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Richard Müller-Freienfels
PHILOSOPHIE DER INDIVIDUALITÄT
Teil IV

www.archive.org/stream/philosophiederin00ml#page/194/mode/2up

[195]
IV. Teil

Die Individualität und das Leben



Es gibt kein Werden aus dem Nichts, noch
      wird zu Nichts das Seiende!

Die Grenze beider ist erschaut von denen, die
      die Wahrheit schaun.

Doch wisse, unvergänglich ist die Macht,
      durch die das All gewirkt!

Des Ewigen Vernichtung kann bewirken niemand,
      wer's auch sei.

Vergänglich sind die Leiber nur - in ihnen
      weilt der ewige Geist,

Der unvergänglich, unbegrenzt - drum
      kämpfe nur, du Bharata.

Bhagavadgita


Und es ist das ewig Eine,
das sich vielfach offenbart;
klein der Große, groß der Kleine,
alles nach der eignen Art.

Goethe


[197]
I. Kapitel

Die Individualität als Kategorie

1. Das Problem der Individualitas individuans.

Nach mannigfachen Umwegen, auf denen wir der Auswirkung der Individualität in den verschiedensten Kulturgebieten nachgingen, kehren wir zu jenem Problem zurück, das hinter allen diesen Untersuchungen stand, dem Problem des eigensten Wesens der Individualität, des innersten Subjekts aller ihrer Erscheinungsweisen, der individualitas individuans, wie ich sie genannt hatte.

Bekanntlich fehlt es nicht an Denkern, die ein solches innerstes Wesen der Individualität leugnen. Für die Denkrichtungen des Assoziationismus, Phänomenalismus, Conscientialismus und wie sie alle heißen, ist das Ich überhaupt und also auch das individuelle Ich nur ein Knäuel mannigfach verschlungener Fäden, das man bloß aufzudröseln braucht, um das Ich als - Phantom zu entlarven. Wir vermögen uns dieser Denkrichtung nicht anzuschließen.

Für die meisten Denker dagegen, die dem Ich Wesenheit zusprechen, ist die Individualität als solche nur die unbeträchtliche Färbung eines überall gleichen Kerns, des „allgemeinen Ich”. Diesen Fehler des Übersehens der Bedeutung der individuellen Besonderheiten haben Denker sehr verschiedener Richtungen begangen. Und doch führt von ihrer Annahme einer fundamentalen Gleichheit aller Subjekte kein Weg zur unendlichen Mannigfaltigkeit der lebendigen Welt. Wer die unübersehbare Fülle der Formen, wie sie die Geschichte uns aufschließt, nur als oberflächliche Modifikation, nur als wech[198]selnde Maskerade eines im Grunde ewig wesensgleichen Seins auffaßt, der verfehlt das Wesen des historischen Geschehens, dem wird die Individuation zu einem unlösbaren Problem. Wir aber sagen nicht: Im Anfang war die Gattung; sondern wir sagen: „Im Anfang war das Individuum.” Die Gattung ist nicht das Schaffende, sondern das Geschaffene, das Produkt einer rationalen Betrachtung. Schöpferisch ist allein die Individualität. Sie ist niemals aus der Gattung, nur die Gattung ist aus jener zu erklären.

Daß es notwendig ist, hinter den mannigfachen Erscheinungsweisen der Individualität eine besondere Wesenheit anzunehmen, geht bereits daraus hervor, daß keine der sieben Erscheinungsweisen imstande ist, die anderen Erscheinungsweisen so zu umspannen, daß diese sich ihr völlig unterordneten. Gewiß ist es möglich, von jedem der sieben Aspekte nahe Beziehungen zu den anderen zu finden, keiner aber ist geeignet, die anderen restlos von sich aus erklärbar zu machen. Wir gaben zwar zu, daß einige der Erscheinungsweisen jenem hypothetischen Wesen der Individualität näher, andere ferner zu stehen scheinen, aber auch die verhältnismäßig „nächsten” Aspekte sind weit entfernt, die Totalität zu umschließen.

Trotzdem hat man den Versuch gemacht, einzelne Erscheinungsweisen als das Wesen der Gesamtindividualität zu erklären. So wollten manche Denker im Leibe das Wesen der Individualität sehen, gleichsam die Substanz, von der alles andere abhinge. Gegen diese Theorie hat man oft genug und, wie auch mir scheint, hinlängliche Gründe geltend gemacht, daß vom Leibe aus niemals das Bewußtsein, weder das unmittelbare Erleben noch die „Seele”, das fiktive Substrat derselben, noch das Innenbild als wirkender Komplex zu erklären seien.

Aber auch wenn man vom Bewußtsein ausgeht und einen der Bewußtseinsaspekte der Individualität zum festen Pol in der Erscheinungen Flucht machen will, kann man das Ganze nicht umfassen, denn wie man es auch anpacken mag, den Leib und sein nichtbewußtes Leben vom Bewußtsein aus zu erklären, [199] ist vergebliches Bemühen. Daß der Leib nur eine Vorstellung des ewig wechselnden Augenblicksbewußtseins sei, ist absurd. Daß er eine Wirkung der „Seele” sei, ist darum unmöglich zu behaupten, weil diese Seele selbst nur ein fiktiver Begriff ist, dessen Realität auch vom Bewußtsein her nicht zu erweisen ist, da sie keineswegs im Bewußtsein gegeben, sondern nur als Substrat für dieses erschlossen ist, wobei selbst die Notwendigkeit dieses Schlusses in Zweifel gezogen werden kann. Ebenso kann der Leib keine Wirkung des Innenbilds der Individualität sein, da er dem Innenbild vorausgeht und eine Voraussetzung für dessen Zustandekommen ist. Die stolze These, es sei der Geist, der sich den Körper baue, setzt eine viel schärfere Fassung des Begriffs vom Geist voraus, als sie diejenigen zu geben pflegen, die jenen Satz anrufen. Da aber jede Definition des Geistes doch irgendwie, wenn sie nicht in halbmaterialistische animistische Hypothesen geraten will, vom Bewußtsein ausgehen muß, so verfängt sie sich in die Schwierigkeiten, die ich kurz aufgezählt habe.

Kurz, welche der sieben Erscheinungsweisen wir zum Ausgangspunkt machen, nirgends fassen wir das Ganze der Individualität. Wir müssen, um jene Schwierigkeiten zu vermeiden, eine Wesenheit erschließen, die gestattet, zu gleicher Zeit den Leib wie die verschiedenen Formen der Bewußtheit von sich aus zu erklären. Wir müssen eine Wesenheit finden, die sowohl den Leib wie die verschiedenen Bewußtseinsformen gestaltet, die also weder rein materiell, noch rein bewußt ist, sondern sich sowohl materiell wie im Bewußtsein auswirkt, Wenn wir sie finden, so wäre damit viel gewonnen, dann würde die scheinbar unüberbrückbare Kluft zwischen Leib und Bewußtsein ihre Schroffheit verlieren; es würde sich eine Möglichkeit eröffnen, beide aus dem gleichen Prinzip abzuleiten, ohne in die Einseitigkeiten des Materialismus hier, des Conscientialismus dort zu verfallen.


2. Von der Individualitas individuata zur Individualitas individuans.
Ehe ich dies gesuchte Wesen der Individualität mit einem Namen nenne, will ich zusammen[200]stellen, was nach unseren bisherigen Ergebnissen an sicheren Aussagen möglich ist.

Daß das zu erschließende Wesen der Individualität eine rationale Größe im Sinne der alten Logik sei, ist ausgeschlossen. Ein Etwas, das sich in allen seinen Aspekten als irrational erweist, kann unmöglich selber rational sein; wir brauchten sonst ein neues Prinzip, das die irrationale Erscheinungsweise des rationalen Wesens erklärte, wodurch das Problem nur unnütz verwickelt würde. Es ist durchaus berechtigt, wenn wir in der Individualitas individuans auch die Bedingungen der Individualitas individuata suchen, zumal gar nichts zur Annahme eines rationalen Kernes nötigt.

Mit der Irrationalität ist aber alles das auch für das Wesen gesetzt, was wir für die Irrationalität der Erscheinungen feststellten. Es muß also erstens eine variable, keine konstante Größe sein; denn nichts in den verschiedenen Erscheinungsweisen nötigte uns zur Annahme wirklich konstanter Faktoren; wir konnten im Gegenteil nachweisen, daß alle scheinbare Konstanz nur eine verlangsamte Variabilität oder fiktive oder künstliche Rationalisierung ist. - Zweitens werden wir die Fähigkeit zur Spaltung, die wir in allen Erscheinungsformen fanden, auch beim Wesen der Individualität annehmen müssen. - Und drittens werden wir ihm nicht feste Grenzen setzen, sondern ihm gerade die Tendenz zur Erweiterung und zur Einbeziehung von Nichtindividuellem zuschreiben müssen.

Daneben muß die Fähigkeit zur Ausprägung relativ rationaler Formen zugegeben werden, die sich in Gewöhnung, Anpassung und Nachahmung äußert und zu gewissen Konstanten führt. Diese „Rationalisierung” erkannten wir als Eigenheit in allen Erscheinungsweisen und müssen sie daher auch dem Wesen der Individualität zuschreiben. Außer diesen lassen sich noch einige weitere Tatsachen feststellen.

Zunächst ist die Individualität als in der Zeit verlaufend zu begreifen; wenn sie sich auch im Raume auswirkt, so ist sie doch nicht selbst räumlich zu denken. Der Zeitverlauf ist wesentlich, obgleich er von allen Mechanisten geleugnet wird, [201] die gerade darauf den größten Wert legen, daß alle Zeitfolge bereits in irgendeinem Momente der Gegenwart mitbedingt sei. Demgegenüber scheint es uns, daß man nicht im räumlichen Nebeneinander, sondern in einem Nacheinander das Wesen der Individualität sehen muß, daß selbst ein mit Allwissenheit begabter Mathematiker aus dem Heute nicht das Morgen errechnen kann, es sei denn, er setze einen zeitlichen Faktor in Rechnung, der nicht bloß nach mechanischen Gesetzen abläuft und dann hinüberführt zum Freiheitsproblem.


3. Individualität und Leben.
An dieser Stelle kann ich dem Wesen der Individualität jenen anderen Namen geben, der schon überall zwischen den Zeilen herausgeschaut hat: das Leben. Individualität und Leben sind nur insofern eins, als es kein Leben gibt, das sich nicht individualisierte, und keine Individualität, die nicht lebendig wäre. Sage ich „Leben”, so betone ich mehr den ohne Zweifel bestehenden Zusammenhang der Individualitäten, die Kontinuität; sage ich Individualität, so betone ich die Unterschiedenheit der einzelnen Lebensformen, die neben jener Kontinuität bestehende Diskontinuität, was ich darf, da ich ja die Spaltungsfähigkeit als wesentlichen Faktor eingeführt habe. Aber auch sonst gilt vom Leben alles das, was ich an der Individualität abgelesen habe. Das Leben ist Veränderung, nicht chaotische, sondern bestimmt gerichtete Veränderung. Hört diese völlig auf, kann man von Leben nicht sprechen. Das Leben ist auch nicht abgrenzbar, sondern strebt, sich auszubreiten und Nichtlebendiges in sich einzubeziehen. Es drängt bei aller Veränderlichkeit doch auch zu gewisser Konsolidierung, es schafft sich gleichsam Ruhepunkte, es verfestigt sich zu relativ konstanten Formen, die aber stets wieder zu durchbrechen sind.

Das irrationale, sich wandelnde und relativ sich konsolidierende, unendlich sich spaltende Leben ist es, das sich in jenen Erscheinungsweisen der Individualität manifestiert. Insofern ist es selbst individuell, und doch ist es zugleich überindividuell, weil jede Individualität teil hat an der Gesamtheit des Lebens. Wenn ich durch einen - allerdings cum [202] grano salis zu nehmenden - Vergleich es ausdrücken darf, so sind die Individualitäten etwa den einzelnen Strömen oder Bächen der Erde zu vergleichen, während das Leben dem Wasser entspräche, das in ihnen allen quillt. Nur muß man bei diesem Vergleiche sich bewußt sein, daß das Leben nicht „Substanz” ist wie das Wasser, sondern eben als eine andere Kategorie begriffen werden muß.

Das „Leben” also ist jenes hinter den Erscheinungsweisen der Individualität erschlossene Wesen. Ist diese Wesenheit selber individuell oder gehört die Individualität nur der Erscheinung an? Dieser wichtigen Frage können wir uns erst zuwenden, nachdem wir eine andere geklärt haben.


4. Die Individualität als Kategorie.
Was ist nun die Individualität vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus?

Ich antworte: eine Kategorie, und zwar eine Kategorie eigener Art, die nicht in der Mechanik oder auf sonstigen, nicht dem Leben zugehörigen Gebieten wiederzufinden ist. Als Kategorie aber ist „Individualität” (oder „Leben”) eine der Grundformen der denkenden Verarbeitung des Erkenntnismaterials, sie ist ein Mittel, in den mannigfachen Erfahrungsinhalten einen Zusammenhang zu erkennen. Sie stammt nicht aus der Erfahrung, sondern entwickelt sich an der Erfahrung, ist eine Voraussetzung, damit überhaupt Erfahrung zustande komme. Sie ist nicht willkürlich, sondern notwendig, da kein denkendes Wesen einer dem Menschen verwandten Konstitution ohne sie auskommen kann. Damit ist gesagt, daß sie nicht willkürliche Zurechtmachung der Gegebenheit ist, sondern daß sie ein Fundament in der Gegebenheit besitzt, und auf bestimmte Sachlagen in der dem Bewußtsein zwar erschließbaren, damit aber nicht identischen oder immanenten Realität hinweist, was sich in der „Bewährung” der so geformten Erfahrung bestätigt. Sie ist also keine bloße Fiktion, keine bewußt fälschende Zurechtmachung eines in seiner Wesenheit niemals ganz faßbaren Seins, sondern eine notwendige Form des Denkens, die zwar das gemeinte Sein niemals ganz erschöpft, aber es doch in seiner Besonderheit zu ahnen und zu bezeichnen vermag.

[203] An sich wäre es nicht nötig, das alles zu betonen, wenn nicht von vielen Seiten das Leben als besondere Kategorie geleugnet würde, wenn man nicht versuchte, das Leben und also auch die Individualität durch andere Kategorien zu ersetzen, um so die Kluft zwischen anorganischer und organischer Welt, in der allein Leben und Individualität zu finden sind, zu überbrücken.


5. Individualität nicht Substanz.
Als eigene Kategorie geht die Kategorie der Individualität also nicht ein in die übrigen Kategorien, sondern stellt sich gleichberechtigt neben sie. Das sei für diejenigen Kategorien nachgewiesen, denen man die Individualität als Sonderform zugeschrieben hat.

Zunächst ist Individualität nicht Substanz, wenn anders man diesen dehnbaren Begriff nicht so formen will, daß er seine herkömmliche Bedeutung ganz verliert. Diese aber geht dahin, daß Substanz das Identische und Beharrliche im Wechsel der Erscheinungen, zumeist der „Träger” der Eigenschaften sei, ein selbständig Seiendes, dem die Eigenschaften „inhärieren”, während es selbst „subsistiert”. Es geht bereits aus dieser Definition hervor, daß sich Substanz und Individualität entgegengesetzt sind, da die fundamentalen Charakteristika der Substanz, das Identische und Beharrende, für die Individualität wegfallen, ja sie gerade als Veränderung und Nichtidentität gedacht werden muß, die zu einem Beharren erst hinstrebt. Die einzige der Erscheinungsformen der Individualität, die man etwa als substantiell auffassen könnte, ist der Leib. Indessen wäre das irrtümlich: was substantiell am Leibe ist, ist gerade das Nichtindividuelle, das Nichtlebendige. Der Leichnam, der auch in voller Verwesung seine „Substanz” beibehält, ist nicht mehr Leben, nicht mehr Individualität. Auf dasjenige, was am Leibe substantiell gedacht werden muß, ist gerade die Kategorie der Individualität nicht anwendbar. - Die Erscheinungsform der „Seele” kann ebenfalls als wirkliche Substanz für uns nicht in Betracht kommen, da sie nur als Fiktion gelten gelassen wurde und im übrigen sich ebenfalls als veränderlich erwiesen hat. Man kann sagen, die Individualität [204] substantialisiert sich, aber das Substantielle in ihr ist stets nur etwas Gewirktes, nicht das Wirkende. Niemals sind Leben und Individualität unter dem Begriffe Substanz zu denken. Wer die Individualität als Ruhendes in der Flucht der Erscheinungen ansieht, tötet das Leben, läßt den lebendigen Fluß erstarren. Wenn in der Biologie von „lebender Substanz” gesprochen wird, so ist der Begriff Substanz hier nicht mit dem philosophischen Sprachgebrauch gleichzusetzen.


6. Individualität keine „Kraft”.
Eher wäre es möglich, die Individualität als „Kraft” oder als „Kausalität” zu denken, wobei wir den zweiten Begriff als die philosophisch geläuterte Form des ersten ansehen. Kraft sowohl wie Kausalität wären zu bestimmen als „Wirksamkeit”. In der Tat ist ja ein Grunderlebnis unseres unmittelbaren Bewußtseins eben das, daß wir uns als „wirkend” wissen. Wenn wir auch fühlen, daß die Wirksamkeit nicht im bloßen Bewußtsein beruhen kann, daß vielmehr eine nichtbewußte Ergänzung zu dem Tätigkeitsbewußtsein hinzugedacht werden muß, die sich äußerlich als Bewegung unseres Leibes offenbart, so liegt doch gerade hier ein Anlaß, daß wir in dieser nur zum Teil bewußtwerdenden Wirksamkeit das Wesen der Individualität sehen könnten.

