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Richard Müller-Freienfels
PHILOSOPHIE DER INDIVIDUALITÄT
Teil III

www.archive.org/stream/philosophiederin00ml#page/138/mode/2up

[139]
III. Teil

Das Individuum und die Werte



[griechischer Text]
(Aller Dinge Maß ist der Mensch.)

Protagoras.

„Ich will auch in Dingen des Geistes Krieg und Gegensätze . . .”


„Ich will allen, welche ihre Muster
suchen, helfen, indem ich zeige, wie
man ein Muster sucht, und meine größte
Freude ist, den individuellen Mustern
zu begegnen, welche nicht mir gleichen.”

Nietzsche.



[141]
I. Kapitel

Analyse des Wertungsprozesses


1. Werterlebnis und Wertverallgemeinerung.

Die Welt, in die sich das irrationale nur unvollkommen rationalisierte Individuum hineingestellt sieht, gibt sich durchaus den Anstrich, als sei sie wesentlich rational. Da erhebt die Wissenschaft den Anspruch, eine einheitliche, allgemeingültige, objektive Wahrheit zu verkünden, da bestehen Sittengebote und juristische Gesetze für alle und jeden, da treten im Kunstleben Urteile und Stile auf mit dem Anspruch auf allgemeine, gleiche, notwendige Geltung, da erheben sich religiöse Dogmen und verkünden, daß außer ihnen kein Heil sei, sie selbst aber imstande, jeglichem Schäflein, das zu ihrer Herde sich findet, den Weg ins Himmelreich zu weisen. Alles das zusammen bezeichnet man auch als die Welt der Werte, die man hoch über alle Relativität, in möglichster Allgemeingültigkeit, ja Absolutheit zu verankern bestrebt ist. Freilich, besieht sich das Individuum etwas genauer diese angeblich ewigen und unveränderlichen Wertungen, so erkennt es, daß die verkündete Einheit und Allgemeinheit in Wahrheit gar nicht besteht, daß Gesetz wider Gesetz, Erkenntnis wider Erkenntnis, Dogma wider Dogma streiten, daß kein Wert ist, von dem nicht irgendwo der kontradiktorische Gegensatz gilt. Aber trotzdem erheben sie alle diesen Anspruch auf alleinige, allgemeine Geltung, kurz auf Rationalität.

Und demgegenüber steht nun das Individuum mit seinen irrationalen Bedürfnissen und Lebensnotwendigkeiten, die zwar ein wenig rational zurechtgestutzt, aber die doch weit davon [142] entfernt sind, jene angeblich allgemeingültigen Werte alle als Werte empfinden zu können. Wohl wertet jedes Individuum, wohl hat jeder ein Empfinden für Wahres, Schönes und Gutes; aber ein Erleben kann nicht immer auf der breiten Straße der Allgemeinheit trotten, sondern erntet oft gerade auf selbstgefundenen Seitenwegen die lockendsten Früchte. Es stehen sich also gegenüber die rationalen Allgemeinwerte und die irrationalen Individuen mit ihrem besonderen Erleben.

Es geht nicht an, vor diesen Schwierigkeiten die Augen zu schließen, wie das die meisten Werttheoretiker tun. Niemand, der sich daran vorbeidrückt, wird zum Verständnis der Wertprobleme gelangen. Denn ein Wert kann immer nur in bezug auf ein wertendes Subjekt bestehen, ein Wert, der von niemand als Wert erlebt wird, ist kein Wert mehr. Andererseits liegt im Begriff des Wertes meist ein Anspruch auf übermomentane Geltung. Wir werden daher gut tun, dieses Dilemma nicht zu verschleiern, sondern ihm klar ins Gesicht zu sehen. Das aber heißt, wir müssen einen Unterschied machen zwischen dem Werterleben und der Wertverallgemeinerung. Ist mit dem Werterleben die unmittelbare Beziehung des Wertgegenstandes zum wertenden Subjekt, also letzten Endes dem Individuum gemeint, so ist unter der Wertverallgemeinerung der Anspruch auf überindividuelle, wohl gar allgemeine oder absolute Geltung zu verstehen.

Wir werden diesen Konflikt zwischen dem Anspruch auf Allgemeinheit der Wertgeltung einerseits und der Tatsache der individuellen Bedingtheit des Werterlebens andererseits in den Mittelpunkt der ganzen Untersuchung stellen und somit die Einseitigkeiten vermeiden, die die philosophischen Werttheoretiker dort, die psychologischen Werttheoretiker hier begangen haben. Übersahen die meisten Philosophen, deren Blick an der Allgemeingültigkeit des Werturteils klebte, die individuellpsychologische Seite des Problems, so vermochten andererseits viele Psychologen mit ihren Feststellungen über dig subjektive Seite des Wertproblems die Tatsache einer möglichen Verallgemeinerung nicht zu vereinen. Die eine Einseitigkeit [143] führt zu Widersinnigkeiten wie die, daß man erklärt, Goethes Tasso sei ein künstlerischer Wert schlechthin, folglich müsse jeder das anerkennen, auch jedes Dienstmädchen, das ein Billett fürs Theater geschenkt erhalten hat und dem die feine Dialektik der Herrschaften von Ferrara unverständlich ist, als sprächen sie Italienisch. Oder, um ein Beispiel aus der religiösen Welt zu bringen, man erklärt den Glauben an einen persönlichen Gott für einen religiösen Wert an sich; man übersieht aber, daß es Menschen genug gibt, die zwar nie an der Existenz des biblischen Gottes gezweifelt haben, die aber trotzdem ganz unreligiöse Menschen sind und niemals Gott innerlich erlebt haben, so daß ihnen jener Glaube unmöglich ein wirklicher Wert sein kann. - Vom psychologischen Standpunkt aus wiederum führt meist von der Erkenntnis, daß jedes Individuum seinen eigenen Geschmack hat, kein Weg zur Beutung der Frage, wie es trotzdem möglich sei, im „Tasso” einen Wert zu sehen, der in der Literaturgeschichte jenseits aller individuellen Schwankungen Geltung hat, oder wie immer wieder in der Religion der Geltungsanspruch absoluter Werte auftauchen kann, wo doch die Subjektivität des religiösen Erlebens in seinem emotionalen Charakter eingeschlossen ist, und die Geschichte beweist, daß Götter werden und vergehen wie Kleidermoden.

Ich glaube dem gekennzeichneten Dilemma am besten zu begegnen, indem ich zunächst den Grenzstrich zwischen Werterleben und Wertverallgemeinerung mit aller Schärfe ziehe und betone, daß es sich um einen ganz anderen Wertbegriff handelt, wenn ich sage, etwas sei nur in diesem Augenblick von Wert oder es sei mir zu jeder Zeit und auch für andere von Wert. In jenem Fall erlebe ich, in diesem Fall verallgemeinere ich. Dabei ist keineswegs gesagt, das in jedem Werterleben die Verallgemeinerung eingeschlossen sei oder daß jeder Wertverallgemeinerung ein Werterleben zugrunde liegen müsse. Es kann sein, daß mir in behaglich-fauler Stimmung an einem Sommerabend auf dem Lande ein von ferne tönender schmachtender Walzer gefällt, [144] obwohl ich sogar in diesem Augenblick überzeugt bin, daß die Melodie „Kitsch” ist und in anderen Lebenslagen weder für mich noch für irgendeinen anderen leidlich musikverständigen Menschen einen Wert darstellt. Ich vollziehe also keine Wertverallgemeinerung , obwohl ich ein momenanes Werterlebnis habe. Andererseits kann mir in der gleichen Situation eine Bachsche Fuge in ihrer herben Kraft geradezu unangenehm sein, obwohl ich mir mit dem Kopfe sage, daß es ein schönes und edles Werk sei, das jedem echten Musikfreund mit Recht teuer sein müsse. Ich vollziehe also eine Wertverallgemeinerung, ohne den Wert im Augenblick selbst zu erleben. Voltaire meinte, wenn Gott nicht existiere, müsse man ihn erfinden. Das heißt, er stellte einen religiösen Allgemeinwert auf, ohne ihn doch für sich zu realisieren. Andererseits hat mancher religiöse Mensch in seinen tiefsten Augenblicken so stark das Gefühl der Einzigkeit dieses Erlebens, daß es ihm ganz unmöglich scheint, es mitzuteilen und zu verallgemeinern. Überall also die Möglichkeit der grundsätzlichen Scheidung von Werterleben und Wertverallgemeinerung.

Es hilft nichts, wir müssen diese beiden Begriffe genauer zergliedern! - Um sie an unsere früheren Untersuchungen anzuknüpfen, können wir bereits jetzt sagen: Das Werterleben ist irrational, die Wertverallgemeinerung dagegen setzt eine Rationalisierung des Wertungsprozesses voraus und kann nur unter diesem Gesichtspunkt verstanden werden.


2. Psychologie und Biologie des Werterlebens.
Das Werterleben ist in der Regel von der Psychologie behandelt worden, und in der Tat kann die psychologische Betrachtung viel zur Lösung des Problems beitragen. Indessen werde ich zeigen, daß man noch tiefer, daß man ins Biologische hinabsteigen muß, um das Problem an der Wurzel zu fassen.

Die meisten Psychologen erklären das Werterleben entweder für einen Gefühls- oder für einen Willensvorgang vereinzelte Denker wollen auch ein Erleben sui generis nachweisen, das sich jedoch als stark emotional oder volitional gefärbt erweist. [145] Ich selber möchte keine prinzipielle Scheidung zwischen Gefühl und Willen durchführen, sondern behaupte vielmehr - was ich andernorts ausführlicher dargelegt habe -, daß Gefühl und Wollen nur verschiedene Erscheinungsweisen eines im Prinzip gleichen seelischen Geschehens sind, in jedem Gefühl nämlich steckt ein Wollen, und jedes Wollen offenbart sich im Bewußtsein in Gefühlszuständen. Wille wie Gefühl sind nur Bewußtseinsbegleiter eines Bedürfnisses, bzw. von dessen Befriedigung.

Das sei kurz gegen einige Einwände verteidigt. In jedem Lustgefühl steckt der Wille, bzw. der unbewußte Trieb zum Beharren in diesem Zustand, ja zu seiner Steigerung; in jedem Unlustgefühl dagegen steckt das Streben nach Aufhebung oder Linderung dieser Unlust. Wenn man behauptet hat, die „Elementargefühle”, d. h. die Gefühlsbetonungen der Farben, Töne, Gerüche, Geschmäcke, wären nicht als Willenserlebnisse zu begreifen, es sei bei ihnen nicht nur jede Beziehung auf eine Absicht des bewußten Wollens, sondern auch auf irgendein Bedürfnis oder auf unbewußte Triebe ausgeschlossen, so möchte ich dem entschieden widersprechen. Jede wohlgefällige Musik oder jeder angenehme Geruch werden bejaht, man strebt sie auszukosten und im Genuß zu beharren, sie sind adäquate Befriedigungen des in jedem Organ bestehenden Reizhungers. Jeder unangenehmen Empfindung dagegen suche ich mich zu entziehen, ich strebe hinweg von ihr. - Es ist auch nicht wahr, daß „zweckwidrige” Lust ein unlösbares Rätsel sei. Das ist sie nur für denjenigen, der auf das falsche Dogma von der absoluten Einheit des Ich schwört. Wer eingesehen hat, daß innerhalb des Individuums Teilkomplexe bestehen, wird begreifen, daß ein eiskalter Trunk an heißem Tage von einem Teil des Organismus erstrebt sein kann, während er für den ganzen schädlich ist. Er kommt also einem Bedürfnis eines Teils des Organismus entgegen, hat nur für andere Teile schlimme Folgen. Man erinnere sich auch an Schopenhauers Erklärung der Schönheitswirkung menschlicher Körperformen aus deren Adäquatheit an die [146] Bedürfnisse des Geschlechtstriebs. Danach wäre eine uns gefallende Frau nicht darum von uns begehrt, weil sie an sich schön wäre, sondern wir nennen sie schön, weil wir sie begehren. Hinter dem Gefühl taucht also überall der Wille auf. Das gilt auch für die anderen Affekte, denn in allen Affekten steckt ein Wollen. In der Angst regt sich ein negatives Streben nach Selbsterhaltung, im Erwerbstrieb oder Ehrgeiz positives Streben nach Selbsterhaltung und Selbstentfaltung. Im Haß wirkt Streben nach Herabsetzung, ja Vernichtung, in der Sympathie das Streben nach Förderung eines anderen. Kurz, in allen Gefühlszuständen läßt sich ganz ungezwungen eine Willenstendenz erweisen. Das wird nur darum nicht immer bewußt, weil das Streben oft erst mit dem Gefühl im Bewußtsein erscheint, ja sich oft überhaupt nicht gesondert darstellt, sondern nur durch Analyse erschlossen werden kann. Es ist jedoch möglich, auch im abstraktesten Gefühl ein Wollen oder ein als solches kaum bewußtes Bedürfen zu ermitteln.

Andererseits ist es nicht möglich, ein „reines” Wollen, das den Gefühlserlebnissen grundsätzlich entgegengesetzt wäre, aufzuweisen. Im Gegenteil, das Wollen tritt stets ins Bewußtsein als Gefühl, wobei man neben Lust und Unlust allerdings noch andere emotionale Erlebnisse, vor allem die keineswegs auf jene angeblichen „Grundgefühle” zurückführbaren Affekte als Gefühle gelten lassen muß. Allerdings darf man das Verhältnis von Wollen und Fühlen nicht auf die einfache Formel bringen wollen, daß unser Wollen stets aus erlebter Lust oder Unlust erwachse, daß Lust und Unlust stets die Motive des Wollens seien. Indem man diese Formel widerlegt, ist die innere Identität von Wollen und Fühlen noch lange nicht aufgehoben. Aber jene Formel wird auch von uns nicht verteidigt. Schon oben sagten wir, daß wir nicht etwas begehren, weil es Lust erregt, sondern daß es Lust erregt, weil wir etwas begehren. Diese Erkenntnis von dem der verbreiteten Meinung entgegengesetzten Verhältnis der beiden Seelenzustände gibt allein den Schlüssel zum Problem. „L'appetit vient en mangeant.” Es reizt etwas unseren Appetit nicht, weil es an [147] sich wohlschmeckend wäre, sondern weil es unseren Appetit reizt, erscheint es uns wohlschmeckend. Sind wir gesättigt, dünkt uns die gleiche Speise ganz indifferent, wenn nicht widerlich. Jene anderen, von Gegnern unserer Anschauung angeführten Fälle, wo sich das Streben auf Inhalte, die notorisch Unlustwirkungen nach sich ziehen, richtet, sind ebenfalls nur für Dogmatiker des unteilbaren und ewig gleichen Ich eine Gegeninstanz. Für uns, die wir wissen, daß sehr oft das Augenblicksbewußtsein oder ein Teilkomplex des Ich dem Einheitsich und seinen Bedürfnissen widersprechen kann, ist das keine Widerlegung. Denn ein solches „verkehrtes” Streben richtet sich niemals auf die Unlust als solche, vielmehr ebenfalls immer auf Lust, die allerdings — je nach dem Einzelfall — sehr stark mit Unlust gewürzt sein kann (der Fall perverser Grausamkeit) oder ein sekundäres Brechungsgefühl aus primärer Unlust sein kann (der Fall des sentimentalen Auskostens des Leidens). Kurz, fassen wir, wie man es tun muß, die Gefühle nicht als Motive des Wollens, sondern als zu ihm gehörige Bewußtseinskomponenten, die nicht vorhergehen, sondern simultan auftreten, so läßt sich jede Gegeninstanz widerlegen. — (Dabei soll nicht bestritten werden, daß Gefühle gelegentlich auch Motive werden können.)

