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RICHARD MÜLLER-FREIENFELS

IRRATIONALISMUS

Kapitel 3

Leipzig 1922 / Verlag von Felix Meiner

(Seitenzahlen im Text am Anfang der Seite in eckigen Klammern mit Link zum Inhaltsverzeichnis)


Inhaltsverzeichnis

zum gesamten Inhaltsverzeichnis

Kap. I.
Grundlegende Verständigung über das Wesen des Erkennens.


Kap. II.
Das natürliche Denken und die Sprache als Erkenntnismittel.


Kap. III.
Das rationalisierende Denken.


[096] 1. Wissenschaft und Rationalismus
[098] 2. Die beiden Arten der Rationalisierung
[099] 3. Die Rationalisierung „von unten” (Die Abstraktion)
[104] 4. Die Rationalisierung „von oben” (Die mathematischen Begriffe)
[106] 5. Der formale Charakter der Rationalität
[109] 6. Die Grenzen der Rationalisierung
[112] 7. Rationalität und Irrationalität
[113] 8. Das Typen- und Regeldenken als wissenschaftliche Methode
[117] 9. Die notwendige Korrektur aller Rationalisierung
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Kap. IV.
Das singularisierende Erkennen.


Kap. V.
Das instinktive Erkennen.


Kap. VI.
Die Einfühlungserkenntnis.


Kap. VII.
Das schöpferische Erkennen (Die Intuition).


Kap. VIII.
Die Selbsterkenntnis.


Kap. IX.
Irrationalistische Philosophie.



zum Anfang des Inhaltsverzeichnisses

Kapitel III.

Das rationalisierende Erkennen.

[096]

„Eine Idee über Gegenstände der Erfahrung
ist gleichsam ein Organ, dessen ich mich bediene,
um diese zu fassen, um sie mir eigen zu machen.
Die Idee kann mir bequem sein, ich kann ändern zeigen,
daß sie es ihnen auch sein werde:
aber es läßt sich nach meiner Vorstellungsart
nur sehr schwer oder gar nicht beweisen,
daß sie wirklich mit den Objekten übereinkommen
und mit ihnen zusammentreffen müsse.”
Goethe.



1. Wissenschaft und Rationalismus.

Wenn ich dem wissenschaftlichen Denken, das vom Rationalismus in der Regel ausschließlich für seine Erkenntnislehre in Anspruch genommen wird, hier eine kurze Betrachtung widme, so wird man billig keine ausführliche Wissenschaftslehre erwarten. In gewissem Sinne ist das wissenschaftliche Denken, soweit es streng rational ist, für das Thema meines Buches nur Folie. Und nur als notwendige Ergänzung, als Gegensatz zum irrationalen Erkennen, wird es hier behandelt.

Vielleicht wird mein Gegner, der Rationalist, wenn auch widerstrebend, zugeben, daß die Sprache des Alltags, auch das Denken des Alltags, das sich jener Sprache bediene, nur wenig rationalisiert seien. Er wird aber hinzufügen, damit habe die Logik nichts zu tun: für sie käme nur die Sprache der Wissenschaft und das wissenschaftliche Denken in Frage, und diese unterschieden sich von der Sprache und dem Denken des Lebens grundsätzlich dadurch, daß sie rational seien, daß hier vollkommene Allgemeingültigkeit herrsche.

Demgegenüber gebe ich zu, daß in der Tat die Rationalisierung der Begriffe in der Wissenschaft bedeutend weiter getrieben ist. Ich wende nur gegen den einseitigen Rationalismus ein: erstens, daß der Unterschied des wissenschaftlichen Denkens [097] vom Alltagsdenken nicht so radikal ist, wie jener annimmt daß vielmehr auch im wissenschaftlichen Denken und seinen Formulierungen stets irrationale Elemente enthalten sind. Zweitens kann das konsequent rationale Denken nicht die gesamte Wirklichkeit fassen, im Gegenteil, es faßt nur eine Seite derselben, und zwar auch unter praktischen Gesichtspunkten. Und deshalb, ist drittens die Wissenschaft, wenigstens soweit sie einseitig rationalisiert ist, allein nicht ausreichend, eine „Weltanschauung” zu begründen.

Es wird vielfach von rationalistischen Philosophen mit der Wissenschaft eine Art Götzendienst getrieben; sie wird hingestellt als Inbegriff unerschütterlicher Wahrheiten, an denen kein Mensch mehr rütteln könne, während sie in Wirklichkeit doch durchsetzt ist mit einer Unzahl von Postulaten, Fiktionen und mehr oder weniger unbewiesenen Hypothesen. Man zweifelt oft, ob jene Denker überhaupt unbefangen in den tatsächlichen Wissenschaftsbetrieb hineingeschaut haben, dessen Stolz gerade im unablässigen Fortschritt, der auch die Fundamente immer wieder umgestaltet, besteht, nicht im behaglichen Ausruhen auf fertigen Wahrheiten. Sieht man genauer zu, so sind die wissenschaftlichen. Begriffe in beständigem Flusse, sie erweitern und vertiefen sich unablässig. Wir können nur sagen, die Wissenschaft rationalisiert sich, aber sie ist nicht vollkommen rational. In der Wissenschaft ist Rationalität ein Ziel, nicht erreichtes Ergebnis. Wenn der Logismus so tut, als wäre die Wissenschaft bereits rational, so verfälscht er den Tatbestand.

Wir geben natürlich zu, daß das Streben der Wissenschaft nach Rationalität ein sehr berechtigtes Ideal ist. Gelänge es, die Welt solch rationalem Begriffssystem zu unterwerfen, so würde sich innerhalb der bunten Mannigfaltigkeit unseres Erlebens ein einheitliches Sein erschauen lassen, in dem alles gesetzlich, geordnet wäre, in dem sich aus jeder Gegenwart alle Zukunft, aus jedem Teil das Ganze errechnen ließe. Für einen vollkommenen, rationalen Geist müßte die ganze Welt sich als einheitlicher, gesetzlicher Zusammenhang darstellen, der in mathematischer Formel ausdrückbar wäre. [098] Soweit das Ideal! Es bedeutete nicht nur ein theoretisches Beschauen einer wunderbar geordneten Welt, es bedeutete zugleich die Beherrschung dieser Welt, indem man ihren Mechanismus klar überblickte. Kein Wunder, daß man heißestes Bemühen an dies Ziel gesetzt hat! Und die Hoffnung, es zu erreichen, gründet sich dabei auf die Tatsache, daß in der Tat weite Gebiete der Welt sich dieser Begriffsbildung fügen, so daß man kühn erwartet, auch für den Rest würde ähnliches möglich sein.

Vor allem verweist man zur Stützung dieser Aussicht auf die Mathematik. Indessen ist diese zugegebenerweise eine Idealwissenschaft, d. h. nicht selbst Wirklichkeitserkenntnis im gewöhnlichen Sinne, sondern ein Mittel dazu. Aber die mathematischen Naturwissenschaften sind der Beweis, daß sich das rationale mathematische Denken auch die Wirklichkeitswelt im gewöhnlichen Sinne unterwerfen kann? Gewiß, und wir prüfen gleich nach, wieweit das möglich ist. Vorweggenommen jedoch sei, daß sich nur ein Teil der Welt mathematischen oder überhaupt rationalen Begriffen fügt, daß dagegen alles „Kontingente”, d. h. alles Individuelle, Freie, Schöpferische sich ihnen entzieht.