Wir würden, hätten die Begriffe der Kraft oder der Kausalität jenen Charakter bewahrt, den sie ihrem psychologischen Ursprunge nach hatten, den der „lebendigen”, „unmechanischen” Kraft, nichts gegen die Ineinssetzung dieser Kategorie mit der der „Individualität” einzuwenden haben. Indessen haben die Begriffe Kraft und Kausalität längst ihren ursprünglichen, personalen Charakter eingebüßt. Man versteht unter Kausalität in der Wissenschaft heute die quantitativ bestimmbare, restlos rationalisierbare Wirksamkeit. Man hält sich an das rein äußere Nacheinander, das man gar als funktionale Abhängigkeit bezeichnet, und schließt jene „Innenseite” des Kraft- und Ursachenbegriffs aus, die ursprünglich für ihn wesentlich war. Ohne im geringsten die Bedeutung dieser Kategorie für die mechanistische Deutung der Welt bezweifeln zu wollen, [205] müssen wir sie für die Erfassung der Individualität ablehnen. Im unmittelbaren Individualitätsbewußtsein erleben wir gerade die „Innenseite”, das Personale der Wirksamkeit als ein Wesentliches; und selbst, wenn wir die Bewegungen des Leibes ganz auf mechanische Ursächlichkeit zurückzuführen suchen, so widerspricht dem doch unser unmittelbares Erleben. Es wäre die Aufgabe des Mechanismus, das Trügerische jenes Erlebens zu erweisen. Davon sind die Mechanisten jedoch viel weiter entfernt, als sie zugeben wollen. Die großen Triumphe des Mechanismus in der Beherrschung der nichtlebendigen Natur haben ihm ein so stolzes Siegesbewußtsein gegeben, daß er glaubt, auch den Rest der Welt, die Welt des Lebens, sich leicht unterwerfen zu können, zumal auch innerhalb der Welt des Lebens vieles auf mechanische Weise zu deuten ist. Aber es muß betont werden, daß das wichtigste Stück Arbeit dem Mechanismus noch zu tun bleibt. Wir können den Mechanismus als Forschungsprinzip anerkennen, als restlose Erklärung für das Weltgeschehen hat er bis heute nur die Bedeutung einer Fiktion.

Gehen wir jedoch vom unmittelbaren Erleben der Individualität aus, so versagt die Kategorie der Kraft im Sinne des Mechanismus. Wenn wir Leben und Individualität auch als Wirksamkeit in uns erfahren, so doch niemals als konstante, rationale Wirksamkeit, sondern als durchaus irrationale, d. h. singulare, variable, teilbare, unberechenbare Wirksamkeit, die zwar eine „Gerichtetheit” in sich trägt, aber mannigfacher Anpassungen und Variationen fähig ist.

Immerhin steht der Begriff der Kraft dem Leben und der Individualität insofern näher, als er in der Zeit verläuft, als er ein „Geschehen” ist. In diesem Sinne wäre es möglich, von einer „Lebenskraft” zu sprechen; dieser Ausdruck ist jedoch sehr in Verruf gekommen, birgt auch sicherlich in seiner ursprünglichen Fassung viele Unmöglichkeiten und empfiehlt sich jedenfalls darum nicht, weil er die Individualität neben andere „Kräfte” einreiht, denen sie auf keinen Fall zu vergleichen ist.

[206] Im Sinne der modernen Naturwissenschaft ist die Kategorie der „Kraft” umgebildet in den Begriff der „Energie”. Viele moderne Denker naturwissenschaftlicher Richtung wollen das Leben als Energie fassen. Aber es fehlt der Individualität gerade das wesentliche Kennzeichen der Energie: die Rationalität. Jede andere Art der Energie ist berechenbar; denn sie ist die Fähigkeit eines Körpers, mechanische Arbeit zu leisten. Aber wer will eine Individualität berechnen? Wer will eine Maßformel finden für die Wirksamkeit, die von der Individualität eines Napoleon ausstrahlte? Mögen neuere Biologen bei niederen Lebewesen mit einiger Sicherheit eine Gleichung zwischen zugeführten und verausgabten Energien errechnen können, beim Menschen versagt diese Rechnung.


7. Individualität nicht Form.
Auch als Form, als „eidos[griech.]”, wenn man diese als Kategorie gelten lassen will, ist die Individualität nicht zu fassen. Form ist „ein Einheitsbegriff, der Begriff der Zusammenfassung einer Mannigfaltigkeit von Elementen zur Einheit eines bestimmten Zusammenhanges, einer bestimmten Anordnung der Teile eines Ganzen”. Es bestünde nun gewiß eine Möglichkeit, von dieser Seite her dem Individualitätsbegriff näherzukommen, wäre es nur möglich, die Form als wandelbar zu denken. Das widerspricht aber dem Wesen der Form, die ein Beharrendes oder doch vorher Festgelegtes ist, bei Plato sogar ein Ewiges, Ungewordenes und Unvergängliches. Man muß daher, will man den Begriff der Form auf die Individualität ausdehnen, das Werden, die Wandlung einbeziehen, hebt damit aber den Ursinn des Wortes auf. Individualität ist nur zu definieren als „geprägte Form, die lebend sich entwickelt”, es muß aber dieser Zusatz gemacht werden. Damit jedoch wird der Begriff „Form” so erweitert, daß es besser ist, einen neuen Begriff einzuführen für die sich wandelnde und wirkende Form, und das eben ist die Individualität.

Zuweilen hat man nun, um diese sich in bestimmter Richtung wandelnde Form zu bezeichnen, das Wort Entelechie angewandt, das in der Tat brauchbar scheint, um den Begriff [207] der Individualität zu fassen, aber dann nur ein zweiter Name für den gleichen Gegenstand wäre. Indessen habe ich gegen diesen Begriff ein Bedenken. Er kommt her von relog, dem Ziel, der Vollendung, die sie in sich tragen soll. Spreche ich von Entelechie, so meine ich, daß die Vollendung bereits in der ersten Anlage vorhanden, daß die Individualität bereits vollständig im Embryo gegeben wäre. Das müßte aber dem Mechanismus, den wir hier bekämpfen, höchst genehm sein, denn dann ist in der Tat der Begriff der Zeit überflüssig; dann könnte der „Newton des Grashalms” die Entwicklung vorausberechnen. Nach meiner Meinung jedoch schließt der Begriff der Individualität gerade die Möglichkeit der Vorausberechnung aus. Entelechie in jenem Sinne wäre rational, Individualität ist irrational. Die Individualität läuft nicht auf vorgezeichneten Bahnen, nur das Generelle im Menschen, nicht das Individuelle läßt sich voraussehen, und das Individuelle allein ist das Wirkliche, das Generelle ist stets eine Abstraktion. Darum verzichte ich lieber auf den Begriff der Entelechie, weil er mißverständlich wäre und meiner Fassung der Individualität nicht gerecht wird.


8. Die Eigenart der Individualitätskategorie.
Wir müssen also die Individualität als Denkform neben den anderen Kategorien, deren wir uns bedienen, anerkennen. In der Regel aber geschieht das keineswegs, sondern man rationalisiert die Individualität zur Substanz oder zur mechanischen Kraft. Statt die Individualität als bewegliche, lebendige Potenz anzusehen, nimmt man sie als starren Block oder eindeutig gerichtete Kraft. Das der toten Natur gegenüber allmächtige rationale Denken hat uns vollkommen unterjocht. Man lese daraufhin die meisten Geschichtswerke durch, ja die meisten Romane: was da agiert, sind in Wahrheit gar nicht Individuen in ihrer unendlichen Irrationalität, sondern Maschinen.

Wenigstens für alle durch rationale Logik geschulten Köpfe gilt, daß sie der Irrationalität der Welt nicht gerecht werden. Deshalb sind besonders Gelehrte so schlechte Menschenkenner, weil sie alle Menschen rationalisieren. Das gilt jedoch keines[208]wegs von Menschen des praktischen Lebens, Politikern, Geschäftsleuten, Frauen, kurz allen denen, die nicht rational zu denken gezwungen sind, sondern aus dem irrationalen Augenblickserleben heraus handeln. Deshalb sind Gelehrte in der Regel so schlechte Politiker, Frauen aber sehr gute Diplomaten. Diese denken eben nicht in rationalen Klischees, sondern reagieren ohne Schemata, d. h. irrational. Nur indem man die Individualitäten nicht zu Substanzen oder festen Formen stabilisiert oder in rationale, berechenbare Kräfte auflöst, wird man ihnen gerecht. Die historischen Wissenschaften haben meist den einen oder den anderen Fehler gemacht. Die älteren Historiker sahen in den Individuen rationale, konstante Einheiten, gleichsam Substanzen, und suchten von hier aus die Welt zu rationalisieren. Die neueren Historiker, die das Wesen des historischen Geschehens in allgemeine Gesetze auflösen wollen, machen auch die Individuen nur zu Schnittpunkten allgemeiner Gesetze, d. h. gleichsam „Kräften”, und rationalisieren von hier aus das lebendige Geschehen. Beide Typen der Betrachtung tun den Ereignissen Gewalt an und übersehen gerade das irrationale Element.

Will man Ernst machen mit der vitalistischen Denkweise, d. h. die Kategorie der Individualität weder zur Substanz noch zur mechanischen Kraft ummodeln, so wird man die Welt nicht bloß als Raum, sondern in erster Linie als Zeit zu denken haben, als großes Geschehen. Man könnte sie mit einer Symphonie vergleichen, die ja gewiß kein Chaos ist, bei der jedoch an beliebigem Querschnitt die Weiterentwicklung der bei aller Rationalisierung der harmonischen Grundlage irrationalen thematischen Arbeit nicht eindeutig vorauszusehen ist.

Dabei ist, wenn ich Kategorie mit „Denkform” übersetze, die Voraussetzung zu machen, daß es außer dem rationalen Denken auch noch ein irrationales Denken gibt, von dem die Schullogik zwar nichts weiß, das sich aber jeder unbefangenen Betrachtung sogar als das wichtigere, weil allein schöpferische, erweist. Mag man es „Instinkt”, „Intuition” oder anders [209] nennen, der Welt des Lebens jedenfalls wird es allein gerecht. Über sein Zustandekommen ist hier nicht zu sprechen, nur über seine tatsächliche Wirksamkeit. Es ist kein Denken im gewöhnlichen Sinne, eher ein „Einfühlen”, ein Erraten auf Grund einer Analogie des Miterlebens. Nicht durch Reflexion, nicht durch logische Schlüsse wissen wir Bescheid über die Individualität unserer Mitmenschen, sondern auf Grund eines irrationalen Aktes eigener Art, eben der Kategorie der Individualität. Sie stammt aus unserem eigensten Wesen, wie letzten Endes alle Kategorien, und ist eine Denknotwendigkeit, der man sich nicht entziehen kann. Sowie man die Welt ohne sie, nur nach mechanischen Kategorien denken will, verfälscht man die Welt.

Wir werden gern der mechanistischen Betrachtungsweise ihr Forschungsprinzip zubilligen, daß auch die Welt des Lebens den mechanischen Kategorien unterworfen werden soll: wir müssen jedoch feststellen, daß alle bisherigen Versuche, die Welt des Lebens und der Geschichte nach mechanischen Kategorien zu deuten, ganz unzureichend sind, stets müssen wir eine besondere Kategorie, die der Individualität, einführen. Es ist zuzugeben, daß es dem Mechanismus gelungen ist, vieles mechanistisch zu erklären, was früher nur vitalistisch deutbar schien, trotzdem ist er weit davon, das Feld völlig zu beherrschen. Es steht jedem frei, Wechsel auf die Zukunft anzunehmen; für die Gegenwart müssen wir unerbittlich feststellen, daß wir im Leben des Alltags wie in der Geschichte nicht ohne die Kategorie der Individualität auskommen, daß wir auch nicht das kleinste historische Geschehen rein mechanistisch deuten können.

Eine andere Frage jedoch ist, ob dieser Form des Denkens auch eine Form des Seins entspricht, und damit kommen wir erst dem Problem der Individualitas individuans näher.


[210]
II. Kapitel

Die Realität der Individualität


1. Das Problem der Realität.

Indem ich die Individualität als Kategorie bezeichne, will ich sie nicht als willkürliche Konstruktion, nicht als Fiktion, als autonome Schöpfung des Geistes hinstellen, sondern ich nehme an, daß sie in einer außerhalb des Bewußtseins liegenden Realität „fundiert” ist. Ich mache also zunächst die „realistische” Voraussetzung, daß das Bewußtsein nicht die ganze Welt ausmacht. Aller bloße Conscientialismus, der Bewußtsein = Welt setzt, dünkt mir in jeder Form, sei sie phänomenalistisch oder idealistisch, so absurd, daß es nicht der Mühe wert erscheint, dagegen überhaupt zu polemisieren; denn die Conscientialisten jeder Färbung besorgen die Widerlegung ihrer am Schreibtisch ausgeklügelten Philosophie selbst dadurch am besten, daß sie sie in ihrem Leben beständig verleugnen. Noch nie hat ein Conscientialist, der die ganze Welt als Inhalt seines oder des allgemeinen Bewußtseins anzusehen behauptete, versucht, etwa von reinen Bewußtseinsinhalten sich zu ernähren, sondern noch jeder hat einen Unterschied zwischen einem guten Braten als bloßem Bewußtseinsinhalt und als „Wirklichkeit” gemacht. Wir erlauben uns daher, auch in der Philosophie so ehrlich zu sein und nicht unser oder ein hypothetisches allgemeines Bewußtsein für die ganze Welt auszugeben, sondern anzunehmen, daß sowohl „hinter” dem Bewußtsein eine Realität steht, die es trägt, als auch „vor” dem Bewußtsein eine Außenwelt, die sich ihm erschließt.

Ich nehme aber fürs Bewußtseinsleben nicht bloß eine Realität, sondern zwei an, eine Außenwelt und ein erlebendes Ich, die gewiß sich in höherer Synthese als Einheit fassen lassen, die aber in unserem Erleben deutlich auseinandertreten.

Wenn wir aber annehmen, daß sich unserem Bewußtsein Realität, etwas „an sich” erschließt, so ist keineswegs gesagt, daß sie sich ganz im Bewußtsein offenbare. Nein, das Bewußt[211]sein eröffnet uns nur einen Teil der inneren Welt und auch nur einen Teil des erlebenden Ich, wenn auch von beiden zugleich etwas. Denn das Bewußtsein spaltet alles Gegebene in Außenwelt und Ich, und nur der Zusammenstoß beider erscheint im Bewußtsein, ist dessen unmittelbarer Inhalt.


2. Bewußtsein und Realität.
Es ist nötig, das Wesen des Bewußtseins klar zu begreifen, wenn man das Wesen der Individualität verstehen will. Das Bewußtsein, so sahen wir, erschließt niemals eine Realität, sondern zwei: das Ich und die Außenweit, sei diese aktuell oder in Nachwirkung gegeben. Das Gegenstandsbewußtsein und das emotionale Bewußtsein unterscheiden sich nur dadurch, daß bei jenem das Schwergewicht auf der objektiven, bei diesem auf der subjektiven Seite liegt. Es gibt kein Denken oder Wahrnehmen ohne ein wenn auch schwaches Gefühl oder Wollen; es gibt kein Fühlen oder Wollen ohne eine, wenn auch sehr unbestimmte Gegenstandsbezogenheit. Vollziehen wir nun die Sonderung der beiden im Bewußtsein zusammenstoßenden Tatbestände, Subjekt und Objekt, so erhalten wir hier das Ich und dort die Außenwelt, Das Bewußtsein enthält sie beide in ihrer Wechselbeziehung, es enthält sie aber nicht etwa beide ganz, sondern nur soweit, als sie sich berühren. Das Bewußtsein erschließt uns also weder die gesamte Außenwelt, noch das gesamte Ich. Es gibt uns nur Möglichkeiten, das fragmentarisch Gegebene zu ergänzen, was es teils mit Hilfe der erinnerten „Inhalte”, teils mit Hilfe der Kategorien tut.

Diese Ergänzungen sind nicht willkürlich, sondern im Wesen des Bewußtseins mitgegeben und führen im Hinblick auf das Objekt zur Vorstellung einer geordneten Außenwelt, im Hinblick auf das Subjekt zur Vorstellung eines wirkenden, zusammenhängenden Ich, Beide Ergänzungen sind gleichnotwendig, beide sind Kategorien: die Realität „jenseits” unserer Empfindungen, die Außenwelt, und die Realität „diesseits” unserer Empfindungen, das Ich oder die Individualität, Daß man dieses Ich oft nicht beachtet und in der Praxis ehminieren kann, ist zum Teil darin begründet, daß es eben [212] bei allen Bewußtseinsvorgängen als fiktiverweise gleicher Exponent vorhanden ist.


3. Ich und Außenwelt.
Das Bewußtsein ist also so wenig mit dem Ich (der Individualität) identisch wie mit der Außenwelt. Es tritt nur unter bestimmten Umständen, nur bei Kollision zwischen Außenwelt und Ich auf, dann, wenn das Ich zu Reaktionen gezwungen ist.

Daß das Bewußtsein nur bei Störungen erscheint, wird am leichtesten bei den äußeren Empfindungen eingesehen, die auf Reizungen der sensorischen Nerven zurückgehen, allerdings erst dann „apperzipiert”, nicht bloß perzipiert, werden, wenn das Ich sich zur Reaktion darauf veranlaßt sieht. Aber auch die Denk-, Phantasie- und Erinnerungsvorgänge sind als Störungen anzusehen, die freilich in der Regel nicht durch äußere Reize unmittelbar, sondern durch Nachwirkungen oder Weiterleitungen derselben im Gehirn erregt werden. Schwieriger ist der Störungscharakter beim Organbewußtsein, beim Gefühl und beim Wollen einzusehen. Hier scheint ja mit der Außenwelt überhaupt keine Kollision möglich, da sie innerkörperlich fundiert sind. Hunger und Durst, Niedergeschlagenheit oder Euphorie, Liebessehnsucht oder Tatendrang entstehen scheinbar im Ich allein. Indessen hat die neuere Psychologie für alle diese Bewußtseinszustände körperliche Grundlagen nachgewiesen und zum mindesten sehr wahrscheinlich gemacht. Unter dem hier eingenommenen erkenntnistheoretischen Gesichtspunkte ist zu bedenken, daß der Körper nicht mit dem Ich identisch ist, daß er zwar vom Leben durchwirkt ist, aber auch der Außenwelt angehört. Alle jene Bewußtseinstatsachen gehen auf Lebensstörungen, innerkörperliche zwar, aber doch Kollisionen des lebenden Ich mit der Materie zurück, und so läßt sich auch auf sie unsere Lehre vom Bewußtsein ausdehnen, daß es eine bei Lebensstörungen auftretende Erscheinung sei.

