in Worte fassen, ist für diese nicht gefährlich. Erstens nämlich ist ein solcher Mangel weit weniger bedenklich, sobald man sich seiner Gefahren bewußt ist und sie nicht verschweigt, zweitens aber behauptet der Irrationalismus ja gar nicht, absolute, reine Wahrheit zu erbringen, sondern er erklärt offen, daß alle menschliche Erkenntnis gefärbt ist durch subjektive Beziehungen, und drittens kann er dartun, daß gerade diese Zusätze die Erkenntnis erst wirklich fruchtbar machen; denn wie chemisch-reines Wasser für den Körper schädlich ist, so wäre absolute, reine Wahrheit für den menschlichen Geist zum mindesten wertlos, wenn er sie sich nicht assimilierte und damit ihre „Reinheit” aufhöbe.

Entweder also muß der Logist sich zu ewigem Schweigen verurteilen und in erhabener Vereinzelung und wortloser Meditation seine Erkenntnisse genießen, oder er muß sich der Sprache bedienen. Für uns, für die Erkenntnis nicht bloß ein individuelles, sondern auch ein soziales Phänomen ist, denen Erkenntnis nicht ein in Raum- und Zeitlosigkeit geltendes Etwas, sondern ein Faktor des Lebens ist, kann die Entscheidung nicht schwer sein. Wir bedienen uns der Sprache, aber wir suchen vorher festzustellen, wieweit wir ihr vertrauen können. Wenn wir dabei ermitteln, daß die Worte und Sätze nicht ehern gehämmerte Bausteine der Erkenntnis, sondern sehr elastische, mannigfach formbare Gebilde sind, so ist das zwar vom rationalistischen Standpunkt aus ein unheilbarer Fehler, für uns jedoch gerade ein Vorzug. Denn die Sprache soll ja nicht bloß dem rationalen Erkennen dienen, sondern auch den mannigfachen irrationalen Erkenntniswegen, die wir neben dem rationalisierenden Denken anerkennen, und die nicht starre, sondern geschmeidige Gebilde fordern.

Um sich der ihm höchst ungelegenen Kritik der Sprache zu entziehen, flüchtet sich der Rationalismus neuerdings gern auf einen Standpunkt, wo er sich erhaben glaubt über die unangenehme Argumentation mit der Vieldeutigkeit der Worte und [067] damit auch der Irrationalität der Begriffe. Mit der alten Scholastik erklärt er die Begriffe und auch ihre Bezeichnung, die Worte, für etwas Absolutes, allem lebendigen Werden Entrücktes. Darin können wir nur einen Rückfall in eine Begriffsmystik sehen, die — gemessen an der neueren Wissenschaft — kaum höher steht als Astrologie oder Alchimie.

2. Aufgabe und Möglichkeit einer Denk- und Sprachkritik.

Freilich scheinen wir uns in logische Unmöglichkeit einzulassen, indem wir die Sprache und das Denken kritisieren wollen und uns dazu der Sprache und des sprachlichen Denkens bedienen. Es scheint, daß wir uns verhalten, wie der selige Baron Münchhausen, der sich am eigenen Zopfe aus dem Sumpfe ziehen wollte. In der Tat hat man gegen alle Erkenntniskritik den Einwand erhoben, sie setze die Brauchbarkeit eben des Erkennens voraus, das sie zu kritisieren vorgebe. Soweit dieser Einwand den einseitigen logischen Rationalismus angeht, können wir es ihm überlassen, sich damit auseinanderzusetzen.

Für uns liegt die Sache wesentlich anders. Wir gehen davon aus, daß es ein Erkennen gibt, das heißt ein psychophysisches Stellungnehmen von Subjekten zu einer Außenwelt, das der Lebenserhaltung und Lebensentfaltung genügt. Dieses Faktum wollen wir nicht kritisieren, das ist die Plattform, von der wir unseren Ausgang nehmen. Der Kantianismus hatte nur das Bestehen der Wissenschaft vorausgesetzt, hatte damit aber den Begriff der Erkenntnis zu sehr verengt, so daß seine Kritik das außerwissenschaftliche, genauer das nicht mathematisch-physikalische Erkennen gar nicht berührt. Unser Problem geht aber weiter, denn wir gedenken, auch die „Wissenschaft”, das Vorausgesetzte des Rationalismus, noch einer Kritik zu unterwerfen. Wenn dieser das rationale Denken nur auf Grund der Rationalität prüfen will, dreht er sich allerdings im Kreise. Unser Problem ist aber gerade, wieweit auf Grund jener nichtrationalen, aber tatsächlich überall, auch in der Wissenschaft geübten Kriterien der Rationalismus seine Ergebnisse als Erkenntnis ausgeben darf. Da wir ja auch außerhalb der Wissenschaft von Erkennen sprechen, [068] so haben wir eine Möglichkeit, die verschiedenen Erkenntniswege und ihre Ergebnisse zu vergleichen und auf Grund des vitalen Erkenntnisprinzips, das allem Erkennen, selbst dem rationalen, wenn auch versteckt, Halt gibt, zu bewerten. Denn eine Erkenntnis, die dem Leben hinderlich, ja entgegengesetzt wäre, kann sich wohl vorübergehend etablieren, würde aber bald vom Strom des Daseins hinweggefegt, sie wäre zum Aussterben verdammt wie andere Auswüchse der vitalen Entwicklung. Dank des vitalen Erkenntnisprinzips fällt der Einwand, jede Erkenntniskritik sei auf einem Zirkel aufgebaut, für uns dahin.

Aber auch die rationale Brauchbarkeit der Sprache (denn nur diese wird hier in Zweifel gezogen) können wir von unserem Standpunkt aus kritisieren. Denn daß die Sprache ein wertvolles Mittel des Lebens ist, ist ebenfalls empirisch gegeben. Diese stillschweigende Voraussetzung macht jeder Mensch, der sich der Sprache bedient. Unser Problem ist erst, ob diese Bedeutung der Sprache darauf beruht, daß sie den Ansprüchen des Logismus genugtut, oder auch, ob sie überhaupt fähig ist, diesen Ansprüchen zu entsprechen. Während jedoch der Logismus beide Fragen bejaht, werden wir nachweisen, daß die Sprache nur mit großen Einschränkungen als adäquates Medium eines rein rationalen Denkens gelten kann, daß sie aber sehr wohl imstande ist, auch irrationale Erkenntnisse zu vermitteln. Um das Ergebnis unserer Kritik vorwegzunehmen, so denken wir nicht daran, die Bedeutung der Sprache und des sprachlichen Denkens für die Erkenntnis zu leugnen, vielmehr sehen wir diese Bedeutung nur in ganz anderen Dingen als die Logisten. Wir werden zugeben müssen, daß die meisten Begriffe der Sprache keineswegs „allgemeingültig” sind, daß die von den Logisten angenommene Kongruenz zwischen Wort und Begriff nur selten und annähernd erreichbar ist, zugleich aber wird sich erweisen, daß die Sprache imstande ist, auch nicht rationale Erkenntnisse zu erfassen und zu vermitteln und sich in Situationen zu bewähren, die jeder rationalen Erfassung spotten.

Daß aber die Sprache in ihrer rein logischen Fassung keineswegs ein vollkommener Behälter der Begriffe ist, läßt sich am [069] besten beweisen an der Geschichte der Philosophie. Hier haben wir es mit Lehren zu tun, die von Leuten aufgestellt sind, denen klare, eindeutige Fassung ihrer Gedanken in erster Linie hätte obliegen müssen, da doch von ihnen die „Gesetze” der Logik formuliert worden sind. Was aber sehen wir, wenn wir unbefangen nachprüfen? Gewiß, fast jeder neu auftretende Philosoph hat sich mit seinen Vorgängern auseinandergesetzt: aber jeder faßt die Worte jedes Vorgängers in anderer Weise auf. Wir denken dabei gar nicht bloß an die frühgriechischen Denker, von deren Hand wir nur kärgliche Fragmente besitzen, aus denen wir Systeme aufbauen, die etwa soviel Wahrscheinlichkeit haben, wie es das Bild eines Säugetiers hätte, das wir aus einem Zehenknochen und einem Eckzahn konstruierten. Aber auch Plato und Aristoteles, von denen wir immerhin beträchtliche Nachlässe besitzen, sind keineswegs eindeutiger Besitz geworden. Fast jeder Philosoph und jeder Philosophiehistoriker hat seine eigene Auffassung von ihnen. Wir sind heute einig, daß die ungeheure Nachwirkung jener Denker im Mittelalter auf weitgehender Mißdeutung ihrer Lehren beruht, aber wer sagt uns, daß wir heute die richtige Auffassung haben? Denn wissen wir, was die richtige Lehre Kants ist? Darüber, daß Fichte, Hegel, Schopenhauer und die meisten Zeitgenossen ihn mißverstanden haben, sind wir zwar beinahe einig. Aber wer lehrt uns nun den kanonischen Kant kennen? F. A. Lange? Liebmann? Cohen? Windelband? Vaihinger? Jeder von ihnen (und die Reihe ließe sich sehr verlängern) wirft den andern mit hörenswerten Gründen falsches Verständnis vor! Ist es nicht, als ob sich Blinde um Farben stritten? Erscheint nicht die ganze Geschichte der Philosophie, unvoreingenommen betrachtet, als Kette beständiger Mißverständnisse? Und alles das nur darum, weil die Sprache die Gedanken eben nicht eindeutig bewahrt und weitergibt!