Die Wissenschaft wird also, soweit sie die ganze Wirklichkeit als Gegenstand nimmt, entweder auf Erfassung aller dieser Dinge verzichten müssen, oder sie wird irrationale Denkmittel zu verwenden haben, darf dann aber nicht mehr von einem reinen Rationalismus für sich in Anspruch genommen werden. Darauf legt die Wissenschaft auch keinen Wert; denn, wie zu zeigen sein wird, sie arbeitet in ihren meisten Zweigen kühn auch mit irrationalen Erkenntnisformen.

2. Die beiden Arten der Rationalisierung

Wir werden also in der Wissenschaftslehre nicht von einer angeblichen Rationalität ausgehen dürfen, sondern müssen die Rationalisierung als Erkenntnisprozeß untersuchen. Und zwar müssen wir in der Wissenschaft zwei Arten der Rationalisierung unterscheiden, die ich als Rationalisierung „von unten” [099] und Rationalisierung „von oben” bezeichnen werde. Jene geht von den empirischen Begriffen, die im Alltagsdenken vorgebildet sind, aus und sucht sie durch Abstraktion zur Rationalität zu läutern. Dies Verfahren herrscht in den beschreibenden Naturwissenschaften und in den Geisteswissenschaften. Es besteht darin, daß man durch scharfe Definition die im Alltagsdenken vorgebildeten Begriffe zu möglichster subjektiver und objektiver Allgemeingültigkeit zu bringen sucht.

Die Rationalisierung „von oben” dagegen besteht darin, daß man von „idealen” Begriffen, die man möglichst rational gestaltet, ausgeht und diese in die Wirklichkeit einzuführen strebt. Solche idealen Begriffe, die man als rational ansehen kann, bietet vor allem die Mathematik; indem man die mathematischen Begriffe der Wirklichkeit überordnet, hofft man, diese ganz zu rationalisieren. Das ist das Verfahren der Physik, auch der Chemie, und auch auf anderen Gebieten hat man es durchzuführen versucht.

Ich lasse dabei zunächst die Frage, ob die Rationalisierung „von oben” von der „von unten” grundsätzlich verschieden ist, außer Spiel. Vielfach hat man versucht, auch die mathematischen Begriffe auf „Abstraktion” zurückzuführen, was jedoch auch nach unserer Meinung nicht geht. Gewiß ist für das mathematische Denken eine weitgehende Abstraktion Voraussetzung, aber niemals ist es allein damit zu erklären, es kommt vielmehr noch eine spezifische Aktivität hinzu, auf die ich bei Gelegenheit des schöpferischen Denkens zurückkomme.

An dieser Stelle ist die Genesis der mathematischen Rationalisierung unwesentlich: vorläufig untersuchen wir, indem wir die mathematischen Begriffe zunächst als rein rationale Gebilde gelten lassen, nur ihre Rolle in der Wissenschaft und den Bereich ihrer Anwendbarkeit.

3. Die Rationalisierung „von unten”.

Zunächst die Rationalisierung „von unten”!

Wir fanden, daß die Begriffe des Alltagsdenkens zwar überindividuell, aber nicht gültig für alle Intelligenzen, sondern nur für bestimmte Menschengruppen sind, ferner, daß sie zwar eine [100] ungefähre Richtung, aber keine ganz eindeutige Bestimmtheit haben, und daß ihr Erkenntniswert stets mit der Situation, in der sie gebraucht werden, zusammenhängt, wenn sie auch in verschiedenen Situationen brauchbar sind.

Die wissenschaftliche Rationalisierung muß also in dreifacher Hinsicht die unvollkommene vorwissenschaftliche Rationalisierung ausbauen: sie muß nach Gültigkeit für alle Intelligenzen, nach Eindeutigkeit in objektiver Hinsicht und nach einer Verwendbarkeit der Begriffe streben, die diese von der Einzelsituation loslöst. Diese drei Bestrebungen hängen natürlich innerlich so zusammen, daß sie nur in wechselseitiger Ergänzung wirksam werden.

Man kennt das Verfahren der Rationalisierung aus der formalen Logik. Diese lehrt die „Umgrenzung” der Begriffe, die „Definition”. Sie besteht darin, daß man die Begriffe nach dem Umfang, d. h. nach der Gesamtheit der darin eingehenden Gegenstände, und nach dem Inhalt, d. h. der Gesamtheit der darin eingehenden Merkmale genau bestimmt. Man nimmt also an, es sei möglich, Gedankengebilde zu schaffen, die einerseits irgendwie alle in ihren Bereich gehörigen Einzelgegenstände in sich beschlössen, und andererseits Korrelationen von Merkmalen darstellten, die das Wesentliche aller dieser Einzelgegenstände repräsentierten, alles unwesentliche ausschieden, so daß man durch diese Ausscheidung, die Abstraktion, zur Rationalität gelangen könne.

Unsere erste Frage ist nun die, ob die so erzielten Begriffe als geistige Gebilde wirklich imstande sind, den gesamten Umfang und Inhalt zu umspannen.

Daß in psychologischer Hinsicht, d. h. nach dem Bewußtseinsbefund, weder für Umfang noch Inhalt überindividuelle Übereinstimmung zwischen Bewußtseinsinhalt und dem intentionalen Objekt erzielt werden kann, ist nach früheren Darlegungen gewiß. Niemand kann im Begriffe „Tier” sämtliche Klassen, Gattungen, Arten, die es gibt, vorstellen oder sonstwie mitdenken. Niemand aber kann auch den ganzen Inhalt, sämtliche Merkmale, im Bewußtsein haben. Die Schullogik sieht das denn [101] auch ein, indem sie in die Definition nur wesentliche Merkmale aufzunehmen strebt. Sie macht dabei nur den Fehler, ganz zu übersehen, daß es ein sicheres Kriterium zwischen wesentlich und unwesentlich überhaupt nicht gibt, daß in der einen Verwendung des Begriffs etwas wesentlich sein kann, was in anderer zufällig ist. Will ich das Tier gegen die Pflanzen abgrenzen, so sind ganz andere Eigenschaften wesentlich, als wenn ich das Tier vom Menschen unterscheiden will. Und alles, was man als wesentlich für den Begriff des Tieres angesehen hat: Empfindung, Bewegungsfreiheit usw. ist kein ausreichendes Merkmal; denn viele Schmarotzertiere haben sie sicher nicht, wahrend sie manchen Pflanzen zukommen; ja die neuere Biologie nimmt Lebewesen an, die man weder dem einen, noch dem andern Begriff vorbehaltlos zuordnen kann. Das aber beweist, daß auch die besten Definitionen nicht absolut rationale Wesenheiten erschließen, sondern nur praktische Einigungen über die Verwendung der Werte ermöglichen. In Wahrheit wird bei solchen Definitionen nicht der „Begriff” definiert, sondern nur die Verwendung des Wortes. Darin hat der Nominalismus sicherlich recht, auch wenn man die Begriffe nicht als „flatus vocis” ansieht (was nach unseren früheren Darlegungen unmöglich ist), sondern als mehr, nämlich im Worte nur bezeichnete Wirkungseinheiten, und auch wenn man damit bestimmbare relative Allgemeinheiten in der Wirklichkeit zugibt. Das „Tier” oder die „Pflanze” sind gewiß nicht bloß Summen von Individuen, die durch das Wort zusammengefaßt werden, wir meinen damit einen überindividuellen Tatbestand in der Wirklichkeit, ohne freilich darin zeitlose „Ideen” zu sehen oder auch nur anzunehmen, daß sich in der Wirklichkeit so scharfe Grenzen ziehen ließen, wie sie die rationale Logik voraussetzt.