Wir sind also auf jeden Fall gezwungen, „hinter” dem Bewußtsein ein reales Agens anzunehmen, wie wir „vor” ihm eine Realität annehmen. Versuchen wir aus dem Bewußtsein heraus weiter zu diesen Realitäten vorzudringen, so zeigt sich, [213] daß die Außenwelt uns als räumlich gegeben erscheint, während das Ich nicht räumlich zu denken ist, vielmehr sich als Zeitverlauf darstellt. Um uns unter dem Ich irgend etwas „vorzustellen”, müssen wir es verräumlichen, und in der Tat tun wir das beständig, vor allem dadurch, daß wir den Leib mit dem Ich identifizieren. Aber das Räumliche des Leibes ist gar nicht das Individuelle oder das Lebendige. Alles Räumlich-Materielle des Leibes ist so wenig das Ich, wie etwa der metallene Draht der elektrische Strom ist, der durch ihn hindurchgeht. Weil das Ich auf den Raum zu wirken vermag, ist es noch nicht selber räumlich. Die Schwierigkeit des Ichproblems und des Lebensproblems geht psychologisch darauf zurück, daß man in der Außenwelt gar kein rechtes Modell findet, wonach man sie sich vorstellen kann; denn die Modelle der „Kraft”, des „Elan”, des elektrischen Stromes oder, was man sonst angeführt hat, sind alle ziemlich unzulänglich. Immerhin scheint mir der Vergleich mit dem elektrischen Strome noch am illustrativsten zu sein, obwohl die großen Unterschiede und damit die Gefahren dieses Vergleiches nicht verschwiegen werden dürfen.

Es ist eine seltsame psychologische Erscheinung, daß wir unserem unmittelbarsten Erleben mißtrauen, bloß weil es nicht in das Schema der Außenwelt hineingeht. Und doch spüren wir in uns ganz unmittelbar eine Wirksamkeit, die wesentlich verschieden ist von allen mechanischen Geschehnissen. Es ist eine merkwürdige psychologische Tatsache, daß der Mensch die Geschehnisse der Außenwelt zunächst nach einer Analogie, allerdings einer abstrakt umgeformten Analogie denkt, dann aber wiederum die Innenwelt nach Analogie jener abstrahierten äußeren Tatbestände.

Ich fasse also das die Individualität fundierende Leben weder als Räumlichkeit noch als Bewußtsein, sondern als ein „Drittes”, das wir nur in den Formen des Raumes und des Bewußtseins wahrnehmen, das wir jedoch als etwas davon Unterschiedenes denken müssen.


4. Das Verhältnis von „Physischem” und „Psychi[214]schem”.
Indem ich das Ich oder das sich im Ich auswirkende Leben als eine in der Zeit verlaufende Wesenheit auffasse, die sich im Leibe verräumlicht und bei deren Störungen das Bewußtsein aufleuchtet, gewinnt auch ein in der Philosophie viel umstrittenes Problem ein neues Gesicht: das Problem des Verhältnisses zwischen Physischem und Psychischem.

Dieses Problem ist vor allem dadurch so außerordentlich erschwert worden, daß die Begriffe Physisch und Psychisch an einer prinzipiellen Unklarheit leiden. Bei der Verschwommenheit, in der sie vielfach gebraucht werden, ist natürlich über ihr Verhältnis nichts Sicheres auszumachen. Unter dem Begriff des Physischen faßte man nicht nur das Materielle des Leibes, sondern auch alle Lebensvorgänge, die nicht ins Bewußtsein hineinragen, mit, wodurch der Begriff des Physischen über den Begriff des Materiellen hinaus bereits stark ausgeweitet ist. Noch größere Unklarheit besteht über den Begriff des „Psychischen”. Wenn man heute es auch zunächst als „Bewußtsein” faßt, so erweitert man es doch so, daß man auch ein „unbewußtes Psychisches”, d. h. eigentlich ein „unbewußtes Bewußtsein” annimmt, also ein Gebilde von sehr zweifelhafter Klarheit, das höchstens als Fiktion Geltung haben kann. Daß es sehr schwer ist, zwei so unmögliche Wesenheiten zusammenzubringen, ergibt sich von selbst. Man konstruierte zu diesem Zwecke einen Parallelismus, bei dem einem physischen Kausalnexus (von, nebenbei gesagt, noch recht mangelhafter Geschlossenheit) eine psychische Reihe parallel laufen soll, deren Unbeweisbarkeit und Lückenhaftigkeit ebenso groß ist wie ihre Überflüssigkeit. Wenn ich in meinem Gleichnis bleiben darf, so kommt diese Hypothese auf etwas ähnliches hinaus, als wollte man, um das Aufglühen des elektrischen Stromes bei Unterbrechung zu erklären, eine latente Lichtparallele für den gesamten übrigen Strom annehmen. Andererseits aber ist auch die Annahme einer „Wechselwirkung” zwischen den so einander entgegengesetzten Wesenheiten unmöglich, da natürlich nicht im geringsten einzusehen ist, wie das „Bewußtsein” den Leib beeinflussen soll.

[215] Durch unsere bisherigen Erörterungen nun werden wir zu einer anderen Sonderung der Phänomene geführt: Statt zwischen Physischem und Psychischem unterscheide ich zwischen Materie und Leben, wobei ich unter Leben die formenbildende Wirksamkeit verstehe, die bei Störungen, besonders bei Kollisionen mit der Außenwelt, Bewußtseinsphänomene hervorbringt. Will man eine Illustration, so stelle man sich das Leben unter dem Bilde eines elektrizitätsähnlichen Stromes vor, der die Materie formt und unablässig die Formen neu aufbaut, an sich unbewußt ist, jedoch bei Störungen, wie der elektrische Strom bei Unterbrechungen Lichterscheinungen, die Bewußtseinsphänomene hervorbringt. Da diese mannigfachen Störungen in einem Zentralorgan zusammengefaßt werden, so entsteht statt eines irregulären Lichtgefunkeis so etwas wie eine kontinuierliche Helle. Im Zusammenhang des Lebens sind diese Funken nur die Signale, nach denen sich die unbewußt wirkende, formende Wesenheit richtet. Von Wirkung des Bewußtseins allein auf den Körper kann so wenig die Rede sein, als ein Lichtsignal an einem Bahnkörper etwa die Umleitung der Züge selber schafft. Das Licht ist nur ein Teil in einem größeren Zusammenhang wie hier das Bewußtsein im Zusammenhang des Lebens.

An sich hinderte nichts, das hier angenommene unräumliche „Leben” auch als „Geist” zu fassen, wenn nicht der Begriff des „Geistes” das Bewußtsein als Hauptsache einschlösse, während es für unseren Lebensbegriff nur nebensächlich ist. Außerdem ist der Begriff des Geistes zu sehr mit alten animistischen Vorstellungen verknüpft, als daß er für die Philosophie sehr brauchbar wäre. Auch der Schopenhauersche Begriff des „Willens” ist von einer besonderen Form des Lebens auf die Gesamtheit, ja darüber hinaus noch ausgedehnt worden und ist außerdem in der pessimistischen Schopenhauerschen Färbung stark subjektiv getrübt.


5. Vitalismus contra Mechanismus.
Die hier verfochtene vitalistische Anschauung prallt natürlich gegen einen mächtigen Gegner, der in wohlgeschienter Phalanx gerüstet [216] steht: den Mechanismus. Dieser will ja gerade die ganze Welt (unter Ausschluß der Kategorie des Lebens und der Individualität als selbständigen Agens) erklären, er will alles mit Hilfe rationaler Gesetze deuten, wie er sie im Anorganischen aufgewiesen hat. Die ungeheure Macht des Mechanismus beruht in seinen praktischen Erfolgen, da eine rationale Welt natürlich viel leichter zu beherrschen ist; und zu diesen praktischen Vorzügen kommen noch denkökonomische und ästhetische, denn sein System ist einfach und durchsichtig, hat nicht solche irrationalen Abgründe und Hintergründe wie der Vitalismus. Auf diese Vorzüge gründet sich dann die unendliche Zuversicht, mit der er auch den Rest des Lebens sich zu unterwerfen beansprucht. Und in der Tat ist es ihm gelungen, selbst auf die Lebensvorgänge recht weithin seine Prinzipien anzuwenden. Darüber übersieht man nur allzu leicht, daß ihm einerseits die wichtigste Strecke des Weges noch zurückzulegen bleibt, und zweitens, daß seine Erklärungsprinzipien zwar praktisch brauchbar, aber doch längst nicht so sicher und geklärt sind, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.

Die praktische Brauchbarkeit beruht vor allem in der Möglichkeit der Berechnung, Sie geht aber nur so weit, als die Welt rational ist. Sie hört auf, wo sie irrational wird. Ein Laplace der Menschheitsgeschichte ist noch nicht erschienen und wird nicht erscheinen, wenn auch zugegeben werden muß, daß auch die Menschheitsgeschichte in noch viel höherem Grade rationalisierbar und damit berechenbarer ist, als wir bisher annahmen. Man hat neuerdings immer energischer gegen die Ausdehnung des Mechanismus auf Gebiete, die nicht mechanisch zu begreifen sind, Einwände erhoben und hat eine ganze Reihe von Beweisen für die Autonomie des Lebens vorgebracht. Die Schwierigkeit liegt nur darin, wie das Leben die im Leibe wirksamen physikalischen und chemischen Erscheinungen benutzt.

Es soll hier nicht gegen den Mechanismus als Forschungsprinzip polemisiert werden, es fragt sich nur, ob er für eine philosophische Deutung der Lebenserscheinungen ausreicht. [217] Kann man auf sein „Haben” die praktische Brauchbarkeit setzen, so muß man doch auch darauf hinweisen, daß er, wenn wir unser unmittelbares Erleben befragen, gegen den Vitalismus im Nachteil ist.

Nicht nur der Umstand, daß man vom Mechanismus aus, d. h. aus physikalischen und chemischen Energien, niemals das Bewußtsein überhaupt erklären kann, auch der Inhalt dieses Bewußtseins zeugt für einen Vitalismus. Denn in unserem Bewußtsein erschließt sich uns ein beständig wirkendes Agens, das ganz anderer Natur ist als die physikalischen und chemischen Kräfte, das nicht einer mechanischen Notwendigkeit gehorcht, sondern auswählt und verwirft, sich erinnert und vorausdenkt.

Zurzeit stehen sich Vitalismus und Mechanismus als Gegner in unentschiedenem Kampfe gegenüber. Es liegt meist am Ausgangspunkt, ob der Forscher von der Beobachtung der anorganischen Welt oder von der Beobachtung der Innenwelt herkommt, für welche der beiden Deutungsmöglichkeiten er optiert.


6. Die Individualisiertheit des Lebens.
Es erübrigt sich nun, den so erschlossenen Begriff des Lebens mit dem der Individualität zu vereinen. Es hatte sich bereits ergeben, daß wir alles Leben individuell zu denken gewöhnt sind, daß aber trotzdem die Individualität nirgends scharf abzugrenzen war. Wir werden daher zu dem zunächst etwas paradox scheinenden Satze gezwungen, daß dasjenige, was wir als wirkendes Agens hinter den verschiedenen Erscheinungsweisen anzusehen haben, nicht selber individuell, sondern überindividuell ist. Das heißt mit anderen Worten: die Kategorie der Individualität ist nur der Welt der Erscheinungen angehörig, nicht aber auf die hinter ihr wirkende Wesenheit, ihr „an sich”, das Leben. Das Leben ist mehr als alle Individualität, ist ein metaphysisches Etwas, das sich uns zwar nur in individuellen Aspekten darstellt, dessen überindividuelle Zusammenhänge jedoch trotzdem aufzuzeigen sind. Über das Leben selbst können wir gar keine Aussage machen, wir kennen es nur [218] in seiner Auswirkung in der Materie und im Bewußtsein. In beiden Fällen erscheint es als individualisiert. Es wäre daher naheliegend, das Individuelle bloß der Erscheinung zuzuweisen, wie das vielfach geschehen ist. Andererseits wirken aber individuelle Formungen auch über die Individualität hinaus, greifen über in fremde Individualitäten, und so erscheint doch auch das wirkende Wesen selbst individualisiert. Deshalb werden wir hier Zurückhaltung üben müssen. Wir können nur sagen, daß unsere Individualität sowohl nach ihrer leiblichen wie nach ihrer Bewußtseinsseite die Auswirkung eines Agens ist, das wir nur in seinen Betätigungen, nicht aber seinem Wesen nach begreifen, das wir jedoch trotzdem als notwendige Denkunterlage erschließen müssen. Ob wir von einer Individualitas individuans sprechen dürfen, können wir nicht entscheiden. Richtiger wird es sein, von einer Vita individuans zu reden, wobei wir es offen lassen, wieweit das Leben „an sich” individualisiert ist. Es scheint mir jedoch nicht angängig, mit den Upanishaden und Schopenhauer die Individualität bloß als Erscheinung aufzufassen, noch scheint es mir möglich, sie als Monade zu denken, es scheint mir richtiger, hier eine Grenze unseres Verstandes überhaupt festzustellen. Vom philosophischen Standpunkt aus ist die Frage, wieweit die Individualität nur Erscheinung, wieweit sie Wesenheit sei, nicht zu lösen, wir können nur feststellen, daß sich in ihr ein überindividuelles Wesen auswirkt, auf das allerdings vieles Individuelle zurückführbar ist. Es ist Sache metaphysischer Spekulation oder religiösen Glaubens, diese Grenzen zu überfliegen und entweder eine wesentliche Selbständigkeit des Individuums oder eine wesenhafte Identität mit der Gottheit anzunehmen. Die philosophische Forschung kann diese Dinge weder bejahen, noch verneinen.


[219]
III. Kapitel

Die Individualität in der nichtmenschlichen Natur


1. Das Problem.

Ich war bei allen Erörterungen über die Individualität vom menschlichen Individuum ausgegangen, weil wir hier allein das Leben nicht bloß „von außen” nach seinen Wirkungen, sondern auch „von innen” in seinem Wirken beobachten können. Besteht nun Individualität im so gekennzeichneten Sinne auch außerhalb des menschlichen Individuums, läßt sich diese Kategorie rechtmäßigerweise auf Nichtmenschliches anwenden? Daß man es beständig tut, ist noch kein zwingender Nachweis wirklicher Berechtigung; denn auch andere Kategorien können natürlich irrtümlich angewendet werden. In der neueren Psychologie nennt man die nichtrationale Anwendung der Individualitätskategorie gewöhnlich „Einfühlung” und hat in jüngster Zeit energisch begonnen, diesen Akt zu analysieren.

Unser Problem an dieser Stelle ist nicht die psychologische Zergliederung des Aktes selbst, sondern die kritische Nachprüfung der Grenzen, innerhalb deren er wirkliche Erkenntnis erschließt. Vielfach nämlich wird er ohne jede Rücksicht auf seinen Erkenntniswert im ästhetischen Erleben betätigt; doch wäre es ganz irreführend, aus der ästhetischen Wirkung einen Rückschluß auf den logischen Wert zu machen.

Eine übertriebene Skepsis dagegen ist es, wenn man den Erkenntniswert der Einfühlung in andere Menschen aus prinzipiellen Gründen bestreitet. Die papierne Philosophie des Solipsismus irrt, wenn sie meint, wir hätten kein unmittelbares Wissen um fremde Individualitäten. Schon lange ehe ein Kind „ich” zu sagen vermag, lange, ehe es sich eines Unterschiedes von anderen bewußt sein kann, versteht es den zornigen Blick und das freundliche Lächeln eines anderen, eben weil das Selbst, das der Solipsismus für das einzige in der Welt zu halten vorgibt, gar nicht abtrennbar ist von anderen Ichen, sondern [220] nicht nur sein eigenes, nein auch fremdes Erleben ganz unmittelbar miterlebt. Nicht nur andermenschliches Leben überhaupt, sondern auch seine spezifischen Formen werden in der Einfühlung richtig erfaßt, wofür die praktische Bewährung der beste Beweis ist.


2. Unkritische und kritische Anthropomorphisierung.
Bedenklicher steht es mit einer Übertragung der Kategorie der Individualität auf nichtmenschliche Wesen. Hier ist scharf zu scheiden zwischen unkritischer und kritischer Übertragung. Jene will ich auch als unberechtigten Anthropomorphismus bezeichnen, die zweite, die kritische Übertragung, wird eingehend geprüft werden müssen.

Zunächst etwas über den unkritischen Anthropomorphismus! Weil er von Kindern und primitiven Menschen beständig und an falscher Stelle geübt wird, ist die Übertragung der Individualitätskategorie auf nichtmenschliche Seinsformen ganz in Verruf gekommen, und man sieht es gerade als Kennzeichen echter Wissenschaftlichkeit an, daß womöglich alle Lebewesen als Maschinen gedacht werden. Indessen heißt das, eine Dogmatik treiben, wie nur je Theologen es mit der Bibellehre getan haben.

