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II. Teil
Die Rationalisierung der Individualität
„Laßt fahren hin das Allzuflüchtige!
Ihr sucht bei ihm vergebens Rat:
In dem Vergangnen lebt das Tüchtige,
Verewigt sich in schöner Tat.
Und so gewinnt sich das Lebendige
Durch Folg' aus Folge neue Kraft;
Denn die Gesinnung, die beständige,
Sie macht allein den Menschen dauerhaft . . .”
Goethe
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I. Kapitel
Wesen und Formen der Rationalisierung
1. Irrationalität und Rationalisierung.
Das Bild der Individualität mit seinen schillernden Farben und durcheinanderrieselnden Linien, das ich bisher entworfen habe, war insofern zugestandenermaßen einseitig, als ich die meist nicht genügend beachtete Irrationalität gegenüber dem ebenfalls vorhandenen Rationalen allzusehr in den Vordergrund stellte. Ich gebe nunmehr die Ergänzung. Denn auch im wildesten Urwald gibt es doch hinter der wuchernden Fülle Regelmäßigkeiten und Übereinstimmungen, und die Individualität, die wir vorfinden, ist ja nirgends ganz urwüchsig, sondern ist bereits der Kultur unterworfen, die mit Meßschnur und Schere am Werke ist, das Rationale innerhalb der Irrationalität zu verstärken. Gewiß gelingt es ihr niemals, das Irrationale völlig auszurotten; denn eben in diesem quillt das schöpferische Leben. Ganz rationalisiertes Leben wäre kein Leben mehr, sondern Mechanisierung, Erstarrung, Tod. - Und doch ist auch die Rationalisierung wesentlich für das Leben.
Zwei Prinzipien also müssen wir in der Individualität unterscheiden: das irrationale Werden und die Tendenz zur Rationalisierung. Auch diese hatten wir bereits hier und da zu bemerken. Wir mußten im quellenden Strom des Bewußtseins gewisse Ähnlichkeiten und Wiederholungen feststellen, die uns nötigten, die betreffenden Erlebnisse als Äußerungen bestimmter fiktiver Funktionen einer „Seele” zuzuordnen. Wir mußten besonders innerhalb des Leibes relative Dauerbestände, sehr langsam sich wandelnde, aber doch [86] in stetiger Richtung sich wandelnde Zustände und Organe feststellen. Und auch die übrigen Aspekte der Individualität ließen hinter aller Irrationalität doch gewisse Regelmäßigkeiten erkennen. Vieles davon pflegt man als „Anlagen” oder „Bestimmungen” zu kennzeichnen, also Rationalisierungen, die vor der Individualität bereits vorhanden waren, die in der Vererbung mitgegeben wurden, und die ich in ihrer Gesamtheit als vorindividuelle Rationalisierung bezeichnen will. Das Individuum bringt also, woran niemand zweifelt, bei der Geburt bereits gewisse Bestimmtheiten mit, die freilich, wie wir sahen, der Irrationalität noch genügend Betätigungsfeld lassen.
Der Prozeß der Rationalisierung geht jedoch innerhalb des individuellen Lebens weiter. Die schon im vorindividuellen Leben angelegte Tendenz, Regelmäßigkeiten auszuprägen, wird im Einzelleben selbst durch zahlreiche Notwendigkeiten verstärkt. Und zwar besteht eine doppelte Rationalisierung: eine innerindividuelle und eine zwischenindividuelle. Jene will die Individuen zu mit sich selbst identischen Wesen machen, diese will sie sich untereinander angleichen. Jene will, das jedes Individuum A = A sei, diese, daß auch A und B und C identisch seien. Jene erstreckt sich in der Zeit, indem sie die aufeinanderfolgenden Stadien des Individuums vereinheitlicht, die andere erstreckt sich im Raume, indem sie die nebeneinanderbestehenden Individuen ausgleicht. In Wirklichkeit greifen meist beide Arten der Rationalisierung ineinander. Beide Arten der Rationalisierung werden jedoch für den Betrachter noch weit über ihre tatsächliche Wirksamkeit hinaus verstärkt durch eine von außen herantretende fiktive Vereinfachung, die ich als fiktive Rationalisierung kennzeichnen will.
Ich werde zunächst aufzuzeigen haben, welche Kräfte da am Werke sind. Es sei jedoch bereits jetzt bemerkt, daß die Rationalisierung niemals soweit gelangt, das irrationale Leben ganz zu unterdrücken. Denn von diesem allein geht alle treibende Kraft und alles Werden aus. Die Schere des [87] Gärtners mag - mit Maßen verwandt - den Sträuchern von Nutzen sein, sie kann niemals den Strauch wachsen, grünen und blühen lassen. Nicht das Logische, das Rationale, wie manche Philosophen meinen, ist die erste Triebkraft der Welt, sondern zunächst das Irrationale. Nicht das „Universale”, sondern das irrational Idividuelle ist schöpferisch. Das Problem der „Individuation”, über das man sich jahrhundertelang den Kopf zerbrach, ist falsch gestellt. Nicht das Allgemeine schafft die Individuen, sondern die Individuen entwickeln Gleiches, relativ Dauerndes und Abgrenzbares. Das wahre Problem der Welt (und nicht der menschlichen allein) ist daher nicht die Individuation, sondern die Rationalisierung. Gerade das irrationale Geschehen ist das Gegebene; die Frage ist: wie kann sich daraus relativ Gleiches, Dauerndes, Einheitliches, Abgrenzbares gestalten? Das ist's, was ich die „Rationalisierung” nenne! Und nur aus dem Wechselspiel zwischen irrationalem Werden und dem Streben zur Rationalisierung können die Erscheinungen des Lebens begriffen werden.
2. Das Grundprinzip der Rationalisierung.
Unter Rationalisierung verstehe ich also die Herausbildung relativ fester, einheitlicher, abgrenzbarer Gebilde aus dem irrationalen Strome des Werdens. Ihre Möglichkeit geht auf ein in der vorindividuellen Entwicklung bereits überall aufzeigbares Prinzip zurück: auf die Tendenz der Lebensvorgänge, sich zu wiederholen, soweit sie sich für das Subjekt des Lebens als nützlich erweisen. Bereits in der untermenschlichen Natur finden wir überall zunächst ein irrationales Probieren und danach eine Wiederholung geglückter Probierprozesse, eine Wiederholung, die zu dauernden Umbildungen des betreffenden Lebewesens zu führen vermag. Ich konstatiere das hier nur als biologische Tatsache, ohne der Frage, wieweit ein Bewußtsein mit Lustgefühlen in Betracht kommt, näherzutreten. Das wird später zu untersuchen sein, wo ich die Frage behandle, wieweit man von Individualität in der nichtmenschlichen Welt reden kann.