Damit kommen wir zur „Objektivität” der Begriffe. Denn der Logiker wird erwidern, es käme nicht auf die Verwendung der Worte oder den Bewußtseinsinhalt an, sondern auf eine Sachdefinition, d. h. nicht den psychologischen Begriff, sondern dessen abstrakte Bedeutung. Das, was mit dem Begriff „gemeint” sei, wäre zu definieren. Die Frage ist nun, ob es [102] möglich sei, unabhängig von psychologischen Begriffen und der wechselnden Wortverwendung logische Begriffe zu definieren.

Der Standpunkt, mit dem wir hier zusammenstoßen, ist der des Begriffsrealismus im scholastischen Sinne, der neuerdings besonders in der Husserlschen Schule aufgelebt ist und der den meisten rationalistischen Systemen unausgesprochen zugrunde liegt. Danach gibt es, unabhängig von den zufälligen psychologischen Denkakten, die Begriffe als ideale Wesenheiten, ewig und unveränderlich. Und rationale Begriffe im Denken bilden, heißt, jene idealen Wesenheiten erfassen.

Gibt uns nun das Studium der Wirklichkeit eine Berechtigung zur Annahme solcher Wesenheiten? Ich sehe zunächst von den mathematischen Begriffen ab, für die die Sachlage besonders liegt. Das Altertum hatte vor allem die Gattungen der organischen Natur im Auge, die solche „Ideen” öder „idealen Wesenheiten” innerhalb der Mannigfaltigkeit des Wirklichen darstellen sollten. Das aber ist durch die moderne Entwicklungslehre widerlegt, die unabweislich zeigt, daß auch Gattungen entstehen und vergehen, sich wandeln und in andere Gattungen übergehen, dergestalt, daß man keine einzige von ihnen als „zeitlos” ansehen darf. Nicht einmal die Allgemeinbegriffe „Tier” oder „Pflanze” sind zeitlose „Ideen”.

Dazu führt ein konsequenter Platonismus zu Folgerungen, die schlechthin lächerlich wirken. Da jede Gattung sich nicht bloß in Individuen, sondern wieder in Gattungen spaltet, so ist nach unten überhaupt keine Grenze zu ziehen; man müßte solche Absurditäten annehmen, wie daß es eine zeitlose Idee des Hosenknopfes, des Streichholzes oder des Tingeltangels gäbe. Da, wie ich später zeige, alle empirischen Gattungen, und folglich auch ihre „Idee”, als individuell angesehen werden können, so fällt damit der Anspruch auf absolute Rationalität zusammen.

Jene Absurditäten vermeidet der Kantianismus, indem er nicht Gattungsallgemeinheiten, sondern nur kategoriale Allgemeinheiten als rationale Wesenheiten setzt, also jene letzten Abstraktionen wie Ding, Einheit, Ursächlichkeit usw., jene „Formen”, die nicht apriorische Voraussetzungen bestimmter [103] Erkenntnisakte, sondern aller Erkenntnis überhaupt seien. Wir können dem bis zu gewissem Grade beistimmen, betonen aber, daß jene ganz allgemeinen Setzungen nicht selbst Erkenntnis, sondern Voraussetzungen der Erkenntnis sind, daß sie erst da Erkenntnis werden, wo man sie auf die Wirklichkeit anwendet, und darin haben wir auch Kant auf unserer Seite. Wir geben zu, daß sie nicht erst durch Abstraktion gewonnen werden (obwohl man auch durch Abstraktion zu ihnen gelangen kann), daß sie vielmehr a priori sind, wobei wir diesen Begriff nicht im rationallogischen, sondern im genetischen Sinne nehmen, der später genauer zu erörtern sein wird. Indem wir aber die Apriorität der Kategorien annehmen, handelt es sich dabei nicht mehr um Rationalisierung „von unten”, sondern um Rationalisierung „von oben”.

Über die Rationalisierung „von unten”, d. h. die Abstraktion und Definition, haben wir nur festzustellen, daß sie gewiß ein sehr wertvolles Mittel ist, um die Mannigfaltigkeit der Welt zu ordnen und für praktische Zwecke zu vereinheitlichen, daß man jedoch nirgends zu absoluter Rationalität dabei vordringt, daß keinerlei zeitlose Ideen auf diesem Wege gefunden werden, sondern, daß die Gattungen ebenso dem Wandel unterliegen wie die Individuen, ja, daß das, was dem rationalisierenden Denken als Gattung erscheint, unter anderer Einstellung, der später zu besprechenden singularisierenden, auch als „Individuum” angesehen werden kann. Die Rationalisierung „von unten” führt also nicht zu absoluter, sondern nur relativer Allgemeingültigkeit, die auch von uns nicht bestritten wird, die jedoch nichts mit dem Ideal des Rationalismus zu tun hat. Wollte man die Allgemeinbegriffe der Zoologen, Botaniker und anderer Wissenschaftler als starre, absolute Wesenheiten dekretieren, würde man gerade ihren wissenschaftlichen Wert vernichten.

Es scheint uns also, daß die von uns gekennzeichnete relative Rationalisierung weit mehr dem tatsächlichen Wissenschaftsbetriebe entspricht als die absolute im Sinne der logischen Apriorität, die die vielgestaltige Welt in einen starren Schematismus hineinpressen würde. [104]

4. Die Rationalisierung „von oben”.

Aber die Rationalisierung „von oben”!

Sie besteht darin, daß gewisse Gedankengebilde, die nicht durch Abstraktion aus der Erfahrungswelt gewonnen sind, die als a priori im Sinne absoluter Rationalität gelten, auf die Erfahrungswelt angewandt werden, und daß dadurch Erkenntniswert erzielt wird.

Als typischste Fälle dieser Rationalisierung gelten seit alters die mathematischen Begriffe, vor allem die Zahlen. Nach der herkömmlichen Anschauung haben wir es in diesen mit rein rationalen Gebilden zu tun, die schlechthin allgemeingültig sein sollen. Ich schiebe hier die Untersuchung, ob dem wirklich so ist, zurück; ich will — mit Vorbehalt — einmal annehmen, die Begriffe der Mathematik seien wirklich a priori, und werde nur nachprüfen, wieweit ihnen Erkenntniswert im Sinne der Wirklichkeitserkenntnis zukommt.