Zugegeben werden muß jedenfalls, daß der naive Mensch überallhin die aus innerster Erfahrung stammende Kategorie der Individualität überträgt, und daß er erst allmählich zur Vorsicht in dieser Hinsicht erzogen werden muß. Der primitive Mensch belebt und beseelt alles in der Welt; im Brausen des Windes wie im Zucken des Blitzes, im Tiere wie in der Pflanze vermutet er menschenähnliche Wesen mit individueller Wirksamkeit. Gewiß ist diese Individualität sehr dürftig, doch schreibt man den in die Dinge gedachten Dämonen bestimmte böse oder gute Willensregungen zu; eine wirkliche Personifizierung solcher nichtmenschlichen Wesen tritt erst dort auf, wo die vagen Dämonengestalten sich zu Göttern verdichten. Bis in die geistig höchststehenden Religionen und in die Philosophie hinein wirkt dieser unkritische Anthropomorphismus nach, wenn das „Schicksal”, die „Vorsehung”, „Gott” und andere [221] Gedankengebilde nach Art der naiven Vermenschlichung vorgestellt werden.

Gegenüber der unkritischen Anthropomorphisierung, die eine unbegründete Deutung nichtmenschlichen Lebens nach menschlichem Muster ist, gilt es mit Vorsicht zu ermitteln, wieweit wir ohne jede Gewaltsamkeit berechtigt sind, unsere Kategorie der Individualität, so wie sie sich unserer Analyse darstellte, auf Nichtmenschliches zu übertragen. Und zwar gilt es, zu erörtern, ob wir mit einigen neueren Philosophen berechtigt sind, auf gewisse, vom menschlichen Standpunkt aus zunächst nicht individuell erscheinende Komplexe doch die Kategorie der Individualität anzuwenden.

Da die Einfühlung direkt auf das „Innenleben” abzielt, dieses mit dem Verstand jedoch höchstens durch Analogie erschlossen, aber niemals als sicher erwiesen werden kann, so muß die kritische Verwendung des Individualitätsbegriffes sich nach anderen Hilfen umsehen. Diese bietet uns der körperliche Organismus. Wir werden uns demnach nur dort als zur Übertragung des Individualitätsbegriffes berechtigt ansehen, wo eine der menschlichen analoge körperliche Organisation der gefühlsmäßigen Anthropomorphisierung nachprüfbare Stützen bietet.


3. Die körperliche Individualität der Tiere.
Die Frage, ob den Tieren Individualität im menschlichen Sinne zukommt, ist nicht ohne weiteres mit ja oder nein zu beantworten. Gewiß, für die Wirbeltiere z. B. kann man sie ungefähr bejahen; es gibt jedoch animalische Wesen genug, bei denen von Individualität im menschlichen Sinne nicht die Rede sein kann, wo zum mindesten die Kategorie Individualität sich bedeutende Erweiterungen gefallen lassen muß.

Ich betrachte, da sie allein exakt zu studieren ist, zuerst die körperliche Individualität. Und zwar unterscheide ich drei Arten der Individualität im Tierleben: Individualitäten erster Ordnung, die sich bei den einzelligen Wesen, den Protisten, finden, Individualitäten zweiter Ordnung (oder Personen), die durch Zusammenschluß vieler Zellen mit verteilter Arbeits[222]leistung gekennzeichnet sind, und Individualitäten dritter Ordnung oder Stöcke, in denen die Personen sich zusammenschließen, und zwar so, daß jede Person zwar eine gewisse Lebenseinheit bewahrt, dabei jedoch in ihren Lebensbedürfnissen auf die Gesamtheit angewiesen bleibt. - Diese Einteilung kann natürlich noch erweitert werden. So läßt sich zwischen die erste und zweite Ordnung noch die Protistenkolonie als Zwischenstufe einschieben. Häckel unterschied sogar 6 Ordnungen. Für unsere Zwecke mag die obige Einteilung genügen.

Nun ist offenbar, daß die Kategorie der Individualität, wenn sie diese Lebensformen mit umspannen soll, stark modifiziert werden muß. Zwar konnten wir schon früher zeigen, daß die Merkmale der Einheit im simultanen wie im sukzessiven Sinne und der Selbständigkeit nur sehr relativ galten, in Anwendung auf die Individuen erster und dritter Ordnung gewinnen sie jedoch ein neues Gesicht.

Die Einheit des Organismus erscheint auf den ersten Blick vielleicht bei den Protisten größer als beim Menschen. Indessen können wir bis heute nur sagen, daß wir keine kleineren Einheiten kennen, daß jedoch nicht ausgeschlossen ist, daß die Zellen sich aus noch kleineren Einheiten aufbauen, so daß auch die Einheit der Protisten relativ wäre. Dazu kommt, daß in sukzessiver Hinsicht die Einzelligen keineswegs einheitlich sind, sondern sich schier ins Unendliche zu spalten vermögen, so daß man nicht weiß, soll man hier von einem oder von vielen Individuen sprechen.

Auch bei den Individuen zweiten Grades, zu denen der Mensch gehört, hat doch die Individualität nicht überall dieselben Formen wie bei ihm. Die simultane Einheit ist vielfach weit lockerer. Bei manchen Wirbellosen, Strudelwürmern z. B., können die Teile eines zerschnittenen Tieres sich wieder zu ganzen Individuen regenerieren, so daß wir vor ähnlichen Problemen stehen wie bei den Protozoen. Oft ist auch kaum zu entscheiden, ob es sich um ein Organ oder ein selbständiges Individuum handelt: der Hectocotylusarm mancher Tintenfische [223] kann fast für ein selbständiges Tier nach seinen Leistungen gelten. - Auch die sukzessive Einheit ist oft problematisch. Sehr merkwürdig ist z. B. beim Polypen der Wechsel zwischen seßhaften Polypen und frei schwimmenden Quallen. Die merkwürdigen Wandlungen der Insekten sind besonders bekannt, weshalb ja der Schmetterling zum Symbol der menschlichen Auferstehung geworden ist.

Noch schwieriger wird die Frage nach der Einheit bei den Individuen dritten Grades, den Stöcken. Diese setzen sich zwar aus scheinbar für sich lebensfähigen „Personen” zusammen, indessen sind zahlreiche Verrichtungen, wie die Fortpflanzung, nicht mehr Sache der Personen, sondern des Stockes, so daß nicht die Personen, sondern die Stöcke sich fortpflanzen. Auch im Hinblick auf den Zusammenhang mit dem Nichtindividuellen sind die nichtmenschlichen Individuen nicht dem Menschen gleich. Die Abhängigkeit vom umgebenden Raum, den Nahrungsverhältnissen usw. ist vielfach weit größer als beim Menschen. Manchen Wassertieren fehlt sogar die Fähigkeit der Lokomotion. Die Erscheinungen des Parasitismus, der Symbiose, der Synöcie [Synözie] kennzeichnen einen weit höheren Grad der Abhängigkeit von außerindividuellen Faktoren als sie beim Menschen besteht, der immerhin den höchsten Grad der Selbständigkeit darstellen dürfte. Die „Individualität dritter Ordnung” ist sogar im Hinblick auf die Selbständigkeit eher ein Rückschritt. Die in „Stöcke” eingehenden Einzelwesen sind in der Regel weit unselbständiger als die Individuen zweiter Ordnung. Bei den staatenbildenden Insekten sind die meisten Personen von der Fortpflanzung ganz ausgeschlossen; diese ist sozusagen Sache der Gemeinschaft, so daß sich, streng genommen, nur diese fortpflanzt. Auch ist innerhalb der Gemeinschaft der Konkurrenzkampf der Individuen ganz ausgeschlossen; es besteht eine Solidarität wie sonst nur noch zwischen Mutter und Jungen. Manche Personen, bei den sklavenhaltenden Ameisen z. B., haben sogar die Fähigkeit der selbständigen Ernährung eingebüßt, so daß sie, wenn sie nicht gefüttert werden, selbst bei reichlich vorhandener Nahrung zugrunde gehen.

[224] Da aber solche Funktionen, die bei den Personen Sache des Individuums sind wie Fortpflanzung und zum Teil auch die Ernährung, bei den Stöcken von der Gesamtheit übernommen werden, so ist es möglich, die Mitglieder des Stockes zu einer körperlichen Individualität zusammenzufassen.

Man sieht also, der Mensch und die ihm ähnlichen tierischen Wesen vertreten in körperlicher Hinsicht nicht die Individualität überhaupt, sondern nur eine Form derselben.


4. Das Problem des nichtmenschlichen Bewußtseins.
Die Frage nach dem Bewußtsein bei den Tieren geht nicht bloß dahin, ob diese überhaupt Bewußtsein haben, sondern auch dahin, ob sie das gleiche Bewußtsein haben wie der Mensch. Das erfordert jedoch eine genauere Analyse des spezifisch menschlichen Bewußtseinslebens.

Nicht immer ist beachtet worden, daß der Mensch nicht bloß ein Bewußtsein hat, sondern daß sich sein Bewußtsein gleichsam auf zwei Ebenen abspielt, daß sich über einem primären Bewußtsein ein Zentralbewußtsein aufbaut, das innerhalb des primären Bewußtseins eine Auswahl und Zusammenfassung vornimmt, die oft allein als Bewußtsein schlechthin bezeichnet wird. Derartiges ist in der herkömmlichen Unterscheidung zwischen Perzeption und Apperzeption, zwischen Randbewußtsein und Fokalbewußtsein gemeint. Nur was in dieses Zentralbewußtsein eingeht, pflegt man als Bewußtsein schlechthin gelten zu lassen, ja zuweilen hat man dem Primärbewußtsein, der Empfindung, den Bewußtseinscharakter ganz abgesprochen. Das scheint mir jedoch zuweit gegangen. Wenn wir in eine Landschaft blicken, so perzipieren wir zwar eine Menge Einzelheiten, wir apperzipieren sie jedoch nicht. Das heißt nicht, daß die Einzelheiten völlig unbewußt wären, es heißt nur, daß sie nicht gesondert in das Zentralbewußtsein aufgenommen werden. Ebenso reagieren wir, während wir arbeiten, auf eine Menge von Reizen (wir verjagen z. B. eine Fliege), ohne daß unser mit anderen Gedanken beschäftigtes Zentralbewußtsein etwas davon merkte. Da wir jedoch dort die Einzelheiten der Landschaft, hier das Verjagen der Fliege [225] nachträglich ins Zentralbewußtsein ziehen können, so beweist das, daß jene Vorgänge keineswegs ganz unbewußt waren, sondern daß sie wohl bewußt waren, ohne in das Zentralbewußtsein einzugehen. Dieses Zentralbewußtsein kommt durch Zusammenfassung vieler gleichzeitiger und vergangener primärer Bewußtseinsinhalte zustande. Bietet man der Seele hartnäckig nur einen Inhalt dar, so hört jedes Zentralbewußtsein auf: es tritt die Hypnose ein. Stellen wir uns ein Seelenleben vor das in Bruchteile von Sekunden zerschnitten wäre, so, daß jedes Sekundenbruchteil nur das in ihm Geschehende bewußt erlebte, alles andere aber radikal vergäße, so hätten wir zwar ein Bewußtsein, aber keines, das sich dem menschlichen vergleichen könnte. Denn dieses baut sich vielmehr auf Erinnerungen auf, auf der Zusammenfassung sukzedierender Inhalte.

Die Frage, ob wir den Tieren Bewußtsein zuschreiben dürfen, verengert sich daher auf die andere, ob wir den Tieren ein Zentralbewußtsein zuschreiben dürfen wie dem Menschen. Denn das menschliche Bewußtsein braucht ja nicht die einzige Bewußtseinsform zu sein. Wir können das um so mehr annehmen, weil auch der Mensch nicht immer über dies Zentralbewußtsein verfügt, sondern zeitweise (in Dämmerzuständen, bei höchster Ermüdung usw.) ein anderes, diffuseres Bewußtsein in ihm auftritt.

Welche Anhalte haben wir nun zur Nachprüfung jener Fragen? Der physiologische Apparat des Bewußseinslebens beim Menschen ist gekennzeichnet durch ein kompliziertes peripheres Nervensystem und eine starke Entwicklung des Großhirns. Jenes pflegt man als Voraussetzung einer Zentrationsfähigkeit der simultanen Eindrücke, dieses als Voraussetzung der Wiederbelebung vergangener, sukzedierender Eindrücke anzusehen. In der Tat ist das menschliche Bewußtsein in hohem Grade der Zusammenfassung simultaner und sukzedierender Faktoren fähig, die es allerdings „monarchisch” einordnet, so daß nur ein jeweils wichtiger in den Vordergrund tritt und sich in Handlungen umsetzt. Ein Teil der Körperzellen spezialisiert sich also ganz auf die Bewußtseins[226]leistung, die Leitung nach der Zentralstelle, respektive die dort stattfindende Verarbeitung der vielen primären Zuleitungen. Wir werden daher ein Bewußtsein, das dem menschlichen ähnlich wäre, nur bei solchen Tieren voraussetzen dürfen, die eine ähnliche Nervenorganisation haben wie der Mensch.


5. Die Organisation des Nervensystems bei den Tieren.
Prüfen wir nun die Organisation nichtmenschlicher animalischer Wesen auf diese anatomischen Voraussetzungen eines Bewußtseinsleben hin, so zeigt sich, daß wir zwar bei den meisten höheren Tieren eine Zentralisation des Nervensystems haben, daß jedoch bei den niedersten Tieren eine solche nicht nachzuweisen ist. Die Neuronen verteilen sich einigermaßen gleichmäßig über den Körper des Tieres; wir haben eine diffuse Anordnung, wie etwa bei den Zölenteraten. Daneben unterscheidet man die kompakte Form des Gangliennervensystems, wo sich die Zellkörper der vermittelnden und effektorischen Neuronen auf enge Gebiete, die sogenannten Ganglienknoten, beschränken, während die rezeptorischen Neuronen von der Peripherie her ihre Außenfortsätze in die Ganglien hineinsenden. Bei derartigen Nervennetzen breitet sich die Erregung nur langsam und örtlich beschränkt aus. Erst von den Plattwürmem an aufwärts kann man von einer Zentralisation sprechen, deren Organ sich freilich zunächst noch durch den ganzen Körper erstreckt, sich bei höheren Formen jedoch im Kopfende konzentriert, das bei der Fortbewegung vorangeht und den Mund enthält. So bildet sich, da auch die Hauptsinnesorgane hierher verlegt sind, an dieser Stelle ein Gehirn. Aber auch wo man von Gehirnbildung sprechen kann, bestehen ganz gewaltige Unterschiede. Ein Forscher urteilt, daß das Gehirn der Wespe von dem der Heuschrecke so verschieden sei wie das des Menschen von dem des Frosches. Beim Maikäfer beträgt das Gehirngewicht 1/3500 der Körpermasse, beim Schwimmkäfer Dytiscus 1/4200, bei der Arbeitsameise dagegen 1/286, bei der Arbeitsbiene sogar 1/174. Während bei den Wirbellosen das Gehirn auf der Bauchseite liegt, befindet es sich bei Mantel- und Wirbeltieren auf der Rückenseite. Bei letzteren gliedert [227] es sich in Gehirn und Rückenmark, eine Teilung, die jedoch äußerlich bleibt, so daß man mit Recht einen Teil des Hirns auch als verlängertes Mark bezeichnet. Indessen bestehen auch unter den höheren Tieren noch gewaltige Unterschiede im Bau des Gehirns. Bei den Säugern wird das Neopallium von überragender Bedeutung. Indessen weder die absolute oder relative Größe des Gehirns, noch seine Furchung sind sichere Anzeichen für die Höhe der Intelligenz. Der Mensch hat weder ein absolut größeres Hirn als die übrigen Tiere, noch steht es zu seinem Gesamtgewicht in überragendem Verhältnis, Es beträgt im Durchschnitt 25 0/00 des Körpergewichtes, während es beim Klammeraffen 66 0/00 ausmacht.

Soviel etwa zur Skizzierung der anatomischen Tatsachen.


6. Das Bewußtsein der Tiere.
Von der körperlichen Organisation aus lassen sich nun gewiß Schlüsse aufs Bewußtsein ziehen; wir müssen uns jedoch hüten, nach dem Fehlen eines besonderen Organs ohne weiteres auch den Ausfall der Funktion anzunehmen. So wenig als man bei Tieren, die kein besonderes Auge haben, darum den Mangel des Lichtsinnes annehmen darf, so wenig darf man aus dem Fehlen eines Zentralnervensystems schließen, daß das Tier keinerlei Gesamtbewußtsein habe. Es hat vermutlich nur ein anderes Bewußtsein. Wieweit überhaupt Bewußtsein vorhanden ist, ist natürlich genau nicht nachzuweisen. Die meisten neueren Forscher neigen bei ihrer Vorliebe für den Mechanismus dazu, die Bedeutung des Bewußtseins herabzusetzen, und gehen unserer Meinung nach darin zu weit. Mir scheint es durchaus berechtigt, überall dort, wo eine zentrierte Nervenorganisation besteht, auch ein zentriertes Bewußtsein anzunehmen, das freilich außerordentlich dumpf und nicht nach Analogie des menschlichen zu denken ist. Hier steht nur in Frage, wieweit wir in der Tierwelt ein Bewußtsein der Individualität anzunehmen haben.

Setzen wir überall dort, wo wir Neuronen finden, ein Bewußtsein voraus, so ist eine Trennung zwischen Gegenstandsbewußtsein und emotionalem Bewußtsein nur dort (und zwar als völlig dumpf) anzunehmen, wo Trennung zwischen rezep[228]tiven und effektorischen Nerven vorliegt. Auch bei den höchsten Tieren ist jedoch die Trennung zwischen Gegenstandsbewußtsein und emotionaler Reaktion weit weniger klar als beim Menschen. Es hat also kaum einen Sinn, zwischen emotionalem Bewußtsein und geistigem Besitz zu unterscheiden. Erst bei den Säugern dürfen wir einigermaßen klare Vorstellungen annehmen. Hier besteht ohne Zweifel sogar eine Art von Innenbild des Ich; der Hund fühlt sich sichtlich geschmeichelt, wenn er gelobt wird, wie auch sonst Ehrgeiz und Eitelkeit bei Tieren sich zeigen, was auf Erleben der eigenen Individualität hinweist. Spielen manche Tiere doch sogar angenommene Rollen. - Auch individuelle Außenbilder muß man bei Tieren annehmen. Überall, wo monogamische Paarung besteht, muß Sinn für fremde Individualität sein. Und der Hund, der von Menschen so scharfe individuelle Außenbilder besitzt, vermag sicherlich auch seinesgleichen genau zu individualisieren.