Hier gehe ich vom menschlichen Leben aus, wo eine [88] solche Tendenz zur Wiederholung nützlicher Akte in mehrfacher Hinsicht zu beobachten ist. Die Ergebnisse nennen wir je nachdem „Gewöhnungen”, „Anpassungen”, „Nachahmungen”.
Handlungen, die aus im Individuum selbst liegenden Gründen wiederholt werden, heißen Gewöhnungen. Ihre Ausbildung beruht auf dem jedem Organe innewohnenden Trieb zur Betätigung, der sich möglichst gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes auswirkt. Schon das kleine Kind, das zunächst nur aufs Geratewohl seine Organe übt, bildet doch bald gewisse Regelmäßigkeiten aus, in denen die erste Form der Rationalisierung zu sehen ist.
Meist jedoch nehmen die Gewöhnungen zugleich Rücksicht auf gewisse außerhalb des Individuums selbst liegende Verhältnisse und stellen sich dann als Anpassungen dar. Eine Anpassung kann einmalig sein, strebt jedoch, soweit die äußeren Verhältnisse Dauer haben, zur Wiederholung und führt bei hinreichend häufiger Übung, ebenso wie die Gewöhnung, zur Umbildung der Organe, die sich in der Anpassung auswirken. Denn die körperlichen Organe sind Produkte gewisser Lebensbetätigungen, was die Biologie an schönen Beispielen darlegen kann.
Eine dritte Art der Wiederholung ist zunächst nicht Wiederholung eigener Akte, sondern solcher fremder Individuen. Wir pflegen sie als Nachahmung zu bezeichnen. Im Gegensatz zur Gewöhnung und zur Anpassung ist die Nachahmung zwischenindividuelle Rationalisierung.
Meist greifen die verschiedenen Arten der Wiederholung ineinander. Als Beispiel diene das Sprechenlernen des Kindes. Es beginnt mit spielerischer Betätigung der Sprachorgane aufs Geratewohl, die bald gewisse Gewohnheiten und Wiederholungsformen ausprägt. Da das Kind aber merkt, daß seine Lautäußerungen durch Wirkung auf die Umgebung nützliche Folgen haben, so paßt es sich diesem Umstande an, und indem es vorgesprochene Laute außerdem nachahmt, wird die ursprünglich ganz irrationale Lautäußerung immer rationaler.
In der Wiederholung, die bei häufiger Übung zur Aus[89]prägung fester organischer Formen führt, haben wir also das Grundprinzip aller Rationalisierung. Durch Gewöhnung, Anpassung und Nachahmung werden die irrationalen Individualitäten weitgehend rationalisiert, d. h. ihre körperlichen und geistigen Betätigungen gleichen sich sowohl innerhalb desselben Individuums als auch innerhalb von Gemeinschaften untereinander an, bilden Regelmäßigkeiten und feste Formen aus, kurz sie rationalisieren sich.
Je nachdem diese Rationalisierung im Einzelmenschen allein oder innerhalb der Gemeinschaft einer Mehrheit von Individuen vor sich geht, unterscheide ich innerindividuelle und zwischenindividuelle Rationalisierung.
3. Die innerindividuelle Rationalisierung als Bedürfnis.
Daß die Individuen möglichst konstante Größen seien, wird durch mannigfache soziale, ethische, ästhetische, logische, religiöse Bedürfnisse gefordert. Wie eine Rechnung mit lauter variabeln Größen unmöglich ist, so läßt sich auch aus allzu elastischem Baumaterial kein Bau errichten. Und auf Individuen baut sich doch jede Kultur auf.
Soziale Bedürfnisse! Jeder Verkehr, jede Freundschaft, jeder Beruf, jeder geschäftliche Kredit, kurz alle gesellschaftlichen Konstellationen sind nur bei gewisser Konstanz der Individuen möglich. Frauen billigt man eine größere Dosis von Wandelbarkeit zu und nimmt anderer Vorzüge halber wetterwendisches Temperament in Kauf. Das hysterische Naturell mit seiner Unberechenbarkeit, das „Extrem der Weiblichkeit”, macht für die Ehe, die auf relativ beharrender Proportion der Charaktere aufgebaut sein muß, ganz untauglich. Nur auf Grund einer Identität der Individuen mit sich selbst, der man ja eine gewisse Schwingungsweite zubilligt, ist es möglich, die Vergangenheit und die Gegenwart als Bürgschaft für die Zukunft zu nehmen.
Das soziale Bedürfnis wird zur ethischen Forderung, d. h. seine Erfüllung wird mit allem Glanz sittlicher Wertung umgeben. „Charakter haben” wird gleichbedeutend mit eine „rationale Individualität” sein. Für die Natur, die Welt der [90] „Trolle”, mag der Satz gelten: „Troll, sei dir selbst genug!”, für den Menschen erklingt in Ibsens „Peer Gynt” die Forderung: „Mensch, sei dir selber treu!” Treue, Beständigkeit, Zuverlässigkeit und andere Tugenden müssen überall ethischen Wertklang haben. Das Gelübde der Treue legen der Soldat, der Beamte im Staat, das junge Paar am Traualtar ab. Sie alle verpflichten sich, über die Schwankungen, Spaltungen, Wandlungen der Individualität hinweg ein Beharrendes in sich triumphieren zu lassen. Hauptziel der Erziehung ist es zu aller Zeit gewesen, dem Charakter des Zöglings einen inneren Kompaß zu geben, der ihm feste Richtungen weist im Ungewissen des Lebens, kurz: Erziehung ist zum guten Teil Rationalisierung, die mit sittlicher Würde umkleidet ist.