Allerdings müssen wir den Begriff des Wollens noch etwas erläutern. Das Wollen ist kein einfacher Bewußtseinsakt, sondern ein komplexes psychophysiologisches, hauptsächlich motorisches Phänomen, das nur zum Teil ins Bewußtsein hineinragt. Alles Wollen ist eine Weiterbildung des Reflexbogens, des ursprünglichen Zusammenhangs zwischen Reiz und Bewegung. Und zwar werden davon nur der Reiz und ein begleitendes Gefühl bewußt, nicht der Reflexakt selbst. Was im Willensakt bewußt wird, ist die auslösende Vorstellung und ein Gefühl, das das Zeichen dafür ist, daß jene Vorstellung auf die motorische Reaktion einwirkt. Bezeichne ich also diese als Wollen im engeren Sinne, so ist das Wollen überhaupt unbewußt; bezeichne ich aber als Wollen den komplexen Akt: Vorstellung und motorische Reaktion und Gefühl, so ist [148] das Wollen, wenn auch nicht ganz, so doch teilweise bewußt. Was man gewöhnlich als Willenserlebnis in der Psychologie behandelt, ist der Kampf der Motive, d. h. das Hin und Her zwischen zwei Willensakten, einem Streben und einer Hemmung, also ein „gestautes” Streben, vor allem aber der Durchbruch durch die Stauung, der Sieg über die Hemmungen, das „Fiaterlebnis”.

Indem ich aber prädisponierte motorische Reaktionen als Wollen im engeren Sinn, als Kern des Willenserlebnisses ansehe, ist klar, daß durch psychologische Introspektion allein das Willensproblem nicht gelöst werden kann, daß die Biologie Aufschluß geben muß. Wir müssen also einen nicht bloß im Bewußtsein gegebenen Tatbestand für das Wollen verantwortlich machen und bezeichnen als solchen ganz allgemein ein Bedürfnis, einen Trieb des Organismus, der zu motorischen Reaktionen drängt. Wo irgendein Teilsystem des Organismus das Bedürfnis nach Dissimilation der aufgespeicherten Energien oder nach Ersatz der mangelnden Energien verspürt, liegt solches Bedürfnis vor, dem der Organismus durch geeignete motorische Akte abzuhelfen strebt. Beim Menschen pflegen diese nicht ganz unbewußt zu verlaufen, sondern bewußte Akte mit ins Spiel zu ziehen — der Tatbestand des Bedürfnisses aber bleibt erhalten. Da das Bedürfnis aber der Ausdruck einer Störung eines physiologischen Teilsystems ist, entweder ein Bedürfnis nach Assimilation oder nach Dissimilation, also im Leben der Zelle bedingt ist, so können wir jedes Bedürfnis ein vitales, ein Lebensbedürfnis nennen und alles Bedürfen auf eine Bedrohung und gesuchte Erhaltung von Teilsystemen zurückführen. Um einen Ausdruck von Avenarius anzuführen, der verwandte Erkenntnisse mit dem starren Netz seiner künstlichen Begriffe eingefangen hat, können wir sagen, jedes „Bedürfnis” ist eine Vitaldifferenz, jedes Wollen geht also auf eine Vitaldifferenz zurück, ist der Versuch, diese Vitaldifferenz aufzuheben. Man wird jetzt verstehen, warum ich die psychologische Erklärung des Werterlebens für unzulänglich hielt und [149] durch eine biologische ersetzen wollte. Da alles Werten auf ein Wollen zurückgeht, das im Bewußtsein nur zum Teil als Gefühl sich spiegelt, in seiner Gesamtheit aber auf ein biologisches Bedürfnis, eine Vitaldifferenz zurückgeführt werden muß, so können wir nunmehr sagen, daß alles Werterleben darin besteht, daß ein vitales Bedürfnis behoben wird, was sich im Bewußtsein als befriedigtes Gefühl geltend macht. War dies Bedürfnis vorher bewußt, so haben wir es mit einem willkürlichen Wollen zu tun, wurde das Bedürfnis erst durch den Reiz ausgelöst und erfolgte die motorische Reaktion reflektorisch, so haben wir es mit „unwillkürlichem Willensakt” zu tun. Man verzeihe die paradoxe, aber gebräuchliche Ausdrucksweise, die besser durch „vorbewußtes” und „nichtvorbewußtes” Wollen ersetzt würde.

Ich werde mich fernerhin, um Zweideutigkeiten bei den Ausdrücken Wollen und Fühlen zu vermeiden, eines Terminus bedienen, der gestattet. Wollen und Fühlen, ebenso Bewußtseinserlebnisse und motorische Reaktion zusammenzufassen, und werde von emotionaler Stellungnahme sprechen. Danach wäre das Werterlebnis also eine positive Stellungnahme des Ich, die die Befriedigung des vitalen Bedürfnisses eines Teilkomplexes des Individuums anzeigt.

Auf diese Weise wird es uns möglich, alle seelischen Erlebnisse, auch die sublimsten, biologisch begreiflich zu machen. Denn auch in den scheinbar rein geistigen, ästhetischen oder religiösen Werten steckt, wie ich später zeigen werde, ein biologisches Bedürfen, und so gelingt es, die Welt des organischen Lebens und der Werte, die vielfach in unversöhnlichem Dualismus auseinanderklaffen, als Einheit zu begreifen.


3. Wertkonflikt, Eigenwert, Mittelwert.
Da indessen das Bewußtsein nicht ein einheitliches Bewußtwerden aller Teile des Organismus ist, da oft verschiedene Teile des Organismus getrennt und im Widerstreit miteinander ihre Bedürfnisse anmelden, so entstehen Konflikte der Bedürfnisse. Die beiden dem Bedürfnis gegenüber möglichen Verhaltungs[150]weisen stehen dann in einem Wertkonflikt. Leide ich bei Erhitzung Durst, stelle mir aber zugleich die gefährlichen Folgen eines zu raschen Trinkens vor, so besteht ein Wertkonflikt, den letzten Endes das Momentanich und das rationalisierte Einheitsich ausfechten. Der Konflikt der Werte geht also auf eine Spaltung des Ich zurück, und das Verhalten des Individuums in solchen Wertkonflikten wird davon abhängen, wieweit es rationalisiert ist. Die Entscheidung in solchen Konflikten ist nicht mehr Sache eines unmittelbaren Erlebens, sondern geschieht durch Eingreifen einer Wertverallgemeinerung.

Ehe ich das Problem der Wertverallgemeinerung behandeln kann, muß noch der Unterschied zwischen Eigenwert und Mittelwert klargelegt sein. Nicht jeder Wert hebt als solcher bereits ein Vitalbedürfnis auf, sondern er ist vielfach nur Mittel, um zu solcher Aufhebung zu führen. Der Becher, den ich zum Trinken brauche, ist an sich nicht imstande, den Durst zu stillen, er ist nur Mittel zur Hebung des Bedürfnisses und heißt darum Mittelwert. Das Wasser dagegen, das den Durst unmittelbar stillt, ist ein Eigenwert.

Nun werden jedoch nicht bloß die Eigenwerte, sondern auch die Mittelwerte begehrt, und es knüpfen sich an diese daher auch Gefühle, sie werden fürs Bewußtsein zu Eigenwerten, während sie für unsere biologische Betrachtungsweise bloße Mittelwerte bleiben müssen. Man nennt diese Verschiebung des emotionalen Bewußtseins „Gefühlsverschiebung” und pflegt sie am Beispiel des Geldes zu erläutern. Das Geld ist an sich der typische Mittelwert, wird jedoch vielfach fürs Bewußtsein zum Eigenwert. Wir werden später zu erörtern haben, wieweit man hier noch von „richtiger” Wertung sprechen kann.

Gerade beim Ineinandergreifen von Mittelwerten und Eigenwerten ergeben sich oft markante Wertkonflikte. Eine widerliche Medizin ist vom Augenblicksstandpunkt aus gesehen ein negativer, für den Dauerbestand des Ich jedoch ein positiver Wert. Das ist ein typischer Fall: sehr oft sind die Mittel[151]werte für das Werterleben negativ, sie führen jedoch zu positiven Eigenwerten, die trotz des negativen Werterlebens von der Wertverallgemeinerung erkannt und festgehalten werden. Die Wertverallgemeinerung aber, die Rationalisierung, soweit sie mit Bewußtsein vollzogen wird, ist Sache der Ratio.


4. Analyse der Wertverallgemeinerung.
Das unreflektierte Werterleben war, wie wir sahen, Sache des Augenblicksbewußtseins, des Augenblicksichs. Indessen können wir uns, wie bereits durch Beispiele belegt ward, über den Augenblick stellen und die Erlebnisse des Augenblickssubjekts vom Standpunkt einer übergeordneten Subjektivität betrachten.

Als solche übergeordneten Subjektivitäten aber lernten wir im zweiten Teil dieses Buches bereits das innerindividueüe Einheitsich und das zwischenindividuelle Normalich kennen. Beide sind gegenüber dem Momenterleben Verallgemeinerungen, indem sie das Momenterleben einerseits in die Kette der sukzessiven Individualzustände, andererseits in die Reihe der nebengeordneten Zustände fremder Individuen einstellen. Indem nun das Momenterleben von solcher höheren Warte aus betrachtet wird, entsteht die Frage: läßt es sich verallgemeinern, d. h. ist es nicht nur für das Momenterleben, ist es auch für das Dauererleben des Individuums und auch für das fiktive Normalerleben vieler oder aller anderen Individuen ein Wert? Ich frage: wird dasselbe Bild, das mir in zufälliger Stimmung gefällt, sich dauernd als Wert bewähren und wird es anderen ebenso gefallen wie mir? Ich erhebe mich damit über mein Momenterleben und versuche, aus meiner Dauerindividualität oder einer Normalsubjektivität heraus zu sehen. Je nachdem ich von diesen sekundären Standpunkten aus mein Erleben verallgemeinere oder nicht, bejahe oder verwerfe ich es, d. h. ich bewerte mein Werterleben. Mit anderen Worten heißt das: die Wertverallgemeinerung ist sekundäres Werten, ist Bewerten des Werterlebens, und zwar ein Werten meines momentanen Werterlebens vom Standpunkt einer übergeordneten Dauer- oder Normalsubjektivität aus.

Derartige Wertverallgemeinerungen werden von allen [152] Menschen unablässig vollzogen. Wo ein Erleben sprachlich formuliert wird, liegt meist eine Verallgemeinerung bewußt oder unbewußt vor. Soweit diese Verallgemeinerungen ähnlichen Erlebnissen bei anderen Individuen entsprechen, werden sie weitergegeben und gewinnen nun in der Form allgemeiner Sätze ein eigenes Leben, eine eigene Seinsweise, die der „Geltung”. Davon, daß man diese „Geltung” zu einer Art metaphysischer Existenz erhoben hat, sehe ich hier ab: für mich ist die Geltung nur die Rationalisiertheit eines Werterlebens, die an sich äußerst problematisch ist und eingehend darauf geprüft werden muß, ob ihr wirklich auch eine allgemeine Erlebnismöglichkeit entspricht. Denn in den meisten Fällen wird die Wertverallgemeinerung ganz unkritisch vollzogen, ohne Rücksicht darauf, ob andere Menschen wirklich ebenso erleben wie das verallgemeinernde Individuum. Auch angeblich kritische Philosophen verhalten sich da nicht anders; setzen doch gerade sie oft unbewußt oder gar bewußt das Dogma von der prinzipiellen Gleichheit der Individuen voraus. Diese Voraussetzung aber ist nachweislich falsch.


5. Übernommene Werte und Werterlebnis.
Zunächst indessen noch ein paar Worte über das Verhältnis von Werterleben und Wertverallgemeinerung. Wir ließen die Verallgemeinerung aus dem Leben erwachsen, und in der Tat ist das vielfach die Reihenfolge. Indessen nicht immer. Oft genug geht auch die Verallgemeinerung dem Erleben voraus, d. h. das Individuum findet in Form festgeprägter Sätze Wertverallgemeinerungen vor, die mit autoritativer Wucht auf es einstürmen und Anerkennung heischen. Das Kind empfängt durch die Erziehung eine Fülle von ethischen, religösen, ästhetischen und logischen Wertbegriffen, lang ehe es aus eigenem Erleben derartige Wertungen kennt. Es erfährt durch Belehrung, daß es einen Gott gäbe, lang ehe es selbst das Erlebnis des göttlichen Wesens gehabt hat; es erfährt, daß Goethe ein großer Dichter sei, ehe es ein Werk von ihm gelesen hat; es lernt: „du sollst nicht ehebrechen!”, ehe es eine dahingehende Versuchung verspürt hat. Es werden Vor-urteile, [153] besser Wertungsdispositionen geschaffen, die das unmittelbare Erleben beeinflussen.

Ich bezeichne derartige von außen bezogene rationale Wertungen als übernommene Wertungen und stelle sie den erlebten Wertungen gegenüber. Nun ist offenbar, daß derartige übernommene Wertungen tote Worte bleiben, unfruchtbarer Gedächtniskram, wenn sie nicht zu Erlebnissen werden, d. h. realem Bedürfen entgegenkommen. Trotzdem wird das vielfach übersehen. Man nimmt als naive Voraussetzung an, die rationalen Werte würden schon von selbst die nötigen Wirkungen zeugen. Und doch ist's so unendlich weit vom Auswendigwissen zum Inwendigwissen, vom Lernen zum Leben. Nur wer es in sich erlebt hat, wie ein Gedanke, den er lange zu besitzen glaubte, plötzlich zündete und zur Flamme wurde, die den ganzen geistigen Besitzstand durchlohte, der kennt den weiten Weg vom Übernehmen eines Wertes zum Erleben. Nur wer es erfahren hat, wie etwa ein Bild, das er hundertmal gesehen, in glücklicher Stunde zum Erlebnis wurde, darf mitreden. Und ist nicht die Geschichte aller religiösen Erweckungen die Geschichte des ungeheuren Übergangs von den übernommenen Wertungen zu den erlebten?

Freilich, unsere normativen Werttheoretiker scheinen diese Übergänge nicht zu kennen, Ihnen ist Wertübernahme und Werterleben dasselbe, vielleicht darum, weil sie kein originales Werterleben kennen. Denn wer da glaubt, man könne Normen aufstellen fürs Werterleben, der ahnt davon soviel, als einer vom Wesen des Dichters ahnt, der einem Poeten zu dichten befiehlt. Wer da behauptet, er vermöge alle anerkannten Werte der Geistesgeschichte gleichmäßig nachzuerleben, der erlebt überhaupt nichts, der hält dürftiges Surrogat für wirkliches Erlebnis, ahnt nichts von den irrationalen Beziehungen zwischen dem Individuum und dem Überindividuellen. Die Wertverallgemeinerung kann niemals eine Wirkungsnotwendigkeit, nur eine Wirkungsmöglichkeit, im besten Fall eine Wirkungswahrscheinlichkeit aufstellen. Der All[154]gemeinwert ist ein leerer Schemen, den eine Persönlichkeit mit ihrem Blute tränken muß, ehe er zum Leben erwacht. Die rationalen Wertungen sind Hinweise aufs Erleben, noch nicht das Erleben selbst. Damit ein Wert erlebt werde, muß, wie wir sahen, ein Bedürfnis vorhanden, muß eine Einstellung, wenn auch unbewußt, vorausgegangen sein. Darum behält alles Werterleben etwas Unberechenbares, Irrationales, weil es in der Konstellation der Individualität bedingt ist. Und das wird um so mehr der Fall sein, aus je tieferen Schichten des Ichs das Bedürfnis erwachsen ist. Die großen Werterlebnisse kommen zu uns wie jedes andere große Glück, wohl auf inneren Vorbereitungen fußend und doch der Gunst der Stunde unterworfen.