7. Das Individualitätsbewußtsein der „Stöcke”.
Ein besonderes Problem bietet die bewußte Individualität bei den Individuen dritter Ordnung, den „Stöcken”. Es gibt da Erscheinungen, die gelegentlich sogar von einem einheitlichen „Geist des Bienenstockes” haben sprechen lassen. Es läßt sich ein einheitliches Handeln der Einzeltiere feststellen, das den Rückschluß auf eine gemeinsame Bewußtseinseinstellung nahelegt. Nun haben wir in den Stöcken gewiß keine Organisation, die eine überindividuelle Analogie zum Zentralnervensystem abgäbe, immerhin besteht jedoch eine zwischenindividuelle Verständigung: eine Sprache. Es ist allerdings keine Gehörs-, sondern eine Tast- oder Geruchssprache, die besonders von den Ameisen zur zwischenindividuellen Beziehung verwandt wird. Diese „Fühlersprache” dient zunächst zum gegenseitigen Erkennen der oft nach Hunderttausenden zählenden Mitglieder der Kolonie. Es scheint vor allem der Geruch der Speicheldrüsensekrete zu sein, der bei Bienen wie Ameisen als Erkennungszeichen für die Staatsbürgerschaft dient. Durch Betrillem mit den Fühlern vermögen sich diese Insekten ihre [229] Wahrnehmungen und Affekte mitzuteilen, so treiben die Soldaten der Termiten die Arbeiter zur Tätigkeit an usw.

Kann man hier von einem einheitlichen „Überbewußtsein” des Stockes sprechen? Gewiß ist die Einheitlichkeit geringer als sie dort ist, wo ein Zentralnervensystem die einzelnen Zellgruppen zusammenfaßt, auch ist die Weise der Vereinheitlichung eine andere; aber eine Vereinheitlichung ist auch hier vorhanden. Vergegenwärtigen wir uns nun, was wir früher fanden, daß auch innerhalb der Person das Zentralbewußtsein keineswegs ein Gesamtbewußtsein ist, daß vielmehr nur ein sehr geringer Teil der körperlichen Reizungen ins Zentralbewußtsein gelangt und dort gesondert apperzipiert wird, so kann man doch auch hier von einem vereinheitlichenden Bewußtsein sprechen, das allerdings auf mehrere Personen verteilt ist. Und indem vermittels des Nestgeruchs die Individuen sich doch als Glieder einer Einheit empfinden, kann von einem Individualitätsbewußtsein gesprochen werden, das zwar von dem menschlichen verschieden ist, aber doch als Individualitätsbewußtsein gelten muß.


8. Die Individualität der Pflanze.
Es fragt sich nun, ob man auch bei den Pflanzen, an deren leiblicher Individualität nicht zu zweifeln ist, von bewußter Individualität in irgendeinem Sinne sprechen kann, was von der Mehrzahl der Forscher natürlich ohne weiteres abgelehnt wird. Indessen mehren sich in neuester Zeit die Denker, die doch von einem psychischen Leben der Pflanze zu sprechen geneigt sind. Da man inzwischen unzweifelhafte „Sinnesorgane”: Augen, Fühlpapillen und statische Organe nachgewiesen hat, da auch für die Reizleitung Organe aufgezeigt sind, die Bewegungen einleiten, so fällt der Einwand, es fehle ganz an körperlichen Unterlagen für ein Bewußtseinsleben, fort. Immerhin werden wir jedoch das vegetative Bewußtsein, zu dessen Annahme wir mindestens ebenso berechtigt sind wie zu dessen Ablehnung, noch weniger dem menschlichen analog denken dürfen als das tierische. Vor allem tritt ein Faktor, der bei den Tieren das Individualitätsbewußtsein stark ausprägen muß, sehr zurück: die Lokomotion.

[230] Das Bewußtsein der Individualität läßt sich beim Tiere auch biologisch als nützlich erweisen, während für die Pflanze ein solcher Nutzen jedenfalls unendlich geringer wäre. Wenn man also auch Empfindung und Gefühl der Pflanze hypothetisch zusprechen kann, von einem Zentralbewußtsein im menschlichen Sinne kann jedenfalls nicht die Rede sein.

Einen raschen Seitenblick nur in ein Gebiet, das man gemeinhin vom Leben auszuschalten pflegt: in die Welt der Kristalle. Kann man auch auf sie die Kategorie der Individualität übertragen? Sicherlich kaum im Sinne einer Bewußtseinsindividualität, wenn man nicht einem rein spekulativen Panpsychismus huldigt. Ist es jedoch nicht möglich, eine leibliche Individualität ihnen zuzusprechen? Handelt es sich, wenn man vom „Wachsen” der Kristalle spricht, nur um eine Metapher? Seitdem neuere Forscher eine bedeutsame Restitutionsfähigkeit der Kristalle nachgewiesen haben, darf man die Frage wenigstens aufwerfen. Sie irgendwie zu entscheiden, ist hier nicht der Ort.


9. Überindividuelle Wesenheiten.
Wenn wir zugeben, daß es untermenschliche Individualitäten gibt, Individualitäten von anderer Art als die menschlichen, so darf auch die Frage nach übermenschlichen Individualitäten aufkommen. Ich meine diesen Begriff nicht im Sinne Nietzsches, sondern eher in dem Fechners, wie ihn viele neuere Philosophen wieder aufgenommen haben, im Sinne also einer höheren Einheit, innerhalb deren der Einzelmensch keine andere Rolle spielte als eine beliebige Zelle innerhalb des menschlichen Organismus. Ob wir, wie Fechners kühne Phantasie wollte, in den Planeten solche übermenschlichen Organismen zu sehen haben, liegt außerhalb unserer Entscheidung. Eher jedoch ist die Frage zu erörtern, ob wir nicht in sozialen Gruppen, vor allem im geordneten Staate eine übermenschliche Individualität zu sehen hätten.

Die Analogie zwischen Staat und Organismus ist oft genug gemacht worden. Sie läßt sich jedoch mehr vertiefen, als es gewöhnlich geschieht, wenn man nicht bloß die menschliche Individualität als einzige Möglichkeit ansieht, und wenn man diese vor allem etwas besser analysiert, als das gemeinhin geschehen ist. Ich habe bereits oben darauf hingewiesen, daß [231] die menschliche Individualität keineswegs so rational einheitlich, geschlossen und konstant und vor allem nicht so bekannt ist, wie meist bei jenen Analogien vorausgesetzt wird. Aus diesem Grunde glaubte ich oben, das Wesen der Individualität durch Analogie des Staates erhellen zu können, statt die Erhellung auf umgekehrtem Wege, wie es meist geschieht, zu suchen.

Wir können aber auf jeden Fall vom Staate als einer Individualität sprechen, wenn wir nicht die Individualität „zweiten Grades”, der Person, sondern die Individualität dritten Grades, die des „Stockes” heranziehen. Läßt sich der menschliche Staat ebenso wie der Ameisen „Staat” physisch als Individuum fassen? Was uns in diesem Falle dazu berechtigte, war nicht sowohl der Umstand gemeinsamer Abstammung, als daß die Fortpflanzung und zum Teil die Ernährung Sache der Gesamtheit waren und daß viele Mitglieder der Gemeinschaft von der Fortpflanzung ausgeschlossen waren. Nun ist zuzugeben, daß in dieser Hinsicht der menschliche Staat nicht so vereinheitlicht ist wie die Insektenstaaten, obwohl ein Ausschluß von Individuen von der Fortpflanzung (freiwilliges oder erzwungenes Zölibat) auch in menschlichen Staaten vorkommt. Aber über die physische Fortpflanzung hinaus wäre doch außerhalb des Staates eine Aufzucht der Kinder, ja die eigene Ernährung, den meisten Menschen ganz unmöglich.

Mag also in leiblicher Hinsicht die Einheit des Menschenstaates geringer sein als die in Insektenstaaten, so ist sie in geistiger Hinsicht weit größer. An Stelle der Geruchssprache ist eine Gehörs- und Gesichtssprache getreten, die eine außerordentlich große Vereinheitlichung gestattet. Wir haben eine überindividuelle Zentralisation, die sogar der der „Personen”, der Individuen zweiten Grades, nicht nachsteht. Die Telegraphenleitungen und Eisenbahnen vertreten die Rolle der zentripetalen und zentrifugalen Nerven, die Behörden, Zeitungsredaktionen, Regierungen usw. übernehmen die Rolle der Gehirnzentren, die wiederum untereinander mannigfach zur Einheit verknüpft sind.

[232] Erwägt man auch hier, daß bei den Individuen zweiten Grades kein Gesamtbewußtsein stattfindet in dem Sinne, daß die einzelnen Zellen oder Zellverbände etwa alle gleichmäßigteilhaben am Zentralbewußtsein, sondern daß das Wesen des einzelmenschlichen Zentralbewußtseins auch nur darin besteht, daß es Signale von den körperlichen Teilsystemen empfängt, und daß nach diesen Signalen ein einigermaßen einheitliches Handeln im Dienst der Daseinserhaltung zustande kommt, so verliert die Anwendung des Individualitätsbegriffs auf den Staat manches von seinem paradoxen Anschein. Auch innerhalb menschlicher Gemeinschaften gibt es, wenn ich so sagen darf, ein überindividuelles Ichgefühl, überindividuelle Funktionen, einen überindividuellen geistigen Besitz, ein überindividuelles Innenbild, überindividuelle Außenbilder, ja sogar überindividuelle Objektivationen. Nur muß man die ganz unberechtigte Forderung fallen lassen, daß etwa alle Mitglieder der Gemeinschaft an diesen Dingen gleichmäßig teil hätten; aber auch im Individuum zweiten Grades haben nicht alle Partien gleichmäßigen Anteil an dem Zentralbewußtsein. So verteilt sich der überindividuelle geistige Besitz des Staates, die Wissenschaft z. B., auf viele Individuen, die erst in ihrer Ergänzung eine gewisse überindividuelle Einheit konstituieren. Ebenso sind die Objektivationen der Gemeinschaft, z. B. die Kunst, zunächst Leistungen einzelner Menschen, sie werden aber zugleich repräsentativ für die Gesamtheit. Die Werke Molieres oder Goethes sind nicht bloß Objektivationen von deren Einzelmenschlichkeit, sondern auch von der überindividuellen Gemeinschaft, der sie angehören, einer Individualität dritten Grades.

Ich komme also doch zur Annahme eines überindividuellen Bewußtseins oder einer bewußten Überindividualität. Und doch habe ich oben die Hypothese mancher Philosophen, die einen einheitlichen überindividuellen Geist in alle Individuen hineinragen lassen wollen, abgelehnt. Das tue ich in der Tat und lege großen Wert auf die Unterscheidung. Das Gesamtbewußtsein jener ist eine a priorische Einheit, an der alle [233] Individuen in relativ gleicher Weise teilhaben sollen, die Einheit ist eine rationale, eine Idee. Eine solche geistige Einheit gibt es nicht. Das Überbewußtsein, von dem hier die Rede ist, ist nicht a priori, es ist ein Produkt der Rationalisierung, einer vorindividuellen, der Rasse, oder einer zwischenindividuelien, der gegenseitigen Angleichung. Es ist auch nicht rational in dem Sinne, daß alle Menschen in gleicher Weise daran Anteil hätten, vielmehr bestehen sehr große Verschiedenheiten. Die Einheitlichkeit und Gemeinschaft kommt nicht dadurch zustande, daß alle Menschen in gleicher Weise daran Anteil hätten, sondern gerade durch Ergänzung der Ungleichheiten. Es ist auch nicht überindividuell in dem Sinne, daß jede Individualität im Genus aufginge, nein, gerade durch Bewahrung der einzelmenschlichen Individualitäten und ihre gegenseitige Ergänzung kommt eine Individualität höherer Ordnung zustande, die aber nicht Aufhebung aller niederen Individualität ist, sondern eine Individualität eigener Ordnung, die wenigstens zum Teil von einzelnen Menschen erfaßt wird und jedenfalls in ihrer Gesamtheit zu einheitlichen Auswirkungen führt.

Im Gegensatz zum Rationalismus also, der im Individuum immer das Genus betont, sehen wir auch im Genus vor allem Individualität. Es gibt vielerlei überindividuelle Wesenheiten, solche, bei denen, wie in der Rasse, vorindividuelle Rationalisierung, solche, bei denen, wie im Staate, zwischenindividuelle Rationalisierung wirksam war, aber Individualcharakter haben auch sie. Wie bei den Einzelmenschen bilden sich auch solche überindividuellen Einheiten aus einer irrationalen Gegebenheit kraft einer Rationalisierung heraus, ohne doch den irrationalen Charakter ganz zu verlieren.


[234]
IV. Kapitel

Zum Problem der Freiheit

1. Freiheit und Individualität.

Wenn ich das Problem der „Freiheit” hier aufnehme, so beabsichtige ich nicht, in all seine verschlungenen Winkelgänge hineinzuleuchten; ich möchte nur versuchen, mich des Individualitätsbegriffs, wie er sich bisher ergeben hat, als eines Ariadnefadens in diesem Labyrinthe zu bedienen.

Und zwar unterscheide ich drei verschiedene Formen des Freiheitsproblems, eine metaphysische, eine psychologische und eine ethische, die ich alle kurz behandeln werde, soweit einiges Licht von meinen Feststellungen darauf fallen kann. Denn das Problem der Freiheit ist dem Problem der Individualität untrennbar verknüpft, und es heißt, sich den Weg zur Lösung rettungslos versperren, wenn man sich nicht über diesen Begriff vorher klar geworden ist.

Frei sein kann nur ein Ich, ein Individuum. Es wäre sinnlos, irgendeinem toten Ding Freiheit zuzusprechen. Es ist irreführend, wenn die Frage nach der Freiheit der anorganischen Natur gegenüber aufgeworfen wird. Selbst wenn ein fallender Stein oder ein kreisender Planet nicht eindeutig in seinem Laufe bestimmt wären, wenn Möglichkeiten beständen, daß sie sich irgendwo so oder so bewegten, selbst dann wären sie nicht „frei”. Der Begriff der Freiheit ist am Ich gewonnen, und er darf in die Welt nur insofern hineinverlegt werden, als man ihr irgendwie ichhaften Charakter zuschreiben kann. Nicht jedes Geschehen also, sondern nur das ichhafte, kann frei genannt werden. Nun ist unserer gesamten Anschauung nach das ichhafte Geschehen am reinsten offenbart im emotionalen Leben, vor allem im Wollen; man kann das Ich überhaupt als Willen fassen, als ein Streben und Bedürfen, daß, soweit es bewußt wird, sich als Wille offenbart. Infolgedessen sind Freiheit des Ich und Freiheit des Wollens gleichbedeutend; man kann auch sagen, nur dort, wo ein Wollen ist, kann [235] von Freiheit gesprochen werden. Freiheit muß immer Willensfreiheit sein. Wenn also die Frage nach der metaphysischen Freiheit aufgeworfen wird, ist zunächst zu entscheiden, wieweit von einem Willen in der Welt gesprochen werden kann. Zwar wollte Schopenhauer ja auch im Fallen des Steines und im Brausen des Sturmes einen Willen sehen, soweit jedoch darf man sicherlich den Begriff des Willens nicht spannen, ohne ihn aufzuheben; andererseits kann man auch aus dem Bewußtsein allein den Willen nicht erklären, sondern muß auf unbewußte Triebe und vitale Bedürfnisse zurückgehen, die mit dem Begriff des Lebens gegeben sind. Freiheit im metaphysischen Sinne ist nicht bloß Freiheit des bewußten Ich oder des bewußten Willens, sondern ist Freiheit des Lebens, jenes irrationalen, aber doch gerichteten Geschehens, das wir als eigene Kategorie und auch als eine eigene metaphysische Wirklichkeit anerkannten.

Das psychologische Freiheitsproblem ist dem metaphysischen gegenüber eine engere Fassung, wenn auch die ursprünglichere. Denn hierbei handelt es sich nur um den bewußten Willen, also ein Teilphänomen jenes Strebens, als das wir das Leben erkannten. Und zwar fasse ich das psychologische Freiheitsproblem nicht als Freiheit des Bewußtseins, sondern als Bewußtsein der Freiheit. Denn dies Bewußtsein der Freiheit ist ein eigentümliches Phänomen, das nur aus der Irrationalität der Individualität und der jene einschränkenden Rationalisierung zu begreifen ist.

Die ethische Freiheit wiederum ist eine Einschränkung der psychologischen. Diese nämlich wird erst zur ethischen, wenn sich das Freiheitsbewußtsein auf Ziele richtet, die ethischer Art sind, d. h. die von überindividuellen Gesichtspunkten geleitet werden.


2. Die metaphysische Freiheit.
Die metaphysische Fassung des Freiheitsproblems fragt in ihrer gröbsten Form, ob die Gültigkeit des Kausalitätsprinzips irgendwelche Lücken aufweise, näher bestimmt, ob das Ich über die Kausalität erhoben sei; denn im Grunde zweifelt Ja niemand daran, daß [236] die tote Natur determiniert ist. Indessen auch in der verengerten Form scheint mir die Frage undiskutabel. Die Gründe dafür, daß ein konsequenter Indeterminismus das Chaos bedeuten und vor allem gar nicht das leisten würde, was man von ihm verlangt, sind oft genug zusammengestellt worden.