Das ästhetische Bedürfnis nach Einheit und Abrundung der Persönlichkeit verquickt sich oft mit dem ethischen. Man findet zu starkes Schwanken, unerwartete Wendungen „unschön”; man verlangt, besonders vom Manne, Einheitlichkeit, Geschlossenheit, Stil. Der Aristokrat, der Angehörige einer auch ästhetische Verpflichtungen übernehmenden Klasse, unterscheidet sich durch die „Haltung”, den betonten „Stil” in allen Lebenslagen vom Plebejer; denn dieser „läßt sich gehen”, gibt jeder Laune und jeder Schwäche nach. Wie der Aristokrat Traditionen, d. h. die Einheit eines überindividuellen Zusammenhanges mit seiner Familie, bewußt kultiviert, so wahrt er auch in seinem eigenen Leben die Geschlossenheit. Alle Hast, alle Unruhe erscheinen von diesem Standpunkt aus als Unkultur. Er gibt der Mode, der sich der Parvenü blind verschreibt, nur so weit nach, als sie sich mit dem Stil seiner Persönlichkeit verträgt.-
Daß sich auch logisch die Individualität als Einheit fassen lasse, liegt auf der Linie des sozialen Bedürfnisses. Es ist Forderung der Denkökonomie, daß wir die Charaktere, mit denen wir in Beziehung treten, auch logisch durchschauen können. Man verlangt, daß der Einzelmensch unter irgendwelche Begriffe zu bringen, zu „klassifizieren” sei. Man will imstande sein, jede Tat aus dem geforderten Gesamtbegriff, diesen [91] wiederum aus den einzelnen Taten zu verstehen. Man will daher nicht nur innere Widerspruchslosigkeit, sondern auch Klarheit, Durchsichtigkeit. Der Mensch soll sich auf klare Formel bringen lassen. Besonders überall dort, wo - wie in der Geschichte - Individuen Gegenstand wissenschaftlicher Forschung werden, tritt diese Rationalisierung aus logischen Gründen ein.
In der Forderung einer religiös-metaphysischen Einheit laufen alle jene Rationalisierungsbestrebungen zusammen. Die Verlängerung der mit sich selbst identischen Individualität über den Tod hinaus, ihre Unsterblichkeit in diesem oder jenem Sinne ist nur die Folge und - der höchste Lohn der Treue gegen sich selbst. „Sei getreu, so will ich dir die Krone des Lebens geben!”
Alle diese Forderungen bewirken teils ohne, teils mit Dazwischentreten des Bewußtseins eine Rationalisierung der Individualität.
4. Die zwischenindividuelle Rationalisierung als
Bedürfnis.
Die Forderung, daß die Individuen nicht nur in sich, sondern auch untereinander gleich seien, wird in der Regel nicht so streng erhoben wie die erste, da sie noch größeren Schwierigkeiten gegenübersteht. Wo sie gilt, pflegt sie nicht so konsequent aufzutreten und zum mindesten noch größeren Spielraum zu behalten, als er sonst dem Begriff der Gleichheit gelassen zu werden pflegt. Folgerichtig durchgeführt würde die Rationalisierung der Individuen bis zur völligen Gleichheit die Aufhebung der Individualität in unserem qualitativ-differenzierenden Sinne bedeuten, „gleiche” Individuen wären keine Individuen mehr, sondern Nummern. Die Gefahr, daß die Rationalisierung soweit getrieben werde, besteht aber nicht sehr ernsthaft ; denn bereits die Analyse der Forderungen nach zwischenindividueller Rationalisierung zeigt, wie lax dieser Begriff angesichts der Unmöglichkeit der Durchführung genommen wird.
Bedürfnis ist die zwischenindividuelle Rationalisierung ebenfalls zunächst im sozialen Verkehr. Ungeachtet aller daneben [92] bestehenden sozialen Übereinanderschichtung ist innerhalb derselben Schicht eine gewisse Gleichheit der Individuen nötig. Zunächst rein äußerlich in bezug auf Rechte und Pflichten, aber auch tiefer! In der Tat wird überall in sozialen Verbänden starke Anpassung der Überzeugungen und moralischen Anschauungen und damit der seelischen Struktur verlangt. Auch im körperlichen Aussehen sucht man sich durch gleiche Tracht, gleiche Tättowierung, gleichen Haarschnitt, gleiches Gehaben zu uniformieren.
Ethisch gewendet führt die Forderung der Gleichheit zum Solidaritätsbewußtsein einerseits und zur Gerechtigkeit andererseits. Solidarität meint natürlich zunächst keineswegs Gleichheit, sondern Aufgehen in einem höheren Ganzen, in der Tat jedoch tritt Solidaritätsgefühl nur dort ein, wo man sich irgendwie verwandt mit dem anderen fühlt, eine Gleichheit annimmt. Mit ganz Wesensfremden fühlen wir keine Sympathie und kein Mitleid.
Tiefer noch ist der Begriff der Gerechtigkeit mit dem der Gleichheit verwurzelt. Bezeichnenderweise lautet einer der ersten Artikel der preußischen Verfassungsurkunde: „Alle Preußen sind vor dem Gesetze gleich.” Das Gesetz geht von einer Gleichheit der Individuen aus. Nur als Ergänzung, als Korrektur allzu grober Unzuträglichkeiten läßt man eine differentielle Gerechtigkeit zu, die soziale Verhältnisse und psychische, vor allem pathologische Abweichungen von der Norm als mildernde Umstände gelten läßt. - Sogar die philosophische Ethik geht von einer zwischenindividuell rationalisierten oder gar a priori rationalen Menschheit aus; die Ethik Kants zum Beispiel berücksichtigt kaum die individuellen Unterschiede, sie kennt nur den Menschen, nicht die Menschen.
Daß eine Gleichheit der Individuen ästhetische Reize haben kann, ist bei allem ästhetischen Reiz auch der Irrationalität nicht zu bestreiten. In der Tat ist eine Rationalisierung der Individuen innerhalb gewisser Verbände nicht nur praktisch-soziale, nein auch ästhetische Forderung. In strengster Form tritt diese, was die äußere Erscheinung anlangt, beim [93] Militär heraus, mit milderem Zügel regiert die Mode im bürgerlichen Leben. Aber auch Gedanken und Gesinnungen unterliegen ästhetischer Zensur. Sehr scharf ist diese z. B. für die Sprache, wo die Allgemeinheit individuelle Besonderheiten in der Regel mit der empfindlichen Waffe der Lächerlichkeit schlägt. „Unkorrektes” Sprechen, „unkorrekte” Bewegungen werden als „unschön” gebrandmarkt, einerlei ob sie an sich einem Kodex der Ästhetik widersprechen.