Trotzdem wäre es falsch, jede Übernahme rationaler Werte, die nicht im individuellsten Erleben Wurzel schlägt, als Selbstbetrug anzusehen. Man darf nicht außer acht lassen, daß nicht nur Bedürfnisse Werte, sondern auch Werte Bedürfnisse schaffen. Zunächst ein äußerliches Beispiel: Wer niemals den Reiz des Rauchens verspürt hat, kann auch kein Bedürfnis danach haben. Das Bedürfnis entsteht erst infolge der durch Nachahmung bewirkten Gewöhnung. So ist's mit den geistigen Werten auch. Die Wertgeltungen schaffen Gewöhnungen und damit Bedürfnisse. Der naive Mensch würde vielleicht die wenigsten religiösen Übungen von sich heraus ausführen: aber indem er sie übernimmt, werden sie ihm zum Bedürfnis. Dem Forscher, der die Hügel Vorderasiens nach verschütteten Gräbern durchwühlt, ist diese Wissensrichtung nicht in die Wiege gelegt worden. Erst sehr allmählich ist ihm diese Einstellung zur Gewöhnung, zum Bedürfnis geworden, und deshalb werden ihm ein paar keilschriftbedeckte Ziegel zum Erlebnis. Auch Bedürfnisse werden angewöhnt und übernommen. Derartige angewöhnte und übernommene Bedürfnisse haben vielleicht niemals jene ganz persönliche Macht der aus dem Innersten des Eigenlebens aufspringenden Sehnsüchte, aber sie genügen, um ein Werterleben zu ermöglichen.
[155]
Wir begreifen also, wie es rationale Werte geben kann: Indem die rationalen Werte durch Gewöhnung oder Übernahme ihrerseits Bedürfnisse hervorrufen, ermöglichen sie von sich aus auch ein Werterleben, wobei zu bemerken ist, daß das erlebende Subjekt in diesem Falle nicht die irrationale Individualität, sondern eine rationalisierte ist.

Es müssen und können also auch übernommene Allgemeinwerte zu erlebten Werten werden. Sie müssen es sogar in manchen Wertkonflikten, in denen das rationale Obersubjekt sich gegen das irrationale Augenblickserleben durchsetzen will. Dieses begehrt vielleicht eine verbotene Frucht; das Einheitsich jedoch, das eine sittliche Norm anerkennt, will seine Wertung, durchsetzen. Das wird es jedoch nur können, wenn auch seine Wertung von Gefühl und Willen getragen wird. Ein bloßes Werturteil, ein Wissen um eine Allgemeinwertung wird nie die Kraft haben, sich durchzusetzen. Nur wenn ein heiliges Pflichtgefühl oder eine starke Furcht vor Strafe hinter der Allgemeinwertung stehen, dringt sie durch, d. h. dann, wenn das rationalisierte Obersubjekt zur emotionalen Wirklichkeit geworden ist. Dann wird der Wertkonflikt zum Konflikt zweier Ichformen, des Momentanichs und des Einheitsichs. Der Wertkonflikt führt also zurück zu einer Spaltung im wertenden Subjekt.

Wir werden daher, um die Probleme des Wertungsprozeßes an der Wurzel zu fassen, das Wertsubjekt zu analysieren haben. - „Das Maß aller Dinge ist der Mensch.” Wir werden diesen Begriff jedoch nicht, wie man es dem Protagoras unterlegt, pauschal als das Individuum zu fassen haben, noch als die „Gattung”, wie es die Sokratiker tun, sondern müssen die ganze Problematik des Subjektsbegriffs aufrollen.

[156]
II. Kapitel

Die Subjekte der Wertung


1. Die Problematik des Wertsubjekts.

Wir erkannten im Prozeß der Wertung die Doppelheit des Werterlebens und der Wertverallgemeinerung, deren jedes auf ein besonderes Wertsubjekt zurückwies, dort das irrationale Momentanich, hier eine rationalisierte Subjektivität, so daß jeder vollständigen Wertung eine Individualitätsspaltung zugrunde läge. Indessen ist dieser Schulfall nicht immer rein aufzuzeigen; im Gegenteil, meist verwischen sich die Unterschiede des Erlebnissubjekts und des Allgemeinsubjekts. Das kann in mehrfacher Weise geschehen: Erstens kann das Wertsubjekt sein Augenblickserleben in unkritischer Weise verallgemeinem (der Fall der naiven Verallgemeinerung), zweitens kann eine Wertverallgemeinerung von außen übernommen werden, ohne daß eigenes Erleben damit in Beziehung gesetzt würde (der Fall unpersönlicher Wertübernahme). Drittens kann das Momentanerleben mit dem rationalisierten Erleben verschmelzen, so daß Anpassung des Momentanerlebens an die Rationalisierung eintritt (der Fall des rationalisierten Werterlebens). Naive Verallgemeinerung liegt vor, wenn einer ein Kunstwerk, das ihm gefällt, als schlechthin „schön” bezeichnet und nicht begreift, daß andere Leute anderer Ansicht sein können. Von unpersönlicher Wertübernahme spreche ich, wenn einer ein Bild, weil der Name Dürer darunter steht, und weil er weiß, daß Dürer ein großer Maler war, für schön erklärt und sich so selbst suggeriert, er habe ein ästhetisches Erlebnis, wobei er also nur fiktiverweise, wenn auch unbewußt, die rationale Subjektivität übernimmt. - Der dritte Fall, der des rationalisierten Werterlebens, beruht nicht auf bloßer Fiktion, sondern auf Erziehung. Hier ist das rationale Wertsubjekt nicht bloß fiktiv, sondern wirklich übernommen. Es soweit zu bringen, ist z. B. das Ziel der Kunsterziehung. Trotzdem bleibt auch dies rationalisierte Werterleben etwas blaß und abstrakt, wenn [157] nicht neben dem rationalen Ich ein ganz individuelles Erleben mitspricht.


2. Die innerindividuelle Verallgemeinerung.
Verhältnismäßig einfach scheint die Frage der Wertsubjekte bei der innerindividuellen Verallgemeinerung zu liegen: hier wird das Momentanerleben verallgemeinert im Hinblick auf das Einheitsich. Diese Verallgemeinerung scheint leicht zu sein, wird jedoch oft in unkritischer Weise geübt. Es ist keineswegs leicht zu wissen, wie das eigene Einheitsich werten wird; denn erstens ist das Einheitssubjekt kein so fest umschriebener Begriff, wie die Fiktion vorgibt; zweitens aber steckt in jedem Momenterleben die Tendenz zur unkritischen Verallgemeinerung, da das augenblickliche Gefühl die Erinnerung fälscht und ihr sein Kolorit leiht. Im Zustand ruhig abwägender sittlicher Gesinnung können wir nicht begreifen, daß wir im Banne einer Leidenschaft nicht die gleichen sittlichen Wertgefühle haben sollten. Der Fromme hat in den Stunden religiöser Ergriffenheit keinen Sinn für die Stunden der Anfechtung und ist geneigt, seinen augenblicklichen Zustand für sein Einheitssubjekt zu halten, obwohl er bald danach wieder Stunden der Lauheit hat. Aus diesem Grunde geht die Tendenz der innerindividuellen Rationalisierung dahin, ein dauerndes Wertsubjekt auszubilden, das die Wiederholung der erlebten Werte gestattet, womöglich aber ein solches, das diejenigen Werterlebnisse, die man als die tiefsten und edelsten empfand, festzuhalten, also das innerindividuelle Idealich zu verfestigen, Diese Rationalisierung des Ich aber geschieht, wie wir sahen, durch Gewöhnung an Bedürfnisse. Sich zu Dauerwerten erziehen, heißt, sich Gewohnheiten anerziehen. Um im Sittlichen nicht den unberechenbaren Konstellationen des Augenblickserlebens ausgesetzt zu sein, muß man sich sittliche Gewohnheiten anerzogen haben. Erziehung zu den rationalen Kunstwerten heißt Bildung der Funktionen, indem man Auge oder Ohr an bestimmte Arten des Sehens oder Hörens gewöhnt. So kann man für sich Erlebnisbedürfnisse schaffen, die vielleicht nicht aus den innersten Tiefen der In[158]dividualität stammen, aber dafür über den Zufall des Augenblicksbewußtseins erhoben sind. Man muß eben, um Dauerwerte erleben zu können, ein Dauerich in sich ausbilden, womit freilich mancherlei Ursprünglichkeit in Kauf gegeben werden muß.


3. Die zwischenindividuelle Verallgemeinerung.
Es fragt sich nun, ob das Individuum fähig ist, auch ein Normalsubjekt soweit in sich zu verwirklichen, daß es daraus real zu erleben vermag. Das gelingt in der Regel recht weitgehend, soweit es sich um den zeitlichen oder völkischen Normtypus handelt, dem das Individuum durch Geburt und Erziehung angehört. Jeder Mensch, der in bestimmter Gemeinschaftsatmosphäre aufwächst, übernimmt durch Anpassung und Nachahmung so viel von den allgemeinen Lebensformen, daß sie ihm ganz zur zweiten Natur werden. So wächst er z. B. in die sittlichen und religiösen Anschauungen seiner Zeit hinein, so übernimmt er auch ihren Erkenntnisschatz. Ebenso übernimmt man unzählige ästhetische Urteile infolge von Anpassung und Gewöhnung. Der Europäer ums Jahr 1900 war in seinem ästhetischen Erleben so erzogen, daß er Wagnersche Musik ohne weiteres als schön zu empfinden vermochte, was ein 100 Jahre früher lebender Mensch nie gekonnt hätte. Man denke nur, an welche ästhetischen Unmöglichkeiten man sich in Modedingen so gewöhnen kann, daß man einen Verstoß gegen diese „Gesetze” der Mode als Verstoß gegen das ästhetische Gefühl überhaupt empfindet. Wir sind uns in der Regel selbst nicht bewußt, in welchem Karneval von Wertungen wir aktiv mitwirken! Denn wir vermögen in der Tat uns innerlich zu verwandeln, ohne es selbst zu merken.

Dabei sind wir uns besonders über den Umfang dieses „Allgemeinsubjekts”, das wir übernehmen, selten im klaren. Fast immer werden die Kreise viel zu weit gezogen, ja, weil wir fähig sind, uns in klassische, gotische und barocke Kunst nacheinander einzuleben, übersehen wir, daß wir jedesmal aus einer anderen Subjektivität heraus empfinden und meinen vielleicht, es sei das gleiche Allgemeinsubjekt in allen diesen [159] Erlebnissen. Aber es gibt nur diese Zweiheit: entweder spezifische und damit wechselnde Einstellung jedem Kunstwerk gegenüber oder eine alle Unterschiede verwaschende Schematisierung des Erlebens.

Naive Beurteiler (und zu diesen gehören nachweisbarermaßen viele gelehrte Verfasser von historischen Werken aller Art) nehmen ihr Urteil, soweit es dem ihrer Zeit- und Volksgenossen nur einigermaßen konform ist, ungeprüft als „allgemeingültig” hin. Es wäre ein ungemein belustigendes Schauspiel, wollte man einmal alle die im Laufe der Geschichte auf hohem Kothurn einherspazierenden und in dicken Büchern sich gewaltig spreizenden „allgemeingültigen” und „absoluten” Wertungen demaskieren: es würde stets hinter den sogenannten Allgemeingültigkeiten ein zeitlich und ethnographisch recht eng begrenztes Typussubjekt, ja sogar ein ganz individuelles Subjekt hervorkommen. Es hilft nichts, man darf hier bei größten Namen nicht haltmachen. Selbst die Moral Kants, der doch bewußt nach möglichst weiter Spannung der Allgemeingültigkeit gerungen hat, enthüllt sich dem heutigen Betrachter bereits als sehr stark verwurzelt in der zeitlichen Beschränktheit des Aufklärungsalters und der räumlichen Beengtheit des Preußentums, ja sogar das ganz persönliche Zöpfchen des bei aller Gedankenenergie doch ein wenig kleinbürgerlichen Königsberger Professors schaut unverkennbar hinter dem kategorischen Imperativ heraus. Dasselbe gilt in vielleicht noch höherem Grade von Kants ästhetischen und religiösen Wertungen. Auch das Christentum, das sich doch gern als Heilbringer für alle Menschen fühlt, hat neben den ursprünglichen orientalischen sehr viele spezifisch abendländische Züge in sich aufgenommen, die es dem Chinesen oder Inder als ihm ganz wesensfremd erscheinen lassen. Wir, die wir in diesen Wertungen aufgewachsen sind, bemerken nur ihre Begrenztheit nicht so stark wie der Außenstehende. Aber auch die weiteste zwischenindividuelle Rationalisierung bleibt begrenzt.


4. Der Begriff des Typus.
Da, wie wir sahen, die Wertrationalisierungen gar keine absolute Allgemeinheit er[160]reichen, sondern nur typische Geltung, so handelt es sich also für dasjenige Individuum, das jene Werte übernimmt, gar nicht darum, ein allgemein-menschliches Normalsubjekt in sich zu verwirklichen, sondern nur in einen fremden Typus hineinzuschlüpfen. Die in der Geistesgeschichte als rational kursierenden und in bestimmten räumlichen oder zeitlichen Umkreisen als allgemein aufgestellten Wertungen ergeben sich von höherem Standpunkt als nur für einen gewissen Typus rationalisiert. Die moderne relativistische Betrachtungsweise versucht daher nicht mehr, wie man das früher anstrebte, hinter allen wechselnden Formen der Kultur ein einheitliches Normalerleben zu erschließen, sondern sie bejaht gerade die Verschiedenheiten und strebt sie psychologisch zu fassen. Suchte man unter allen Religionsformen einen nur entstellten Monotheismus christlicher Prägung aufzudecken, suchte man in der Kunst den romanischen und gotischen Stil nur als Vorbereitung, den barocken als Niedergangsform der für allgemein gehaltenen klassischen Stilform zu verstehen; wollte man alles Denken auf die rationale Logik zurückführen, die in Wahrheit nur eine Verallgemeinerung antiker Denkweisen ist, so hat man inzwischen gelernt, daß es eine allgemein-menschliche Rationalisierung überhaupt nicht gibt, sondern nur Rationalisierungen bestimmter Typen.

In richtiger Erkenntnis der unkritischen Wertverallgemeinerung hat man denn in neuester Zeit immer stärker begonnen, auch zu den überindividuellen Wertungen, die Geschichte und Völkerkunde vor uns ausbreiten, das Wertsubjekt in bestimmten Typen zu erschließen. Indem man einsah, daß nicht absolute Werte in der Welt gelten, sondern jeweils andere relative, zeitlich, räumlich, rassenmäßig usw. begrenzte, fragt man nach den Wertsubjekten, die diese Wertungen vollzogen haben. So kam man denn zu Wertsubjekten, die zwar nichts Absolutes an sich haben, die es jedoch zu beträchtlicher relativer Verbreitung brachten. Und zwar verfährt man in der Regel so, daß man eine kollektive Subjektivität fingiert, in die alle Individuen des betreffenden Kreises eingehen. Statt zu [161] sagen: die „antiken Menschen”, sagt man kurz „der antike Mensch”.