Nun wird gerade von den Rationalisten immer wieder betont, die Mathematik sei eine Idealwissenschaft, also den Realwissenschaften prinzipiell entgegengesetzt. Als solche könnten wir sie nach unserer, später zu erläuternden Anschauung als „schöpferische Erkenntnis” ansprechen. Immerhin besteht jedoch auch der Anspruch, daß Mathematik auch Wirklichkeitserkenntnis zu liefern vermöge, was damit begründet wird, daß ja die Wirklichkeit sich mathematisch berechnen lasse (was wir z. T. zugeben).

Daraus nun zieht der Rationalismus den Schluß, daß die Wirklichkeit selbst rational sei, weil sie einginge in diese Mathematisierung. Hier aber muß unsere Kritik einsetzen.

Nun liegt uns nichts ferner, als die Tatsache zu bestreiten, daß sich die Welt tatsächlich in erstaunlichem Grade mathematischen Methoden hat unterwerfen lassen. Der glänzendste Beweis dafür ist die Mechanik und überhaupt die Physik, in der die an sich irrationalen „sekundären Qualitäten” durch mathematisch-berechenbare Bewegungsbegriffe weitgehend ersetzt werden, in der die Qualitäten durch rational faßbare Quantitäten ausgedrückt werden, in Formeln, die der Subjektivität ganz [105] entrückt scheinen, und die die subjektiv schillernde Welt des sinnhaften Erlebens in die Eisenfesseln absolut notwendiger Gesetzlichkeit einspannen.

Die glänzenden Erfolge der in der Mechanik geübten Rationalisierung haben nun dazu geführt, die Prinzipien der Mechanik auf die gesamte Welt auszudehnen, d. h. die ganze Welt mechanistisch erklären zu wollen. Alle Verschiedenheit und alles „Werden” soll zurückführbar sein auf Bewegungen eines unveränderlichen Substrats im Raume. Diese Bewegungen aber sollen von mathematischen Gesetzen beherrscht sein, die ein einheitliches System bilden. Nicht nur alles Geschehen der anorganischen Welt, auch alles pflanzliche, tierische, menschliche Leben denkt man nach Gesetzen ablaufend, die denen der Mechanik prinzipiell gleich sind, so daß für einen absoluten Geist das lieben eines Menschen (auch die Ganglienzellenprozesse im Hirn Goethes in jener erlesenen Stunde, da er den Faust konzipierte), ebenso berechenbar sein müßten, wie für uns die Vorgänge, die in einer Retorte Salpetersäure entstehen lassen. Die ganze Welt und in ihr die sublimsten Lebensvorgänge wären maschinell zu denken wie der Ablauf einer Taschenuhr, eindeutig und allgemeingültig berechenbar. Das ist etwa der Sinn der mechanistischen Weltanschauung, die dem Ideal des rationalen Denkens weitgehend entspricht.

Nun ist auch vom philosophischen Standpunkte aus gewiß nichts gegen den Mechanismus als Arbeitshypothese einzuwenden. Es ist methodisch ohne Zweifel überaus wertvoll, den Versuch zu machen, auch solche Teile der Welt, die sich bisher jenen Prinzipien nicht einreihen ließen, ebenfalls diesen Prinzipien unterzuordnen. Man muß dagegen nur geltend machen, daß die mechanistische Theorie erstens rein formalen Charakter hat, daß dem Begriffe des Seins damit nicht beizukommen ist, ferner aber, daß wenigstens vorläufig weite Gebiete der Welt nicht den mathematischen Begriffen zu unterwerfen sind, daß der „Laplace des Grashalms” vermutlich noch lange auf sich warten läßt, was von manchen Mechanisten oft vergessen wird, die so tun, als wäre er schon dagewesen. [106]

5. Der formale Charakter der Rationalität.

Nehmen wir immerhin vorläufig als Arbeitshypothese an, die gesamte Welt sei rationalisierbar, sei in berechenbare Mechanismen aufzulösen, so ist damit noch keineswegs gesagt, daß die Welt als wirkliche Welt, nicht bloß als rationales Rechenexempel daraus begreifbar wird.

Die eigentlich erkenntnistheoretische Schwierigkeit aller streng rationalistischen Philosophie liegt in dem Problem, aus dem rein rationalen Denken zum Sein, das gedacht wird, zu gelangen. Einerlei, wie weit man die Welt rationalen Begriffen untergeordnet sein lassen will, es haftet dem rationalen Denken doch ein wesentlich formaler Charakter an. Schon bei Plato waren die Ideen zunächst die „Formen”, und auch die „Gesetze” der Naturwissenschaft sind formale Beschreibungen, die nur Quantitatives aussagen, das Quale des zu Messenden aber von sich aus unbestimmt lassen müssen, höchstens negativ charakterisieren können.

In der Tat liegt hier eine ernsthafte Schwierigkeit für allen konsequenten Rationalismus, die für uns, die wir auch irrationale Erkenntnismittel und irrationale Erkenntnisgegenstände annehmen, nicht besteht. Denn, wie später zu zeigen sein wird, werden wir die Kategorien des Seins, der Kraft usw. auf nichtrationale Erkenntnismöglichkeiten zurückführen.

Auch die meisten Rationalisten haben übrigens neben den rationalen Tatsachen irrationale Gegebenheiten angenommen, die sie jedoch allzu einseitig der „Sinnlichkeit” zuwiesen. Das ist der Fall Kants. Er sucht seine rationalistische Grundhaltung (wenigstens auf dem Gebiet der reinen Vernunft), nur insofern zu salvieren, daß er der Sinnlichkeit möglichst alles entzieht, was ihr zu entziehen ist, indem er selbst alle Ordnung, simultaner wie sukzessiver Art, also selbst Substanzialität und Kausalität, in die Ratio verlegt und das Irrationale als ungeordneten Rohstoff, als ein „Gewühl von Empfindungen” bezeichnet. Es wird später zu zeigen sein, daß dieser Standpunkt nicht haltbar ist, daß weder das Irrationale der Welt uns nur in [107] Empfindungen gegeben ist, noch, daß diese Empfindungen erst von der Ratio alle Ordnung empfangen.

Immerhin bleibt doch auch für Kant noch ein Sein dem Denken gegenüber, ein Sein, das sich in der Sinnlichkeit (wenn auch sehr unvollkommen) zur Geltung bringt, und so ist auch der Standpunkt Kants nicht konsequent rationalistisch. Deshalb hat sich der strenge Rationalismus mit der Kantschen Lehre nie zufrieden gegeben, sondern hat auch dort, wo er von Kants Standpunkt ausging, doch den irrationalen Rest zu eliminieren gesucht.

Das einfachste war natürlich die Lösung des Ontologismus, daß man den rationalen Begriffen auch „Existenz” zuschrieb, ja außerhalb der Begriffe überhaupt keinerlei Existenz gelten ließ. Man gelangte so zu einem metaphysischen Panlogismus, wie ihn am großartigsten Hegel ausgebaut hat. Indessen führte von diesem Begriffsontologismus trotz aller dialektischen Künste kein Weg zu der individuellen Mannigfaltigkeit der Welt, und so war diese Lehre zu abstrakter Unfruchtbarkeit verurteilt, an der sie starb.