Vielleicht am kategorischsten wird die Forderung der Rationalisierung von den Logikern erhoben. Ihre Begriffe und Urteile heischen Allgemeingültigkeit und erheben damit, wenn auch keineswegs immer bewußt, die Forderung nach Gleichheit der Subjekte. Denn einen Sinn hat die Allgemeingültigkeit eines Urteils nur dann, wenn sie sich auf ein gleiches Erleben stützt. Man fordert, daß auch der Farbenblinde die „normalen” Farbenurteile anerkenne, und in der Tat geht die Rationalisierung so weit, daß der Farbenblinde seine Empfindungen für „falsch”, die normalen Urteile für „richtig” hält, obwohl er strenggenommen lügt, wenn er die allgemeinen Urteile sich zu eigen macht. Aber die logische Forderung heischt Rationalisierung, und der soll sich das Individuum bis zur Aufgabe seiner Individualität unterwerfen, was besonders auf dem Gebiet der später zu erörternden Werturteile zu seltsamen Konflikten führt.
Das leitet hinüber zur religiösen Forderung. So tief im Innersten des Menschen das religiöse Leben ersteht, so will es doch Einklang mit fremdem Erleben. Ist das religiöse Individuum schwach, sucht es Anlehnung an andere, ist es stark, will es andere zu seinem Erleben bekehren. Sowohl die Formel: „Es gibt nur eine wahre Religion für alle” wie die andere „Vor Gott sind alle Menschen gleich” sind Prägungen eines Strebens nach überindividueller Rationalisierung.
Ich konnte nur wenig Beispiele nennen für die mannigfach und nie doch ganz konsequent durchgeführte Bestrebung, eine zwischenindividuelle Gleichheit durchzuführen. In der Regel bleibt sie oberflächlich: man mutet den Individuen zu, [94] gewisse ethische, ästhetische, logische, religiöse Urteile anzunehmen, ohne zu erwägen, daß diese leere Worte bleiben oder gar Lügen, wenn hinter den gleichen Worten nicht die gleiche Gesinnung, der gleiche Mensch stehen. Die völlige Übereinstimmung der Menschen zu fordern, vermeidet man schon darum, weil man von der Unmöglichkeit der Durchführung in dem Augenblick überzeugt sein muß, in dem man mit Klarheit diesen Gedanken durchdenkt.
Trotzdem wäre es verkehrt, die ungeheure kulturelle Bedeutung auch der zwischenindividuellen Rationalisierung zu verkennen. Sie hat ihren Wert gerade darin, daß sie nicht konsequent durchgeführt wird, weil nur so das schöpferische Leben der Individualitäten nicht erstickt wird. Ja, kein geringer Wert der Rationalisierung liegt darin, daß sie die Irrationalität der Individuen zum Widerstand herausfordert und so die Bewegung des kulturellen Lebens, das gerade in Widersprüchen sich entwickelt, ewig lebendig erhält. Die Geistesgeschichte wie die politische Geschichte sind zum großen Teil dadurch in Bewegung geblieben, daß sich starke Individuen auflehnten gegen erstarrte Rationalisierungen und neuem Leben Bahn brachen.
5. Die Rationalisierung und die Ratio.
Der Begriff des Rationalen wäre jedoch nicht erschöpft, wollten wir einen Sinn überhören, der ebenfalls diesem Worte geliehen wird. Rational heißt vielfach auch „vernunftgemäß”, „zweckdienlich”. Indem wir diese Bedeutung mit der, die wir bisher dem Worte geliehen, also der der Gleichheit, Identität, Einheit, Abgrenzbarkeit verbinden, öffnen sich vor unseren Blicken Tiefen, die hinabführen zu den dunkelsten Fragen der Philosophie.
Wir sahen, daß die Rationalisierung im Sinne der innerindividuellen wie zwischenindividuellen Ausgleichung wichtigsten vitalen Bedürfnissen genügt. Infolgedessen kann sie, wenn sie vollzogen ist, den Charakter des Nützlichen, damit aber auch von außen gesehen, den des Zweckmäßigen und Vernunftgemäßen erhalten. Da wir Menschen nämlich imstande sind, Zweckvorstellungen zu bilden, und die von uns Menschen [95] erzielte Nützlichkeit der Handlungen vielfach vorbedacht ist, so neigen wir in naivem Anthropomorphismus dazu, überall, wo Nützlichkeit vorliegt, auch Vorbedachtheit, Zweckmäßigkeit, Vemünftigkeit anzunehmen. Leider brauchen selbst wissenschaftliche Denker den Begriff Zweckmäßigkeit dort, wo die Nützlichkeit unmöglich vorbedacht sein kann. Ich scheide scharf zwischen der nichtvorbedachten Nützlichkeit, die darum nützlich ist, weil sie vitalen, aber nicht bewußten, vorbedachten Bedürfnissen genügt, und andererseits der Zweckmäßigkeit, die stets vorbedacht ist.
Da nun die Rationalisierung vitalen Bedürfnissen entspricht, so ist sie nützlich; sie braucht aber darum nicht vorbedacht, also „vernünftig” zu sein. Der Entwicklungsgang ist vielmehr so, daß sich zunächst die Rationalisierung ohne Vorbedacht vollzieht. Nützliche Handlungen, die nicht vorbedacht zu sein brauchen, werden vom Individuum wiederholt und von der Allgemeinheit ebenfalls zu Gewohnheiten gemacht. Das können wir bereits in der untermenschlichen Natur beobachten. Wir brauchen, um die scheinbar „zweckmäßigen” Handlungen der Pflanzen und Tiere zu erklären, nicht eine vorbedenkende „Vernunft” anzunehmen, sondern außer den irrationalen „Probierbewegungen” nur die „mnemische” Tendenz, nützliche Bewegungen zu wiederholen. Mit diesen beiden Prinzipien: der irrationalen Probierbewegung und der Tendenz zur Wiederholung der nützlichen Akte können wir alle scheinbaren Zweckmäßigkeiten in der Pflanzen- und Tierwelt erklären.