Ich erwähne hier kurz einige Beispiele aus der neuesten Wissenschaft, um diese relativistische Rationalisierung zu illustrieren. Da man die Unmöglichkeit der absoluten Verallgemeinerung eingesehen hat und doch über das Nurindividuelle hinausstrebt, so arbeitet man die spezifische Subjektivität einer Zeit, einer Nation, eines Kulturkreises heraus. Man sucht zum Beispiel die spezifische Wertung des hellenischen Menschen, des gotischen Menschen, des Renaissancemenschen zu ermitteln. Man fragt nach der besonderen Geistigkeit und den aus ihr resultierenden, in Werte sich umsetzenden Bedürfnissen der deutschen, der französischen, der slawischen Rasse. Man konstruiert darüber hinausgehend noch weitere Allgemeinsubjekte, den antiken, den arabischen, den faustischen Menschen. Man erkennt, daß das Wirtschaftsleben der kapitalistischen Zeit von einem anderen Menschentypus geschaffen worden ist als das statische antike. Diese Typen sind gewiß vielfach rein fiktive Rationalisierungen, sie sind aber für ein Verstehen der Wertungen unentbehrliche Denkhilfen, jenseits derer für das Irrationale der Individualität noch genügend Spielraum bleibt.

Statt also einer verwaschenen Allgemeinmenschlichkeit nachzujagen, sucht man sich mit voller Klarheit in Wertsubjekte von begrenzter Rationalität, dafür aber konkreter Lebendigkeit einzufühlen. So kommt man über das Nurindividuelle hinaus, ohne die tatsächlich bestehenden Trennungen zu vertuschen. Ermöglicht wird dies Verfahren durch die „Einfühlung”, d. h. die Fähigkeit des Menschen, fremde Subjektivität in sich zu realisieren. Daß nicht alle Menschen diese Fähigkeit in gleichem Grade haben, kann ruhig zugegeben werden; durch bewußte Übung läßt sie sich jedoch steigern, und vor allem jeder wissenschaftliche Forscher, der sich um das Verständnis fremder Werte müht, muß sie in sich ausbilden. Es ist dabei keineswegs gesagt, daß diese fremden Typen um so leichter zu übernehmen seien, je abstrakter und rationaler sie erscheinen, [162] nein, konkrete Individualität begünstigt die Einfühlungsmöglichkeit. Entgegen dem früheren Verfahren, alle Werte tunlichst zu rationalisieren, strebt man, gerade ihre individuelle Besonderheit in sich zu verwirklichen, und die Typik ist dafür nur eine Hilfe, nicht etwa Selbstzweck.


5. Die Absolutsetzung der Werte.
Die spekulative Rationalisierung der Wertungen macht jedoch nicht einmal bei dem universellen Normalmenschen als Wertsubjekt Halt, sie geht noch weiter und schafft ein absolutes Subjekt, das selbst die Grenzen der Menschheit hinter sich läßt und ein allgemeines Weltsubjekt zu sein behauptet. Der Weg zu dieser absoluten Wertung ist einfach: wenn alle Menschen im letzten Grunde gleich sind, also überall das gleiche Subjekt in die Rechnung eingesetzt werden muß, so ist dieser immer gleiche Faktor ein ganz überflüssiger Ballast; man läßt ihn also herausfallen. Man sagt also nicht mehr „dieses Kunstwerk gefällt mir”, sondern man sagt: „dieses Kunstwerk ist schön”, da eine Beziehung auf das Subjekt sich bei der Gleichheit aller Subjekte ja erübrigt. Die Schönheit wird also aus einem Relationsbegriff zu einer absoluten Eigenschaft des Dings, die ihm an sich zugeschrieben wird. Dies Verfahren der Wertabsolutierung liegt durchaus auf der Fortsetzung des Weges, den bereits das naive Denken geht, das ja jene absolute Ausdrucksweise „dies Kunstwerk ist schön” geschaffen hat. Die absolutistische Philosophie macht aus diesem unkritischen Irrtum des gemeinen Mannes eine Methode; aber ein methodisch ausgebildeter Irrtum bleibt doch ein Irrtum. Die Absolutsetzung der Werte ist leeres Gaukelspiel, das mit großen Worten über innere Hohlheit hinwegtäuscht. Es gleicht dem Verfahren jener alten Astrologen, die vom Himmel und aus den Sternen zu empfangen behaupteten, was sie in Wahrheit aus ihren eigenen Köpfen nahmen. Die bona fides mag dabei im einen wie im anderen Fall vorhanden sein: es schmeichelt ja nicht nur harmlosen Toren, sondern auch sehr gelehrten Köpfen, mit ewigen und absoluten Geistern sich in Kontakt zu wissen.

Bei der Absolutierung der Werte sind wiederum zwei [163] Stufen zu unterscheiden. Diejenigen Denker, die auf der ersten Stufe stehen, sind sich wenigstens der Notwendigkeit einer Subjektbeziehung beim Wertbegriff bewußt; sie beschränken sich darauf, ein ganz abstraktes, von aller individuellen Färbung gesäubertes „Uber-Ich”, ein absolutes Subjekt zu schaffen, das zwar selbst von allen menschlichen Zügen ganz frei sein, aber doch durch alle Menschlichkeit hindurchschimmern soll. Sie geben noch zu, daß das Werten ein Wollen ist, dies Wollen des Über-Ich ist jedoch beileibe nicht psychologisch zu fassen, sondern ist ein metaphysischer Weltwille, der sich freilich bei näherem Zusehen doch als peinlich anthropomorph ausweist.

Daneben gibt es noch eine zweite noch radikalere Form des Absolutismus, die auch den letzten Erdenrest der Subjektivität über Bord wirft und das Werten nicht auf ein Wollen, sondern auf ein „Sollen” zurückführt. Dieses gespenstige Sollen hängt über uns Menschen irgendwie in der Luft und umschließt alle Normen, nach denen wir zu werten und denen wir unser individuelles Leben zu beugen haben. Zwar hat sich eigentlich niemand in der Welt um jenes kaudinische Joch, das die philosophische Spekulation aufgerichtet hat, gekümmert, im Gegenteil, wo man gewertet hat, hat man stets nach sehr subjektiven Maßstäben gemessen, aber gerade die Weltferne und Abstraktheit ist für solche Theorien der beste Schutz. Gegen Gespenster hilft kein Hieb und Stich, aber diejenigen, die nicht gespenstergläubig sind, haben gar nicht nötig, gegen Hirngespinste zu fechten. Es gibt gewiß ein Sollen, das aber ist geworden durch den Prozeß der Rationalisierung, wandelbar je nach dem Menschentypus, der sich mit ihm auseinandersetzt; das angeblich absolute Sollen jedoch ist ein Wortgespinst, das seine Leerheit alsobald offenbart, sowie man es aufs Leben anwenden will. Es geht mit gewissen philosophischen Abstraktionen so wie mit des Königs neuem Kleid in Andersens Märchen. Die in solchen Abstraktionen befangenen Köpfe reden sich ein, ihre Ideen seien Realitäten, während unbefangene Beurteiler sofort erkennen, daß sie im besten Falle Einbildung sind.

[164]
6. Abschluß.
Fassen wir nunmehr rückblickend jenes Dilemma ins Auge, vor das wir uns gestellt sahen: daß nämlich die Wertverallgemeinerung nur für ein verallgemeinertes Subjekt gelten kann, andererseits jedoch die Werte stets in Individuen realisiert werden müssen, so liegt die Lösung vor Augen. Da die Individualität uns ja nichts Starres, sondern etwas Bildsames ist, so besteht die Möglichkeit, daß sie sich fremder Subjektivität anpaßt und aus ihr heraus erleben kann. Insofern sind die rationalen Werte auch Werte für das Individuum, da sie seine Erlebnismöglichkeiten ganz außerordentlich erweitern. Wir vermögen sehr wohl, bei einiger Übung in fremden Gefühlsweisen zu fühlen und in fremde Denkweisen uns einzuleben.

Allerdings aber hat dies Verfahren auch seine Grenze. Bei aller Wandlungsfähigkeit ist die Individualität doch nicht amorph, sondern lebt ihr eigenes Leben. Darum ist es nicht möglich, daß jeder Mensch jede Kunst oder jede Religion zu erleben vermag, sondern es muß eine gewisse Verwandtschaft bestehen zwischen seiner Individualität und der zu übernehmenden rationalen Subjektivität. Das ideale Wertsubjekt ist nicht ein proteushafter Verwandlungskünstler, sondern die bei allem Verständnis für fremde Art doch in sich gegründete Persönlichkeit.




III. Kapitel

Die Objekte der Wertung


1. Wertgegenstand und Wertträger.

Das Wertobjekt ist, wie wir schon sahen, nichts Absolutes, es muß stets als Korrelat eines Wertsubjekts angesehen werden. Es ist ein grober Irrtum, anzunehmen, es gäbe „Wertobjekte an sich”. Nein, stets empfangen sie ihren Charakter als Werte erst durch das wertende Subjekt, dessen Bedürfnisse sie befriedigen.

Es ist wesentlich, sich über den Begriff des Wertobjekts zu verständigen. Dem Sprachgebrauch nach denkt man dabei allzu leicht an etwas Dinghaftes. Indessen sind viele Wert[165]objekte gar keine „Dinge”, und selbst, wenn ein reales Ding dahintersteht, ist das gewertete Objekt nicht mit diesem Dinge identisch. Eine moralische Handlung, eine Erkenntnis, eine religiöse Erleuchtung gelten als Wertobjekte, sie sind aber keine „Dinge”. Auch dort, wo scheinbar ein Ding vorhanden ist, ist der Wert oft gar nicht das Ding selbst; das Ding ist vielmehr nur eine Voraussetzung dafür. Wenn jemand erklärt, ein Bild Rembrandts sei ein künstlerischer Wert, so kann damit nicht die mit Pigmenten überdeckte Leinwand, sondern nur die Summe der durch jenes Ding ermöglichten geistigen Wirkungen gemeint sein. Ich trenne daher zwischen ideellem Wertobjekt oder Wertgegenstand (da sich der Begriff Gegenstand nach neuestem philosophischen Sprachgebrauch besser so verwendet) und materiellem Wertobjekt oder Wertträger, der nur Mittelwert, kein Eigenwert ist. Daß vielfach, in der Kunstgeschichte z. B., ideeller und materieller Wertgegenstand einfach gleichgesetzt werden, und man nicht einsieht, daß der Wertträger nur eine „Anweisung” auf einen ideellen Wert ist, bedeutet kein Ruhmesblatt für jene Wissenschaft. Erst die neuere psychologische Kunstbetrachtung hat gründlich aufgeräumt mit jenem Kunstmaterialismus.

Solche Wertgegenstände, denen kein materieller Wertträger entspricht, nenne ich abstrakt, die anderen konkret. Wirtschaftliche und ästhetische Werte sind in der Regel konkret, moralische und logische abstrakt, während für religiöse Werte vielfach gerade ihre Konkretheit ein wesentliches Problem ist, d. h. es fragt sich, ob der Glaube als solcher oder ein dahinterstehender Wertträger (Gott) den religiösen Wert ausmacht.

Indessen streben auch die abstrakten Werte nach einer konkreten Unterlage, weil sie sonst besonders für alle zwischenindividuellen Zwecke zu ungreifbar blieben. Da sie sich in materiellen Dingen nicht verkörpern können, so nehmen sie Worte als Träger. Die logischen Werte formulieren sich in Urteilen; die ethischen Wertungen finden in Sätzen und Geboten ihre Träger, die religiösen Werte in Dogmen, Mythenerzählungen und ähnlichem.

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Durch derartige sprachliche Formulierungen hofft man, den ideellen Wertgegenstand zu festigen, man schafft auch hier einen Wertträger. Gewiß kann man getrost nach Hause tragen, was man schwarz auf weiß besitzt; aber den „Geist” hat man damit noch nicht, nur den Buchstaben. Es verhält sich mit der sprachlichen Formulierung der Kantschen Philosophie genau so wie mit dem Rembrandtschen Bild. Wer das Buch besitzt und alle Sätze auswendig gelernt hat, braucht damit den logischen Wert so wenig erfaßt zu haben, als der Protz, der einen Rembrandt ersteigert, den Geist des Meisters, den eigentlichen Kunstwert, mitgekauft hat. Nicht was gedruckt im Buche steht, nur was einer herauszulesen vermag, ist der geistige Wert. Auf ihn allein kommt es an. Auch die sprachliche Formulierung ist nur eine Anweisung auf den Wert, nicht der Wert selbst.

Die rationale Logik begeht zwar den verhängnisvollen Grundfehler, der sich bereits in ihrem Namen, der Wort und Begriff gleichsetzt, ausspricht. Sie meint, im Worte sei der Begriff gleichsam eingeschlossen, es ließen sich Umfang und Inhalt des an ein Wort geknüpften Begriffes „definieren”. Infolgedessen sind in Wahrheit die angeblich logischen Kämpfe vielfach bloß Streitigkeiten um Worte gewesen. Man denke nur daran, wie wenig sicher selbst der Geist eines Kant in seine Worte gebannt ist, so daß seit einem Jahrhundert noch nicht genau ermittelt ist, welches das eigentliche logische Wertobjekt ist, das er der Welt gegeben hat, sondern daß im Grunde jeder Kantianer seinen Kant liest. Wir müssen einräumen, daß der psychische Wertgegenstand stets in Relation steht mit dem Wertsubjekt, das ihn erlebt.


2. Die Materialisierung der Wertgebiete.
Es geht also nicht an, die Wertträger als die Werte schlechthin anzusehen, man kann sie nur als Möglichkeiten oder Wahrscheinlichkeiten für Werterlebnisse gelten lassen. Trotzdem redet man beständig von den Inbegriffen der Wertträger: der Kunst, der Wissenschaft, der Religion, dem Recht usw. als von Wertgebieten an sich, und in der Tat haben sie eine [167] vom Subjekt losgelöste Existenzform gewonnen, die merkwürdig genug ist. Das zeigt sich besonders darin, daß unzählige Individuen mit diesen objektivierten Werten in Beziehung treten, ohne sie eigentlich als Werte zu erleben. Ich denke dabei zunächst an äußerliche Beziehungen, z. B. solche des Wirtschaftslebens. Wer gewinnt nicht alles sein Auskommen durch Arbeit in Kunst, Wissenschaft, Religion, Recht usw.! Man braucht nicht bloß an Laboratoriumsdiener oder Vorhangaufzieher zu denken, auch die Beziehungen vieler „Gelehrten” und „Künstler” zu ihren Wertgebieten sind kaum persönlicher. Ja es besteht die Paradoxie, daß es möglich ist, die Wertträger zu vermehren, ohne selbst des Werterlebens fähig zu sein. Es gibt Künstler genug, die ohne geistiges Verhältnis zur Kunst schöne Dinge machen, es gibt Gelehrte, die mit Bienenfleiß Tatsachen anhäufen, ohne daß diese sich ihnen je zu wirklicher Erkenntnis fügten, es gibt in allen Religionen Menschen, die opfern und beten, ohne daß ihnen das je mehr als ein ganz äußerer Akt wäre, ohne daß sie dadurch ein religiöses Erlebnis hätten. Mit Recht hat sich in neuester Zeit ein immer stärkerer Widerspruch gegen die Materialisierung der Werte geregt, und es ist besonders Nietzsche gewesen, der auf den Unterschied zwischen mechanischem und lebendigem Wissenschaftsbetrieb, zwischen mechanischer und lebendiger Kunsterfassung hingewiesen hat. Und trotzdem gibt es auch heute noch Philosophen, die sich dieser Kluft zwischen Wertträger und Werterlebnis niemals bewußt geworden sind.