Ich möchte daher das Problem etwas anders formulieren und zwar so, daß ich frage, ob das Ich derselben Kausalität unterliegt wie die tote Natur, ob also die lebendige Welt nicht eine andere Form der Kausalität kennt als die unbelebte? Es würde also nicht die Kausalität überhaupt, sondern nur die mechanische Kausalität in Frage gestellt werden, was jedoch genügen würde, um dem Leben und der Individualität eine gewisse Freiheit zu sichern.

Denn daß sie „absolut” frei sei, wird keineswegs behauptet. Daß Freiheit und Notwendigkeit keine kontradiktorischen Gegensätze sind, ist ja schon oft genug ausgesprochen worden. So bestreite ich nicht im geringsten, daß die Individualität zum Teil sogar mechanischen Gesetzen unterliegt; ich behaupte nur, daß nicht alles in ihr aus mechanischen Gesetzen zu begreifen ist.

Das aber folgt notwendig aus unserer vitalistischen Grundanschauung. Da das Leben als Realität eigner Art von uns angesehen wird, weder als Substanz noch als Energie, so kann es auch nicht den mechanischen Gesetzen unterliegen. Es muß sich gewiß mit den mechanischen Notwendigkeiten auseinandersetzen, es tut das jedoch in einer Weise, die nicht selbst aus dem Mechanismus begriffen werden kann. Insofern ist die Individualität der Außenwelt gegenüber frei. Diese Freiheit ist jedoch noch lange nicht gleichbedeutend mit launenhafter Willkür; im Gegenteil, sie ist dieser schärfer entgegengesetzt als die Kausalität. Denn launenhafte Willkür kann durchaus kausal verständlich gemacht werden, sie ist aber gerade durch die Abwesenheit dessen gekennzeichnet, was das Wesen der wahren Willensfreiheit ausmacht, die Zielstrebigkeit, die Teleologie.

Bereits Nietzsche hat als das Wesentliche des Freiheits[237]problems nicht die Frage „frei wovon?”, sondern die Frage „frei wozu?” erkannt. Dies „wozu?” darf jedoch in diesem Zusammenhang nicht im Sinne einer klar erfaßten Zweckvorstellung verstanden werden, überhaupt möchte ich wie oben den Begriff des „Zweckes” ausschalten und durch den der „Richtung” ersetzen, einer auf einem Bedürfnisse beruhenden Bestimmtheit, die gewiß nicht rational faßbar ist, aber doch als eine Wirklichkeit im Sinne einer Wirk-samkeit aufzufassen ist. Alles Leben ist gekennzeichnet als eine solche irrationale, gerichtete Wirksamkeit. Dieses Leben ist zwar in sich gerichtet, trägt also eine Notwendigkeit in sich, ist jedoch der mechanischen Natur gegenüber frei, wenn auch nur in relativem Sinne. Es ist gewiß notwendig, daß aus der Eichel eine Eiche wird, weil diese „Richtung” in der Eichel liegt; durch anorganische Gesetze, durch alles „Milieu” allein jedoch kann die Eiche nie zustande kommen; der mechanischen Natur gegenüber ist das Leben frei, aber nicht darum, weil es keine Notwendigkeit, nein gerade darum, weil es eine solche in sich trägt. Freiheit im metaphysischen Sinne heißt also nicht, daß es keine Notwendigkeit gäbe, sondern nur, daß es eine Notwendigkeit gibt, die nicht aus den mechanischen Gesetzen begreiflich gemacht werden kann, wenn sie auch beständig mit dem mechanischen Geschehen sich auseinanderzusetzen hat. Es wird also der bewundernswerten biomechanischen Methode vielleicht möglich sein, in noch viel höherem Grade als bisher auch das Gebiet des Lebens mechanischen Gesetzen zu unterstellen, ein letzter Rest wird doch stets diesen Netzen entschlüpfen, und dieser Rest berechtigt uns eben, von „Freiheit” zu sprechen. Die biomechanische Betrachtungsweise wird nur denjenigen Teil des Lebens fassen, worin es mit der Materie in Verbindung steht. Aber wir zeigten bereits oben, daß das Leben zwar nur in Verbindung mit der Materie nachweisbar, selbst aber doch immaterieller Art ist.

Mit alledem kann das ungeheure Problem natürlich nur als angeschlagen, nicht als irgendwie gelöst gelten. Das muß eingehenderen Untersuchungen vorbehalten bleiben. Es ist [238] jedoch nur folgerichtig, daß ich, nachdem ich die Sätze der Identität und des Widerspruches für die Individualität nicht habe gelten lassen, auch den Satz vom zureichenden Grunde in seiner rationellen Fassung anfechte.


3. Die psychologische Freiheit.
Die psychologische Fassung des Freiheitsproblems geht nicht so sehr auf das Frei-sein, als auf das Freiheits-bewußtsein. Dieses Freiheitsbewußtsein wird von manchen Indeterministen als feststehende Tatsache vorausgesetzt; es besteht jedoch in Wahrheit keineswegs überall. Die meisten unserer Handlungen und seelischen Erlebnisse sind vielmehr, was das Bewußtsein ihrer Freiheit anlangt, ganz indifferent. Bei fast allen unsern Gedanken, Reden, Taten haben wir weder ein Gefühl des Zwanges noch der Freiheit. Es bedarf besonderer Konstellationen, damit überhaupt die Freiheit, sei es negativ, sei es positiv, in Frage komme. Denn es gibt zahlreiche seelische Zustände, bei denen wir nicht nur kein Gefühl der Freiheit, sondern ein solches des Zwanges verspüren. Die Pathologie zeigt solche Zwangszustände in besonders grellen Beispielen: Wenn ein reicher Mann sich plötzlich, zuwider seinen sonstigen Gepflogenheiten, veranlaßt fühlt, ein Brillantenhalsband zu stehlen, wenn ein vernünftiger und bis dahin ehrenfester Mann plötzlich in den Bann einer Kokotte gerät, wenn ein sonst gesunder Mensch keinen Platz mehr zu überschreiten wagt, so sind nach der üblichen Redeweise „Zwangsvorstellungen” im Spiel, die man freilich besser als Zwangsgefühle bezeichnet, weil sie in Wahrheit nicht im Vorstellen, sondern im emotionalen Leben wurzeln. Unter weniger grellen Umständen treten solche zwangshaften Erlebnisse auch im normalen Leben auf: jeder Affekt kann auch bei geistig gesunden Menschen gelegentlich Zwangscharakter erhalten.

Analysieren wir nun diese Zwangserlebnisse, so ergibt sich, daß ihr Zwangscharakter dadurch entsteht, daß sie sich gegen einen aus dem Ich selbst stammenden Widerstand durchsetzen, gegen einen Willen, obwohl sie selber doch auch aus einem Wollen stammen. Das heißt aber, sie sind die [239] Folge einer Ichspaltung; sie setzen einen Streit zwischen zwei Ichen voraus, von denen das eine, das unterliegende, als das „wahre” Ich auftritt. In unserer Sprache können wir sagen: es ist der Kampf zwischen dem Momentan- und dem rationalisierten Einheitsich, das jedoch nicht stark genug ist, sich durchzusetzen. Deshalb fühlt es sich gezwungen, vergewaltigt, unfrei.

Der negative Fall ist lehrreich für das positive Freiheitsbewußtsein. Auch dieses tritt auf bei Ichspaltung, wenn irgendein Widerstand gegen das als eigentliches Ich empfundene Einheitsich sich regt, das diesmal jedoch nicht unterliegt, sondern sich durchzusetzen weiß. Dann, wenn irgendeine Neigung aufgetaucht ist, die ich bewußt beiseite schiebe, dann tritt in mir das Bewußtsein der Freiheit auf.

Auch hier wieder ergibt sich also, daß die Freiheit nichts Absolutes ist, sondern daß wir Grade der Freiheit unterscheiden müssen. Je gefestigter und stärker das Obersubjekt ist, um so freier ist der Mensch. Auch beim freiesten Menschen können Gelegenheiten eintreten, in denen er unter Zwang zu handeln vermeint, wo sein Einheitssubjekt unterliegt. Es ist mit der psychologischen Freiheit des Individuums ähnlich wie mit der Freiheit der Völker. Als „frei” fühlt sich ein Volk, wenn die Mehrheit seiner Bürger das Bewußtsein hat, ihrem Willen gemäß regiert zu werden; das ist jedoch nur möglich, wenn diese Mehrheit unter sich einheitlich ist und ihren Willen der Gesamtheit aufzwingt, indem sie eine auf Grund jenes Mehrheitswillens gewählte Regierung einsetzt. Die so geschaffene Freiheit ist jedoch nicht etwa launenhafte Willkür, sondern äußert sich in einer mehr oder weniger klar formulierten Richtung. Auch hier tritt also eine „gerichtete Notwendigkeit” einer blinden, bloß kausal bedingten Willkür entgegen; auch hier handelt es sich um das Freisein „wozu”, nicht um das Freisein „wovon”. Völker wie Individuen sind um so freier, je fester sie die durch ihr Wesen bedingten inneren Notwendigkeiten erfassen und durchführen, je einheitlicher sie sind. Der Mensch ist also in psychologischem Sinne [240] nicht frei, aber er kann mehr und mehr frei werden. Freiheit in diesem Sinne ist also nichts' Irrationales, sondern etwas Rationales, ein Produkt der Rationalisierung, die Herrschaft der „Vernunft” über die irrationalen Regungen der Seele.


4. Die ethische Freiheit.
Die ethische Freiheit ist eine Sonderform der psychologischen, da auch hier das Eingreifen eines rationalisierten Obersubjekts entscheidend ist. Indessen ist noch längst nicht jedes Obersubjekt ein ethisches. Ein brutaler Ellenbogenmensch kann durchaus ein Freiheitsbewußtsein haben, ohne daß das Ich, das sich in seinen Handlungen durchsetzt, irgendwie moralisch gefärbt wäre, ja es kann sogar gegen sittliche Regungen sich durchsetzen.

Damit die Freiheit ethischen Charakter bekomme, gehört das Vorhandensein eines ethisch wertenden Obersubjekts hinzu. Ethische Wertung aber setzt, wie wir sahen, eine zwischenindividuelle Rationalisierung voraus. Das psychologische Einheitssubjekt braucht nur innerindividuell rationalisiert zu sein, das ethische muß Rücksicht nehmen auf andere Individualitäten. Indem aber diese Anpassung und Ausgleichung dem Obersubjekt lebendiges Wesen geworden sind, indem es in seinen Handlungen von rationalen Gesichtspunkten geleitet wird, handelt es ethisch, speziell wenn diese Berücksichtigung der anderen, sei es konkret erlebt, sei es in abstrakter Form als „Gesetz”, ins Bewußtsein tritt. Indem dieses so rationalisierte Obersubjekt sich gegen irrationale Begierden durchsetzt, handelt es frei.

Das Wesen der ethischen Freiheit ist also ein Inbeziehungtreten der Individualität zu anderen. Man kann sagen, eine Individualität ist um so ethischer, je weniger sie Individualität im Sinne der Entgegengesetztheit zu anderen ist, je mehr sie eingeht in überindividuelle Komplexe, seien diese die Familie, der Staat oder die Menschheit. Es ist einerlei, ob das Ich sich durch Liebe mit dem Nächsten oder dem „Fernsten”, um mit Nietzsche zu reden, eins weiß: ethisch ist es stets dann, wenn es die Grenze des eigenen Ich übergehen läßt in größere Komplexe. Damit aber nimmt es das Wollen [241] des überindividuellen Subjekts gleichsam in sich hinein, ordnet jenen überindividuellen Willen seinen Momentanregungen, vielleicht sogar seinem innerindividuellen Einheitssubjekt über, unterwirft sich damit also einer Gebundenheit, die einen Teil seines Wesens vergewaltigt und doch darum, weil sie als das „wahre Ich”, als eine übergeordnete Einheit empfunden wird, als „Freiheit” erlebt wird. Wiederum stehen wir vor einer der seltsamen Paradoxien des Ichbewußtseins: der Mensch, der einem ethischen Gebote folgend seine Neigungen unterdrückt, fühlt sich als frei, obwohl er in jenem ethischen Gebote den Willen eines überindividuellen Subjekts gegen seine individuellen Neigungen durchsetzt. Auch auf ethischem Gebiete ist also der Begriff der Freiheit nicht gleich launenhafter Willkür, sondern auch hier setzt er eine Gerichtetheit, eine Bindung voraus, die gerade der Willkür entgegengesetzt ist. Frei im ethischen Sinne ist nicht der Sklave, der Ketten zersprengt, sondern derjenige Mensch, der sich selbst Ziele zu setzen weiß, die er als ethische, d. h. mit dem Willen anderer Individualitäten übereinstimmende erkennt. Daß diese Übereinstimmung nicht eine rationale sein muß, daß sie auch eine irrationale sein kann, ergibt sich aus unserer Analyse der überindividuellen Gemeinschaft, die nicht bloß auf Gleichheit ihrer Glieder, sondern gerade auf deren Ungleichheit aufgebaut sein kann.


5. Rückblick.
So ergibt sich, von welcher Seite wir es anpacken, das Problem der Freiheit als aufs engste geknüpft an das der Individualität. Freiheit besteht nur, soweit die Individualität abgrenzbar und einheitlich ist. Da wir nun die Abgrenzbarkeit und Einheitlichkeit des Ich nur als relativ erkannten, so ist auch die Freiheit nichts Absolutes, sondern wir müssen Grade der Freiheit unterscheiden, je nach dem Grade der Selbständigkeit und Vereinheitlichung des Ich. Die Freiheit wurzelt also nicht sowohl in der Irrationalität des Ich, als in der Rationalisierung. Damit aber gewinnen wir auch die Erklärung dafür, daß Freiheit nicht launenhafte Zufälligkeit und Willkür ist, sondern gerade Bindung, Gerichtetheit.


[242]
V. Kapitel

Die Probleme des Todes und der Unsterblichkeit


1. Der Tod als Problem.
Indem ich so dem Problem des Lebens und der Individualität nachgehe, gelange ich mit Notwendigkeit zu einem anderen, das je und je im Hintergrund dieser Gedankengänge sich aufreckt: dem Problem des Todes. Irgendwie sehen sich ja alle Philosophen dieser dunklen und scheinbar undurchdringlichen Pforte gegenüber, und sicherlich ist's ein Prüfstein für iede Philosophie, ob sie ein eigenes Verhältnis zum Tode gewonnen hat.

Der Tod ist fürs naive Denken ein radikaler Gegensatz zum Leben, erscheint als seine Negation, als Nichtsein im Gegensatz zum Sein. Für den Philosophen muß sich dies Verhältnis wesentlich anders darstellen. Für ihn sind Gegensätze nichts völlig Geschiedenes, sondern etwas in höherem Sinne Zusammengehöriges. So auch gilt es, den Tod zu begreifen. Er ist nicht etwas, was mit dem Leben gar nichts gemein hätte, sondern gehört zu ihm als notwendige Ergänzung; Leben wäre nicht Leben, Individualität nicht Individualität, wenn es den Tod nicht gäbe. Er ist der Rahmen, der das Bild zum Bilde macht, der Ausklang, der einer Symphonie erst Form gibt, er ist die Nacht, in der das Licht des Lebens sein Leuchten gewinnt. Nicht ihn hinauszudisputieren aus der Welt, nicht das Antlitz vor ihm zu verhüllen, nicht ihn zu beklagen ziemt der Philosophie, sondern ihn zu begreifen in der Gesamtheit des Seins, ihm im Bewußtsein seiner Schauer und seiner düsteren Majestät ins Auge zu sehen und seinen Sinn zu enträtseln.

In mannigfacher Weise hat man versucht, den Tod gedanklich zu überwinden. Es ist hier nicht der Ort, mit allen diesen Versuchen zu rechten. Nur zwei von ihnen will ich beleuchten, die mir die bedeutsamsten scheinen: den Begriff der Seelen Wanderung und den der persönlichen Unsterblich[243]keit, die beide an den verschiedensten Teilen der Erde aufgekommen , beide vielfach von höchstem sittlichem Adel sind und doch beide einer Kritik nicht standhalten, weil sie einen ganz ungeläuterten Begriff von der Individualität, resp. der Seele voraussetzen.


2. Die Lehre von der Seelenwanderung.
Die erste Form, den Tod gedanklich zu überwinden, ist die, daß man ihn als Übergang der Individualität in andere, ebenfalls persönliche Lebensformen begreift, die jedoch, wenigstens zunächst, auf gleicher Ebene mit dem bisherigen bleiben, mag auch ein relatives Aufsteigen oder Niedersteigen vorgesehen sein.

Kritisch betrachtet birgt jedoch diese Lehre tiefe Widersprüche. Unter der weiterlebenden Seele muß folgerichtig das inhaltlose Substrat gedacht sein, da die Erfahrung späterer Inkarnationen nichts Sicheres an Inhalten aus früheren Inkarnationen der Seele aufweist, man höchstens in den seltsamen, aber ganz unklaren Stimmungen der „fausse reconnaissance” etwas wie einen Bewußtseinsanhalt für jenen Glauben hat. Indessen setzt dies einen Begriff der Seele voraus, der ein Überbleibsel aus animistischen, halbmaterialistisch denkenden Zeiten ist. Die „Seele”, die hier aus einem Körper in andere wandern soll, ist das Substrat des Bewußtseins, das im Sinne der Lehre, aber in Widerspruch mit aller Denkbarkeit als unsubstantielle Substanz, immaterielle Materie gedacht werden muß. Ich habe schon oben diesen Begriff abgelehnt und eine vom Leben und Leibe abtrennbare Seele nur als Fiktion gelten lassen, als fiktiven Inbegriff der Funktionen, die wir als Träger des Bewußtseins annahmen, jedoch nicht als Realität gelten ließen. Eine Wanderung dieser fiktiven „Seele” aus einem Leib in einen anderen ist unmöglich.