Diese beiden Prinzipien, die nicht vernünftig im Sinne irgendeiner Zwecksetzung oder Vorbedachtheit sind, genügen, um sehr viele Rationalisierungen auch in der Menschenwelt zu erklären. Die meisten nützlichen Gewohnheiten eignet sich das Individuum nicht mit Vorbedacht an, sondern es wiederholt ganz unbewußt, was sich als nützlich erwiesen hat. Ebenso entstehen die sozialen Gebräuche, die ethischen Forderungen, die logischen Allgemeingültigkeiten, die religiösen Überzeugungen nicht als vorbedachte Zweckmäßigkeiten, son[96]dern sie sind irrational entstanden und, weil nützlich, festgehalten. Es ist ein plumper Irrtum zu glauben, daß jede Wiederholung eines nützlichen Aktes vorbedacht, zweckbewußt sei. Auch die Erfindungen der Forscher, die Schöpfungen der großen Künstler, die Intuitionen der Politiker und Feldherren entstehen nicht vorbedacht, sondern als „Gedankenexperimente”, bei denen unter vielen auftauchenden Möglichkeiten das Brauchbare festgehalten wird. Überall ist das eigentlich Schöpferische ein irrationales Probieren, Variieren und das an sich keineswegs rationale (im Sinne des Zweckbewußten und Vernünftigen) Festhalten des Nützlichen.
Man muß den paradox klingenden Satz mit aller Energie betonen: Die Rationalisierung geschieht zunächst überall ohne Ratio, die scheinbare Vorbedachtheit ist in Wahrheit fast immer eine Nachbedachtheit. Denn die Vernunft und Zwecksetzung gehen den nützlichen Handlungen nicht voraus, sondern hinken hinterher. Wo irgendwann eine „vernunfthafte Zwecksetzung” stattfindet, geschieht sie so, daß etwas irgendwo als nützlich Erprobtes übernommen und übertragen wird. Die „Vernunft” ist weiter nichts als die nachträgliche Legalisierung eines irrational Gewordenen. Die „allgemeinen Begriffe und Sätze”, mit denen die rationale Vernunft arbeitet, sind stets an individuellen Tatsachen gefunden. Die „apriorischen” Voraussetzungen der Logik sind fürs Individuum gewiß a priori, für die Gattung jedoch a posteriori (wobei ich diese Begriffe in dem ursprünglich zeitlichen Sinne nehme, nicht in dem, dieses Zeitliche ausschaltenden, die Urbedeutung ganz mißachtenden Sinne der neueren Logik).
Die Ratio hat also im Grunde weiter gar keine Funktion, als irrational Entstandenes zu verallgemeinern, d. h. einen irrational bereits begonnenen Prozeß mit Bedacht zu verlängern und zu erweitern. Die Ratio ist also nicht Schöpferin der Rationalisierung, sondern selbst Produkt. Das wird auch dadurch bewiesen, daß die rationale Logik ganz unschöpferisch ist. Alle großen Erkenntnisse sind intuitiv, d. h. irrational konzipiert und nur nachträglich in rationale Formen gegossen [97] worden. Man kann auf gebahnten Wegen keine unbekannten Länder entdecken.
Unsere Lösung der Frage, wie weit die Welt im Innersten rational sei, beantwortet sich also weder im Sinne der Rationalisten, die eine Vorbedachtheit an den Anfang stellen, noch im Sinne jenes groben Materialismus, der die Wunder des Lebens aus bloßem Zufall zusammengerinnen läßt; unser Irrationalismus eröffnet den dritten Weg durch den Begriff der nachträglichen Rationalisierung, die durch Probieren und Festhalten des Nützlichen für die individuellen Bildungen sich herausentwickelt. Dasjenige, was wie Ratio aussieht, ist also nicht ursprüngliches schöpferisches Prinzip, es ist auch nicht bloße Einbildung, sondern Produkt und bewußte Fortsetzung des ohne Vorbedacht aus vitalen Notwendigkeiten sich herausbildenden Rationalisierungsprozesses. Die Welt ist weder vorbedachte Maschine noch Zufallsprodukt, sondern zu festen Formen drängendes und doch niemals in diesen Formen sich genügendes Leben, unübersehbarer Möglichkeiten voll.
Das Wort rational, das ursprünglich der Logik entnommen war, wird also von mir als ontologischer Begriff verwandt. Man lasse sich dadurch, daß dieser Begriff von einer Art des Erkennens auf eine Art des Seins übertragen wird, nicht irremachen: in Wahrheit geht natürlich das Sein, auch die Rationalisierung des Seins, der Bildung rationaler Denkweisen voraus; das so sich entwickelnde rationale Denken jedoch strebt auch nach Unterwerfung des Irrationalen, und so bildet das Denken, das sich erst am Sein geformt hatte, seinerseits wieder, wenigstens fiktiverweise, das Sein um. So kann ein rationales Sein entstehen, das nicht nur der rationalen Vernunft gemäß ist, das auch deren Ergebnis ist.
Die ersten rationalen Begriffe des Menschen haben sich an den rationalisierten Formen der Natur, vor allem den organischen Gattungen, gebildet. Allmählich aber wird das rationale Denken selbstherrlich und prägt seine Formen auch solchem Sein auf, das nicht oder nur sehr unvollkommen rationalisiert wird. So wird scheinbar die Ratio schöpferisch, [98] obwohl ihre Schöpfungen, was noch zu zeigen sein wird, meist bloße Fiktionen sind; aber in diesem Anschein schöpferischer Macht liegt der psychologische Grund dafür, daß man die Ratio, dieses Produkt der unbewußten Rationalisierung des Seins, zum weltschöpferischen Prinzip machen konnte.
Hier jedoch gilt es festzuhalten, daß die Rationalisierung des lebendigen Seins sich zunächst ohne vorausdenkende Vernunft betätigt, daß aber auch dort, wo die rationale Vernunft scheinbar schöpferisch ist, es sich doch nur um Übertragungen und fiktive Vergewaltigungen handelt.