3. Die Rationalisierung der Wertgegenstände.
In der Praxis des Lebens sieht man zwar in der Regel ein, daß mit dem Wertträger der ideelle Wertgegenstand nicht gegeben ist; denn man hält es für nötig, durch mancherlei Erklärungen und Kommentare den Geist hinter den Worten zu erfassen oder das ideelle Kunstwerk durch Interpretation herauszuarbeiten. Indessen ergibt sich stets, daß diese Kommentare, aus einiger Entfernung gesehen, keineswegs einen absoluten Wert herausarbeiten, sondern selber nur subjektive Erlebnisse in Worte [168] fassen. Wir werden also auch vom Objekt her nicht zu jener Absolutheit gelangen, die man vom Subjekt her vergeblich suchte. Hier wie dort kann man es höchstens zu einer gewissen Rationalisierung bringen, nicht zu mehr. Das Werterleben selbst bleibt im tiefsten Grunde irrational.

Alle Erläuterungen von Werten, die deren Erhebung über das irrationale Werterleben anstreben, sind in Wahrheit nur Konventionen für eine gewisse typisierende Auffassung des Werkes, die nur soweit gelten, als das erläuternde Individuum typisch ist für einen größeren Kreis. Infolgedessen zeigt denn auch die Geschichte, daß keine Deutung eines Werkes bisher für die Ewigkeit gegolten hat, sondern daß jeder neue Menschentypus seine eigene Rationalisierung der Werte gesucht und gefunden hat.

Die mannigfachen Deutungen der Worte Platons oder Jesu, die im Laufe der Jahrhunderte aufgetaucht sind, sind alle nur persönliche oder zwischenindividuelle Rationalisierungen, die eine Persönlichkeit oder ein Kreis von Menschen geschaffen hat. Man suchte hinauszukommen über das Momentane des Werterlebens, man suchte die psychischen Werte als etwas Dauerndes und Allgemeingültiges zu fixieren, aber zu einer Absolutheit drang man niemals vor.


4. Die Unmöglichkeit absoluter Wertgegenstände.
Vielleicht aber wird derjenige, dem die Relativität des Wertlebens, die ich hier allen konventionellen Fiktionen zum Trotz aufdecke, bange macht, und der krampfhaft nach einem Strohhalm greift, um etwas Festes in der wogenden Flut des Lebens zu halten, mit dem Einwand kommen, es müsse dennoch möglich sein, die Absolutheit des Wertgegenstandes zu bestimmen, und zwar so, daß man beim Schöpfer des Wertes anfrage; man müsse eben allen Scharfsinn daran setzen, zu ergründen, wie der schaffende Denker oder Künstler sein Werk gemeint habe, dann wäre man am Ziel.

Die so sprechen, haben wenig Einblick in das irrationale Wesen des geistigen Schaffens! Sie ahnen nicht, daß der schöpferische Geist niemals sein Werk aus der Ratio emp[169]fängt, sondern daß er selbst oft seinem eigenen Werke wie einem Wunder gegenübersteht. Das ist der tiefste Sinn des Begriffs der Inspiration, daß das Werk oft hoch hinauswächst über den, der es schafft, daß dieser sich nur als Instrument fühlt, worauf ihm selbst unbegreifliche Mächte spielen. Wer ein wenig in die Psychologie des künstlerischen und religiösen Schaffens eingedrungen ist, wird sich zahlreicher Selbstzeugnisse der bedeutendsten Geister entsinnen, die das in voller Klarheit aussprechen. Und auch bei philosophischen Denkern ist das nicht anders, mag hier auch die Rationalität größer sein als bei jenen. Wir können getrost den kühnen Satz wagen, daß noch niemals ein Schöpfer sein Werk ganz verstanden hat, da noch niemals einer alle Wirkungen überschaut hat, die von seinem Werke ausgingen. Auch bei den größten Denkern wie bei Plato oder Kant ist nicht zu bestreiten, daß das, was sie in Worte gebannt haben, nicht die ganze Tiefe ihrer Inspiration zu fassen vermochte; auch von ihnen wissen wir, daß sie nicht restlos klar waren über das, was sie zu geben hatten. Ich will sie damit nicht herabsetzen; im Gegenteil, ich glaube, damit ihre Größe erst recht ins Licht zu rücken. Alle Formulierungen und dinghaften Gestaltungen geistiger Werte sind nur endliche Formen für Unendliches. Die mannigfachen Interpretationen, die man versucht hat, und die sich oft schroff widersprechen, sind nicht bloß Mißverständnisse, sie sind durchaus berechtigte Deutungen der irrationalen Werte, die daneben aber noch andere zulassen.

Trotzdem bleibt es natürlich stets ein Verdienst, unter Zurückdrängung aller individuellen Auffassungen, die Absicht des Wertschöpfers möglichst rein herauszuarbeiten, sei es, daß das durch Herstellung getreuer Texte, sei es, daß es durch Hinzuziehung zeitlicher Nebenumstände, die erhellend wirken können, sei es, daß es durch Herausarbeitung der Gesamtpersönlichkeit des Schöpfers geschieht. Nur darf das nicht zur Hauptsache werden, hinter der die persönliche Wirkung verschwindet, zumal es auch der getreueste Interpret [170] nur zur Annäherung, nie zur restlosen Erfassung bringt und nur das irrationale Erleben schöpferisch ist.


5. Der Wertgegenstand als lebendige Wirkung.
Trotzdem hieße es mich mißverstehen, wollte man aus meiner Betonung der Irrationalität aller Werte heraushören, es sei gleichgültig, wie man die Werte auffasse, oder zu meinen, ich redete wilder Willkür das Wort. Wenn auch die Wirkung der Werte nie ganz rational ist, wenn wir sie nie „objektiv” erfassen können, so bleibt in ihnen doch genug, was überindividuelle Bedeutung hat. Sie sind gewiß nicht ganz rational, aber darum noch lange nicht amorph. Es besteht sehr wohl eine feste, ja eine notwendige Beziehung zwischen Gegenstand und Ich, nur ist es keine einseitig objektive, es ist eine objektiv-subjektive Notwendigkeit. Es ist wie mit der Befruchtung des Eies durch den männlichen Samen, wobei das Ergebnis weder aus dem Samen noch aus dem Ei zu errechnen ist, und doch eben dies Ei nur mit dieser Wirkung befruchtet werden konnte. Überblicken wir die Wirkungen Shakespeares auf die deutschen Dramatiker, so ist sicher, daß keiner von ihnen Shakespeare objektiv richtig verstanden hat, dennoch haben sie alle vom Shakespeareschen Geiste empfangen, ihn jedoch in ihrer Weise zu neuem Leben ausgetragen.

Die Werte sind lebendige Wesenheiten, die sich nicht durch Mumifizierung, nur durch lebendige Zeugung erhalten, die Kausalität der geistigen Welt ist eine organische, keine mechanische.


6. Die Tragikomik der Wertrationalisierung.
Ich erkenne also vom Standpunkte der Individualitätsphilosophie die Rationalisierung der Werte als Notwendigkeit an, zugleich aber als notwendiges Übel. Wenn es ihr gelänge, sich durchzusetzen, würde die ganze Kultur ein Totenacker oder ein Altertumsmuseum ohne Lebenskraft. Indessen ist das Übel darum nicht so groß, weil jene Durchsetzung nur scheinbar gelingt, weil unter rationalen Masken beständig neue Individualitäten, die Träger des Lebens, sich geltend machen. Wäre Rationa[171]lisierung das echte Ideal, so wären die staatlich approbierten Kunstakademien, die theologischen und philosophischen Schulen die wahren Träger der Kultur, weil sie das Alte bewahren und die Überlieferer des ererbten Wertschatzes sind. Aber sehen wir uns die Geschichte der Künste und anderer Wertgebiete an! Ist es nicht ein lustiger Witz der Weltgeschichte, das dieienigen, die rückwärts gewendet die rationalisierten Werte der Vergangenheit am Leben zu erhalten trachten, am höchsten immer gerade solche Individuen preisen müssen, die mit kühner Kraft die Hüter des Alten zu ihrer Zeit entthronten? Wer lebt in unserer Kunst-, Religions- und Philosophiegeschichte? Etwa die braven Akademieprofessoren, die auf die Buchstaben der Meister schworen und für die Ewigkeit solcher Werte in Harnisch traten, oder jene anderen, die respektlos gegen alle Rationalisierung Sturm liefen und ihrer Subjektivität freie Bahn schufen? Ein anderer Witz der Weltgeschichte freilich will, daß eben diese Neuerer, wenn sie erst durchgedrungen waren, in der Regel selbst der Rationalisierung verfielen und die von ihnen geschaffenen subjektiven Werte nachher ebenfalls für objektiv und allgemeingültig hielten und alles daran setzten , sie als dauernd zu konservieren. Immer wieder begegnen wir der Tatsache, daß das Irrationale sich zu rationalisieren strebt, und daß doch keine Rationalisierung standhält, sondern daß das Leben über alle Festlegungen hinausflutet, neuen unbekannten Fernen zu. Schöpferisch ist allein das Irrationale, aber die Basis für neue Schöpfungen wird doch erst durch Rationalisierung des irrational Geschaffenen erreicht.

[172]
IV. Kapitel

Die Irrationalität auf den einzelnen Wertgebieten


Es sei noch kurz für die einzelnen Wertgebiete nachgewiesen, daß sich die irrationale Individualität überall zur Geltung bringt. Die Aufstellung rationaler Werte im Sinne derjenigen Denker, die ohne Berücksichtigung aller Individualität universell gültige, ja absolute Werte glauben finden zu können, ist ein Streben nach einem unerreichbaren Ideal, eine Donquichotterie. Gewiß ist aus praktischen Gründen eine weitgehende Rationalisierung des Werterlebens nicht zu umgehen; das eigentlich Lebendige und Schöpferische bleibt auf allen Wertgebieten trotzdem das Individuum.


1. Das Irrationale der ästhetischen Wertungen.
Am leichtesten wird die Notwendigkeit individueller Belebung der Werte für das ästhetische Gebiet zugegeben. Hier billigt man der Individualität verhältnismäßig weiten Spielraum zu, ja man fordert ihn. Es wäre bitterer Vorwurf für einen Dirigenten, daß er eine Beethovensche Symphonie „unpersönlich” aufgeführt hätte; es wäre auch für den Schauspieler ein zweifelhafter Ruhm, wollte man seine Individualität nicht unter der Rolle herausspüren. Ja selbst wissenschaftliche Kunstforscher, die prinzipiell nach Objektivität streben, würden nicht geschmeichelt sein, wollte man ihre ganz unpersönliche Kunstauffassung loben, und jeder bessere Biograph müht sich bei aller wissenschaftlichen Exaktheit doch um eigene Auffassung seines Gegenstandes. Was aber dem öffentlichen Interpreten recht ist, muß dem privaten Genießenden billig sein. Diesem kann man freilich die individuelle Auffassung der überlieferten Kunstwerte nicht so sicher nachweisen wie den nachschaffenden Künstlern. Vielfach sind die Genießenden sich gar nicht bewußt, wie stark sie ihre Subjektivität einmischen, weil das Individuum selbst seine Besonderheit nicht immer als solche empfindet. Wo uns aber Briefe, Tagebücher [173] oder andere Selbstzeugnisse Einblick gewähren in das Seelenleben der Kunstgemeinden, da sehen wir überall, wenn wir vergleichen, daß sie gar nicht „dasselbe” Kunstwerk genießen, sondern jeder sein eigenes, d. h. das durch das Medium seiner Individualität gefärbte. Und wo wir die Möglichkeit haben, das Kunstgenießen ganzer Zeiten oder Völker zu vergleichen, da ergibt sich, so rationalisiert es innerhalb dieser Kreise sein mag, doch sein ganz persönlicher Charakter. Eine gewisse Rationalisierung ist nötig, weil eine zwischenindividuelle Verständigung soziales Bedürfnis ist, und weil durch Inbeziehungtreten zu fremdem Erleben das eigene erweitert werden kann, aber hinter aller Rationalisierung muß doch ein ganz persönliches Moment mitspielen. So wenig man eine Frau unpersönlich lieben kann, so wenig kann man ein Kunstwerk „unpersönlich” erfassen. Das tiefste ästhetische Erleben ist, im Genießen wie im Schaffen, das Überspringen eines göttlichen Funkens, der nicht mit der Ratio zu errechnen ist. Leute, die behaupten, zu jeder Zeit jegliches gefeierte Kunstwerk genießen zu können, wissen vermutlich überhaupt nicht, was ästhetisches Erleben ist.

Mag man vom Standpunkt des rationalen Philosophen, der die Allgemeingültigkeit in den Falten seiner Toga mitzuführen behauptet, dies Wechselspiel zwischen Wert und Individuum beklagen, vom Standpunkt unbefangener Betrachtung wird man es als Tatsache anerkennen müssen.

Wenn die Frage der praktischen Stellungnahme dazu aufgeworfen werden soll, so kann maßgebend nicht ein abstrakter Standpunkt, sondern allein das Interesse der Kunst sein. Auch diese Frage werden wir nicht durch Spekulationen lösen, sondern allein durch Befragung der Tatsachen, wie sie uns eine immerhin einige Jahrtausende währende Geschichte offenbart. Dabei aber finden wir, daß man überall, wo man einseitig objektive, allgemeingültige, rationale Auffassung überlieferter Kunstwerte gesucht hat, in ödem Alexandrinertum versandet ist, daß aber überall dort, wo man mutig individuell die Werte verarbeitet hat, frisches Leben erblüht ist. Nichts [174] pflegt schneller zu veraltern als Kommentare, die behaupten, die zeitlosen Werte eines Kunstwerkes zu vermitteln. Meist dünken sie bereits der folgenden Generation banal und philiströs und scheinen das Wesentliche zu verfehlen, weil jede Generation ein neues Wesentliches im Kunstwerk erlebt. Das Kennzeichen des großen Werkes ist nicht, daß es auf alle Zeiten dieselbe, sondern auf jede Zeit und jede Individualität die gerade diesen gemäße Wirkung übt.

Man darf allerdings mit den sterilen Alexandrinern nicht jene Persönlichkeiten verwechseln, die sich in begeisterter Hingabe der geprägten Kunst mit dem Bestreben nahen, sie „rein” zu erfassen und davon überzeugt sind, sie hätten das vermocht. Solches Bemühen kann in der Tat dauernd wertvoll sein, aber nicht, weil es „rational” und „zeitlos”, sondern gerade, weil es persönlich ist, weil, ohne daß jene Leute es merkten, doch ihre Individualität sich kräftig Geltung schuf. Wir wissen heute, daß, bei aller Hingabe an die Antike, die „Renaissance” nicht die Antike „rein” erfaßt hat, sondern daß in Berührung mit der alten eine neue Kunst entstanden ist. Wir wissen, daß Winkelmann, Goethe, Schiller und alle anderen deutschen „Klassiker” gar nicht wirklich „klassisch” waren, sondern sehr deutsch (was jeder Ausländer stärker empfindet als der Durchschnittsdeutsche), und daß der Wert ihrer Werke nicht auf einem „rein” erfaßten Klassizismus, sondern auf ihrem deutschen Geist beruht, für den das Klassische nur Anregung war. Sie haben in ihrem Bemühen, in der klassischen Kunst „die” Kunst zu ergreifen, zwar nie ihr Ziel erreicht; aber sie haben echte Werte geschaffen, weil sie, befruchtet von der griechischen Kunst, neue, eigene Werte schufen. Nicht als tote Materie, sondern als lebenzeugende Macht wirken die künstlerischen Werte fort von Geschlecht zu Geschlecht, und ihre Ewigkeit besteht nicht im rationalen Beharren, sondern im ewig jugendlichen Werden.