Nun ist es, wie ich später zu beweisen gedenke, nicht ganz so schlimm. Die Philosophiegeschichte ist ein solches Chaos nur, was die „rationalen” Lehren der Philosophen angeht. Gerade das, was trockenen Köpfen das Sicherste scheint, der Buchstabe, [070] der Wortlaut, gerade das ist das Trügerischste! Dasjenige aber, was weiterlebt, was sich als der wertvollste Besitz der Philosophiegeschichte ergibt, ist das Irrationale der Persönlichkeit der Philosophen! Ihre lebendige Stellungnahme der Welt gegenüber!

Wir sind weit davon entfernt, in der Geschichte der Philosophie nur die Geschichte des menschlichen Irrtums zu sehen. Indem wir aber trotz des Ungenügens der rationalen Faktoren ihr einen Lebens- und Erkenntniswert zusprechen, sind wir zur Annahme einer irrationalen Erkenntnis und dazu einer irrationalen Bedeutung der Sprache gezwungen.

Wir sehen uns als Irrationalisten also am Eingang unserer Untersuchung zu einer Einräumung genötigt, die der radikale Rationalist, wenn er folgerichtig sein will, gar nicht machen darf: daß nämlich auch die schärfst gefaßten Begriffe mißverstanden werden können. Der logische Absolutismus muß überzeugt sein, daß er in seinen Sätzen, in denen er seine Erkenntnisse formuliert, diese restlos eingefangen habe, so daß sie mit unentweichbarer Notwendigkeit sich jedem Hirn aufzwingen müßten. Die Tatsache des Mißverständnisses ist streng genommen von diesem Standpunkt aus nicht zu erklären.

Nach dem, was ich im folgenden darlege, werden wir uns gewiß mindestens ebensosehr um möglichst eindeutige Formulierung unserer Gedanken bemühen, aber wir werden zugeben, daß eindeutiges Verständnis nur möglich ist im Umkreis der Sprachkonvention, ja darüber hinaus nur bei Annahme des gesamten Standpunktes, den wir vertreten, des Zusammenhangs, in dem wir die Worte verwenden. Denn, wie zu zeigen sein wird, man versteht niemals Worte und Sätze durch Erfassung ihrer „idealen Bedeutungen” allein, sondern erst durch Miterfassung des hinter ihnen stehenden Wollens und Wesens des Denkenden, jenes irrationalen Untergrundes, dem alles Denken und Sprechen entquillt, und von dem es nie ganz gelöst werden darf, wenn es nicht leblose Hülse bleiben soll. — Daß trotzdem alle zu verwendenden Begriffe möglichst rational zu gestalten sind, ergibt sich aus dem ganzen Charakter der philosophischen Darstellungsweise,

[071] Die Forderung einer „Kritik der Sprache” ist, nachdem solche Kritik von Vico, Hamann, Nietzsche und anderen praktisch hier und da geübt worden war, am schärfsten von F. Mauthner formuliert worden. Da meine Untersuchung sich im Thema vielfach mit seinen Werken „Beiträge zur Kritik der Sprache” und „Wörterbuch der Philosophie” kreuzt, möchte ich hier meine prinzipielle Stellungnahme dazu kurz kennzeichnen. Mir scheint, daß die Fachphilosophen die reichen Anregungen, die neben schwach gestützten Hypothesen darin zu finden sind, zu sehr vernachlässigt haben. Ich muß den Grundgedanken Mauthners, die Gleichsetzung von Denken und Sprechen, ablehnen. Das hindert mich jedoch nicht, auf beide Werke hinzuweisen.

3. Die Sprache als akustisch-motorischer Tatbestand.

Soweit die Sprache wissenschaftlich überhaupt beachtet wurde, beachtete man sie — wenigstens bis vor kurzer Zeit — nicht als lebendige Sprache, d. h. als akustisch-motorisches Phänomen, nein, man untersuchte in der Regel nur eine Art Leichnam von ihr, ein saft- und kraftloses Präparat, nur soviel davon, als in die Formen der Schrift eingeht. Die Philologie z. B. verdiente bis vor kurzem diesen Namen überhaupt nicht, sie hätte Philographie heißen müssen; denn sie untersuchte nur das geschriebene, nicht das lebendige, gesprochene und gehörte Wort und machte die falsche Voraussetzung, daß die Schrift alles fassen könne, was in der Sprache lebe.

Diese lebendige Sprache ist nun einerseits ein unendlich geschmeidigerer und reicherer Apparat, als die herkömmliche Logik (lucus a non lucendo, Logik a non loquendo!) ahnt, läßt sich aber andererseits keineswegs so gutwillig in deren spanische Stiefel schnüren, wie die Logiker gleichfalls fälschlich annehmen. Die Sprache, von der in Lehrbüchern der Logik die Rede ist, gibt es in Wahrheit gar nicht.

Denn die Sprache ist nicht ein rationales, sondern ein soziales und zugleich ein individuelles Phänomen. Es finden sich nirgends in der Welt zwei Menschen, die völlig gleich sprechen, ja nicht einmal dasselbe Individuum redet stets die gleiche Sprache.

Man beobachte sich selber. Ich spreche mit meinem Jungen eine ganz andere Sprache, als wenn ich einen Vortrag halte, ich spreche im Freundeskreis anders, als wenn ich im [072] Buchladen einen Einkauf mache. Nicht nur die rein akustischen Modulationen wechseln, auch die Wortformen: ich wechsle zwischen leidlich korrektem Hochdeutsch und meinem mittelrheinischen Heimatdialekt, in den sich, ohne daß ich das beabsichtige, in München bayrische Anklänge, in Baden alemannische einmischen. Denn man paßt sich irgendwie stets der Situation an. Man muß selbst den Begriff der Individualsprache noch weiter spalten in Situationssprachen oder sogar Momentansprachen. Denn selbst in der „gleichen” Situation („gleich” im Sinne hohen Ähnlichkeitsgrades genommen) sprechen wir je nach der momentanen Stimmung ganz verschieden, so daß man sagen kann, so wenig es zwei Eichenblätter gibt, die genau gleich sind, so wenig wird irgendwo in der Welt ein Wort oder ein Satz in gleicher Weise ausgesprochen.

Das bleibt jedoch nicht etwas rein Akustisches. Es drückt sich in all diesen unendlich feinen und doch stets vorhandenen Variationen eine Fülle irrationalen Lebens aus: die momentane Stimmung, der Charakter der Persönlichkeit, ihre Zwecke und Absichten. Alle diese leisen Obertöne, die jedes Sprechen begleiten, Klangfarbe und Rhythmus, Tempo und Dynamik, dazu die Sprechmimik in ihren tausend Nuancen, machen den feinsten ästhetischen Reiz des Verkehrs zwischen Menschen aus, indem sich durch sie in wunderbar zarten Schwingungen Persönlichkeit mit Persönlichkeit in Kontakt bringt, feiner als das alles begriffliche Denken vermöchte — es beeinträchtigt aber zu gleicher Zeit auch den rationalen Gehalt der Sprache, hebt, indem es ein persönliches Moment einführt, die abstrakte Allgemeingültigkeit und Objektivität bis zu gewissem Grade auf. Die Sprache ist also mindestens ebensosehr, als sie ein rationales, allgemeingültiges, objektives Gebilde ist, auch irrational, okkasionell, subjektiv-persönlich.

Dabei haben wir noch ganz von jenen fundamentalen Verschiedenheiten abgesehen, die auch grobe Ohren „verschiedene” Sprachen unterscheiden lassen. Aber auch diese sind weitaus verschiedener, als sich solche Logiker träumen lassen, die in so zufälligen Sprachgebräuchen wie den Impersonalien universelle [073] logische Probleme sehen! In Wirklichkeit liegen den verschiedenen Sprachformen auch verschiedene Denkkategorien zugrunde, oder diese sind Abhängige verschiedener Sprachgewohnheiten, was vielleicht ebenso richtig ist. Denn mir scheint, daß sowohl die Logiker, die die Sprachkategorien ganz den Denkkategorien unterordnen, irren, wie auch jene Psychologen, die alles Denken durch das Sprechen bedingt sein lassen: in Wirklichkeit entwickeln sich Denken und Sprechen nebeneinander und miteinander in beständiger Wechselwirkung. Der syntaktische Bau der indogermanischen Sprachen ist fundamental verschieden von dem des Chinesischen oder der Indianersprachen, bei denen selbst die einfachsten Grundkategorien unseres Satzbaus, die Trennung von Substantiv und Verbum, von Subjekt und Prädikat sich nicht vorfinden. Damit aber wird offenbar, daß die Denkkategorien unserer Sprachen in jenen überhaupt keine Anwendung finden können, und doch wird man dem Chinesischen im Ernst seinen Kulturwert nicht absprechen wollen.