Man gab daher die metaphysische Ausweitung des Rationalismus preis, um an dessen Stelle eine logistische Lösung zu setzen, die allerdings dennoch, auch wenn sie aller Metaphysik abschwört, dem Hegelschen Standpunkt sehr nahe kommt. Diese Lösung, die am konsequentesten von der Marburger Schule ausgebaut worden ist, schreibt den Begriffen kein metaphysisches Sein zu, wohl aber weist sie die Begriffe einer besonderen Sphäre eines „Überseins” zu, der Geltung. Die Begriffe sind nicht, sie gelten, unabhängig von jedem Bewußtsein, das sie denkt, und von jedem Sein, in dem sie sich verwirklichen könnten. Man kann dem Denken kein Sein zuschreiben, das Denken „erzeugt” erst das Sein. „Das Sein ruht nicht in sich selbst; sondern das Denken erst läßt es entstehen” (Cohen).

Ob man diesen Logismus als Metaphysik bezeichnen will oder nicht, ist ein Wortstreit. Im Grunde ists ja auch ein Wortgefecht, ob man berechtigt ist, den Begriff des Seins so einzuengen, wie es jene Schule tut, so daß die „Geltung” nicht [108] darunter eingeht. Denn wenn man den Begriff des Seins nicht in der engen Weise, wie Cohen, faßt, so geht natürlich auch der Begriff des Geltens darin ein. Diese ganze Philosophie ist in merkwürdigen Wortnetzen verfangen. Dazu gehört auch das Wortspiel, das mit dem Begriff der „Empfindung” getrieben wird, als dem Haupteinwand gegen jeden Panlogismus. Die Empfindungen nämlich sind nach dieser Terminologie dem Denken nicht „gegeben”, sondern „aufgegeben”. Gewiß räumen auch wir, die wir eine Realität, auf die das Denken bezogen wird, annehmen, ein, daß uns diese nicht in den Empfindungen fertig erschlossen ist, daß die Empfindungen uns „aufgegeben” sind, aber jede Aufgabe ist doch auch eine „Gegebenheit”, wenn auch eine unvollständige, etwas, was zwar in das Denken eingeht, aber nicht aus dem Denken selbst stammt.

Es ist hier nicht der Ort, die Sackgasse, in die der pure Rationalismus gerät, und die nur durch verbalistische Scheinparaden verdeckt wird, eingehend zu kritisieren. Andere, auf die ich verweise, haben diese Kritik, wie mir scheint, schon zur Genüge gegeben. Mit unserem Erkenntnisbegriff, der auf Wirklichkeit gerichtet ist, kann der hier besprochene jedenfalls nicht vereinigt werden. Denn er versagt völlig, sowie man ihn irgend in der Welt der Praxis verwerten will, er bleibt abstrakte Theorie, die niemals verifiziert werden kann. Es führt keinerlei Brücke zur Welt der psychologischen Erfahrung herüber, es ist auch ganz unmöglich, etwa die Welt des organischen Lebens und der Kultur von dort aus zu verstehen.

Daher haben auch solche Denker, die die rationalistische Theorie der „Geltung” aufrecht halten, aber nicht in den Marburger Wortnetzen verwickelt sind, zugegeben, daß man nicht mit dem Gelten allein auskommt, sondern, daß man neben der rationalen Geltungssphäre doch eine Welt des Seins, die nicht von jener erzeugt wird, annehmen muß. Die Anhänger dieser „Zweiweltenlehre” schreiben dem Gelten nur die Form, nicht den Inhalt des Erkennens zu, sie nehmen neben der Sphäre des Rationalen auch eine Sphäre des Irrationalen an und kommen damit in gewissen Hauptzügen, wenn auch nicht in der Durchführung [109] im Einzelnen, auf ein ähnliches Ergebnis hinaus, wie wir, die wir die rationalen Begriffe zwar auch nicht in der Erfahrung gegeben sein, wohl aber an der Erfahrung entwickelt sein lassen und ihnen keinerlei überempirische „Geltung” zuschreiben.

Wir stellen also, darin in Übereinstimmung mit vielen Rationalisten, fest, daß das „Sein” aus dem reinen Denken nicht abgeleitet werden kann, daß wir außerhalb der rationalen Sphäre ein Sein annehmen müssen, wovon uns zunächst die Empfindungen Kunde geben. Ferner aber heben wir hervor, daß wir zwar nicht, wie der reine Sensualismus, auch die mathematischen Begriffe und die Kategorien aus dem Empfinden herleiten, daß sie uns auch a priori sind, aber nicht im rationalen Sinne, sondern einem genetisch-irrationalen, was in späteren Kapiteln, die vom Instinkt, der Einfühlung und dem schöpferischen Erkennen handeln, dargelegt werden wird. Und dann wird zu zeigen sein, daß uns das Sein nicht bloß in Empfindungen gegeben ist, sondern noch in anderer Weise.

Der Begriff der „Geltung”, der auf Lotze zurückgeht, ist am konsequentesten durchgeführt bei Liebert (Das Problem der Geltung, 1920), der übrigens gelegentlich zugibt, daß der Logismus auch metaphysischen Charakter hat. Die „Zweiweltenlehre” findet sich vor allem in der badischen Schule entwickelt; vgl. bes. Lask: Die Logik der Philosophie, 1912. Zur Kritik der Cohenschen Lehre verweise ich vor allem auf Frischeisen-Köhler, Külpe, Messer, Jerusalem, Nelson u. a.

6. Die Grenzen der Rationalisierung.

Aber die Irrationalität des „Seins”, das Problem der Wirklichkeit, ist keineswegs der einzige Einwand gegen den Rationalismus als Weltanschauung. Es läßt sich auch dartun, daß durchaus nicht die ganze Erfahrungswelt, nicht einmal die zur „Wissenschaft” erhobene Erfahrung, restlos in rationale Begriffe eingeht, oder, was ungefähr auf das Gleiche hinauskommt, zu mechanisieren ist.