Nun ist der Begriff der Seele gewiß nicht bei allen Völkern der gleiche. Bei manchen, wie den Buddhisten, scheint es sich weniger um das Substrat der Seele, als um deren Inhalte zu handeln. Es ginge damit nicht die kompakte Seele, sondern nur ihr Inhalt oder nur ein Teil ihrer Inhalte in [244] andere Seelen über. Das läßt sich gewiß sogar ganz realistisch deuten, denn fraglos gehen die Gedanken und das Wollen großer Menschen in andere Individuen über, aber sie verlieren bei diesem Übergang doch ganz oder wenigstens fast ganz ihre individuelle Beziehung, was ich oben ausführlich dargelegt habe.

Indessen pflegt die bloße Wanderung der Seele aus einem Leibe in den anderen keineswegs als gedankliche Überwindung des Todes empfunden zu werden. Es ist vielmehr bezeichnend, daß die Seelenwanderungslehre meist in depressiven Religionen auftaucht, und daß sie ihrerseits eine Erlösung fordert, ein Aufgehen ins Nirwana oder in die Gottheit, womit also hinter der Wanderung der individuellen Seele doch eine Aufhebung der Individualität ersehnt wird. In dieser Konsequenz ist die Lehre von der Seelenwanderung also keineswegs eine Überwindung des individuellen Todes.


3. Die individuelle Unsterblichkeit.
Ein zweiter Versuch der Überwindung des Todes ist die Lehre von der persönlichen Unsterblichkeit, die nicht im irdischen Leben, sondern in emer transzendenten Welt ihren Ort findet. Danach lebt nicht das abstrakte Substrat des Ich, die Seele, allein weiter, sondern die Individualität in ihrem ganzen Umfang, wenn auch in einer, meist nicht genauer dargelegten Läuterung und Verklärung oder in Vereinigung mit Gott; wobei jedoch die Individualität als solche erhalten bleibt. Das etwa ist die Lehre, die im Abendland umgeht.

Von unserem Standpunkte aus, von dem die Individualität überhaupt keine Substanz oder ein sonstwie beharrendes Sein, sondern ein Geschehen ist, muß diese Lehre unmöglich erscheinen. Wie soll etwas jenseits des Grabes beharren, wenn es diesseits nur Wandel ist? Man braucht jene Lehre nur konsequent durchzudenken, um ihre logische Unmöglichkeit einzusehen, und ich will kurz unter den verschiedenen Aspekten die Unsterblichkeitsansprüche der Individualität nachprüfen.

Daß vom Momentanbewußtsein aus ein Weg zur Unver[245]gänglichkeit gefunden werde, ist schon darum nicht zu erwarten, weil es, wie ich ausführlich dargelegt, ja überhaupt nur im Wandel, auf Grund des Wandels existiert.

Die Unsterblichkeit des Leibes wird trotz des Dogmas von der Auferstehung des Fleisches von wenigen ernsthaft erwartet. Es ist bezeichnend, daß gerade der relativ festeste und am meisten rationalisierte Bestandteil der Individualität, der Leib, zum religiösen Symbol der Vergänglichkeit geworden ist, da man seine Sterblichkeit am handgreiflichsten vor Augen sah. Höchstens in der Sitte der Ägypter, den Leib zu konservieren, gewinnt das Bestreben Gestalt, den Leib über die Sterblichkeit zu erheben. Aber gerade dies beweist, daß der Versuch, den Tod durch ein Dauerndmachen des Vergänglichen zu überwinden, nicht das Leben konserviert, sondern den Tod. Insofern haben diejenigen Religionen, die die Leiche verbrannten, vielleicht das tiefere Recht, weil sie einsehen, daß der Leichnam nicht die Individualität ist, sondern nur die materielle Unterlage der Individualität, die ihrerseits als immaterielle Wesenheit besteht.

Da die Unsterblichkeit des Leibes auch von den gröbsten Köpfen preisgegeben werden mußte, so klammerten sich die Ewigkeitshoffnungen an die Seele, richtiger die Seele verdankt zum guten Teil ihren Platz im Denken der Menschen eben deren Unsterblichkeitssehnsucht. Soweit die Seele freilich nur ein substantielles Ding, ein etwas verflüchtigter Doppelgänger des Leibes ist, hält ihre Unsterblichkeit einer Kritik nicht stand. Für uns, die wir von vornherein die Seele nur als ein fiktives Gebilde gelten ließen, kann nicht ernstlich die Rede von ihrer Unsterblichkeit sein, sie kann so wenig im Jenseits fortexistieren wie im Diesseits nach der Seelenwanderungslehre. Auch wäre es vom irdischen Standpunkt aus ziemlich gleichgültig, ob der abstrakte „Träger” des Bewußtseins weiter existiert, wenn nicht der Bewußtseinsinhalt auch weiter besteht. Wenn Karlchen Miesnick nicht als Karlchen Miesnick, sondern wenn nur seine abstrakte Seele weiter besteht, so ist es Karlchen Miesnick wahrscheinlich sehr gleich[246]gültig, ob das seine Seele oder die eines Negerhäuptlings ist, die in die Ewigkeit einzieht.

Im Grunde erhoffen alle diejenigen, die von der Unsterblichkeit der Seele sprechen, gar nicht die Unsterblichkeit dieses leeren Gefäßes, sondern sie wollen den Inhalt dieser Seele mit ins Jenseits nehmen. Sie wollen ihre irdischen Erinnerungen bewahren, wollen ihre Freunde wiedersehen, ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen, was alles man nur einmal konsequent durchzudenken braucht, um die unendliche Komik dieser Vorstellung einzusehen. Mich wundert, daß noch niemals ein Komödiendichter auf den Gedanken gekommen ist, die landläufigen Vorstellungen von der Unsterblichkeit einmal plastisch gestaltet vorzuführen, es müßte erschütternd wirken. Im Grunde ist jener seit Voltaire oft zitierte Eskimo, der den Missionar fragte, ob es im Jenseits auch Walroß- und Seehundsjagden gäbe und dann, als das verneint wurde, für die Unsterblichkeit achselzuckend dankte, ein weitaus konsequenterer Denker gewesen, als alle diejenigen, die die sehr irdischen Vorstellungen von der Ewigkeit, wie sie das populäre Christentum lehrt, gläubig hinnehmen. Und doch würde auch ihnen eine Ewigkeit ohne Orden und Titel und Besitztümer, die ihren irdischen Lebensinhalt ausmachen, wenig verlockend sein, wenn sie sich das wirklich klarmachten.

Dieselbe Widersprüchlichkeit offenbart sich, wenn wir Ernst machen mit der Unsterblichkeit des Innenbildes. Gründet sich doch das Innenbild auf alle bisher besprochenen Aspekte, und seine Unsterblichkeit würde daher auch alle ihre Paradoxien umfassen. Außerdem haben wir ja gar nicht ein Innenbild von uns, sondern eine ganze Kette von solchen. Welches nun soll unsterblich werden? Das letzte in der Reihe? Nun, dann wäre es sehr viel sympathischer, in der Blüte der Jahre ins Jenseits zu gehen denn als Greis. Und außerdem will man ja auch die Außenbilder von sich ins Jenseits mitnehmen ; es ist für die Hofprediger selbstverständlich, daß Seine Majestät eben diese Majestät auch mitnimmt ins Jenseits. Widersprüche über Widersprüche!

[247] Im Grunde kommt die ganze Lehre von der persönlichen Unsterblichkeit, die angeblich eine Erhebung des Irdischen ins Transzendente sein will, gerade auf eine Herabziehung des Transzendenten zum Irdischen hinaus. Statt, wie es ihr tiefster Sinn sein sollte, den Menschen über die Zeitlichkeit hinauszuheben, schleppt sie die ganze Zeitlichkeit in die Ewigkeit mit. Aber es gibt keine Wahl: entweder tragen wir den Erdenstaub und alle trüben und schmerzlichen Erinnerungen in saecula saeculorum mit uns, oder wir lassen das alles hinter uns, und dann ist's nichts mit der Unsterblichkeit der Individualität; denn deren verhältnismäßig festester Bestand sind eben unsere persönlichen Erinnerungen. Es ist gewiß, daß jeder Mensch Stimmungen erlebt, worin ihm eine Fortdauer der irdischen Existenz als trostreich erscheinen mag, indessen ist dieser Trost so widerspruchsvoll, die Individualität, die da fortexistieren soll, ist bereits hier auf Erden etwas so Flüchtiges, daß die ganze Lehre vor dem Forum eines ernsten Nachdenkens nicht standhalten kann.


4. Die partielle Unsterblichkeit.
Die Widersinnigkeit des Gedankens an eine Unsterblichkeit der gesamten Individualität hat man dadurch aufzuheben gesucht, daß man nur eine partielle Unsterblichkeit annahm, sei es, daß man nur einzelnen, besonders hervorragenden Individuen, sei es, daß man im Einzelmenschen nur dem Guten, Echten, Wertvollen Unsterblichkeit zubilligen wollte. So verschieden die beiden Fassungen des Gedankens sind, so sind sie doch in einem einig, daß nur das Wertvolle dauert, wobei es eine sekundäre Frage ist, ob dies Wertvolle eine ganze Individualität oder nur einen Teil erfüllt. Gegen den Gedanken, daß nur das Wertvolle von Dauer sei, werden wir nach unserer Wertanalyse um so weniger etwas einwenden, als wir umgekehrt gerade in der Dauer ein wesentliches Kriterium des Wertes sahen.

Indessen stehen auch dieser Lösung Bedenken entgegen. Denn erstens sahen wir, daß die Dauer aller sogenannten unsterblichen Werte gar nicht in einem Beharren in ihrer [248] Identität besteht, sondern gerade ihrer Wandelbarkeit und Anpassungsfähigkeit. Damit aber müssen wir auch für die Verlängerung des Lebens über das Grab hinaus den Begriff der Identität preisgeben, den wir schon für das gewöhnliche Leben opferten.

Des weiteren aber erkannten wir oben, daß das Wertvolle im Sinne des wiederholbaren, dauernden Erlebens gerade dem Nurindividuellen entgegengesetzt ist, daß es also gerade das Unpersönliche, weil Überpersönliche wäre, was dauerte. In der Tat ist es so: was von bedeutenden Männern als Wert wirkt, ihre Gedanken und Schöpfungen, ist in der Regel weitgehend rationalisiert, losgelöst von der Individualität. So führt also auch dieser Gedanke der partiellen Unsterblichkeit über den der individuellen Unsterblichkeit hinaus.


5. Das ewige Leben.
Nicht zu verwechseln mit der persönlichen Unsterblichkeit ist der Begriff des ewigen Lebens.

Sogar die Naturwissenschaft, die allen religiösen Betrachtungen fernsteht, hat diesen Begriff, allerdings nicht im transzendenten Sinne, aufgenommen. Sie nimmt eine in den Keimzellen vorhandene potentiell unsterbliche lebende Substanz an. Vor allem aber kann man die einzelligen Lebewesen, die sich durch Spaltung fortpflanzen, als unsterblich ansehen, da eine „Leiche” hier nirgends entsteht. In diesem Falle hört die Individualität auf, das Leben aber dauert weiter, ohne daß ein Tod einträte. Gewiß gehen auch die Protozoen infolge äußerer Umstände zugrunde, potentiell ist ihr Leben jedoch nicht dem Tode verfallen.

Bei den vielzelligen Wesen jedoch tritt mit Notwendigkeit der physiologische Tod ein, sei es durch Altersveränderung, sei es durch äußere Katastrophen. Indessen gilt das nur für das Soma, nicht für das Keimplasma. In diesem erhält sich das Leben, und so geht durch jedes lebende Wesen doch ein kontinuierlicher Strom dieses überindividuellen, potentiell ewigen Lebens hindurch. Soweit die Naturwissenschaft.

Die Philosophie kann sich diese Anschauungen zu eigen machen und wird, besonders wenn sie viatalistisch denkt, darin [249] wertvolle Stützen für Gedanken finden, die freilich dem exakten Nachweis sich entziehen, und die doch auf der Verlängerung nachweisbarer Tatsachen liegen. Es ist ihr durchaus möglich, das unendlich vielgestaltige Leben als eine metaphysische Einheit zu fassen und so von einem ewigen Leben zu sprechen, selbst wenn sie das Verhältnis des Individuums zu diesen metaphysischen Wesenheiten unentschieden läßt. Ich hatte es in dieser Frage schon oben bei einem non liquet belassen und möchte auch an dieser Stelle nicht weiter gehen. Mag der religiös Gläubige sich eins fühlen mit dieser überindividuellen Wesenheit, mag er sie sogar als göttlich verehren, das Denken Jedenfalls steht hier an einer Grenze, die es anerkennen muß.


6. Der Tod als Problem des Lebens.
Aber das Problem des Todes hebt nicht erst an der Schwelle des Grabes an, es ist, wenn eins, auch ein Problem des Lebens, Sage mir, wie du zum Tode stehst, und ich will dir sagen, wer du bist! Es scheint, daß erst der Tod dem Leben ein inneres Schwergewicht gibt, daß erst durch den Tod das Leben zum Leben im tieferen Sinne wird. Eine Welt, in der es kein Sterben gäbe, wäre unsere Welt nicht mehr; Menschen, die nicht sterben könnten, wären nicht Menschen und doch lange nicht Götter. Mit richtigem Empfinden hat der Volksglaube den Ahasver, der nicht sterben konnte, als tragische Gestalt gefaßt. Das individuelle Leben gerät, wie wir sahen, unfehlbar hinein in die Geleise der Rationalisierung, es würde erstarren und vereisen, wenn der Tod nicht Raum schaffte für neues Leben! Man male sich eine Welt aus, worin kein Tod stattfände! In ewigem Kreise würde sie sich drehen, die Menschheit würde sich mühsam weiterschleppen und schließlich nicht weiter wollen wie ein Zug Verschmachtender in einer Wüste!

Würdelose Vogelstraußpolitik, den Tod hinwegretouchieren zu wollen aus dem Leben! Denn es liegt ein tiefer Sinn in dem Worte: mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen! Es erhält ein neues Gesicht im Lichte der Individualitäts[250]philosophie. Denn wir sterben, indem wir leben! Jede Sekunde ist ein Hinsinken in Vergessenheit, in jeder Minute verwandelt sich unser Ich in niemals wiederkehrender Weise und mit uns unsere Umwelt. Das Kind stirbt im Jüngling, der Jüngling im Manne, der Mann im Greis. Wer hat nicht in heller Stunde ein Jugendbildnis von sich betrachtet und plötzlich begriffen, daß der spielende Knabe, der er ehemals war, dahin ist für immer, daß ein anderes Wesen an dessen Stelle getreten ist, das nichts mehr fühlt von dem, was es ehemals war! Tragen wir nicht täglich etwas zu Grabe, was uns lieb war, und achten wir's nur darum nicht, weil ein Neues an seine Stelle tritt? Ist nicht jedes Glück der Tod einer Sehnsucht und jede Erfüllung der Tod eines Wunsches? Und waren nicht vielleicht Sehnsucht und Wunsch mehr Leben als alles Glück und alle Erfüllung? Unablässig rollt der Strom des Lebens, schafft Wellen nur, um sie zerfließen zu lassen und neuen Wellen Raum zu geben!

Denn wir leben auch, indem wir sterben! Nur indem Altes in uns dahinsinkt, fühlen wir Neues entstehen. Ewig gilt dies „Stirb und werde!”. Wer die Geschichte überblickt, erkennt, wie schwer altgewordene Größen auf ihrem Volke lasten, wie selbst der Tod der Größten eine Erlösung sein kann, nicht bloß für sie, auch für andere. Denn ihr verlängertes Leben raubt dem Nachwuchs wichtige Möglichkeiten. Ob zu Besserem oder Schlechterem, das Leben drängt vorwärts mit Notwendigkeit und nichts kann diesen Drang aufhalten. Nicht den Tod zu bejammern gilt es, sondern ihn zu begreifen und auch dort noch seine Majestät zu empfinden, wo wir ihn nicht mehr verstehen. Nur dadurch, daß hinter allem Leben der Tod steht, erhält das Leben seinen Wert. Niemals steigert sich das Leben zu so reinen Höhen als im Angesichte des Todes! Da fällt alles Kleinliche des Daseins ab, da schmilzt das Erbärmliche von uns! Mit Recht gilt die Tragödie als vornehmste Dichtung, weil sie die Schatten des Todes über unseren Weg breitet und uns herausreißt aus den Banalitäten des Alltags! Was wir Tiefe am Menschen nennen, [251] ist sein Verhältnis zum Tode. Das eben erhebt jeden wahrhaft religiösen Geist so hoch über den platten Materialisten, den man bezeichnend als „Lebemann” anspricht, daß jenem der Tod eine Wirklichkeit ist, über die er sich nicht in gewaltsamer Lustigkeit hinwegtäuschen, zu der er im Leben bereits Stellung gewinnen will. Der Tod ist's, der unserem menschlichen Horizont ins Unendliche erweitert, er hat die tiefsten Gesänge und Dichtungen inspiriert, er hebt den Menschen hinaus über sich selbst, er hat den Glauben an Göttliches in die Welt gebracht.

Diese Lehre vom Tode ist kein Versagen der Philosophie, die nach dem Worte eines ihrer größten Vertreter geboren ist aus der Furcht vor dem Tode und nach einem anderen die Aufgabe hat, sterben zu lehren.

Sie will nicht trösten wie diejenigen Tröster, die mit Worten ein gewaltiges Schicksal hinwegschwätzen wollen, sie will den Tod in anderer Weise überwinden, indem sie, ohne ihm seine Größe zu rauben, dem Tode gibt, was des Todes ist.

Die wahre Form, dem Tode entgegenzugehen, ist die, ihn einzubeziehen in das Leben, und das muß nicht beim Tod beginnen, sondern im Leben. Wer das Sterben lernen will, darf nicht im Sterben beginnen, sondern im Leben. Wer das Licht will, muß den Schatten wollen, wer das Leben will, muß den Tod bejahen.