6. Die Phasen der Rationalisierung.
Meine Aufgabe wird es sein, dem Prozeß der Rationalisierung nachzugehen, und zwar unterscheide ich dabei mehrere Phasen dieses Prozesses, die ich der Reihe nach besprechen werde.
Aller Individualität vorausliegend, nicht innerhalb ihrer Lebensspanne sich ausbildend, wenn auch in sie hineinragend, ist die vorindividuelle Rationalisierung, d. h. die Ausprägung der vererbbaren Anlagen.
Innerhalb des individuellen Lebens betätigt sich zunächst die natürliche Rationalisierung, d. h. die ohne bewußte Absicht geschehende Gewöhnung, Anpassung und Nachahmung, die dazu führt, leibliche wie psychische Funktionen auszuprägen, und ihrerseits das Werk der vorindividuellen Rationalisierung fortsetzt.
An die natürliche Rationalisierung schließt sich dann die künstliche an, die aus bewußter Absicht heraus geschieht. Auch sie ist jedoch nicht etwas von der natürlichen Rationalisierung grundsätzlich Verschiedenes, sondern muß sich, wenn sie zum Ziele gelangen will, der gleichen Methoden wie jene bedienen.
Alle diese Arten der Rationalisierung schaffen reale Vereinheitlichungen, die jedoch hinter den Anforderungen stets zurückbleiben, weil die irrationale Natur stärker ist als alle Kanäle, in die man den Strom des Lebens zwingen will. Deshalb bildet das soziale Leben noch eine weitere Methode der Vereinheitlichung aus, die fiktive Rationalisierung, die [99] bewußt die Realität fälscht und nur darum, weil sie praktisch brauchbar ist, sich in Geltung erhält.
Alle diese Phasen der Rationalisierung, die vorindividuelle, natürliche, künstliche und fiktive aber sind teils innerindividuell, teils zwischenindividuell, so daß wir bei jeder Phase des Prozesses sowohl die innerhalb des Einzelmenschen wie die zwischen verschiedenen Individuen vor sich gehende Angleichung zu berücksichtigen haben.
Daß die Rationalisierung in ihrer ganzen Bedeutung nicht erkannt worden ist, daß man die Gleichförmigkeit der Menschen als gegeben, statt als beständig werdend ansieht, liegt darin, daß sie zum großen Teil vorindividuell angelegt ist, was jedoch für uns, die wir die Individualitätsgrenze als relativ ansehen, nicht ausschließt, vorindividuelle und spätere Rationalisierung als einheitlichen Prozeß anzusehen.
Es sei noch auf eine merkwürdige Tatsache hingewiesen! Die Rationalisierung, die an sich ein Ausgleichsprozeß ist, wirkt doch dort, wo sie sich in divergierender Richtung betätigt, zugleich als Differenzierung, d. h. dadurch, daß sich gewisse Besonderheiten festigen, wird ihre Unterschiedenheit sichtbarer, als sie es vorher war. Was uns bei Menschen an Verschiedenheiten auffällt, sind oft gar nicht rein individuelle Tatbestände, sondern rationalisierte. Die Berufe z. B. tragen, indem sie den Menschen rationalisieren, doch zugleich zur Differenzierung bei. Diese auf Rationalisierung beruhende Unterschiedenheit darf nicht mit jener ursprünglichen irrationalen Singularität verwechselt werden, die wir früher kennenlernten. Man muß eine irrationale Unterschiedenheit, die ursprünglich ist und z. B. jedem Kinde zukommt, von der rationalisierten Unterschiedenheit trennen, die ein Produkt der Kultur ist, und wofür ich die Auseinanderentwicklung der Stände als Beispiel anführte. Jene Eigenart der Ursprünglichkeit kann sich niemand geben, und daher bringt es das gewaltsame Haschen mancher Künstler nach „Originalität” höchstens zu affektierter Pose, die unbefangenen Beobachtern als alles andere als „ursprünglich” erscheint.
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[II. Teil. Die Rationalisierung der Individualität]
II. Kapitel
Die natürliche Rationalisierung
1. Vorindividuelle Rationalisierung und das Individuum.
Es scheint das nächstliegende, mit der vorindividuellen Rationalisierung zu beginnen, weil diese gleichsam erst den Boden schafft, auf dem natürliche und künstliche Rationalisierung weiter zu bauen haben. Indessen wollen wir hier nicht sowohl das Ergebnis als den Prozeß selber beobachten, und den können wir, was den Einzelmenschen anlangt, nur innerhalb seiner Lebensspanne studieren.
Im übrigen machen wir, da wir ja zwischen den Individuen derselben Deszendenz keine absolute Grenze setzen, auch keinen prinzipiellen Unterschied zwischen vorindividueller und innerindividueller Rationalisierung, da dasjenige, was sich im Leben des Vaters rationalisiert, für den Sohn vorindividuelle Rationalisierung ist, soweit es auf ihn übergeht, was allerdings nur in geringem, später zu bestimmendem Teile geschieht.
Wir studieren also zugleich den Prozeß der vorindividuellen Rationalisierung, indem wir die im Lebenslauf des Individuums selbst sich vollziehende Rationalisierung besprechen. Die Frage wird nur sein, wieviel von den im Laufe des Einzellebens sich vollziehenden Rationalisierungen sich auf kommende Generationen vererbt, was wir erst erörtern können, wenn wir die nach der Geburt sich vollziehende Rationalisierung studiert haben.
2. Wiederholung und Lustgefühl.
Zunächst die natürliche, d. h. ungewollt eintretende Rationalisierung! Obwohl man den Menschen gern als das Vernunftwesen charakterisiert, spielt doch bei ihm die Ratio keineswegs jene allbeherrschende Rolle, wie man danach annehmen sollte. Auch bei ihm geschehen die meisten Gewöhnungen, Anpassungen, Nachahmungen ohne bewußte Absicht. Am reinsten treten derartige natürliche Rationalisierungs Vorgänge beim kleinen Kinde auf, aber sie fehlen auch beim Erwachsenen nicht, der sich [101] oft plötzlich über neuen Angewohnheiten oder Nachahmungen ertappt, deren Zustandekommen er gar nicht beobachtet hat. Bemerkenswert für das Unschöpferische der vorbedenkenden Vernunft ist es dabei, daß das Kind Handlungen erst dann mit Absicht ausführen kann, wenn es sie schon früher probierend gefunden hat.