Damit freilich greife ich bereits über das Akustisch-motorische hinaus. Hier sei nur festgestellt, daß jede Erkenntnislehre, die die Sprache als Formulierung des Denkens ansieht, nicht an diesen tausendfältigen Nuancen der Sprache vorbeisehen darf, sondern sie gerade deshalb beachten muß, weil sich darin stets auch Nuancen des Gedankens ausdrücken. Es ist ein völlig irriger Glaube, man brauche nur von diesen Nuancen zu abstrahieren, um den „reinen” Gedanken zu packen, so irrig, als könnte man den „Menschen an sich” fassen, indem man statt des ganzen Reichtums seiner physisch-psychischen Organisation sich nur an sein Skelett hält. Ist doch selbst die Basis der wirtschaftlichen Existenz so manches Professors, der solche Dinge in seinen Theorien mit Verachtung straft, nur in der allgemeinen Überzeugung zu suchen, daß das gesprochene lebendige Wort Werte habe, die kein ”Buch besitzt.

4. Das Problem der „reinen” Sprache.

Nun werden jedoch die Logisten darauf hinweisen, daß es neben diesen Sondersprachen und tausendfältigen Variationen [074] doch auch eine „reine” Sprache gäbe, eine von allen jenen individuellen und okkasionellen Besonderheiten geläuterte Verständigungsform, und daß diese, besonders in der wissenschaftlichen Sprache, wohl geeignet sei, Gefäß für ein „reines” Denken zu bilden.

Ich gebe ohne weiteres zu, daß starke Bestrebungen im Gange sind, die Sprache zu rationalisieren, aber eine genaue Analyse der Ergebnisse beweist, daß diese weit hinter den idealen Forderungen der Logisten zurückbleiben, daß die so geläuterte Sprache zwar weitgehend sozialisiert, aber noch lange nicht im absoluten Sinne rational ist.

Es ist zuzugeben, daß die Sprache genetisch ein soziales Gebilde von äußerst labilem Bestande ist, das sich einerseits unablässig besonderen Verhältnissen anpaßt, daneben aber auch in immer höherem Grade sich zu sozialisieren, ja zu rationalisieren strebt. Ich betrachte kurz diese Tendenzen, eine „reine” Sprache zu schaffen, und zwar tue ich das zunächst nur in lautlicher Hinsicht, allerdings um damit eine Vorarbeit zu leisten für das Gedankliche, das dem Laut koordiniert ist.

Die Phänomene der Rationalisierung durchkreuzen die der Individualisierung in eigentümlicher Weise. Gewiß redet A anders als B, wenn er mit seinem Kinde oder wenn er in einer Versammlung spricht, aber trotz aller Verschiedenheiten sprechen A und B und C und die meisten anderen Individuen doch mit ihren Kindern eine Sprache, die sich prinzipiell unterscheidet von der Sprache, die sie als Redner vor einer Versammlung sprechen. So bilden sich teils durch Anpassung an einen Zweck, teils durch Anpassung an andere Menschen Sprachkonventionen heraus, die neben den individuellen Besonderheiten bestehen und Formen von einer gewissen Festigkeit ausprägen. So sprechen die verschiedenen Geschlechter, die verschiedenen Berufe, die verschiedenen Lebensalter je ihre eigene Mundart. Diese Sprachkonventionen unterliegen nicht festen, bewußten Gesetzen, sie bilden sich unbewußt und werden in der Regel auch gar nicht durch bewußte Absicht eines Sprechenden gefördert. Ich möchte diese Mundarten Konventionssprachen nennen im [075] Gegensatz zu den Momentansprachen. Diese Konventionalisierung macht auch bei Landesgrenzen nicht halt. So ist z. B. der Satzbau des Lateinischen von stärkstem Einfluß auf das Deutsche geworden, wie auch das Lateinische wiederum nach griechischen Einflüssen sich gemodelt hat, und das Griechische in grauer Vorzeit unfehlbar Einflüsse von Seiten orientalischer Sprachen empfangen haben dürfte, was noch in zahlreichen Begriffsbildungen zu spüren ist.

Derartige Konventionen nun sind die ersten Schritte auf dem Wege zu einer Rationalisierung der Sprache, wenn sie auch noch weit von dem idealen Ziele, das die Logik vorzeichnet, entfernt bleiben. Denn sie dienen doch meist recht groben praktischen Zwecken und vermögen es keineswegs, die irrationalen, nur persönlichen Elemente der Sprache auszumerzen.

Nun gibt es neben den unbewußt sich ausbildenden Konventionssprachen noch eine bewußte Konvention: die Normsprache (man sagt auch die „reine” Sprache, oder die „Schriftsprache”, über welchen Begriff noch zu reden sein wird). Dieses durchaus künstliche Produkt, das nie ganz, höchstens annähernd erreicht wird, bezweckt möglichst radikale Unterdrückung aller momentanen und individuellen Besonderheiten und setzt die in den Konventionssprachen eingeschlagene Richtung bis zu äußerster Konsequenz fort. Es kommt darauf an, eine Sprache zu sprechen, die — wenigstens innerhalb nationaler Grenzen — womöglich allen Individuen gemeinsam und in allen Situationen und sozialen Konstellationen brauchbar sein soll. Die noch konsequentere Durchführung des Normsprachenprinzips führt zu den Universalsprachen von der Art des Esperanto. Letztere sind bisher unerreichte Ziele, aber auch die nationalen Normsprachen sind es bisher geblieben. Wohl haben starke Mächte sich dieser Tendenz als Bundesgenossen gesellt: die Bühne, die Schule, das Beamtentum und andere soziale Einrichtungen bemühen sich kräftig, jene Tendenz zu fördern. Der Erfolg ist recht unvollkommen: Für ein scharfes Ohr wird in mecklenburgischen Schulen oder Kirchen ein ganz anderes Normdeutsch gesprochen als in schwäbischen, und auch noch weiter getriebene Angleichung [076] wird vollkommene Gleichheit nie erreichen. Auch die Universalsprache früherer Jahrhunderte, das Latein, wird in England anders ausgesprochen als in Deutschland oder Italien, und vermutlich würde das mit jedem Volapük ebenso gehen. Und auch außer nationalen Verschiedenheiten arbeiten andere Einflüsse der konsequenten Normsprache entgegen. Das normale Kanzeldeutsch ist ein anderes als das normale Gerichts- oder Militärdeutsch. Kurz, die „Normsprache” ist ein „Ideal”, das nirgends volle Erfüllung findet, weil überall irrationale Faktoren das Streben nach Rationalisierung durchkreuzen.

Im übrigen verhalten sich die verschiedenen Nationalsprachen verschieden: im Französischen spielt die Normsprache eine bedeutendere Rolle als im Deutschen. Man kann zweifelhaft sein, ob die Franzosen darum normgemäßer sprechen, weil sie an sich weniger individuell veranlagt sind als die Deutschen, oder ob die stärkere Sozialisierung eine Folge der größeren Herrschaft der Normsprache ist: jedenfalls arbeiten sich beide Umstände in die Hände. Sicher aber ist, daß nicht die Akademie die Normsprache geschaffen hat, sondern, daß nur ein Volk, das an sich zur Normierung der Sprache neigte, sich eine Akademie schaffen und sie dulden konnte.

Der durch die Rationalisierung erzielte Gewinn liegt hauptsächlich auf theoretischem Gebiet, da der „logische” Sinn der Worte so am besten herausgearbeitet wird, worauf wir später zurückkommen. In praktischer Hinsicht ergeben sich Aktiva wie Passiva: Aktiva insofern als eine Normsprache den Umfang der Verständigung räumlich erweitert, insofern als sich dank der Normierung auch Ostpreußen mit Tirolern verständigen können, soweit beide die Schule besucht haben; aber auch Passiva ergeben' sich, insofern als ein ganz „reines” Normdeutsch sich den wechselnden Situationen der Praxis nicht anpassen würde; der Redner in großem Saale muß unbetonte Silben in einer Weise akzentuieren, die seine Sprache im Zwiegespräch lächerlich machen würde. Überwiegend passiv jedoch ist die Bilanz der Normsprache in Gefühlssachen. Der Schulmeister, der seine Brautwerbung in korrektem Schriftdeutsch vorbringt, wirkt als komische [077] Figur. Die Normierung der Sprache erweitert ihren Wirkungsbereich, aber sie verflacht auch die Sprache, weil deren irrationaler Untergrund schwindet.