Schon die Mechanik selbst ist, auch außerhalb des Problems des Seins, nicht ganz rational. Die mathematischen Naturgesetze, die in ihrer reinen Formulierung zwar rational sind, fassen doch [110] die Wirklichkeit niemals ganz exakt, sie sind nur sehr pauschal anwendbar auf die Wirklichkeit. Henri Poincare hat einmal gesagt, wenn wir mikroskopisch scharfe Sinne hätten, wären die meisten Naturgesetze nie entdeckt worden. Die Wirklichkeit ist eben immer „kontingent”, d. h. niemals rein rational. Selbst wenn man annimmt, daß das, was die exakte Realisierung der mathematischen Formeln durchkreuzt, nur andere rationale Naturgesetze seien, daß also für einen absoluten Geist sich auch alle Durchkreuzungen der Naturgesetze als rational gesetzlich darstellen würden, so besteht doch die Tatsache, daß sie sich menschlichem Erkenntnisvermögen stets als irrational darstellen müssen, daß alle rationalen Gesetze für menschliches Erkennen niemals apodiktische Gewißheit zu liefern vermögen. Apodiktische Gewißheit gibt es nur in einer fiktiven Idealwelt; in der Wirklichkeit gibt es nur hohe Wahrscheinlichkeit, die für die Praxis zwar in der Regel fiktiver Weise in rationale Formeln von notwendiger Geltung gekleidet werden können, die jedoch für rein theoretisches Erkennen immer irgendwie ungenau sind. Damit aber ist gesagt, daß auch formal, wenigstens für menschliches Erkennen, die Wirklichkeit nicht restlos in rationale Formeln eingeht, daß für uns (wenn auch nicht für einen absoluten, alle Durchkreuzungen überschauenden Geist) die Wirklichkeit irrational ist. Es liegt also nicht bloß so, daß ein absolut rationales Erkennen für uns unmöglich ist, weil wir keine absolut rationalen Denkmittel besitzen, sondern selbst dann, wenn wir solche hätten, würde die Welt nie darin eingehen, weil sie — wenigstens für uns als endliche Wesen — irrational erscheint.

Wir müssen also zugeben, daß die rationalen Denkmittel für die Wirklichkeit nur gelten, wenn man ihnen eine gewisse Schwingungsweite, einen Zuschuß von Irrationalität zubilligt. Die uns zugängliche Wirklichkeit ist nicht rational, sondern nur in hohem Grade rationalisierbar. In der Praxis des Lebens, auf die einzelnen Wirklichkeitsfälle angewandt, sind alle rationalen Berechnungen nicht etwa Aufdeckung absoluter Seinsgültigkeit, sondern eine, wenn auch unbewußte und erlaubte Vergewaltigung zu praktischen Zwecken. Einerlei, was die Welt für einen absoluten Geist [111] ist, für unser menschliches Erkennen und Handeln ist sie tatsächlich irrational und nur fiktiverweise praktisch rationalisierbar; wenn auch der Wahrscheinlichkeitsgrad für die meisten Fälle der Gewißheit sehr nahe kommt.

Noch deutlicher wird das Unzureichende der mathematischphysikalischen Formalerkenntnis, wenn wir uns auf das Gebiet der biologischen Wissenschaft begeben. Auch hier ist es bewundernswert, wie weit die Mechanisten die Analyse des Protoplasmas getrieben haben. Und doch müssen sie zugeben, daß sie wohl analysieren, nicht aber aufbauen können, daß es noch keinem Chemiker gelungen ist, auch nur das allereinfachste Lebewesen zu schaffen, ja daß das Problem des Lebens als solches überhaupt unnahbar ist für ihre Formeln. Hier stehen wir etwas durchaus Irrationalem gegenüber. Gewiß nähren die naturwissenschaftlichen Forscher die Hoffnung, auch dies einmal rationalen Formeln zu unterwerfen, vorläufig jedoch sind sie noch weit davon entfernt. Vorläufig können wir nur sagen, daß sich menschlichem Erkennen die lebende Natur als rationalen Begriffen nicht faßbar, also irrational darstellt, und daß wir, wenn wir fiktiverweise rationale Begriffe in der Biologie bilden, uns bewußt sein müssen, daß sie nirgends in der Wirklichkeit ganz stimmen. Man kann zwar einen „idealen” Begriff von einem Tier, einer Pflanze bilden, aber jedes wirkliche Exemplar der Gattung zeigt Abweichungen davon, ja diese Abweichungen führen oft genug zu so starken Abnormitäten, daß ein neuer Begriff gebildet werden muß, womit natürlich die Rationalität des ersten hinfällig geworden ist. Alle Begriffe der beschreibenden Naturwissenschaften dienen also praktischer Orientierung und Ordnung, nicht absoluter Erkenntnis.

Und vollends versagt der reine Rationalismus auf dem Gebiete der sogenannten Geisteswissenschaften, d. h. allen denjenigen, die das Leben des Menschen in den Kreis wissenschaftlicher Erörterung ziehen. Gewiß hat man sich ehrlich gemüht, auch für die geschichtlichen Wissenschaften Gesetze zu finden, aber diese „Gesetze”, wie man sie auch formulieren mag, sind weit davon entfernt, etwa mit denen der Physik auf einer [112] Stufe zu stehen. Sie konstatieren gewisse Regelmäßigkeiten im Ablauf des historischen Geschehens, aber kein unbefangener Geist wird meinen, mit diesen meist sehr äußerlich bleibenden Beschreibungen eine wirkliche Erklärung erbracht zu haben, etwa daraus apodiktische Sicherheiten im Sinne des Rationalismus ableiten zu können.

So müssen wir überall in den Realwissenschaften feststellen — es konnte das hier nur in skizzenhafter Form geschehen —, daß die rationale Erkenntnis im Sinne der Mathematik nur einen kleinen Teil des Gebiets erfassen kann, daß wir also vor die Wahl gestellt sind, nur ein höchst partielles Erkennen anzunehmen oder daneben auch irrationalen Erkenntnismöglichkeiten Raum zu geben.

Man vgl. hierzu vor allem: Boutroux: La Contingence des Lois de la nature. 1889. Ferner Tröltsch: Die Bedeutung des Begriffes der Kontingenz. (Ges. Schriften II, 1913.)

7. Rationalität und Irrationalität

Wir kommen also zu dem Ergebnis, daß die mathematische, mechanistische Rationalisierung zwar für einen Teil der Welt bewundernswerte Erfolge aufzuweisen hat, daß sie aber weit davon entfernt ist, die Welt in ihrer Gesamtheit ihren Prinzipien unterwerfen zu können. Denn erstens ist sie rein formalen Charakters, kann niemals von sich aus zum Sein, zur Wirklichkeit vordringen, zweitens aber reicht sie auch nicht aus, um auch nur rein formal das Weltgeschehen zu erfassen; vielmehr entziehen sich weite Gebiete, auch solche, die wissenschaftlicher Bearbeitung unterliegen, ihren Begriffen und Gesetzen, soweit diese absolut rational gefaßt sind.

Das rein rationale Denken ist eine ideale Konstruktion, die sich auf die Wirklichkeit nur mit großen Gewaltsamkeiten anwenden läßt. Soweit es sich um Wirklichkeitserkennen handelt, darf man daher im strengen Sinne nicht von rationalem, sondern nur von rationalisierendem Erkennen sprechen, einem Erkennen, das nicht die Wirklichkeit in absoluter Objektivität ergreift, sondern die Wirklichkeit ihren Denkschematen [113] unterwirft, sie gewaltsam vereinfacht. Wir versagen ihr darum keineswegs den Anspruch auf Erkenntnis; denn dieser wird gemäß unserer Definition gerade durch die praktische Bedeutung der Rationalisierung legitimiert, wir bestreiten nur, daß die Rationalisierung eine Erkenntnis im absoluten Sinne ergeben könne, oder daß die praktische Anwendbarkeit rationaler Formeln, die auf der Unterschlagung von für die Praxis geringfügigen, für das theoretische Erkennen aber bedeutenden Fehlern beruht, uns den Schluß gestattet, daß die Welt im Innersten rational sei. Ohne in eine Diskussion einzutreten, ob für einen absoluten Geist in der Welt apodiktische Notwendigkeit herrsche, müssen wir jedenfalls feststellen, daß für den menschlichen Geist in der Welt höchstens hohe Wahrscheinlichkeit besteht, die man nur fiktiverweise für absolute Gewißheit nehmen kann. Selbst dann also, wenn die mathematischen Naturgesetze im rationalen Sinne „Geltung” hätten, so wäre sie doch, für den menschlichen Geist, der damit arbeitet, nicht absolute Erkenntnisse, sondern nur relative, praktisch wertvolle Orientierungsmittel, also nur Erkenntnisse in unserem vital - realistisch - relativen Sinne.