Dabei bleibt es dem Menschen unbenommen, jenseits seiner vergänglichen Individualität ein Ewiges anzuerkennen, das auch durch ihn hindurchströmt und in Milliarden von neuen Formen weiter wirkt. Er mag sogar an höhere Synthesen glauben, in die er eingeht. Aber wer an seiner Individualität haftet, hat auf den schwankendsten Grund gebaut. Ob das ungeheuere Getriebe der Welt, in dem wir selber winzige Rädlein sind, einen Zweck in irgend rationalem Verstand hat, ist mehr als fraglich; einen Sinn aber hat es gewiß, das können selbst wir in unseren engen Horizonten ahnen, wenn auch niemals ganz erfassen. Die Individualität aber kann niemals Zweck sein und wohl kaum ein Sinn an [252] sich; sie ist ein Schritt auf einem Wege, dessen Richtung und Ziel sich im Unendlichen verlieren, einem Wege, auf dem der Tod niemals ein Ende oder Hindernis, höchstens das Beginnen neuer Schritte ist.


VI. Kapitel

Die Philosophie der Individualität und das praktische Leben


1. Die Frage nach dem praktischen Werte.

An dieser Stelle, wo die Individualität ins Metaphysische zu entschwinden scheint, machen wir halt, und rückwärts gewandt zur irdischen Welt nehmen wir die Frage auf, ob ein Ergebnis fürs praktische Handeln herausspringt, dadurch, daß wir den Begriff der Individualität auf die Wagschale der Philosophie legten. Haben wir nicht jeglichen Boden unter den Füßen verloren, indem wir die Individualität, die wir zunächst zum archimedischen Punkte in dieser Welt des Wandels und der Täuschung zu machen versuchten, selber als der Wandlung und der Spaltung unterworfen und als unabgrenzbar der übrigen Welt gegenüber erwiesen? Indem wir sogar das, was sie sich selbst an Dauerndem und Ewigem zu schaffen glaubt, hineinstießen in diesen unendlichen Fluß des Geschehens? Ist das nicht Nihilismus, der untauglich machen muß für das praktische Leben, in das wir doch gerade als Individuen verflochten sind?

Man darf vom Philosophen nicht erwarten, was man von der rationalen Wissenschaft verlangt. Wissenschaft ist Anpassung der Wirklichkeit an die Ratio, oder Anpassung der Ratio an die Wirklichkeit zum Zweck der Beherrschung der Wirklichkeit. Ihre Ergebnisse erschließen nicht so sehr die reine Wirklichkeit, als daß sie eine rationalisierte Wirklichkeit schaffen, die sich vor die wahre Wirklichkeit stellt mit dem Anspruch mehr zu sein als jene. Die Naturwissenschaften werfen ihr Netz von Gesetzen über ein Sein, das doch nie[253]mals ganz eingeht in jenes Netz, und die geschichtlichen Wissenschaften zeichnen ein Bild, das aus unendlicher Bewegung einige wenige Punkte und Linien hervorhebt, rational zusammenfügt und ausgibt für das Ganze, so daß dessen unübersehbar gleitende Fülle uns fiktiverweise übersichtlich und sinnvoll erscheint. Beide Arten der Wissenschaft lehren uns so die Wirklichkeit meistern und beherrschen, aber sie vergewaltigen sie auch; sie geben uns nicht sowohl reine Wirklichkeitserkenntnis als eine Erkenntniswirklichkeit, wobei sie ihre rationale Erkenntnis als die Erkenntnis schlechthin ausgeben. Darin jedoch liegt zugleich eine Gefahr, und hier muß die Philosophie die rationale Wissenschaft ergänzen.

Denn Philosophie muß mehr sein als Wissenschaft. Sie muß auch das Erkennen noch zu erkennen streben und dessen Grenzen ermessen. Und indem sie sich der Grenzen der rationalen Erkenntnis bewußt wird, muß sie ein Bewußtsein auch dessen erschließen, was jenseits dieser Grenzen ist. Aber die Ratio ist nicht unsere einzige Erkenntnismöglichkeit; durch unsere unrationalisierten Sinne und im Gefühl erschließt sich uns ein Sein, das nicht eingeht in die Schemata der Ratio, und am unmittelbarsten erleben wir eine solche irrationale Wirklichkeit in uns selber. So zerstören wir gewißlich die Individualität als rationalen Begriff, aber wir gewinnen sie wieder als unmittelbares, irrationales Erlebnis.

Indem sich aber der rationale Begriff vom Ich als künstliches Gebilde erweist, gerät auch die Rationalität der Welt, des Korrelats zu diesem Ich, ins Wanken. Auch sie ergibt sich als fiktive Konstruktion, die das irrationale Sein zu überbauen strebt, aber dessen wahres Wesen verhüllt. Auch hier aber setzen wir an die Stelle der rationalen Konstruktion, die als solche gewiß ein wunderbares Kunstwerk unzähliger Menschengeschlechter ist, nicht etwa das nackte Nichts, sondern das Wissen um ein Sein, das niemals ganz in rationale Denkformen eingehen kann, mit dem wir aber dennoch in mannigfache Beziehung treten können.

Stellen wir also die Wertfrage, so kann es sich nicht [254] um einen rationalen Nutzen handeln, den die Philosophie erbringt. Aber wie theoretisch die irrationale Erkenntnis und die Erkenntnis des Irrationalen notwendige Ergänzungen sind zur rationalen Erkenntnis und zur Erkenntnis des Rationalen, so auch in praktischer Hinsicht.

Der Wert aber muß, wenn er nicht ein abstraktes, in der Luft hängendes Gebilde sein soll, zurückführbar sein auf vitales Bedürfen, und wenn ich jetzt vom Wert spreche, so will ich nicht in den oben bekämpften Fehler der Abstraktheit verfallen, sondern die Frage konkret aus der gegenwärtigen Konstellation heraus stellen. Und in der Tat scheint es mir, daß die historische Entwicklung auf einen Punkt gelangt ist, wo sie die überhandnehmende Rationalisierung als einen unerträglichen Zwang empfindet. Gewiß tobt sich diese Sehnsucht nach Freiheit vom Zwang der selbstgeschaffenen Rationalisierung oft in törichten Formen aus, aber kein unbefangener Beobachter wird in dem Anstürmen gegen künstlerische Tradition, gegen ethische Gesetze, gegen die Normen der Logik, gegen die alten Formen der Wirtschaft und Politik ein solches Bedürfnis verkennen, dem irrationalen Leben sein Recht zu geben. Der Philosoph wird sich gewiß nicht blind solchem Stürmen und Drängen verschreiben, er wird abzuwägen suchen, was der Ratio und was des Irrationalen ist; denn er erkennt, daß beides zum wahren Leben gehört. Seine Position wird weder sein (um Nietzsches Formeln zu gebrauchen): pereat vita, fiat veritas, noch pereat veritas, fiat vita; er wird entscheiden fiant veritas et vita! Denn die Wahrheit, auch die rationale, ist ein wesentlicher Teil der Welt, aber vielleicht heischt die historische Situation stärker die Betonung des Irrationalen.


2. Gegen die Mechanisierung des Menschen.
Man wird nun vielleicht erwidern, die Wendung zum Irrationalismus sei kulturfeindlich. Kultur sei eben Beherrschung des Lebens durch die Ratio, Einschränkung des Irrationalen.

Ich nehme auch diesen Einwand auf. Ich gebe zu, daß die Welt, in der wir leben, in immer stärkerem Maße zur Rationalisierung drängt und habe in diesem Buche nirgends [255] ein Hehl daraus gemacht, daß es etwas Gewaltiges ist um diesen Drang und daß Gewaltiges geschaffen ist. Man kann das zugeben und doch auch die andere Seite sehen.

Eben diese Tendenz zur Rationalisierung, die in immer stärkerem Grade die geschichtliche Entwicklung beherrscht, birgt auch eine ungeheure Gefahr, die immer drohender wird. Die vollkommene Rationalisierung des Lebens, der wir mit beschleunigtem Tempo zusteuern, wäre die Mechanisierung des Lebens. Denn das rationalste Gebilde, das wir kennen, ist die Maschine. Hier ist alles Irrationale ausgeschaltet, hier herrscht Einheitlichkeit, Gleichheit, Zweckmäßigkeit. Und der Mensch als Produkt der modernen Kultur wird der Maschine immer ähnlicher. Da ist alles auf den Zweck gestellt, da wird alles von rechnender Vernunft beherrscht, und wie der einzelne zur Maschine wird, so fühlt er sich als Teil eines noch größeren Maschinenbetriebes, der auch wiederum ein Maximum an Leistung verspricht. Man hat geistvoll dargelegt, daß unser ganzes Leben von der Maschine beherrscht sei; man kann diesen Gedanken auch so wenden, daß wir in der Maschine nur unser eigenes Ebenbild geschaffen haben, daß der philosophische Mechanismus nur die Theorie unseres mechanisch gewordenen Daseins gibt, aus dem alles Irrationale hinausgetrieben ist.

Diese Mechanisierung aber ist durch schwere Verluste erkauft. Der mechanisierte Mensch der modernen Kultur handelt gesetzmäßiger als der frühere, und doch haben vielfach das Recht und das Gesetz die instinktive Moralität verdrängt; der moderne Mensch redet klug über ästhetische Normen, aber er hat jenen natürlichen ästhetischen Instinkt verloren, der uns so oft bei Primitiven in Erstaunen setzt; der moderne Mensch hat die Welt in Begriffe und wissenschaftliche Gesetze gezwungen und hat dafür jenen tiefen Sinn für das Unergründliche der Welt eingebüßt, der dumpf und dunkel in den Mythen primitiver Kulturstufen lebt; wir haben in der modernen Demokratie ein Staatswesen geschaffen, das auf der Gleichheit aller Menschen basiert sein soll und das doch ein Unrecht [256] ist gegenüber der tatsächlich bestehenden Ungleichheit. Wir werden ungerecht vor zuviel rationaler Gerechtigkeit. Wir verlieren den Schönheitssinn vor zuviel ästhetischer Bildung, wir werden kurzsichtig und gehen in die Irre vor lauter Scharfsinn und Klugheit.

Und das Ergebnis? Die moderne Großstadtkultur mit ihrer Naturferne, ihrem Maschinendasein, ihrer grauenhaften Häßlichkeit und Nüchternheit, die durch ein paar laute Kunstdarbietungen übertäubt werden soll, ihrem kalten, gefühlsarmen Zusammenleben von Millionen, ihrer Polizei, ihrem Jagen nach dem zahlenmäßig feststellbaren Rekord selbst noch im Vergnügen, ihrer schematisierenden Erziehung, ihrer Politisierung der Massen und ihrer Herrschaft des Pöbels! Und diese Großstadtkultur ist nicht auf die Millionenstädte beschränkt, sie reicht hinein bis in die Provinz, ja bis in die fernsten Waldwinkel, deren Bewohner immer mehr industrialisiert, kapitalisiert, rationalisiert werden und sich der Natur zu schämen beginnen. Denn der Träger aller dieser öden Errungenschaften ist der dem Prinzip nach gleichgemachte, durch einseitige Zweckeinstellung gewaltsam vereinheitlichte, normierte und klassifizierte Mensch, der zur Maschine geworden ist.

All diesen sogenannten Segnungen der Kultur gegenüber gilt es den Wert der Irrationalität zu betonen! Das soll gewiß keine Rückkehr in den Urwald sein, keine Aufforderung, wieder auf allen Vieren zu kriechen, aber eine Besinnung auf das wahre Selbst des Menschen, darauf, daß er ein lebendiges Wesen ist, nicht eine Maschine. Die Besinnung darauf, daß er mehr ist als Verstand und Leistung, daß in ihm eine Unendlichkeit quillt, die durch keinen Verstand zu ermessen ist, und daß er sich eins wissen kann auch mit einer Unendlichkeit außer ihm, die aller Ratio spottet. Diese Besinnung aber muß beim eigenen Ich anfangen, und dazu hinzuführen war mein Ziel. Wir müssen wieder wissen, daß hinter jedem Menschen, auch denen, die uns am nächsten stehen, Geheimnisse, Dunkelheiten, unendliche Möglichkeiten stecken. Es gibt [257] nichts, was den Weg zum andern so versperrt, als der Glaube, man kenne ihn vollkommen. Eltern, die ihre Kinder restlos zu verstehen behaupten, Lehrer, für die nicht jeder Schüler ein neues Rätsel ist, Ehegatten, die ineinander nicht das Irrationale achten, Ärzte, denen nicht jeder Patient ein geheimnisvolles Wunder ist, Richter, die nicht auf jeden Angeklagten mit zurückhaltender Ehrfurcht schauen, Politiker, die ihre Gegner schematisch behandeln, sie alle und jeder andere Typus, der so handelt wie sie, sie alle taugen nichts. Ein Erkennen des Irrationalen, wie es hier gemeint ist, ist nicht ein Berechnen im Sinne herkömmlicher Logik, es ist ein ursprüngliches Ertasten, in jedem Augenblicke wach und frisch, in jedem Augenblicke bereit sich zu ändern. Es ist nicht Sache des Kopfes, sondern des ganzen Menschen, es ist ein Erleben, nicht ein Erkennen im rationalen Sinne. Und dies dem Menschen wiederzugeben, ist der praktische Wert des Irrationalismus.


3. Die irrationale Welt.
Wir werden jedoch nicht allein dem Menschen gegenüber die irrationale Einstellung wiederzugewinnen haben, wir müssen auch zur Welt als Totalität eine andere Beziehung als die des Kopfes allein wiedergewinnen. Wir werden aufhören müssen, das Weltall als starre Maschine zu denken, die nach starren Gesetzen abrollt. Ein neues Lebensgefühl tut uns not, ein Lebensgefühl im vollen Sinne dieses Wortes! Wir müssen spüren, daß wir leben, d. h. daß wir in jedem Augenblick in ein neues, einzigartiges, niedagewesenes und niewiederkehrendes Geschehen einbezogen sind, von dem wir nicht wissen, woher es kommt und wohin es geht. Wir müssen den Sinn bewahren für das Wunderbare, Unfaßbare, Unendliche des Daseins. Gewiß ist auch die Rationalisierung eine wichtige Form des Lebens, und vielleicht hat nur der ein Recht, die Irrationalität des Lebens anzurufen, der sich ehrlich gemüht hat um dessen Rationalisierung; aber dennoch ist diese nur die eine Seite, die, ausschließlich gepflegt, zur Ertötung des Lebens führen müßte. Es mag unter gewissen praktischen Gesichtspunkten nützlich sein, die irdischen [258] Werte, die Satzungen der Moral, die Feststellungen des Denkens, die Schöpfungen der Kunst als ewig und unwandelbar auszurufen und mit metaphysischer Würde zu umkleiden, philosophisch ist das nicht. Wir mögen fortfahren, um allgemeine Werte uns zu mühen, als wenn sie immer dauern sollten, aber der Philosoph muß wissen, daß alles gleitet, daß wir selber mitgleiten in dem großen Strom der Zeit, der für uns nicht ein Nichtseiendes ist, sondern ein Wesentliches. Es mag ein nützlicher Glaube fürs wirkende Leben sein, man könne Dauerndes schaffen, wir wollen dem wirkenden Leben diesen Glauben nicht nehmen; nur der Philosoph darf ihn nicht haben. Es ist nicht nötig, daß Philosophie Sache des Werktags sei; Philosophie mag ein Gipfel sein, zu dem der Mensch emporsteigt, wenn sich ihm unabweisbar die Erkenntnis von der Vergänglichkeit seines Strebens aufzwingt. Von hier aus wird ihm dann alles in anderem Lichte erscheinen, dann wird er erkennen, daß die einzige Dauer der Wechsel, daß die Vergänglichkeit eine Form des Seins, daß der Tod eine Form des Lebens ist, daß auch er wie sein Werk seinen Sinn nicht in sich trägt, sondern im Ganzen.

Man hat darauf hingewiesen, daß die Entscheidung, ob Mechanismus, ob Vitalismus, nicht theoretisch zu erbringen sei, daß es letzthin Sache der individuellen Eigenart sei, für welche der beiden Möglichkeiten man optiere. Gewiß ist der Mechanismus das Abbild des rationalisierten Menschen unserer Zeit, vielleicht aber wird derselbe Mensch, um nicht in diesem Menschendasein zu ersticken, mit Notwendigkeit zu einem Vitalismus kommen müssen, der auch die Mechanisierung als zeitlich bedingt erkennt und das Recht des irrationalen Lebens fordert.

Gewiß mag diese Erkenntnis nicht so süß erscheinen, wie jene wünschen, die von ihr einen wohlschmeckenden Nachtisch zum Mahle ihres Alltags erhoffen, sie ist kein Ruhebett für bequeme Glieder, deren höchstes Ziel es ist, auszuruhen und sanfte Träume zu träumen. Die Welt, die sie erschließt, ist nichts für Landratten, die den Ozean fürchten und sein [259] unendliches Gewoge, aber sie ist verlockend, berauschend für jeden, der die Sehnsucht ins Grenzenlose kennt. Hier gibt es keine Rettungsringe für die armselige Individualität, diese Erkenntnis schließt die Augen nicht vor der großen Tragik des Seins.

Der Mensch, der dieser Erkenntnis gemäß lebt, wird das Abenteuer lieben und die Tat, er wird den Mut haben, das zu sein, was in ihm lebt, und durchzusetzen, was er in sich als das Größte empfindet, mit jenem Glauben, zu dem er ein Recht hat, weil er auch anderen gleiches Recht zuerkennt. Diese heraklitische Welt schließt den Kampf und den Widerspruch ein und trägt doch die Gewißheit in sich, daß alles das nur Etappe ist auf dem großen Weg ins Unbekannte, den der durch alles und jeden hindurchflutende Strom des ewigen Lebens nimmt.

[195]
Anmerkungen


------- ENDE Teil IV --------


Müller-Freienfels, Philosophie der Individualität

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Anmerkungen


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Erstellt am 01.09.2010 - Letzte Änderung am 20.10.2010.