Mit Recht bezeichnet man die „reine Sprache” auch als Schriftsprache. Denn in der Schrift verblaßt in der Tat ein gut Teil der irrationalen Faktoren der Sprache, wodurch sie für das rationale Denken in gewisser Hinsicht gewinnt. Und doch ist die Schrift ärmer als die gesprochene Sprache. Gewiß hat sie auch Vorzüge: sie gestattet längeres Verweilen, wiederholtes Aufnehmen und garantiert größere Sicherheit des Wortlauts. Dem steht jedoch als Einbuße ein Verlust an den sehr wesentlichen irrationalen Werten gegenüber. Zwar fehlen sie nicht ganz. Es ist Tatsache, daß selbst die geschriebenen oder gedruckten Buchstaben dem Leser noch ein gut Teil der emotionalen Färbung vermitteln, die ihr Urheber ihnen geliehen hat. Ja, selbst bis in Übersetzungen in andere Sprachen hinein wirkt diese noch nach. Wir spüren unmittelbar noch heute etwas von dem grandiosen Schwung des Apostels, wenn wir die Verse des Korintherbriefs lesen: „Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete, und hätte der Liebe nicht ...” Wer könnte das im banalen Prosaton aufsagen! Wir spüren auch aus dem Druck die Individualsprache Herders oder Schopenhauers heraus. Aber dennoch! Mag der Gefühlston auch im gedruckten Worte nicht fehlen, verblaßt ist er immer. Und die Tatsache, daß wir heute immer mehr mit geschriebener Rede statt mit gesprochener zu tun haben, leistete jener Rationalisierung des Denkens Vorschub, die ich später zu besprechen habe, und die zum guten Teil darin besteht, daß die Begriffe als rein intellektualistische Wesenheiten genommen und die zahllosen Obertöne unterschlagen werden. Bezeichnend ist übrigens, daß dasjenige Volk, bei dem Umgangs- und Gelehrsamkeitssprache am weitesten auseinandergehen, die Chinesen, ihre Bildungssprache nur schreiben, nicht sprechen können, insofern als chinesische Gelehrte, um sich ganz genau zu verständigen, oft Schriftzeichen heranziehen müssen, da die wissenschaftlichen Begriffe nur im Schriftzeichen, nicht im Lautklang unterscheidbar sind. Auf Jeden [078] Fall aber bedeutet Buchgelehrsamkeit einen Tadel, weil sie eine Abstraktion ist schon durch das Mittel der wesentlich unpersönlichen Schrift.

Wir können also feststellen, daß neben der unendlichen Fülle individueller Sprachen das Bestreben nach einer Rationalisierung der Sprache einhergeht, die in der Tat eine gewisse Einheitlichkeit des Lautes erreicht, freilich auf Kosten großer anderweitiger Verluste. Es wird sich zeigen, daß diese Rationalisierung der Sprache einer Rationalisierung des Denkens ziemlich parallel geht.

Neuerdings hat sich die philologische Wissenschaft bemüht, diesem in der Schrift noch nachwirkenden persönlichen Klang der Sprache nachzugehen. Vgl. z. B. die an die Rutzschen Untersuchungen anknüpfenden Arbeiten von Sievers. Dazu Nohl, Stil und Weltanschauung, 1920.

5. Die verschiedenen Funktionen der Sprache.

Wenden wir uns von der ins Unendliche reichenden lautlichmotorischen Modulierbarkeit der Sprache zu dem „Sinn, der bei dem Worte sein soll”, so finden wir, daß jeder jener Modulationen auch eine Modulation des seelischen Gehalts entspricht, die sich zwar nicht restlos, aber doch mit oft erstaunlicher Feinheit übertragen läßt, wobei gerade der logische Gehalt der Sprache, also das, was die Logiker allein beachten, keineswegs der festeste Kern ist. Im Gegenteil, den Befehlston oder den flehenden Klang eines Satzes versteht man über alle Landesgrenzen hinweg, ja Tiere verstehen ihn, während oft logisch geschulte Fachphilosophen trotz eingehender Definitionen der Begriffe aneinander vorbeireden.

Das aber führt zu einer weiteren, für den rationalen Erkenntniswert der Sprache sehr bedenklichen Tatsache, daß es weder die einzige, noch die ursprünglichste, noch die wesentlichste Funktion der Sprache ist, als Vermittlung von rationalen Gedanken zu dienen.

In Wahrheit nämlich hat die Sprache sehr mannigfache Funktionen. Und zwar unterscheiden wir erstens die emotionale oder Entladungsfunktion, zweitens die praktische oder Willensfunktion und drittens [079] die theoretische oder Erkenntnisfunktion der Sprache. Gewiß verquicken sich diese Funktionen im Leben fast immer untereinander und sind in Praxis nicht reinlich zu sondern. So kann ein Hilferuf zu gleicher Zeit emotionale Entladung der Angst und praktischer Willensausdruck zur Herbeilockung von Hilfe sein, es wird sich auch zeigen, daß in der scheinbar theoretischen Funktion stets eine Willensübertragung steckt. Für unsere Zwecke jedoch erscheint es vorteilhaft, zunächst die drei Funktionen methodisch zu trennen.

Die Funktion der Sprache als emotionale Entladung ist entwicklungsgeschichtlich die erste. Sie findet sich bereits beim Tiere und kleinen Kinde. Ich sage „Entladung”, nicht „Ausdruck”, um den rein subjektiven Charakter dieser Funktion festzuhalten. Im Begriff des „Sichausdrückens” nämlich liegt bereits ein mitteilendes, d. h. praktisches Moment, das begrifflich von rein subjektiver Entladung zu trennen ist, wenn es sich auch auf der Funktion der Entladung aufbaut. Man kann allerdings zweifeln, ob die „Ah!” und „Oh !” der reinen Entladung bereits der Sprache im engeren Sinn angehören; indessen spielt die Entladungsfunktion als Teilmoment auch in der eigentlichen Sprache eine wichtige Rolle. In aller Sprache des Lebens wirkt sie mit und prägt sich aus in Tonstärke, Tonhöhe, Tontempo, Tonrhythmik. Ja selbst Philosophen und andere theoretische Denker lösten erst ziemlich spät ihre theoretische Ausdrucksweise von der emotionalen Sprache. Die frühgriechischen Denker kündeten ihre Lehren fast alle in poetischer Form, und bis in die neuste Zeit geraten Philosophen zuweilen in den gesteigerten Rhythmus der Dichtersprache. Wenn es uns auch nicht angängig erscheint, alle Poesie schlechthin als „Ausdruck” zu definieren, so spielt doch ohne Zweifel bei den meisten Dichtern das Bedürfnis nach Entladung innerer Stimmungen eine wesentliche, wenn auch nicht immer die Hauptrolle.

Aber nicht nur in der eigentlichen Poesie, auch im Leben des Alltags ist vieles, was äußerlich als theoretische Mitteilung erscheint, zum guten Teil nur Entladung emotionaler Zustände. Wenn wir untereinander von unseren Sorgen und Hoffnungen [080] sprechen, tun wir das oft weniger, um andere davon zu unterrichten, als um uns von den Gefühlen zu befreien, diese wohl auch durch Resonanz zu verstärken oder durch Abwälzung zu schwächen.

Als Gefühlsentladung ist die Sprache durchaus irrationaler Natur. Es wird keinerlei allgemeine Erkenntnis dabei angestrebt. Und selbst wenn ein „Verständnis” stattfindet, wenn also A sich von B in seinen Klagen „verstanden” fühlt, so meint er bei diesem Verstehen nicht etwas Rationales, sondern ein ganz irrationales Erraten und Mitfühlen.

Freilich geht, ungeachtet ihres besonderen Wertes, die Entladungsfunktion sehr früh in die praktische Funktion, die der Willensvermittlung, über. Der Warnungsschrei des Leittieres einer Herde, der Lockruf des Vogels sind praktische Sprachanwendungen oder wenigstens Vorstufen dazu. Auch das kleine Kind macht bald die Erfahrung, daß sein Klagelaut helfende Hände herbeiruft, und so gesellt sich der reinen Entladungsfunktion in seinem Klagen rasch der Wille zur praktischen Beeinflussung. Diese praktische Funktion bleibt in der entwickelten Sprache dauernd von höchster Bedeutung. Alle Imperativischen und optativischen Sätze dienen ihr. Aber auch in der indikativischen Sprechweise wie in allen anderen kann die Absicht der Beeinflussung liegen. Das Urteil ist in seinen Anfängen beim Kinde wie in der Stammesentwicklung keineswegs theoretische Feststellung, sondern praktischer Akt: ein Wollen, ein Hinweisen, ein Beeinflussen der fremden Aufmerksamkeit. Wenn ich zu einem ändern sage: „Dort läuft ein Hase!”, so will ich seinen Geist darauf einstellen. Der andere hat mich „verstanden”, wenn er dies Wollen erfaßt. Er würde mich auch verstehen, wenn ich ihn bloß mit der Hand auf den Hasen hinwiese.

Auch dieses Sprechen im Dienste praktischen Wollens ist zunächst wesentlich irrational. Es hat meist nur eine singulare Situation im Auge, ohne jeden Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. Wenn ich zu meinem Jungen sage: „Sei artig!” so „versteht” er mich nicht, wenn er einen Allgemeinbegriff vom „Artigsein” hat, sondern dann, wenn er errät, was just ich just von ihm [081] just in dieser Situation will. Mein Sprechdenken wie sein Sprachverstehen sind in diesem Falle durchaus irrational, selbst wenn es Begriffe verwendet, die nicht bloß in dieser Situation verwendbar sind. Aber es gehört zum Verstehen des Sprechens eben mehr als die Kenntnis der lexikalischen Bedeutung der Worte, an die in der Logik allein gedacht wird, sondern auch das Erraten der irrationalen Beziehungen, die in allem lebendigen Sprechen mitschwingen!