Eine irrationalistische Erkenntnislehre wird also die Ergebnisse der mathematisierenden Realwissenschaft nicht bestreiten, sie wird ihnen nur den falschen Nimbus der Rationalität nehmen und ihren Anspruch auf Wert nicht auf diese hypothetische Rationalität, sondern ihre praktische Bedeutung als Mittel der Beherrschung der Außenweit gründen, eine Bedeutung, die nicht apodiktischen, sondern nur problematischen Charakters ist. Und sie wird sich ferner, angesichts der partiellen Anwendbarkeit rationalisierender Denkmittel, vor die Wahl gestellt sehen, entweder vor der Irrationalität des Seins zu kapitulieren, oder doch irrationale Erkenntnismittel zuzulassen. Wir wählen diesen Weg.

8. Das Typen- und Regeldenken als wissenschaftliche Methode.

Können wir also das streng rationale Denken, das nur auf unveränderliche, allgemeingültige Begriffe aufbauen will, nicht als einziges Denkmittel anerkennen, so ist damit die Rationalisierung [114] als solche keineswegs unterschätzt; im Gegenteil, ich sehe sogar wertvolle Rationalisierungsmöglichkeiten, die der Rationalismus mit seinen Prinzipien nicht anerkennen kann.

Rationalisierung in meinem Sinne geht auf Erkenntnis von Gleichheiten und Ähnlichkeiten aus, ohne für diese strikte Allgemeingültigkeiten zu fordern. Sie umspannt also auch solche Fälle, die nur unter bestimmten Gesichtspunkten, nur in flüchtigen Konstellationen gleich oder ähnlich sind oder scheinen, während sie unter anderen Gesichtspunkten, in anderer Konstellation durchaus verschieden sind. Die Welt ist so unendlich reich und mannigfaltig, daß sich auch unter Tatbeständen von an sich tiefgehender Differenz Ähnlichkeiten finden, unser Geist ist so beweglich, daß er Brücken zu schlagen weiß auch zwischen Erscheinungen, die fast nichts miteinander zu tun haben, die nur unter ganz flüchtigen Gesichtspunkten einander nahegerückt erscheinen. Solche Ähnlichkeiten gehen natürlich niemals in Begriffe der Logik ein, lassen sich niemals unter apodiktische Gesetze bringen. Und doch wäre es völlig verkehrt, wollte man sie darum vernachlässigen; denn ohne allgemeingültig und notwendig zu sein, haben sie fraglos Erkenntniswert; wir arbeiten im Leben unablässig damit, ja, genau besehen, sind die meisten Begriffe und Gesetze, die die Logik billigt, doch nur in diese weit lockerere Gesellschaft gehörig, der nicht Notwendigkeit, sondern höchstens Wahrscheinlichkeit oder Möglichkeit zukommt.

Ich nenne solche Rationalisierungen, soweit sie auf das Nebeneinander gehen Typen (im Gegensatz zu „Begriffen”), soweit sie auf das Nacheinander gehen Regeln (im Gegensatz zu „Gesetzen”). Ein Typus also faßt Übereinstimmungen zusammen, die nur unter begrenzten Gesichtspunkten oder in besonderen Konstellationen gelten; eine Regel formuliert Zusammenhänge, die nicht in jedem Fall eintreten, sondern die Ausnahmen zulassen; darin also stimmt meine Terminologie mit dem Sprachgebrauch, der da sagt, keine Regel ohne Ausnahme, ja der scherzhaft meint, die Ausnahme bestätige sogar die Regel.

Im Alltagsleben denken wir unablässig in Typen und Regeln, indem wir gelegentliche und partielle Übereinstimmungen [115] zusammenfassen. Als Beispiel für Typendenken nenne ich die außerwissenschaftliche Physiognomik. Für das Äußere der Menschen haben wir eine Menge Zusammenfassungen, die ganz sicher nicht Begriffe im wissenschaftlichen Sinne sind. So teilen wir die Menschen ein in Blonde, Brünette, Schwarzhaarige, wir unterscheiden stumpfnasige, spitznasige, adlernasige Physiognomien, solche mit eckigem, vorspringendem oder fliehendem Kinn usw. Aber das Typendenken beschränkt sich nicht nur auf ein analytisches Zusammenordnen, es stellt auch synthetisch allerlei Korrelationen fest. So ordnet die Menschenkenntnis des Alltags jenen physiognomischen Merkmalen auch seelische zu. Der Typus der „Blondine” z. B. meint mehr als die Haarfarbe; man sagt diesem Typus gern eine gewisse Sanftheit, Kühle, ruhiges Temperament nach, im Gegensatz zum brünetten Typus, den man eher für feurig, unruhigen Temperaments hält. Ähnlich schließt man von starkem Kinn auf starken, von zurücktretendem Kinn auf schwächeren Willen. Alle solche Schlüsse sind natürlich nicht allgemeingültig, sondern höchstens „wahrscheinlich”, und doch arbeitet die Menschenkenntnis des Alltags unablässig mit solchen Typenbildungen, ja es wäre eine Verarmung, wollte sie es nicht tun.

Sogar in die Wissenschaft dringt das Typendenken mit verfeinerter Methodik ein. Als Beispiel gelte die vergleichende Psychologie mit ihrer Korrelationsberechnung. Sie ist noch in den Anfängen, und doch eröffnen sich diesem Typendenken immer weitere Felder. Die neuere Geisteswissenschaft bedient sich solcher „Typen” in immer größerem Ausmaß. Gibt man ihre nur relative Geltung, ihre fiktive Bedeutung zu, so sind sie treffliche Mittel, das sonst ganz unübersehbare und „zufällige” Geschehen der historischen Welt zu ordnen und übersichtlich zu machen. Man hat neuerdings den Begriff der „Gleichförmigkeit” neben den der „Gleichheit” gestellt: mir scheinen noch weite Gebiete dieser Methodik offen zu stehen, einer Methodik freilich, die nur von einem sehr wachen, sehr vorsichtigen und stets zur Korrektur bereiten Geist richtig zu handhaben ist, die in den Händen starrer Geister zu einer argen Vergewaltigung führen kann.