2. Das Irrationale der religiösen Wertungen.
Schwerer als auf ästhetischem Gebiete wird auf religiösem Gebiete zugestanden, daß Werte nur insoweit Werte sind, als [175] sie von Individuen in Leben umgesetzt werden. Zum mindesten gibt es in allen Religionen den Kampf zwischen Rationalisten (in unserem Sinne, der von dem Begriff des religiösen Rationalisten etwas abweicht) und Irrationalisten, d. h. Individualisten. Im Christentum wird dieser Gegensatz im großen und ganzen durch den zwischen Katholizismus und Protestantismus vertreten. Für einen orthodoxen Katholiken ist der religiöse Wert etwas rational Faßbares, objektiv Festgelegtes, Unwandelbares, für einen nichtorthodoxen Protestanten hat jedes Individuum das Recht der eigenen Auffassung, der Laie wie der Priester. Allerdings ist zuzugeben, daß auch innerhalb dieser Konfessionen wiederum die gleiche Spaltung zwischen Rationalisten und Individualisten klafft, daß es Katholiken gibt, die bewußt persönlich Stellung nehmen zur göttlichen Welt, daß es aber auch an orthodoxen Protestanten nicht fehlt, die ihr Bekenntnis rationalisieren und eine Buchstabengläubigkeit an Stelle der persönlichen Auslegung setzen, Wozu gerade Luthers Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben (den man als ein Fürwahrhalten gewisser Dogmen faßte) verleitet hat. Auch gibt der polytheistisch gestaltete Katholizismus in mancher Hinsicht mehr Raum für individuelle Stellungnahme zum Göttlichen als ein ganz konsequenter Monotheismus. In allen Religionen finden wir diese Gegensätze. Im Islam verfocht der große Al-Ghazzali das Recht der freien Persönlichkeit gegen den Rationalismus. Ja, man kann von allen Religionen sagen, daß sie um so lebendiger sind, je mehr Ketzer und Sekten sie erzeugen; denn was diese verfechten, ist stets das Recht des Individuums gegenüber der Rationalisierung.

Auch auf religiösem Gebiete darf man nicht unter abstrakten Gesichtspunkten urteilen, sondern nach der Geschichte der Religionen. Befragen wir diese, welche Personen als die stärksten religiösen Geister sich erwiesen haben, wer die sind, die am tiefsten gewirkt haben, und denen die religiösen Werte überhaupt verdankt werden, so finden wir, daß diese selbst dort, wo sie glaubten, sich ganz den objektiven Werten unter[176]zuordnen, doch stets ihre eigene Persönlichkeit durchgesetzt haben. Sind nicht die Gründer der Religionen in Wahrheit Umstürzler gewesen, auch wo sie es nicht Wort haben wollten? Gewiß hat Jesus erklärt, er sei nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen, und es würde nichts vom Gesetze vergehen, solange die Erde stünde; aber er hat sich geirrt, er hat eine ganz persönliche Religion geschaffen, die zwar auch rationalisiert, aber auch immer aufs neue in persönliches Leben umgesetzt wurde! Auch Luther wollte keineswegs eine neue Religion gründen, er wollte auf die Bibel zurückgehen, aber seine Auswahl aus den biblischen Schriften, auf die er sich stützte, seine Interpretation derselben ist persönlich, und was er geschaffen hat, ist nicht eine „allgemeingültige” Interpretation des Christentums, sondern eine durchaus persönliche, und eben in dieser persönlichen Wucht liegt seine Größe. Das Göttliche hat nicht eine Gestalt, sondern unzählig viele, und zu jedem Menschen kommt es in dessen eigener Weise oder gar nicht. Alle Dogmen sind leere Formen, solange nicht das Individuum sie mit eigenem Geiste erfüllt. Man hat seine eigene Religion oder gar keine. Im Sinne persönlichen Erlebens wäre eine Allerweltsreligion eine große Lüge.


3. Das Irrationale der logischen Wertungen.
Am festesten scheint die Stellung des Rationalismus auf dem Felde der Logik zu sein. Hier scheint er in der Tat Alleinherrscher. „Die Wahrheit kann nur eine sein!” verkündet er. „Individuelle Wahrheit ist eine logische Unmöglichkeit! Individuelle Wahrheiten müßten sich allenthalben widersprechen und so sich gegenseitig widerlegen und aufheben!” Man weist darauf hin, daß Wissenschaft ihrem Begriff nach auf Objektivität gehe, daß sie darum den Ausschluß jeder Subjektivität bedeute.

Es scheint gefährlich, gegen diese Stellung Sturm zulaufen. Setzt man sich doch dem bequemen Gegenangriff der anderen Partei aus, die einem das billige Argument entgegenschleudern kann, daß jeder Relativismus zum mindesten die Feststellung einschließen muß, daß auch der Relativismus relativ sei. Der Einwand ist ein wenig banal, denn die Relativisten [177] behaupten ja gar nicht, eine absolute Erkenntnis erbracht zu haben, sondern auch ihr allgemeinster Satz, daß alle Erkenntnis relativ sei, meint natürlich alle menschliche Erkenntnis, besagt also, daß auch in jenem allgemeinsten Satze die Relation auf die menschliche Erkenntnis stecke.

Nun sahen wir aber, daß es gar nicht den Menschen gibt, sondern nur Individualitäten. Alle Erkenntnis wäre demnach individuell, und das ist sie in der Tat! Man muß nur zwei wesentliche Punkte berücksichtigen: erstens daß Erkenntnis in diesem Sinne nicht einen herausgerissenen Satz meint, sondern den einzelnen Satz nur als Glied der Gesamterkenntnis des Menschen. Zweitens aber bedeutet individuelle Verschiedenheit nicht vollkommene Inkongruenz; es sind natürlich weitgehende Übereinstimmungen möglich, besonders im Hinblick auf die Übertragung der Erkenntnis ins Praktische, aber einige Obertöne dissonieren immer; mag im Satz selber Übereinstimmung herrschen, die Beziehungen, besonders die zum Ich, sind immer individuell.

Nehmen wir, wie bereits oben, als Beispiel den Satz: „Alle Menschen sind sterblich”, so ist gewiß zuzugeben, daß der grobe Durchschnittssinn des Wortes überall gleich sein wird, mag ihn ein indischer Brahmine, ein gläubiger Christ, ein moderner Materialist aussprechen. Aber wie unendlich verschieden sind die feineren Obertöne, je nachdem einer an das Nichtsein des Individuums oder an die Unsterblichkeit der Einzelseele oder an die maschinelle Struktur der menschlichen Veranlagung glaubt. Und solche Obertöne schwingen mehr oder weniger bei jedem Menschen mit und bei jedem irgendwie anders. Gewiß gibt es Denkinhalte wie die mathematischen Sätze oder die chemischen Formeln, die absichtlich so gestaltet sind, um Obertöne tunlichst auszuschalten; ganz frei von individueller Beziehung sind auch sie nicht.

Ein logischer Wert ist unserer Definition nach nun nicht das absolute Bestehen einer Wahrheit, sondern die Befriedigung eines Bedürfnisses. Und das ist niemals ganz rational. Daß ein logischer Satz zur wirklichen Erkenntnis werde, das [178] ist ein Vorgang, der gar nicht zu berechnen ist, das ist so irrational wie jedes andere Erleben. Wenn man darauf hinweist, daß die Erkenntnis der Menschheit doch ein Bau sei, bei dem sich Stockwerk auf Stockwerk füge und der Weiterbau nur durch die absolute Festigkeit des früher gebauten möglich wäre, so ist dieser Vergleich falsch. In Wahrheit wächst die Erkenntnis nicht wie ein toter Bau, sondern wie ein lebendiger Organismus, bei dem auch das stationär Gewordene stets Umbildungen erfährt. Der Spezialist, der auf engem Felde ackert, mag das nicht merken; wer jedoch von philosophischer Warte das Erkenntnisleben überblickt, bemerkt, daß bis in die Fundamente hinab das Ganze sich ständig ändert, daß jeder Zeit, jedem selbständigen Kopfe auch die scheinbar festesten Sätze stets in neuem Lichte aufleuchten. „Reine” Erkenntnis ist nicht ein zu erreichendes Ziel, sondern eine unendliche Aufgabe. Die Rationalität der Erkenntnis ist eine Fiktion, die durch ihre eigene Geschichte beständig widerlegt wird. Das Ideal der rationalen Logiker, die für alle Ewigkeiten festgelegte „Begriffspyramide”, ist ein falsches Ideal, und ein tiefer symbolischer Sinn scheint sich mir hinter dem Gleichnis zu enthüllen. Denn was ist eine Pyramide? Ein Totenmal, das in einer Wüste steht! Auch die Begriffspyramide der Logiker würde ein Totenmal sein, eine Begräbnisstätte für alles lebendige Forschen und alle geistige Entwicklung!


4. Die Irrationalität der ethischen Werte.
Auch die ethischen Werte verdichten sich gern in die Form rationaler Gebote und Gesetze, die hoch über dem Individuum zu schweben scheinen, und denen es sich, nach verbreiteter Ansicht, schweigend zu unterwerfen hat. Ethisch wertvoll würde eine Handlung nur dann sein, wenn sie diesen Gesetzen gemäß verläuft. Das wäre der ethische Rationalismus in seiner gröbsten Form.

Daß dieser Standpunkt jedoch äußerlich ist und als Sittlichkeit in höherem Sinne nicht gelten kann, ist von allen tieferen Ethikern erkannt worden, und sie haben daher das [179] Wesen der Sittlichkeit nicht in die Legalität der Handlung, sondern in die Gesinnung des Subjekts verlegt. Doch wird als Prüfstein für die Moralität der Gesinnung wiederum die Anerkennung einer objektiv bestehenden Norm gefordert. Ein durchaus rationaler Gesichtspunkt wird auch in diese Ethik eingeführt. Die Rationalisierung wird sogar noch weiter getrieben: zur Rationalisierung der objektiven Tat tritt die Rationalisierung des Subjekts. Wirklich ist denn auch z. B. in der Ethik Kants, wie in seiner Philosophie überhaupt, kein Raum für individuelle Verschiedenheiten. Es ist ein durchaus rationaler Gesichtspunkt, der die Ethik des kategorischen Imperativs beherrscht, daß stets die aus der Handlung abzuleitende für alle geltende Maxime der Prüfstein für den ethischen Wert sein soll.

Diese Ethik setzt also voraus, daß das Leben überhaupt rationalisierbar sei, daß es möglich sei, jede Handlung in Gedanken ohne weiteres zur allgemeinen Maxime zu erweitern, daß die ungeheure Verflochtenheit des Daseins überhaupt auf Formeln zu bringen sei. Infolgedessen versagt die Ethik Kants, sie wird zu einem weltfremden Rigorismus, sobald sie auf konkrete Fälle des Lebens angewandt werden soll. Das Leben ist unendlich viel zu kompliziert, als daß es von solchen gewiß grandios emporgetriebenen aber weltfernen Gesichtspunkten aus überschaut werden könnte. Auch sind die Subjekte kein amorpher Thon, dem man beliebig jede Gestalt geben kann, sondern tragen in sich ihre Bestimmungen, die es nicht zu negieren, sondern ethisch auszuwerten gilt. In doppelter Hinsicht also wird die Ethik irrationale Gesichtspunkte einführen müssen. Sie wird der Verflochtenheit des Seins, der unwiederholbaren Einmaligkeit seiner Konstellationen Rechnung tragen, sie wird aber auch die individuellen Besonderheiten berücksichtigen müssen. Sie wird also auf jeden Fall auch dort, wo sie zu rationalen Formeln gelangt, einen großen Spielraum für Irrationales lassen müssen. Goethe scheint mir dem am besten gerecht zu werden, indem er die Frage nach der Pflicht nicht durch eine rationale [180] Formel, sondern einen durchaus irrationalen Wink beantwortet: „die Forderung des Tages”. Man stelle sich nur im Ernst einen Menschen vor, der an alle Fragen des Alltagslebens mit der ganzen Autorität des Sittengebots heranträte, der stets nach Prinzipien und ewigen, festen Gesetzen handelte: er wäre unerträglich, und eine Welt von solchen Menschen wäre eine Welt öder Schulmeister. Goethes Rat dagegen scheint auf einen irrationalen Takt als tiefsten Kompaß für die Ethik hinzuweisen, wie ihn innerhalb des gesellschaftlichen Lebens eine hohe soziale Kultur auszubilden pflegt. Diesen ethischen Takt zu entwickeln, d. h. ethische Persönlichkeiten zu erziehen, die bei aller inneren Festigung doch Feinfühligkeit genug für die besonderen Konstellationen des Lebens besitzen, scheint mir eine würdigere Aufgabe als ihnen starre Gebote einzuhämmmern. Die ethische Rationalisierung wäre zum mindesten nur eine Vorstufe, von der aus jener ethische Takt weiterzuschreiten hätte. Ein ethischer Individualismus, in diesem Sinne gefaßt, wäre kein Egoismus und keine tyrannische Willkür, sondern wäre eine Aufgabe, die jeden Tag neu zu lösen wäre, aber auch mit jeder Lösung einen neuen Wert erbrächte.


5. Der Parallelismus zwischen dem Wertleben und der organischen Formbildung.
Alles in allem bleibt eine seltsame Paradoxie in aller Wertung bestehen: Die Wertung strebt zur Rationalisierung hin, sie tritt auf mit dem mehr oder weniger kategorisch erhobenen Anspruch, für eine Allgemeinheit gültig zu sein, und doch sind es stets die irrationalen Individuen, die jene Werte realisieren müssen. Die Geistesgeschichte stellt sich daher als unablässiger Kampf zwischen rational gewordenen Werten und irrationalen Individuen dar. Ist irgendwo ein ethisches Gebot, ein ästhetischer Stil, ein logischer Satz, ein religiöses Dogma kanonisiert worden, immer drängen neue Individuen nach, die anders werten. Ist es deshalb wirklich berechtigt, jede Rationalisierung bloß als Krankheit anzusehen und jedem Spätgeborenen zuzurufen: „Weh dir, daß du ein Enkel bist!” wie Mephisto dem dummen Schüler? Nein! Eine solche Betrachtungsweise [181] sieht nur die eine Seite, nur die lastende Tragik, die in der Tat durch den mühsamen Kampf des Individuums gegen ihm wesensfremde Wertprägungen erwächst. Und doch sind auch für das Individuum jene rationalen Werte wirkliche Werte, wenn auch keine absoluten. Die rationalen Werte sind die Stufen, auf denen das Menschengeschlecht fortschreitet, wenn auch nicht immer zur Höhe. Es sind Stufen, auf denen es ausruht, und die doch auch zugleich die Basis sind zum Weiterschreiten. Ohne sie müßte jedes Individuum von vorn anfangen; indem es sie übernimmt, übernimmt es zugleich das Erbe aller Vorfahren. Es braucht nicht nur von den Zinsen zu leben, es kann und soll wuchern mit diesen Pfunden. Ob das, was es schafft, in absolutem Sinne besser oder schlechter ist, steht nicht in Frage, nur ob es den Notwendigkeiten des Lebens, den irrationalen Bedürfnissen entspricht, die mit jedem Individuum und jeder Generation neugeboren werden. Da die Menschen sich nicht in einheitlich aufsteigender Richtung fortentwickeln, kann man das auch nicht von ihren Wertungen erwarten. Jede Zeit, jedes Volk, jedes Individuum schaffen sich die Werte, die sie brauchen.