Das Sprechen unterscheidet sich nun insofern von anderen Willenshandlungen, als die in ihm verwendeten Sprachgesten einen Sinn von konventionellem Charakter haben und infolgedessen eine Loslösung von der Singularität gestatten. Ich kann die „Sprechgeste” „Hase” nicht bloß in dieser einen Situation verwenden, sondern in allen möglichen, auch in solchen, wo ein konkreter Hase nicht sichtbar ist, in Sätzen ganz allgemeiner Art, in denen die Person des Sprechenden wie die des Angeredeten gleichgültig sind, wo ein konkretes Wollen nicht bewußt wird. Das hat zu der Annahme geführt, es gäbe auch ein Sprechen und ein Sprechdenken ohne jeden Willenscharakter, ein rein theorethisches Sprechen und Denken.

Demgegenüber muß betont werden, daß von einem „Verstehen” bei allem Sprechen nicht dort die Rede sein kann, wo irgend etwas bei den Worten gedacht wird, auch nicht wo irgendwelche Allgemeinvorstellungen dabei realisiert werden, sondern nur dort, wo der Wille des Sprechenden übergeht. Gewiß kann dieser Wille auch auf eine allgemeine Feststellung gehen, aber er ist doch als Wille vorhanden, und der Satz ist nur „verstanden”, wenn dieser Wille erfaßt ist. Deshalb sind bekanntlich alle aus dem Zusammenhang gerissenen, von der Persönlichkeit des Sprechenden und seinen Absichten völlig gelösten Sätze immer vieldeutig.

Ich erläutere das an einem Beispiel, das in Lehrbüchern der Logik als Mustersatz eines allgemeinen Urteils figuriert: dem Satz: „Alle Menschen sind sterblich.” Ein Beispiel eines allgemeingültigen Urteils? Gewiß, jeder kann sich dabei etwas denken. Aber dieser Satz ist eine Erkenntnis nur, insofern eine [082] im Herbarium getrocknete Blume eine Blume ist. Es fehlt bei der so gewonnenen Erkenntnis nur gerade das Leben, der Duft und die Farbe. Sprechen aber ist ein Akt des Lebens, und man muß die lebendigen Sätze, nicht ihre Mumien verstehen. Nehmen wir jenen Satz, nicht wie er im Lehrbuch der Logik steht, sondern wie ihn lebendige Menschen verwenden. Da bedeutet er sofort etwas jeweils ganz Verschiedenes, je nachdem ihn ein strenger Bußprediger äußert, der das Bild des Todes vor seinen Hörern heraufbeschwören will, oder je nachdem ihn jemand einem anderen, der um einen Verlust klagt, zum Troste sagen möchte. Er hat einen ganz anderen Klang im Munde eines frommen Christen, der an Auferstehung glaubt, als im Mund eines Buddhisten, der von der Seelenwanderung überzeugt ist, oder dem eines Materialisten, für den der Tod ein absoluter Schluß ist. Der Wille, der jeden von diesen Typen zur Sprache treibt, ist jeweils ein ganz anderer, und verstanden haben wir den Satz nur, wenn wir dieses weit über den „logischen Gehalt” der Worte, ihre „Bedeutungen an sich” hinausgehende Wollen in seiner Besonderheit erfaßt haben.

Wir stellen also fest, daß die Sprache von Hause aus kein Mittel „reiner” Erkenntnis ist, daß sie sich vielmehr aus einer, zunächst in Erkenntnishinsicht ganz indifferenten Funktion, der Gefühlsentladung, entwickelt hat. Indem daraus eine Beeinflussung fremden Seelenlebens, also ein geistiges Wirken wurde, nähert sie sich bereits der Erkenntnis. Das geschieht noch mehr, indem die Sprechgesten konventionelle Bedeutung bekommen. Damit erhält die bisher wesentlich emotionale Sprache einen sachlichen Gehalt, der zunächst konkreter Natur ist, sich aber auch dank der Assoziation in abstraktem Sinne verwenden läßt. Man kann von der einzelnen Situation, von der Person des Sprechenden abstrahieren, das heißt, die Sprache rationalisiert sich. Sie bildet Formen aus, die neben der auf die einzelne Situation einstellenden Wirkung auch eine generalisierende haben. Indem sie sich aber von der unmittelbaren Situation löst, indem sie über eine direkte Willensbeeinflussung hinausgeht, scheint sie oberflächlichem Hinsehen über jede Situation und jeden [083] Willensgehalt sich zu erheben, sie scheint einem, „reinen”, einem „theoretischen”, einem „rationalen” Denken zu dienen. Diese Meinung jedoch ist falsch. Es muß darauf hingewiesen werden, daß in allem Sprechen ein Wollen steckt. Selbst in den Schriften der Philosophen, in den Darlegungen der Wissenschaft, in den Predigten der Religionsgründer: nirgends fehlt dieser praktische Charakter. Mag die indikativische Form das zuweilen verhüllen, es steckt doch in allem Belehren nicht nur ein abstraktes Mitteilen, nein auch ein Überreden, ein Überzeugenwollen, kurz ein Wollen. Wenn ein Techniker eine neue Maschine beschreibt, ein Arzt, ein neues Heilverfahren erläutert, ein Politiker, die soziale Frage beleuchtet, so tun sie das, weil sie ihre Gedanken andern mitteilen und deren Handeln beeinflussen wollen, kurz, weil sie etwas wollen.

Wenn wir aus methodischen Gründen von einer theoretischen Funktion der Sprache reden, so tun wir es nur in dem Sinne, wie wir oben neben dem praktischen Erkennen ein theoretisches unterschieden: daß nämlich das direkte Handeln zugunsten eines möglichen, mittelbaren Handelns zurücktritt. Wie die theoretische Erkenntnis eine solche ist, die sich nicht unmittelbar in Handeln umsetzt, sondern nur gleichsam Handlungseinstellungen auf „Vorrat” schafft, Zwischenglieder und Sicherungen aller Art, so ist es eine Funktion der Sprache, auch solchen Erkenntnissen zu dienen. Wenn ein Lehrer die Giftigkeit der Tollkirsche seinen Knaben zur Kenntnis bringt, so braucht er keineswegs ein unmittelbares Wirken damit zu beabsichtigen, sondern hat nur mögliche Fälle im Auge. Wirksam wird solches theoretische Wissen nur, wenn es sich im gegebenen Falle wieder konkretisiert.

Weil jedoch alles Sprechen nicht bloß Gefäß für reinen Gedankengehalt, sondern stets Ausdruck eines Wollens ist, so kann es niemals rein rational sein; denn das Wollen wurzelt immer in der Persönlichkeit des Sprechenden, also etwas Irrationalem, und dieses muß miterraten sein, wenn man den Sinn der Worte verstehen will. Worte sind immer vieldeutig und ihre Brauchbarkeit beruht gerade auf dieser Vieldeutigkeit. Dadurch werden [084] sie erst fähig, sich den zahllosen Situationen des Lebens anzupassen.

Die Sprache ist also, obwohl oder gerade weil sie dem logischen Ideal der absoluten Eindeutigkeit und Allgemeingültigkeit nicht entspricht, ein viel wunderbareres, feineres, geschmeidigeres Instrument, als sich die Logiker träumen lassen. Sie dient den tausendfältigen irrationalen Beziehungen zwischen Menschen untereinander und zwischen Menschen und Außenwelt, sie vermag feinste Gefühlsnuancen auszudrücken und zu vermitteln, sie kann sich, statt ewig starre Allgemeingültigkeiten zu formulieren, den unzähligen, ewig neuen Situationen des Daseins anpassen und kann daneben sogar auch allgemeine Gedanken bis zu einem gewissen Grade formulieren, zwar nicht in absoluter Eindeutigkeit, doch aber in Verständlichkeit. Kurz, mag sie im Sinne der Rationalisten Mängel haben, so ist sie doch zugleich ein Instrument des irrationalen Erkennens und in ihrer sozialen Bedeutung nur dann zu begreifen, wenn man diese irrationale Wirksamkeit einbezieht.

6. Das Wesen des sprachlichen Denkens.

Das irrationale, zwar verallgemeinernde aber keineswegs „allgemeingültige” Wesen des Sprechdenkens wird jedoch noch klarer, wenn wir nicht das praktische Ergebnis, das sich durch seine Bedeutsamkeit fürs Wirken als Erkenntnis ausweist, sondern den Bewußtseinsbefund während des Denkens einer Analyse unterwerfen. Die Frage ist, ob es da Inhalte gibt, die mit absoluter Notwendigkeit mit den Worten verknüpft sind, so daß man von allgemeingültiger Bedeutung bei den Sätzen sprechen kann. Herkömmlicherweise ordnet man als psychisches Korrelat den Worten „Begriffe” zu, die sich in den Urteilssätzen zu einer Synthese zusammenschließen. Bei Erfüllung gewisser formaler Anforderungen an die Begriffe und Urteile wäre nach Ansicht der Logisten deren Allgemeingültigkeit garantiert. Die Frage ist also, ob die „Begriffe”, deren sich das Denken bedient, rein rationalen Charakters sind.