[116] Ähnlich wie mit dem Typendenken ist's mit dem Denken in Regeln. Der Sprichwortschatz des Volkes hält zum guten Teil solche Regelmäßigkeiten fest, ohne irgendeine allgemeingültige Gesetzmäßigkeit damit auszusagen. Sätze wie: „Aller Anfang ist schwer”, „Gebranntes Kind scheut das Feuer”, „Der Horcher an der Wand, hört seine eigne Schand'!” sind Feststellungen, denen höchstens Wahrscheinlichkeit zukommt, und die doch ganz unentbehrlich sind für das Leben. Regeln, nicht Gesetze, sind auch z. B. die Wetterbeobachtungen. Es ist keine Notwendigkeit, nur eine Wahrscheinlichkeit, daß Westwind Regen bringt, daß hoher Barometerstand Sonnenschein verbürgt. Im strikt rationalen Sinne sind das keine Erkenntnisse, wohl aber nach unseren irrational erweiterten Erkenntnisbegriff. Kein Mensch, auch der exklusive Rationalist, kommt ohne solche Regeln aus.

Und auch diese Regeln spielen in den Wissenschaften, besonders solchen, die kompliziertere Tatbestände behandeln, eine große Rolle. Gewiß sucht die Meteorologie hinter den bloßen Regelmäßigkeiten die Gesetzmäßigkeit aufzudecken, für die tatsächliche Wetterberechnung kommt sie jedoch, in Anbetracht der Verwicklung der einzelnen Gesetze untereinander nur zu Regelmäßigkeiten. Regeln, nicht Gesetze, sind auch die Feststellungen der Sprachwissenschaft: sie gelten keineswegs allgemein, sondern nur in sehr beschränktem Umfang. Und auch alle historischen, nationalökonomischen, biologischen Gesetze sind in unserem Sinne bloß Regeln.

Immerhin jedoch ist festzustellen, daß der Unterschied zwischen Begriffen und Typen, zwischen Gesetzen und Regeln nur ein prinzipieller, theoretischer ist, daß es sich für die Praxis des Lebens nur um einen Grad-, nicht um einen Wesensunterschied dabei handelt.

Gewiß hat man auch vom Standpunkt der rationalen Logik die hier herangezogenen Tatsachen beachtet, im Kapitel der problematischen Urteile und anderswo. Das Unterscheidende der irrationalen Betrachtungsweise liegt vor allem in einer anderen Bewertung. Der Rationalismus nimmt einen idealen Grenzfall [117] als Ausgangspunkt und bewertet daher solche Typen und Regeln recht gering, als minderwertig. Für den Irrationalismus ist gerade das Typen- und Regeldenken das Gegebene, und er sieht in den angeblich rationalen Begriffen und Gesetzen nur Sonderfälle des Typen- und Regeldenkens. Er ist sich bewußt, daß die Welt viel zu verflochten und mannigfaltig ist, um sich in den starren rationalen Denkmitteln restlos einfangen zu lassen, er hält darum das Auge offen für dasjenige, was nicht in Begriffe und Gesetze eingeht; das ist ihm nicht quantite negligeable, sondern höchst wesentlich. Er wird sich daher bemühen, nicht bloß den Geist auf solche festen Begriffe und Gesetze einzustellen, sondern ihn wachzuhalten auch für jene viel flüchtigeren Beziehungen und Konstellationen.

Zur Theorie des „Typendenkens” vgl. z. B. W. Stern: Die differentielle Psychologie. 3. Aufl., 1920. Auch R. Müller-Freienfels: Persönlichkeit und Weltanschauung 1919, wo der Versuch gemacht ist, das historische Geschehen durch solche „Typen” verständlich zu machen, Anwendungen eines typisierenden Denkens besonders bei Dilthey, E. Spranger (Lebensformen 1920), H. Scholz (Religionsphilosophie 1920), Spengler (Untergang des Abendlandes 1918), Keyserling: Reisetagebuch eines Philosophen, in Lamprechts Deutscher Geschichte, bei Sombart (Der Bourgeois), bei Wölflin und vielen anderen, bei denen allen diese Methode in teils wissenschaftlicher, teils künstlerisch-intuitiver Weise verwandt ist.

Methodisch und inhaltlich gleich interessant besonders Marbe: Die Gleichförmigkeit in der Welt, I 1916;. II 1919.

9. Die notwendige Korrektur aller Rationalisierung.

Das Ergebnis dieses Kapitels wird dem dogmatischen Rationalisten negativ vorkommen: denn es zeigt, daß wir weder aus der Wirklichkeitserkenntnis zu einer reinen Rationalität, noch von einer prätendierten reinen Rationalität zur Wirklichkeitserkenntnis gelangen, daß wir es vielmehr mit einer irrationalen Wirklichkeit zu tun haben, die sich jedoch auf zwei entgegengesetzten Wegen in relativ hohem Grade rationalisieren läßt, so daß wir innerhalb ihrer (fiktiverweise) von Gesetzlichkeit reden können. Indem wir dabei für die angeblich-rationalen Gesetze statt apodiktischer Notwendigkeit nur hohe Wahrscheinlichkeit [118] annahmen, konnten wir auf der anderen Seite auch solchen Rationalisierungen, die auf Gesetzlichkeit im rationalen Sinne keinen Anspruch erheben, wissenschaftliche Legitimität zubilligen, vorausgesetzt, daß man stets bereit ist, die Rationalisierung auf Grund anderer Erkenntnisse zu korrigieren.

Denn das ist ein positives Ergebnis: Weltanschauung, ja auch nur Wissenschaft ist auf rein rationalem oder rationalisierendem Wege nicht zu gewinnen. Ein Mensch, der nur mit festen Begriffen und Gesetzen an die Welt herantritt, wird nie ihre lebendige Fülle und Bewegtheit erfassen, höchstens ein graues Schema davon. Deshalb versagen auch die reinen Rationalisten so vollkommen, wenn sie ihre einseitigen Denkmethoden auf die Wirklichkeit übertragen: da wird die Geschichte, indem man darin „Ideen” aufstöbert, zu einer gewaltsamen Konstruktion, da werden Kunst, Religion und Sitte in dogmatische Gesetze gepreßt, die alles Leben ertöten, da wird Politik nach „Prinzipien” gemacht, die unfehlbar auf Klippen führen. (Gerade die Politik, in der man die Begriffe Ideologen- oder Professorenpolitik geprägt hat, ist reich an Beispielen der Unbrauchbarkeit eines reinen Rationalismus fürs Leben!) — Ja, im kleinsten Alltagsleben offenbart sich die Lebensuntüchtigkeit des rationalen Kopfes, der vor Wald die Bäume nicht sieht und deshalb zur stehenden Witzblattfigur geworden ist. So muß die theoretische Kritik ebenso wie die Praxis des Lebens dahin führen, daß neben dem rationalisierenden Denken, so hoch man seine ordnende und der Berechnung dienende Art einschätzen kann, neben sich noch andere Wege anerkennen muß, die es ergänzen und korrigieren. Und diesen wenden wir uns nunmehr zu!

Berlin-Halensee 1922. Richard Müller-Freienfels.


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Erstellt am 16.12.2010 - Letzte Änderung am 17.12.2010.