Indem ich aber die Welt der Werte nicht, wie das gewöhnlich geschieht, als Anhäufung fester garantierter Besitztümer, von Dingen oder Sätzen, sondern als ein Werden und Gestalten einerseits und ein Durchbrechen und Neuformen andererseits hinstelle, indem ich zeige, wie das irrational wirkende Leben immer neue Formen hervortreibt, um sie wieder zu zerstören, muß sich ein Vergleich aufdrängen mit der Welt der Lebensformen in der Natur, die das gleiche Schauspiel des ewigen Gestaltens und Überwindens darbietet. Hier wie dort ein unendlicher Strom des Werdens und Zerrinnens, des Ausgestaltens fester Formen und deren Zersplitterung in tausend Varietäten, aus denen neue Formen entstehen. Und die Individuen, die aus jenen festen Gestaltungen hervorgehen, sind Träger dieser ewigen Umgestaltung. In der Tat ist das mehr als ein bloßer Vergleich. Ich sehe in der Welt der Werte keinen Gegensatz zur Welt des organischen Lebens, [182] sondern sehe in ihnen die Wirkung des gleichen Prinzips, und es wird im letzten Teile dieses Buches zu zeigen sein, wie alles Leben auf diesem Kampf zwischen Irrationalität und Rationalisierung beruht, den ich hier für das Wertleben aufgezeigt habe, daß das Wertleben nur eine Sonderform des Lebens überhaupt ist, dessen wesentliche Züge es ebenso offenbart wie das Werden der Organismen. So sonderbar es zunächst anmuten mag, es sind doch die gleichen Lebensprinzipien, die die Formen der Pflanzen- und Tierwelt gestalten, wie diejenigen, die sich in den Schöpfungen der Kunst und der Religion offenbaren.


V. Kapitel

Das Problem der Rangordnung der Werte


1. Die Forderung einer Rangordnung.

Wir sahen, daß die Grundlage alles Wertens, das Werterleben, in subjektiven Bedürfnissen wurzelt. Wir sahen weiter, daß die Verallgemeinerung der Werte, wenn sie auch die momentane und rein individuelle Subjektivität überwindet, doch nur ein allgemeineres rationalisiertes Subjekt einführt. Den Versuch, die Subjektivität durch Ausschaltung des Subjekts oder Einführung eines absoluten Subjekts zu ersetzen, mußten wir ablehnen. Bedeutet das alles nun nicht Willkürherrschaft und Chaos im Gebiet des Wertlebens? Und steht dem nicht die Tatsache gegenüber, daß auf allen Wertgebieten beständig einzelne, auch allgemein geltende Werte als „falsche” Werte abgelehnt werden, und daß überall Rangordnungen der Werte bestehen? Ein solches Urteil über Richtigkeit und Rangordnung der Werte wäre eine Bewertung der Wertrationalisierung, die ihrerseits eine Bewertung des momentanen Werterlebens war. Es würde sich also um eine tertiäre Wertung handeln.

Nun wird auch über die tertiäre Wertung hinaus noch eine endlose Staffelung möglich sein, wenn es nicht gelingt, [183] für die tertiäre Wertung ein Prinzip zu finden, das eine letzte Instanz darstellt. Dieses Prinzip müßte sich von den unzulänglichen Prinzipien der meisten Wertabsolutisten vor allem dadurch unterscheiden, daß es Subjekt ist, es müßte aber zu gleicher Zeit die individuellen wie die rationalisierten Subjektivitäten umschließen, müßte also bei aller Fundierung einer Werthierarchie doch die volle Beweglichkeit zu neuen Möglichkeiten bewahren.

Als ein solches zugleich individuelles und doch auch überindividuelles, zugleich irrationales und doch Rationalisierungen zulassendes Grundprinzip für alle Wertungen hat man neuerdings das Leben eingeführt, und in der Tat ist damit ein Richtiges erkannt, wenn ich auch die Hoffnungen für die auf dieses Prinzip zu gründende Rangordnung einschränken muß. Wie sich das Leben im allgemeinen und die Individualität zueinander verhalten, wird im letzten Buch ausführlich zu erörtern sein. Hier sehe ich im Leben nur eine allgemeinere, durch die Individuen hindurchwirkende Subjektivität. So betrachtet, sind die Bedürfnisse der Individuen nur die Bedürfnisse des hinter ihnen wirkenden allgemeinen Lebens, das aber nicht allgemein im Sinne des Rationalismus ist, sondern in jedem Individuum sich unendlich verschieden betätigt. Es würde damit gerade der Begriff der Ungleichheit und Verschiedenheit der Wertungen, den die Rationalisten so verdammen, zu einem positiven Prinzip. Da das Leben, was sich überall ergibt, in beständiger Wandlung ist und nicht nach dauernder Einheit, sondern unendlicher Fülle strebt, so ist selbstverständlich, daß auch die den Bedürfnissen dieses irrationalen Lebens entgegenkommenden Werte selber irrational sein müssen. Daneben aber strebt das Leben, wie ich bereits oben zeigte, innerhalb der Individualitäten wie in deren Verhältnis untereinander zu gewissen Rationalisierungen und, soweit es sich rationalisiert, ist auch eine Rangordnung möglich.


2. Versuche zur biologischen Begründung der Werte.
Ich lasse zunächst kurz einige der wichtigsten biologischen Werttheorien vorüberziehen. Sie fassen die Beziehung [184] zum Leben in der Regel als Daseinserhaltung der Individuen oder sozialer Gruppen.

Von den praktischen Werten, den Eigenwerten (wie der Nahrungsaufnahme) und der Anhäufung von Mittelwerten (wie der von Reichtümern), braucht die Beziehung zur Daseinserhaltung nicht erwiesen zu werden. Zum schwierigeren Problem wird erst die biologische Fundierung der sogenannten höheren Werte, die sich dem Laien oft gerade durch einen Gegensatz gegen die Bedürfnisse der gewöhnlichen Daseinserhaltung zu charakterisieren scheinen; denn vielfach bedeutet das Streben nach sittlicher Vollkommenheit, nach Wahrheit und Schönheit und den Werten der Religion eine Einschränkung jener praktischen Werte. Trotzdem hat man alle diese Wertgebiete biologisch begründet. So hat Spencer den Versuch gemacht, seine liberaldemokratische Moral auf die Biologie zu fundieren, und viele neuere sind ihm auf ähnlichen Wegen gefolgt.

Für die Ästhetik haben manche Forscher den Versuch unternommen, eine biologische Fundierung zu finden. Man kann in aller ästhetischen Betätigung das Bedürfnis zur Übung solcher seelischen Funktionen sehen, die sonst verkümmern würden. Die ästhetische Betätigung diente somit dem Ausgleich innerhalb der durch die Kultur zersplitterten und zerrissenen Menschennatur, der Erhaltung jener Totalität, in deren Dienst bereits Friedrich Schiller die Kunst stellen wollte.

Eine biologische Fundierung der Logik ist besonders vom Pragmatismus angestrebt worden. Man will nur denjenigen logischen Urteilen das Prädikat „wahr” zukommen lassen, die der Erhaltung des Daseins dienen. Indessen ist der Pragmatismus, wie er selbst zugibt, nur ein neuer Name für alte Denkmethoden, und so hat man denn eine weit zurückführende Vorläuferreihe des Pragmatismus aufstellen können, in der Namen wie Goethe, Nietzsche und andere glänzen, die z. T. die biologische Bedingtheit der Wahrheit sogar tiefer erfaßt haben als die Pragmatisten.

Sogar die religiösen Werte hat man biologisch zu [185] stützen versucht, indem man auf sie das pragmatistische, d. h. ein biologisches Prinzip anwandte. Darum, weil sie dem Leben dienten, seien die religiösen Werte „Wahrheiten”.

Die meisten der bisherigen biologischen Werttheorien scheinen mir vor allem daran zu kranken, daß sie nicht ganz klar über das Subjekt des zu erhaltenden Lebens sind, d. h. daß sie keine prinzipielle Lösung der Frage finden, ob es auf das Individuum oder die „Gattung” oder ein anderes überindividuelles Subjekt ankommt.

Außerdem scheint mir der Begriff der „Selbsterhaltung” in den meisten Fällen große Unklarheiten zu bergen; denn die Erhaltung biologischer Wesen ist nichts Statisches. Die Subjekte des Lebens sind nicht immer gleich, die Selbsterhaltung äußert sich in stets neuen Bedürfnissen, und mit der Selbsterhaltung tritt die „Entwicklung” in Konflikt, die mindestens ebensosehr als Kennzeichen des Lebens angesehen werden muß wie das Streben zur Erhaltung des Bestehenden.


3. Die Entwicklung als Prinzip der Rangordnung.
Um die Schwierigkeiten des Begriffs der „Selbsterhaltung” zu überwinden, hat man die Entwicklung als Prinzip des Wertens einzuführen gesucht. In der Tat scheint dieser Ausweg vielversprechend; läßt er doch hoffen, innerhalb des irrationalen, in tausend Erscheinungen sich spaltenden Lebens eine Richtungskonstante und damit einen Anhalt für eine rationale Rangordnung zu finden. Damit hätten wir, so scheint es, eine Möglichkeit, gut und böse, schön und häßlich, wahr und falsch zu unterscheiden.

So lockend diese Aussicht ist, so berauschend der Entwicklungsgedanke im ganzen neunzehnten Jahrhundert auf die besten Köpfe gewirkt hat, wir müssen im zwanzigsten Jahrhundert sagen, daß es gewiß „Entwicklungen” gibt, aber nicht die Entwicklung. Damit fällt auch die Hoffnung dahin, daß uns dieser Prüfstein die Werte erschlösse.

Weder die Natur noch die Geschichte liefern uns, sowie wir den rein anthropozentrischen und egozentrischen Stand[186]punkt verlassen, die Möglichkeit, eine eindeutige Entwicklung zu erkennen. So lassen sich in der Natur nicht eine, sondern viele Entwicklungsrichtungen aufzeigen. Da erscheinen die Ameise, die Biene, der Mensch als Höhepunkte einer auf soziales Leben gerichteten Entwicklung, es erscheinen dagegen der Löwe oder der Adler als Gipfel einer aristokratisch antisozialen Entwicklungsreihe, als Naturgebilde, die unter vielen Gesichtspunkten „vollkommener” sind als der Mensch. Wenn dieser sich darum, weil er mit Feuerwaffen jene starken Tiere umbringt, einbildet, er sei höher entwickelt, so könnte sich der Cholerabazillus seinerseits aus ähnlichen Gründen eine Überlegenheit über den Menschen einbilden. Es ist auch keineswegs gesagt, daß die komplizierteren Lebensgebilde die „höheren” im Sinne des Lebens sind. Wenn wir von „höheren” und „niederen” Lebewesen sprechen, so liegt darin ein ziemlich plumper Anthropomorphismus. Diejenigen Denker, die aus der Naturentwicklung einen absoluten Maßstab für das Menschenleben finden wollten, sind denn auch zu kontradiktorisch entgegengesetzten Ergebnissen gelangt: lasen die einen aus der Natur eine Tendenz zur immer größeren sozialen Anpassung, so lasen die anderen ebenfalls aus der Natur die Tendenz zur Schaffung weniger überragender, die Gattung sprengender Individuen heraus.

Auch die Menschheitsgeschichte zeigt keine eindeutige Entwicklungslinie. Gewiß gab es zu allen Zeiten Philister, die in sich den Gipfel aller früheren Zeiten sahen, aber nicht bemerkten, daß jedem Fortschritt auf der einen Seite ein Rückschritt auf anderen gegenübersteht. Wer betont, daß der gegenwärtige Mensch im logischen Denken allen früheren Geschlechtern überlegen sei, muß doch zugleich einen erschreckenden Rückgang aller ästhetischen Instinkte zugeben. Sind wir Heutigen als Gesamtmenschen wirklich höhere Wesen als die Griechen der perikleischen Zeit oder die Zeitgenossen Lionardos oder die Chinesen der Tangdyniastie? Nein, wir müssen dem angenehm zu glaubenden Wahn einer stetigen Höherentwicklung der Menschen entsagen, und können höch[187]stens eine Tendenz zur Wandlung, aber eine ganze irrationale, als Wesen des Lebens erkennen.


4. Die Rangordnungen der Werte in der Wirklichkeit.
Mag man also das Leben als letztes Prinzip aller Wertbezogenheit zugeben, so muß man doch einräumen, daß es keineswegs einen rationalen Maßstab für eine Rangordnung der Werte hergibt. Indessen ist das Leben ja nicht durchaus irrational, sondern unterliegt beständigen Rationalisierungen. Soweit diese reichen, geben sie auch einen gewissen Anhalt für Rangordnung der Werte. Wenn man von „Selbsterhaltung”, von „Entwicklung” spricht, so bezieht sich das also nicht auf das irrationale Leben schlechthin, sondern nur auf ein rationalisiertes Leben. Alle Rationalisierungen sind aber relativ, nicht ewig. Deshalb können alle daher abgeleiteten Wertmaßstäbe nur relativen, nicht absoluten Charakter haben.

Das finden wir denn in der Tat, wenn wir den in der Wirklichkeit geltenden Wertmaßstäben nachgehen. Sie sind gewiß letzten Endes auf das Leben bezogen, aber nur auf dessen Rationalisierungen. Von hier aus können wir die im Leben bestehenden Rangordnungen - es gibt deren sehr viele, nicht eine, wie manche Theoretiker behaupten - verständlich machen, wir werden zugleich aber auch ihre Relativität zugeben müssen.

Die in der Wirklichkeit geltenden Rangordnungen, deren Prinzipien es aufzudecken gilt, gehen entweder vom Werterlebnis aus oder vom Wertsubjekt oder vom Wertobjekt. Und so sollen sie hier betrachtet werden.

Man verstehe dabei mein Verfahren recht! Die meisten Werttheoretiker, Nietzsche voran, betrieben Wertlehre so, daß sie selber werteten. Ich will nur erkennen, nur die Werte als Tatsachen erforschen und die Prinzipien aufdecken, nach denen gewertet wird. Das gilt für den Wertrang, die tertiäre Wertung genau wie für die primäre und sekundäre.


5. Rangordnungen der Werterlebnisse.
Indem der Begriff einer Rangordnung eingeführt wird und der eines „Maß[188]Stabes” für die Werte, wird ein quantitatives Moment vorausgesetzt. Denn messen lassen sich nur Quantitäten. In der Tat ist denn auch ein sehr verbreiteter Wertmaßstab ein solcher, der Wertungen nach ihrer Verbreitung oder ihrer Dauer, d. h. quantitativ abschätzt. Ich nenne dieses Wertprinzip das der Extensität. Die Extensität kann innerindividuell als Dauer, sie kann zwischenindividuell als Verbreitung gefaßt werden, sie kann auch in Vereinigung beider Umstände als größte Dauer bei größter Verbreitung verstanden werden, und als solche scheint sie in der Tat ein Maximum an Lebenswerten zu umschließen. Je öfter und je dauernder ein Wert Bedürfnisse befriedigt, um so höher scheint er zu stehen.