[085] Die gewöhnliche Erklärung des „psychologischen Begriffs”, d. h. des Bewußtseinsbefundes beim begrifflichen Denken, ist die, daß das Wort von einer „Gesamtvorstellung” begleitet sei. Vorstellung aber kann verschiedenes bedeuten: bei älteren philosophischen Autoren ist es ein vager Sammelbegriff für geistige Bewußtseinsinhalte im Gegensatz zu Gefühlen und Willenserlebnissen. Mit solcher Erklärung ist nicht viel anzufangen: die hört dort auf, wo das Problem für uns beginnt. Exakter in ihren Definitionen ist die Assoziationspsychologie: für sie ist Vorstellung = reproduzierter Empfindung, besser = reproduzierter Wahrnehmung. Allerdings handelt es sich nicht um die konkrete Einzelwahrnehmung, sondern um eine abstrakte „Durchschnittsvorstellung”, ein ungefähres Schema. Das würde also bedeuten: ich verstehe das Wort Berlin, wenn mir irgendein, wenn auch noch so verschwommenes Bild davon auftaucht, oder ich verstehe das Wort „Pflanze”, wenn mir eine schematische Durchschnittsvorstellung im Geiste erscheint, die weder Palme noch Fingerhut, weder Farrenkraut noch Stachelbeere ist, sondern ungefähr ein Extrakt aus alledem zusammen.

Diese Erklärung des Begriffserlebnisses aus Vorstellungen hat viele Mängel. Man kann einen Satz verstehen, ohne Vorstellungen zu haben, man kann mit den Worten assoziierte Vorstellungen erleben, ohne den Satz zu verstehen. Nach unserer Anschauung können reproduzierte Wahrnehmungen als Begleiterscheinung beim begrifflichen Denken auftreten, sind aber nie das Wesentliche, sondern im besten Falle Krücken des Denkens. Ich kann, wenn ich die Zahl 378 denke, eine visuelle Vorstellung davon haben; ist diese jedoch das Wesen jener Zahl? Ich kann auch, wenn ich den Gedanken „Berlin” denke, allerlei anschauliche Reproduktionen bilden, etwa das Schloß oder den Potsdamerplatz visualisieren: auf keinen Fall jedoch macht dies den Sinn jenes Gedankens aus, ist vielmehr ziemlich gleichgültige Nebenwirkung. Und gar wenn ich den Gedanken „ens realissimum” bilde, was sollen mir da visuelle oder, sonstige reproduktive Vorstellungen? Auch mit einer verwaschenen „Allgemeinvorstellung” beim Gedanken „Pflanze”, [086] z. B. ist wenig erklärt. Die Deutung des Gedankens als Vorstellung ist in jeder Form unmöglich. Denn es läßt sich nachweisen, daß nur visuelle Vorstellungen überhaupt in Betracht kommen, da es sehr zweifelhaft ist, ob auf andern Sinnesgebieten überhaupt Reproduktionen in größerem Ausmaß möglich sind. Nun sind von abstrakten Gedanken adäquate Vorstellungen visueller Natur nachweislich ausgeschlossen, und selbst wenn stark visuell veranlagte Individuen diese Gedanken so visualisieren, daß das Schriftbild des Wortes vorgestellt wird, so wird doch niemand im Ernst die Kongruenz zwischen Wort und Gedanken dadurch erfüllt sehen. Die Visualisation jeder Art ist vielmehr nichts als eine Illustration, die beim geübten Denken wegfallen kann. Wir lehnen daher die Lehre, das Wesen des Gedankens sei durch „Vorstellungen” erschöpfend zu erklären, a limine ab.

Die neuere Denkpsychologie, die auf experimentellem Wege, d. h. dem der Ausfragung, das Denken untersucht hat, konnte deshalb auch feststellen, daß der Versuch der Assoziationspsychologie, das Denken aus Vorstellungen zu erklären, ein Versuch mit untauglichen Mitteln ist. Man hat sich gezwungen gesehen, seelische Elemente eigener Art, die nicht reproduktiv sind, einzuführen, die man mit geringen Abweichungen „Gedanken”, „Bewußtheiten” oder ähnlich genannt hat. Wir stimmen insofern mit diesen Untersuchungen überein, als wir auch nichtvorstellungshafte Bewußtseinserscheinungen annehmen, über deren Besonderheit wir jedoch erst später sprechen werden. Indessen bleiben auch die „Gedanken” der meisten Denkpsychologen viel zu unbestimmt, als daß sie das Denken zu erklären vermöchten.

So paradox es klingen mag, so muß man doch feststellen, daß das Wesen des Denkens überhaupt nicht im Bewußtsein zu ergründen ist, sondern in physiologischen, vor allem motorischen Stellungnahmen des Ich, die nur unbestimmte Ausstrahlungen ins Bewußtsein senden.

Statt als „Vorstellung” versuche ich den Gedanken als „Einstellung” zu charakterisieren, d. h. eine „Tätigkeitsbereitschaft”. Wir haben den Sinn eines Begriffes erfaßt, [087] wenn wir mit dem Begriffe „arbeiten” können. Worin diese Tätigkeiten, diese Arbeiten, bestehen, ist je nach der Art der Begriffe sehr verschieden. Sie können Vorstellungen sein, d. h. es kann zum Verständnis eines konkreten Begriffes wichtig sein, daß wir auch eine anschauliche Vorstellung davon bilden. So kann es erforderlich sein für den Begriff vom „Löwen”, daß ich eine anschauliche Vorstellung davon habe. Wichtiger in den meisten Fällen ist die Urteilsbereitschaft, d. h. die Fähigkeit, Aussagen über jenen Begriff bilden zu können. Wir müssen also vom Löwen aussagen können, wo und wie er lebt usw. Insofern hat die alte Logik recht, wenn sie den Begriff aus Urteilen aufbauen wollte. Aber auch Urteile allein reichen nicht aus; sie sind zwar auch in unserem Sinne Tätigkeiten, motorische Auswirkungen, aber nicht die einzigen und nicht die wichtigsten, die in Betracht kommen. Wir müssen auch wissen, wie wir uns einem Löwen gegenüber zu verhalten hätten. Ein Kind, das seine Hand in einen Löwenkäfig steckt, hat eben keinen Begriff vom Löwen, weil es seine Handlungen nicht jenem Begriff gemäß einrichtet. — Wir haben einen Begriff von der Zahl 12, wenn wir wissen, daß wir zu ihr durch Addition von 1 zu 11 gelangen, wenn wir wissen, daß wir 12 durch 2, durch 3, durch 4, durch 6, nicht aber durch 7 teilen können und was derartiger Handlungen mehr sind. Es ist offenbar, daß es bei jedem Begriff andere Handlungen sind, deren Kenntnis das Verständnis des Begriffes ausmacht, aber jeder Begriff will auf seine Weise verstanden werden. Der Begriff ist ein Aktionszentrum. Es ist daher auch ein Irrtum zu glauben, daß man durch Urteile allein, also durch Definitionen, eines Begriffes Herr werden könnte. Nur einseitiger Intellektualismus könnte das annehmen. Wir haben keinen wirklichen Begriff vom Geigenspielen oder von der Differentialrechnung, wenn wir nur eine Reihe von Urteilen darüber in Bereitschaft haben. Nein, man muß sich selber im Bogenführen und Fingersatz geübt haben., man muß fähig sein, Differentialgleichungen zu lösen. Schließlich ist das Urteilen nur eine Tätigkeit neben andern und selber nichts rein Intellektualistisches, aus einer abstrakten Lösung und Trennung [088] von Vorstellungen sich Ergebendes. Das erste, was wir also vom Wesen des Begriffs als seelischem Tatbestand sagen können, ist, daß er eine Fähigkeit und Bereitschaft zu Handlungen ist, unter denen das Urteilen nur eine neben vielen ist. Wenn das Bilden von Vorstellungen oder anderen Bewußtseinsinhalten das Wesen des Denkens wäre, so wäre dies ein rein innerindividueller Vorgang; Denken ist aber mehr, es ist eine soziale und vitale Funktion, die der praktischen, auch überindividuellen Lebenserhaltung und -entfaltung dient, und das alles kann es nur, indem es sich in Tätigkeiten umsetzt. Diese Tätigkeiten, zu denen ich allerdings das Urteilen und Visualisieren ebenfalls rechne, sind nicht Folgeerscheinungen, sondern gehören zum Wesen des Begriffs, der sozusagen nur der Schaltknopf ist, der jene auslöst.