Wiederholt werden alle Arten körperlicher wie geistiger Akte, die eine Lust (oder Aufhebung von Unlust) im Gefolge haben, wobei wir jedoch das Gefühl nicht als Ursache, sondern als Begleiterscheinung ansehen müssen. Das ist am offensichtlichsten bei allen Arten äußerer Bewegungen. Die Lust kann innerkörperliche Funktionslust sein, sie kann auch Begleiterscheinung äußerer Nützlichkeit oder sonstwie irradiiert sein. Sie ist ursprünglich nachfolgende Begleiterscheinung, kann jedoch später auch gewollter Effekt, also „Motiv” werden. Auch dann noch spreche ich jedoch von natürlicher Rationalisierung, nicht von vorbedachter, denn nicht die Rationalisierung als solche ist in diesem Falle bejaht.
Aber nicht nur für die Wiederholung äußerer Handlungen, auch für die seelischer Erlebnisse ist das Auftreten von Lustgefühlen bzw. die Vermeidung von Unlust wesentlich. Die Gefühlsbetonung der Vorstellungen ist der mächtigste Hebel der Assoziation. Das Gefühl ist dabei nicht als reales Agens anzusehen, sondern als Bewußtseinsspiegelung unbewußt wirkender vitaler Bedürfnisse. Deren Befriedigung macht sich im Bewußtsein als Lust, ihre Nichtbefriedigung als Unlust geltend. So sehen Lust-Unlust oft aus, als seien sie Motive, wo sie nur Begleiterscheinungen sind. Sie können jedoch Motive werden, wenn sie in der Vorstellung vorweggenommen werden. Eine Vorstellung, die zufällig das Hirn durchkreuzte und dort, weil sie einem latenten Triebe schmeichelte, Lustgefühle wachrief, wird später ob dieser Lustgefühle gesucht und wiederholt. Ebenso irradieren äußere Nützlichkeiten auf die seelischen Vorgänge Lustgefühle, und deshalb werden jene Vorgänge wiederholt: das primitivste Schema der Anpassung. Die meisten Nachahmungen gehen unbewußt vor sich, können [102] aber auch, weil ihr Gelingen Befriedigung auslöst, nachher gewollt werden. Wichtig für die natürliche Rationalisierung ist jedenfalls, daß die Lust zunächst nicht Motiv, sondern Effekt war, daß sie aber nachträglich zum Motiv werden kann, wodurch die Handlung den Anschein der „Vernünftigkeit” bekommt, obwohl auch die motivierende Kraft der vorgestellten Lustgefühle in Wahrheit mehr dumpfer Instinkt als klare Vernunft ist.
3. Die Ausprägung organischer Konstanten im
individuellen Leben.
Diese Wiederholungen bestimmter Akte beeinflussen die Ausbildung von Organen. Die Gewohnheit der täglichen Beschäftigung erzeugt beim Schmied gewaltige Armmuskeln, beim Reiter die charakteristische Beinbildung. Die Gesichtszüge sind ein deutlicher Spiegel für die seelische Rationalisierung. So pflegt die Sprache, die ein Mensch spricht, seine Gesichtsbildung stark zu formen. Die scharfe Artikulation des Französischen, der Zwang, die Muskulatur straff gespannt zu halten, prägt sich in der eigenartig „spitzen” und straffen Mundbildung des Franzosen ebenso aus, wie die lockere, bequeme, die Zunge zurücknehmende Sprechweise des Engländers dessen spezifischen Gesichtstypus schafft. Alles, was wir an einigermaßen konstanten Tatsachen der Physiognomik festzustellen vermögen, geht auf oft wiederholte Gewohnheiten zurück. Die Gewohnheit spöttischen Lachens drückt dem Gesicht den bekannten „hämischen” Zug auf, ebenso wie die Häufigkeit zornmütigen Aufwallens mit seinem Stinrunzeln und Zähnezusammenpressen die Gesichtsbildung beeinflußt. Infolge unbewußter Nachahmung kommen die physiognomischen Ähnlichkeiten bei Ehegatten und allen in naher Gemeinschaft lebenden Menschen zustande. Kurz, es sind die Akte, die die Organe bilden.
Nun ist trotzdem der Körper des Menschen wesentlich stationär geworden; in lebhafter Entwicklung begriffen scheint allein das Gehirn zu sein bzw. die Seele, wenn wir diese Fiktion beibehalten. Hier pflegen sich infolge dauernder Wiederholungen ganz neue Organe auszubilden. Es ist er[103]staunlich, was Übung alles vermag. Besonders die Wahl des Berufs kann keimhaft vorhandene Fähigkeiten so ausbilden daß wir von neuen Organen oder seelischen Funktionen zu sprechen vermögen, die bei anderen Menschen ganz oder teilweise verkümmert sind. Das feine Gehör des Musikers, die Fähigkeit mancher Jäger, sich nach dem Geruch zu orientieren, die Abstraktionsfähigkeit des Mathematikers sind gleichsam „psychische Organe”, für die auch Änderungen in der Hirnstruktur wenigstens ungefähr nachweisbar sind. Jedenfalls sind diese Dinge Wirkungen dessen, was ich die natürliche Rationalisierung nenne, Wirkungen wiederholter Akte, die den Charakter der Irrationalität zum guten Teil aufheben.
Das Gehirn ist der Teil unseres Organismus, der am wenigsten stationär ist, der in einem Zustand beständiger Mutationsfähigkeit ist. Mag es auch überraschend klingen, so müssen wir doch feststellen, daß der Sitz der Ratio, das Gehirn, der irrationalste Teil unseres Organismus ist, allerdings aber auch derjenige, der neuen Rationalisierungen am zugänglichsten ist.
4. Vorindividuelle Rationalisierungen.
Die im Laufe des individuellen Lebens ausgeprägten Rationalisierungen können, indem sie sich vererben, auf die kommenden Generationen übergehen und erscheinen dort als vorindividuelle Rationalisierungen.