Indessen ist der Begriff der Extensität, so bequem er auf den ersten Blick erscheinen mag, doch eine recht pauschale Zusammenfassung, da es schwer zu sagen ist, ob wirklich „dasselbe” Bedürfnis vorliegt, wenn der „gleiche” Wertgegenstand dargeboten wird. Ich habe bereits dargelegt, daß wenn zwei „dasselbe” tun, es noch lange nicht dasselbe ist; ja es ist nicht einmal immer dasselbe Bedürfnis, das „dasselbe” Individuum zum „selben” Gegenstand zieht. Im Gegenteil, wir müssen feststellen, daß es eine Gleichheit des Erlebens und also auch des Bedürfens niemals gibt, daß also dann, wenn „derselbe” Gegenstand wiederholt als Wert erfunden wird, das nicht darum geschieht, weil er stets dasselbe Bedürfnis befriedigte, als vielmehr darum, weil er vielerlei Bedürfnisse stillt. Der Faust gilt nicht nur darum als so hoher Wert, weil er dem jedem Menschen eingeborenen „faustischen” Drang Worte und Gestalt verleiht, sondern darum, weil in einer Faustaufführung weiche Herzen auch über Gretchen schluchzen, geistergläubige Seelen vor dem Geisterspuk erschauern, schaulustige Augen sich am bunten Szenenwechsel erfreuen können. Die scheinbare Extensität der Wirkung ist also gar nicht die Extensität desselben Werterlebens, sondern nur die mannigfaltige Wertwirkung desselben Wertträgers.

Andererseits läßt der Umstand, daß vielfach gerade Werte niederen Ranges hohe Verbreitung haben, ebenfalls Bedenken [189] gegen das Extensitätsprinzip aufkommen. Es scheint, daß das Werterleben allein, ohne Einbeziehung der Qualität der Wertsubjekte, nicht ausreicht als Grundlage für die Rangordnung. Zudem weist die Tatsache, daß neben dem Prinzip der Extensität das gerade entgegengesetzte Prinzip der Exklusivität gilt, ebenfalls auf qualitative Momente hin.

Vielleicht ist man nun geneigt, dies qualitative Prinzip, um eine Rangordnung damit begründen zu können, als das der Intensität dem der Extensität gegenüberzustellen. Zwar hat man neuerdings dargelegt, daß das Prinzip der Intensität auf psychisches Leben nicht anzuwenden sei, und es ist gewiß zuzugeben, daß die Intensität auf psychischem Gebiet durch mathematische Größen höchst unvollkommen ausgedrückt wird, daß die Berechnungen der Experimentalpsychologie grobe Schematisierungen des Seelenlebens zugrunde legen, da sie Qualitäten in Quantitäten umdeuten. Setzen wir das voraus, daß Intensität nicht im Sinne mathematischer Maßzahlen zu nehmen ist, daß damit vielmehr qualitative Verschiedenheiten gemeint sind, die jedoch eine Anordnung in Reihen gestatten, so ist doch vielleicht erlaubt, diesen Begriff zu verwenden.

Noch einen anderen Einwand gilt es abzuwehren, den nämlich, daß ich die Intensität des Werterlebens etwa mit dem Quantum an Lustgefühlen gleichsetzte. Wäre die Massenhaftigkeit des Lustgehalts für einen Wertrang maßgebend, so stünden alle grobsinnlichen Genüsse hoch über den erlesensten geistigen Werten. Das Lustquantum, das durch eine reichlich mit Alkohol begossene Mahlzeit vermittelt wird, mag größer sein als das Erleben des Cis-Moll-Quartetts von Beethoven oder der Genuß einiger Kapitel der „Welt als Wille und Vorstellung”. Trotzdem besteht unter gebildeten Menschen eine Rangordnung, die umgekehrt wertet. Wir müssen auch bei den Gefühlen Qualitätsunterschiede gelten lassen, was schon aus allgemeinpsychologischen Gründen unabweisbar ist.

Intensität des Gefühls bedeutet uns also nichts meßbar Quantitatives, sondern nur in gewisse Reihen einordenbare Qualitätsunterschiede, die in der Tat im Leben überall ge[190]macht werden. Sind sie nun faßbar, gibt es irgendein Prinzip, daß man das eine Bedürfnis, das eine Gefühl für reicher, tiefer, echter, inniger hält als andere? Schon diese Aufzählung zeigt, daß es offenbar nicht bloß eine Reihenordnung, sondern mehrere gibt, und daß es nicht leicht sein wird, hier festen Grund zu finden.

Vielleicht schafft jedoch unsere Analyse der Individualität eine Möglichkeit. Wir sahen bereits, daß im Bewußtseinsleben nicht immer die ganze Individualität ins Spiel tritt, sondern nur ein Teil. Ein Bedürfnis und ein daraus resultierendes Gefühl werden um so intensiver in unserem Sinne sein, einen je größeren Teil des Ichs sie ergreifen. Man spricht bildlich von oberflächlichen und tiefen Erlebnissen. Versuchen wir diese Metaphern auf ihren Realitätsgehalt zu packen, so würde in der Tat sich das Erleben danach in Reihen ordnen lassen. Ein Genuß, der nur die Geschmacksnerven kitzelt, ist ohne Zweifel oberflächlicher als das Erleben einer weiten Bergeslandschaft, durch das unser ganzes Ich sich befreit, erweitert, erhoben fühlt. Eine Posse, die unser Zwerchfell erschüttert, mag ein größeres Lustquantum auslösen als eine Tragödie, die uns mit allen Schauern des Todes umweht; aber es kann kein Zweifel sein, daß jenes Erleben an der Oberfläche bleibt, während die Wertwirkung der Tragödie an jenes ernste, im Innersten des Menschen verwurzelte metaphysische Bedürfnis rührt, das auf Klärung des Verhältnisses von Leben und Tod hindrängt, und das durch das tragische Geschehen in seinen Tiefen aufgewühlt wird. Von diesem Standpunkt aus fände dann auch der Begriff der Werthöhe, den man neuerdings eingeführt hat, und der besser Werttiefe hieße, seine Erklärung. Wenn der Mystiker seine Ekstase ohne jeden Vergleich als tiefer als alle übrigen Gefühlserlebnisse einschätzt, so geschieht es eben auf Grund der selbst die Grenzen der Individualität noch durchbrechenden Eindringlichkeit dieses Erlebens.

Trotzdem, so bedeutsam das Prinzip der Extensität in diesem Sinne sein mag, es ist doch keine letzte Instanz. Denn [191] es weist auch auf die Subjekte zurück, die als solche „oberflächlicher” oder „tiefer” sind. Wir müssen also neben dem Werterleben selbst auch die Wertsubjekte berücksichtigen.


6. Die Rangordnung der Wertsubjekte.
In der Tat gehen die im Leben bestehenden Werthierarchien vielfach auf Rangordnungen der Subjekte zurück. Man ordnet die Subjekte in Reihen und unterscheidet Subjekte von hohem Rang und niederem. Ich will dieses Wertprinzip das der Autorität nennen.

Auch dies erscheint auf den ersten Blick vielversprechend. Wer möchte nicht vertrauensvoll die Wertungen hinnehmen, die von Menschen anerkannter Größe stammen? Muß nicht ein Werturteil Goethes in künstlerischen Dingen unanfechtbar scheinen? Wird man nicht großen Gelehrten in ihren Beurteilungen von Erkenntnisfortschritten unbedingt vertrauen wollen? Trotzdem beweist die Geschichte, daß die Wertungen selbst höchster Autoritäten nicht kanonisch bleiben konnten, daß sie anderen Platz machen mußten. Welcher Kunstfreund wird heute noch Goethes Werturteile über Kleist oder Guido Reni unterschreiben wollen? Wer kann viele Urteile Böcklins über die angesehensten Künstler der Vergangenheit ohne halb schmerzliche halb komische Erschütterungen lesen? Haben nicht Päpste und Konzilien religiöse Werturteile gefällt, die die Nachwelt korrigieren mußte? Haben nicht Gelehrte vom Rang eines Newton oder eines Virchow sich geirrt, jener in der Einschätzung der Huygensschen Entdeckungen, dieser in der Beurteilung der Hypnose? Die Geschichte aller Kulturgebiete zeigt, daß die Autorität eines Fachmannes kein Beweis für dauernde oder allgemeine Gültigkeit seiner Wertungen ist. Eine feste Rangordnung ist darauf nicht zu bauen, noch weniger aber auf die Autorität solcher Personen, die gar nicht auf besondere Sachkenntnis Anspruch machen können. Und doch zeigt die Geschichte der Wertungen unzählige Fälle des Einflusses etwa von Fürsten oder anderen Mächtigen auf alle geistigen Wertgebiete, obwohl jene ihre Autorität nur ihrer Stellung, nicht ihrer individuellen Bedeutung danken. Ein [192] peinlich humoristisches Kapitel berührt man mit der Tatsache, daß sich selbst bedeutende Künstler und Gelehrte über Titel und Orden gefreut, ja darum gebuhlt haben, obwohl sie in hellen Stunden dem Verleiher jener Ehren jede sachliche Autorität absprechen mußten! Die menschliche Eitelkeit ist wenig wählerisch in der Annahme alles dessen, was ihr schmeichelt, und sie fühlt sich oft nicht geschmeichelt, weil der Schmeichler Autorität ist, sondern hält ihn darum für eine Autorität, weil er schmeichelt.

Wollen wir den Rang der Wertsubjekte bestimmen, so dürfen wir es nur auf Grund ihres Werterlebens tun. Vielleicht sind die großen Kritiker ebenso selten wie die großen Schaffenden, und am wenigsten sind alle großen Schaffenden große Kritiker. Die Fähigkeit, Werte zu erleben, der Wertungstakt, ist etwas für sich und kann nur aus der Analyse des Wertungsvorgangs selbst begriffen werden. Es würde demnach die Rangordnung der Wertsubjekte auf die des Werterlebens zurückweisen. Wir werden sagen müssen, daß nur Menschen von hoher Wertintensität und von feinstem Vorgefühl für die Extensitätsmöglichkeiten als sachliche Autoritäten zu gelten haben, so daß wir auch damit, da jene Begriffe der Intensität und Extensität nicht restlos rationalisierbar sind, nicht eine vollständige rationale Wertordnung erlangen.


7. Die Rangordnungen der Wertobjekte.
Es bliebe nun der Versuch, eine rationale Wertordnung aus den Wertobjekten zu gewinnen. Freilich muß auch dieser daran scheitern, daß eine solche Rangordnung niemals die wirklichen psychischen Wertgegenstände fassen könnte. Da jeder Wertträger unendlich viele Möglichkeiten der Wertwirkung je nach der Subjektivität des Erlebenden bietet, so verliert sich bereits dadurch alles ins Irrationale. Urteile über Wertbedeutung von Wertträgern, seien es Kunstwerke, seien es logische oder ethische Sätze, können nur etwas über die Möglichkeit, niemals über die Notwendigkeit aussagen. Sagt man, die Bibel sei zu allen Zeiten ein Wert hohen Ranges ge[193]wesen, so übersieht man einerseits, daß sie nicht ein Werterleben, sondern außerordentlich verschiedene Werterlebnisse vermittelt hat, man übersieht aber andererseits, daß es auch sehr viele Menschen gibt, die sie als töricht und schädlich ablehnen. Alle Versuche, auf die Wertgegenstände objektive Maßstäbe anzuwenden, etwa Kunstwerke durch mathematische Formeln oder religiöse Wahrheiten durch logische Beweise zu fassen, sind für jeden Einsichtigen zur Lächerlichkeit verdammt.

Trotzdem hat man nach einem objektiven Kennzeichen des Wertranges gesucht und glaubt oft, ein solches, in der Originalität der Werke gefunden zu haben. Besonders die geschichtliche Betrachtung legt diesen Maßstab an. Sie ordnet die Werke nach ihrem historischen Nacheinander in Reihen an und läßt als wahre Werte nur diejenigen gelten, die über ihre Vorstufen hinaus Neues erbracht haben. Das Prinzip scheint vortrefflich, ist aber genau besehen doch weit davon entfernt, ein rationaler Maßstab zu sein. Denn die „Neuheit” ist nie ganz objektiv festzustellen, ist keineswegs etwas Absolutes, sondern etwas sehr Relatives. Vieles, was heute als ganz neuartig erscheint, gilt künftigen Generationen vielleicht als recht unoriginell, weil man andere Zusammenhänge sieht. Und außerdem genügt Neuheit niemals allein zur Wertkonstituierung, sie muß sich auch durch extensive oder intensive Wertwirkung erst als Wert erweisen.

Was man sonst zur Begründung des Wertranges herangeführt hat, „ästhetische Gesetze” oder „logische Normen” usw., ist alles nicht etwa Prinzip, ist vielmehr nachträgliche Rationalisierung. Die Werte bauen sich nicht auf Gesetzen auf, sondern die Gesetze sind nachträglich nach den Werten zurechtgezimmert.

Sehr verbreitet ist auch die gegenseitige Stützung der Werte. So sucht man religiöse oder ästhetische Werte dadurch zu stützen, daß man sie als „logisch” erweist; man hält es für einen Vorzug logischer Werte, wenn sie zugleich ästhetisch wirken (die Einheitsmanie und Klassifikationssucht [194] vieler Denker geht auf ganz alogische, ästhetische Momente zurück). Man ist bestrebt, entweder die Ethik durch die Religion oder die Religion durch die Ethik zu stützen, und was derartiger Versuche mehr sind. Sie alle jedoch reichen niemals aus, die Relativität der Werte zur Absolutheit zu erheben und ein einheitliches Wertrangprinzip zu schaffen.


8. Abschluß.
Mustern wir rückblickend die Prinzipien, die den in der Welt geltenden Wertrang ausmachen, so ergibt sich, daß nicht etwa ein einheitliches Prinzip des Wertranges besteht, sondern daß der Wertrang durch ein unberechenbares Zusammenwirken von Extensitäts- und Intensitäts-, von Originalitäts- und Autoritätswertungen zustande kommt, zu denen noch zahllose Zufälligkeiten treten. Wenn heute Lionardos Mona Lisa, die christliche Ethik oder die Newtonschen Fallgesetze als Werte hohen Ranges gelten, so sind, was auch die Theoretiker sagen mögen, alle diese Werte gar nicht rational begründet, und niemand ist sicher, daß man in fünfzig Jahren noch ebenso werten wird. Auch hier wieder verweise ich auf eine bedeutsame Parallele zwischen den rationalisierten Werten und den Rationalisierungen der organischen Natur. Die Gründe, warum eine Art sich durchgesetzt hat und erhält, sind nicht in Formeln zu bringen. Gewiß kann man höhere oder niedere Arten unter mancherlei Gesichtspunkten feststellen, aber es ist nicht nötig, daß die „niederen” Arten etwa verschwinden aus der Welt. So werden auch immer wieder Werte niederen Ranges entstehen und sich durchsetzen, und es wird nie ein Kodex gefunden werden, nach dem eine feste Rangordnung sich bildet. Auch die tertiären Wertungen sind, bei aller Rationalisierung im einzelnen, doch letzten Endes irrational, weil die Individuen, die Subjekte der Wertung, irrational sind. Und selbst wenn wir als Subjekt das Leben setzen, also ein metaphysisches Subjekt aller Subjekte, so wird es auch dann dabei bleiben, daß dies Subjekt sich zwar in tausenderlei Formen zu rationalisieren strebt und doch in seiner Gesamtheit ewig irrational bleibt.

------- ENDE Teil III --------


Müller-Freienfels, Philosophie der Individualität

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IV. Teil

Die Rationalisierung der Individualität


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Erstellt am 01.09.2010 - Letzte Änderung am 20.10.2010.