Das Wort hat beim Denken also doppelte Bedeutung: eine innerindividuelle, indem das motorisch-akustische Erleben als repräsentativer Kern, komplexerer Einstellungen dient, und eine überindividuell-soziale, indem es die Übertragung an andere und Erweckung ähnlicher Einstellungen bei anderen ermöglicht. Das aber wiederum ist nur möglich dadurch, daß infolge konventioneller Gewöhnungen der motorisch-akustische Lautkomplex zum abstrakten Signal für allerlei Handlungseinstellungen wird, von denen die Beziehung auf die konkrete Wirklichkeit nur eine ist. Denn das ist das Wesen des Begriffs, daß die Einstellung gelöst ist von einzelnen Wahrnehmungen, dafür aber auf viele Wahrnehmungen angewandt werden kann. Wenn ich den Satz: „Achtung, ein Pferd!” verstehe, so brauche ich dabei weder ein bestimmtes Pferd wahrzunehmen, noch nur ein „allgemeines” Pferd vorzustellen, sondern ich stelle nur meine Handlungsbereitschaft auf ein Pferd ein. Und darin beruht das Wesen des Begriffs und des Begreifens. Da nun solche Handlungsbereitschaften nicht bloß singular, sondern allen Pferden gegenüber ziemlich gleich sind, so kommt dem Begriff eine übersingulare, allgemeinere Bedeutung zu, die an dem Sprech- resp. dem Hörakt haftet. Im Gegensatz zu der Erklärung des Begriffes durch Vorstellungen können wir sogar sagen, daß man einen Begriff auch [089] ohne Vorstellungen verstehen muß, bloß durch Handlungsbereitschaften. Nur ungeübtes Denken braucht die Vorstellungen als Krücken. Abcschützen können nur Rechnen an der Rechenmaschine, wenn sie die Zahlbegriffe wahrnehmen; später rechnet man ganz abstrakt, und die Mathematiker „stellen” bei ihren Begriffen in der Regel sich überhaupt nichts mehr „vor”. Sie „arbeiten” nur noch mit abstrakten Begriffen.

Sehen wir also das Wesen des Begriffs in Tätigkeitseinstellungen, die sich von Vorstellungen gelöst haben und nur durch die Sprachakte repräsentiert werden, so bleibt doch immerhin ein Problem, was im Bewußtsein vor sich geht. Denn mag auch die eigentliche Aktivitätseinstellung wesentlich physiologisch-motorisch sein, so ist das „Verständnis” eines Begriffs doch auch ein Bewußtseinserlebnis. Ich möchte dies als ein „Gefühl” ansprechen, ein unbestimmtes Möglichkeitsbewußtsein, die Gewißheit, daß ich die in dem Wort repräsentierten Tätigkeitseinstellungen vollziehen kann.

Natürlich gebrauchen wir diesen Begriff nicht in der künstlich geschaffenen Verengerung auf „Lust-Unlust”, sondern in jenem weiten Sinne, den die Alltagssprache und wenigstens auch eine Reihe von Psychologen dem Worte beilegen. Wie wir von einem Bekanntheitsgefühl, einem Fremdheitsgefühl, einem Gefühl der Evidenz sprechen, so sprechen wir auch von einem Begriffsgefühl und bezeichnen damit eben den Charakter der Einstellung als den eines subjektiven, nicht objektiven Seelenzustandes. Ich verstehe das Wort „zwölf”, wenn ich das Gefühl habe, daß ich die darin liegende Zähltätigkeit sofort vollziehen kann. Ich verstehe das Wort „Pflanze”, wenn ich das Gefühl habe, es in gegebenen Situationen anwenden zu können. Gewiß sind, um den Begriff zu bilden, zunächst Vorstellungen notwendig, ich habe aber einen Begriff von der Pflanze erst, wenn ich ihn auch solchen Wahrnehmungen gegenüber anwenden kann, die ich noch nie in concreto gehabt habe, die jedoch unter jenen Begriff fallen.

Dieses „Gefühl” ist nicht eine vollständige psychische Repräsentation des Begriffes, sondern nur gleichsam eine [090] Widerspiegelung im Bewußtsein von Vorgängen, deren eigentliches Wesen nicht bewußt ist. So sehr meine Auffassung mit dem traditionellen Begriffsintellektualismus im Widerspruch stehen mag, so bleibt es doch dabei, daß das Begriffserlebnis in der Hauptsache nicht-bewußt, sondern motorisch, wenn man will, physiologisch ist. Es ist nicht mehr bewußt als andere Willenshandlungen auch; denn das Denken jeder Art ist eine Willenshandlung, wie ich an anderer Stelle ausführlich dargelegt habe. Und wie bei den Willenshandlungen im gewöhnlichen Sinn der motorische Mechanismus reflektorisch eintritt und nur ein vages Gefühl im Bewußtsein ist, so ist's auch beim Denken. Dabei ist es einerlei, ob dies Motorische wirklich ausgeführt wird. Es genügt die Bereitschaft.

Der Begriff als vorwissenschaftlicher Tatbestand hat also eine doppelte Seite: einerseits ist er infolge der Repräsentation durch das abstrakte Wort loslösbar von singularen Situationen und geeignet zu überindividueller Verständigung, andererseits beruht sein Wert darin, daß er auf singulare Situationen und für vielerlei individuelle Bedürfnisse anwendbar ist. Die Begriffe des natürlichen Denkens haben also eine relative Allgemeinheit, zugleich aber schließen sie auch irrationale Möglichkeiten in sich.

Das natürliche Sprachdenken verläuft also in Tätigkeitseinstellungen, die im Bewußtsein außer dem motorisch-auditorischen Worterleben durch begleitende Gefühle und gelegentliche Vorstellungen repräsentiert erscheinen. Das, worauf es dabei ankommt, sind jedoch nicht die Ausstrahlungen ins Bewußtsein, sondern allein das praktische Ergebnis, das wiederum eine Tätigkeitseinstellung ist, die Bereitschaft zu Urteilen, Visuali-sierungen, praktischem Handeln. Wenn ich einen Satz höre, z. B. den: „der kürzeste Weg von Berlin nach München geht über Probstzella”, so habe ich ihn „verstanden”, wenn ich ihn praktisch verwenden kann, sei es in sprachlicher Mitteilung an andere, sei es für eine eigene Reise. Ob ich mir dabei „Berlin”, den „Weg”, „München” visuell oder irgendwie sonst „vorstelle”, was ich mir alles bei diesen Worten „denke” im Sinne besonderer [091] geistiger Erlebnisse, ist völlig gleichgültig: ausschlaggebend für das Verständnis ist allein die erzielte Tätigkeitsbereitschaft. Und ebenso liegt das Verständnis des Satzes, daß die Summe der Katheten im Dreieck stets größer ist als die Hypotenuse nicht in irgend welchen Vorstellungen oder intellektuellem „Haben”, sondern in der praktischen Folge, daß ich nunmehr nicht, mehr die Messung auszuführen brauche, sondern gegebenenfalls sofort mich praktisch dem Satz gemäß verhalten werde, d. h. z. B. statt im Winkel zu gehen, lieber die direkte Verbindung zwischen zwei Orten wählen werde.

Der Fehler der intellektualistischen Logik ist es, das Verständnis nicht in der praktischen Wirklichkeit der Sätze, sondern in gewissen intellektuellen Kennzeichen zu suchen. Man glaubte, vom Bewußtseinsinhalt her das Verständnis eines Satzes fassen zu können, und lehrte, ein Satz sei dann verstanden, wenn ein Begriff „klar definiert” und allgemeingültig sei, d. h. losgelöst von aller persönlichen Verwurzelung und von aller besonderen Situation gelte. Wie weit dies Ziel, die „Rationalisierung”, erkenntnistheoretisch bedeutsam ist, wird später zu erörtern sein. Hier kommt es mir nur auf den Nachweis an, daß das natürliche Denken des Lebens nicht in definierten, allgemeingültigen Begriffen verläuft, sondern daß die Begriffe, die es verwendet, irrational, okkasionell, persönlich sind, wenn auch dem Begriffe daneben ein abstrakter, allgemeiner Wert zukommt, da er in vielen Situationen zugleich anwendbar ist.

Das natürliche Denken ist also nicht rein rationaler Art, es entsprechen den Worten nicht Begriffe allgemeingültigen Charakters, wenn auch eine überindividuelle und überokkasionelle Verwendbarkeit besteht.

Dafür aber liegen im natürlichen Denken und seiner sprachlichen Fassung Möglichkeiten, um den mannigfachen irrationalen Erkenntniswegen zu dienen, deren Beschreibung das Hauptziel dieses Buches sein wird. Es wurde bereits erwähnt, daß es neben der Generalisierung auch der Singularisierung des Erkennen zu dienen, daß es nicht bloß das Allgemeine, sondern auch das Einzige, Besondere einer Situation zu erfassen vermag. Es [092] wurde ferner darauf hingewiesen, daß es nicht bloß theoretischen Charakters ist, sondern dem praktischen Handeln dient, daß alles Denken motorische Faktoren einbeschließt, wodurch es auch ein Mittel für jenes Erkennen wird, das ich später als das „instinktive” beschreibe. Ferner faßt und vermittelt das Sprachdenken nicht nur das Wissen der Subjekte, sondern auch ihren Willen, ja darüber hinaus etwas von ihrem ganzen Wesen, so daß es auch ein wichtiges Mittel für die einfühlende Erkenntnis wird. Ja, da das Denken nicht etwa rein reproduktiv ist, sondern stets eine selbständige Stellungnahme einschließt, enthält es auch ein schöpferisches Moment, es vermag also auch dem ebenfalls zu erörternden schöpferischen Erkennen zu dienen. Es liegt demnach, auch wenn sie von rationaler Eindeutigkeit weit entfernt ist, kein Grund vor, auf die vorwissenschaftliche Sprache herabzusehen, im Gegenteil, gerade durch ihre irrationalen Möglichkeiten wird sie zu einem wundervollen und oft beinahe wunderbaren Instrument des „Lebens”, dessen Macht es verstehen läßt, daß man Worten vielfach Zauberkraft zugeschrieben hat und an göttlichen Ursprung glaubte.

Daß das Denken nicht in Vorstellungen beruht, wird dargelegt von Bühler, Messer, Watt und andern Vertretern der Würzburger Schule. — Meine eigne hier dargelegte aktivistische Denklehre habe ich entwickelt in meinen Buche Das Denken und die Phantasie (1916). Viel Verwandtes bei J. Schultz „Psychol. d. Axione” 1899, Auch bei Petzoldt: Einführung in die Phil, d. reinen Erfahrung, I, 1898, neuerdings bei Betz „Psychol. d. Denkens” 1918 und zahlreichen andern, besonders englischen und amerikanischen Denkern.

7. Die vorwissenschaftliche Rationalisierung.

Die „Bewußtseinselemente” des Denkens, die Begriffe als die Bedeutungen der Worte, haben sich uns als irrationale Gebilde erwiesen, als Tatbestände, die, einzeln betrachtet, vieldeutig sind; erst in ihrer praktischen Verwendung, im Zusammenhang mit Person und Absichten des Sprechenden, und der Situation, in der sie gebraucht werden, erhalten sie Erkenntnischarakter. [093] Gewiß wohnt ihnen auch eine relative Bestimmtheit inne, aber diese ist nicht eine punktuelle, sondern eine Richtungsbestimmtheit; d. h. die Worte bezeichnen den Sinn nicht, wie man mit einer Stecknadel auf einer Karte einen Punkt bezeichnet, sondern nur wie mehrere sich kreuzende Linien das tun. Ja, auch dieser Vergleich hinkt, denn die Worte sind nicht mathematische Linien, sondern sehr breite, flächenhafte Gebilde, die zwar eine ungefähre Richtung bezeichnen, trotzdem jedoch von Eindeutigkeit weit entfernt sind.

Vielleicht aber wird der Logist an dieser Stelle erklären, niemals wäre von solcher Lehre eine Brücke zur Wissenschaft zu schlagen. Dieser Vorwurf trifft mich nicht, denn ich gedenke auszuführen, daß ungeachtet des irrationalen Charakters des vorwissenschaftlichen Denkens doch darin als Sonderfall auch die Rationalisierung des Denkens einbeschlossen ist, wie man denn in der Tat historisch so zur Wissenschaft gelangt ist, während gerade umgekehrt, wenn man das rationale Denken der Wissenschaft zum Ausgangspunkt nimmt, niemals das Denken des Alltags zu begreifen ist.

Wenn ich darlegte, daß die natürlichen Begriffe nicht klar und deutlich definiert seien, so war damit nicht gesagt, daß sie amorphe Wesenheiten wären, vielmehr sprachen wir stets von einer bestimmten Einstellung, die ihnen innewohne, die jedoch modifizierbar sei. Eine dieser Modifikationen kann nun ganz entschieden die engerer Umgrenzung, größerer Festigung sein. Desgleichen meinten wir, wenn wir die „Allgemeingültigkeit” im absoluten Sinne bestritten, keineswegs, daß das natürliche Denken vollkommen singular und solipsistisch sei; im Gegenteil, es sucht stets dem Einzelfall auf Grund früherer Erfahrungen beizukommen und beansprucht auch fast stets überindividuelle Geltung, nur daß das okkasionelle und persönliche Moment in der Regel überwiegt. Es liegt aber durchaus im Bereich der Möglichkeit, daß eine Verallgemeinerung der Anwendung und das überindividuelle Moment stärker betont werden, und so ist in der Tat der Lauf der Entwicklung. Die Begriffe des primitiven Menschen und des Kindes sind unbestimmt, ihr Denken geht [094] auf Einzelfälle und persönliche Bedürfnisse aus. Im Laufe der Entwicklung nun macht sich, obwohl jene Denkformen bestehen bleiben, daneben das Bestreben nach größerer Bestimmtheit und Verallgemeinerung des Denkens geltend, und dies Faktum verstehe ich unter „Rationalisierung”.

Ich werde später zu zeigen haben, daß in der Wissenschaft die Rationalisierung zu methodischem Verfahren wird, daß man auch konsequenterweise für die rationalisierten Begriffe wissenschaftliche Termini prägt, um den unbestimmten Charakter der Alltagssprache zu vermeiden.

Trotzdem ist dieses Verfahren nur die methodische Fortführung einer vorwissenschaftlichen Rationalisierung, die im Alltag überall wirksam ist. Denn ohne, daß wir uns dessen bewußt werden, passen wir uns in unserem Denken und Sprechen stets überindividuellen Zusammenhängen an, schalten wir persönliche Färbungen aus, streben wir nach abstrakter, von der Situation gelöster Gültigkeit.

Nehmen wir an, ein Protestant hätte in katholischer Gemeinschaft über ein religiöses Thema zu sprechen, so müßte er, um verstanden zu werden, seine Begriffe stark rationalisieren. Er müßte also gewisse, nur protestantische Färbungen der Begriffe zurücktreten lassen, er müßte auch sein ganz persönliches Gotteserleben entweder „einklammern” oder zum mindesten durch ausführliche Begriffserklärungen einem Verständnis vorarbeiten, eine gemeinsame Denkbasis suchen. Das aber geschieht am besten dadurch, daß eine Einigung über einige „wesentliche” Merkmale versucht wird, d. h. eine möglichst objektive und abstrakte Gestaltung des Begriffs. Das alles braucht nicht methodisch zu geschehen, der Sprecher kann aus bloßem „Takt” heraus diese Notwendigkeiten spüren und ihnen nachgeben, immerhin jedoch hat er damit das Verfahren gefunden, das in der Logik methodisch ausgebildet wird, das Verfahren der Definition und Abstraktion. Was auf diese Weise gewonnen wird, ist zwar weit davon entfernt, rein rational zu sein; immerhin jedoch sind die so modifizierten Begriffe stark rationalisiert.

[095] Es liegen also im Wesen des vorwissenschaftlichen Denkens, so irrational es von Hause aus ist, Tendenz und Möglichkeit, sich in mannigfacher Weise zu rationalisieren. Da diese Rationalisierung für viele Zwecke des Lebens wertvoll ist, so kann es nicht verwundern, daß man nach bewußter Vervollkommnung dieser Methode gerungen hat und, die Wissenschaft ist das eigentliche Feld dieser Rationalisierung. Diese wird daher in ihrer methodischen Handhabung der Gegenstand eines besonderen Kapitels sein.

Es sei jedoch hervorgehoben, daß die Rationalisierung des Sprachdenkens nur ein Ideal ist, daß sie in vieler Hinsicht auch Verarmung und Vereisung der Sprache wie des Geistes darstellt. Wie kalt, wie unpersönlich würde ein Leben sein, in dem nur rationalisierte Begriffe gebraucht würden! Es wäre eine Welt ohne Humor, ohne Witz, ohne Esprit, eine Welt, in der sich die menschlichen Beziehungen wie mathematische Gleichungen darstellen würden, ohne die Tragik des Mißverstehens, aber auch ohne das Edle dieser Tragik. Es wäre aber auch zugleich eine Welt des Stillstands, nicht der Bewegung, der Entwicklung, des Lebens. Denn das Rationale bedeutet Gleichgewicht und Statik, alle Bewegung aber wurzelt im Irrationalen: im Wollen und Schaffen, und so ist oft gerade der „Irrtum” in der Geschichte des menschlichen Geistes das treibende Moment gewesen. Niemals sind, wie Hegel wollte, die Begriffe in sich schöpferisch, sondern das hinter ihnen steckende Wollen, also das Irrationale des Lebens, und eine Erkenntnislehre, die nicht tote Präparate aufspeichern, sondern die menschlichen Gedanken in ihrer bunten, schillernden Beweglichkeit studieren will, wird bemüht sein müssen, auch innerhalb der Rationalisierung noch dies irrationale Leben zu erhalten.

Berlin-Halensee 1922. Richard Müller-Freienfels.


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Erstellt am 12.12.2010 - Letzte Änderung am 17.12.2010.