Nun ist zwar durch Weismann und seine zahlreichen Anhänger bestritten worden, daß eine Vererbung erworbener Eigenschaften überhaupt möglich sei. Indessen verwickelt sich jene Theorie in so große Schwierigkeiten und muß zu so erkünstelten Hilfshypothesen greifen, daß neuerdings die Gegner stark an Boden gewinnen. Es erscheint an dieser Stelle als eine sekundäre Frage, ob man die Hypothese der somatischen Induktion, ob man die der Parallelinduktion oder der simultanen Reizleitung annehmen will, Hauptsache ist, daß überhaupt eine über das Individuum hinausreichende Rationalisierung angenommen wird, wobei wir bemerken möchten, daß der Ausdruck „erworbene Eigenschaften” irreleitend ist und man höchstens von erworbenen Anlagen reden darf.
[104]
Auf jeden Fall bestehen vorindividuelle Rationalisierungen bereits in der Artanlage und der Artorganisation. Alles, was den Menschen als Gattung unterscheidend charakterisiert, gehört ja zur vorindividuellen Rationalisierung. Das ist jedoch nicht so zu verstehen, als vererbte sich nur die generelle Veranlagung und alles Individuelle käme erst nach der Geburt hinzu; nein, die Erbmasse ist keineswegs bloß Genus, auch sie ist bereits individuell; schon die befruchtete Samenzelle enthält neben der allgemeinen Artanlage ganz individuelle Anlagen.
Wir können also in der Art (Species) weder etwas überall Gleiches, noch etwas absolut Konstantes sehen und kommen darin mit zahlreichen neueren Biologen überein. Die Konstanz der Arten besteht nur in sehr relativem Sinne und ist durch Mutation und Variation zu durchbrechen. Gewiß ist im Tier- und Pflanzenreich nicht jede Varietät „samenbeständig”, d. h. fähig, sich auf die Nachkommen zu übertragen; indessen hat die experimentelle Biologie Fälle genug erbracht, wo sich tatsächlich neue Arten gebildet haben, die sich auch in relativer Konstanz erhielten.
Die „Art” ist also nichts a priori Rationales, sondern stellt nur eine partielle Rationalisierung dar, die sich als relativ konstant bewährt.
Wieweit man beim Menschen von solchen relativ konstanten, vererbbaren Rationalisierungen sprechen kann, ist noch recht im Dunkeln. Der Rassebegriff ist in den letzten Jahrzehnten zu sehr zum Steckenpferd aller möglichen Spekulationen geworden, als daß man sich seiner heute als wissenschaftlich geklärten Begriffes bedienen könnte. Indessen scheint doch festzustehen, daß auch die Rasse nichts Konstantes ist, daß auch Rassen sich bilden und vergehen, wenn auch innerhalb gewisser Zeiträume ihre Merkmale sich als relativ konstant vererben. In noch engeren Kreisen, etwa dem der Familienforschung , sind die Resultate noch strittiger. Doch scheint man auch hier um die Vererbung gewisser Anlagen nicht herumzukommen. Allerdings ist, um eine relativ kon[105]stante Rationalisierung zu vererben, deren Vorbereitung nicht bloß in einer Generation notwendig, sondern durch mehrere Generationen hindurch müssen Anpassung oder Nachahmung die Anlage verfestigt haben, so daß sie nachher auch spontan sich durchsetzt. Es liegt etwas Wahres in dem Satz, daß drei Generationen mindestens dazu gehören, um einen Gentleman zu formen. Infolgedessen geht es nicht an, den Eltern allein die Verantwortung für die Art der Kinder zuzuschieben, sondern es sind mehrere Generationen nötig, um einen Dauertypus zu schaffen. Daß eine solche vorindividuelle Rationalisierung angenommen werden muß, geben auch Anhänger Weismanns zu; der Streit, den wir hier nicht zu lösen haben, geht nur um die Art der Übertragung. Wenn wir aber eine nachindividuelle Weiterwirkung der Rationalisierung annehmen, erhält diese eine biologische Bedeutung, die auch von ethischem Gewicht ist, indem wir durch die Art, in der wir uns rationalisieren, nicht nur unser eigenes Schicksal formen, sondern auch beitragen zum Schicksal unserer Nachfahren und mit jeder Gewöhnung, die wir annehmen, ein Saatkorn in die Zukunft streuen, dessen Folgen vom Individuum aus gar nicht zu übersehen sind.
III. Kapitel
Die künstliche Rationalisierung
(Die Erziehung)
1. Das Verhältnis der künstlichen Rationalisierung zur natürlichen.
Neben die natürliche tritt beim Menschen sehr früh die künstliche oder beabsichtigte Rationalisierung, d. h. das, was man „Erziehung” im weitesten Sinne nennt. Sie besteht darin, daß mit Absicht die Bildung von Gewohnheiten in feste Geleise gebracht wird. Die künstliche Rationalisierung kann in der Tat als rational im Sinne von „vernünftig” angesprochen werden, obwohl man sich vor Augen halten muß, daß sich auch in der Erziehung die Ratio [106] nicht freischöpferisch verhält, sondern bereits erprobte Möglichkeiten auf das werdende Individuum überträgt. Dort wo die Ratio sich in der Erziehung nicht von der Erfahrung, sondern von abstrakter Spekulation hat leiten lassen, hat sie in der Regel nur Unheil angerichtet und sich bald als sehr „unvernünftig” erwiesen. Eine Erziehung, die das Individuum in ein abstraktes Schema pressen will, hat niemals dauernde und echte Erfolge. Das Individuum schüttelt derartige Joche gar bald ab. Die wahrhaft „rationale” Erziehung ist nur eine Anknüpfung an die natürliche Rationalisierung, macht sich diese zur Verbündeten und sucht sie nicht etwa zu vergewaltigen. Sowenig als man jedes beliebige Pfropfreis bei jedem beliebigen Baume gebrauchen kann, sondern wie nur solche Pfropfreise angehen, die auf homogenes natürliches Wachstum stoßen, sowenig kann die künstliche Rationalisierung jeden Menschen in jede beliebige Form pressen. Die besten Erfolge zeitigt die Erziehung dort, wo sie sich bloß in geringfügiger Korrektur vorindividueller Anlagen und natürlicher Rationalisierungen zu betätigen hat. Die künstliche Rationalisierung ist daher nichts der natürlichen prinzipiell Entgegengesetztes; sie ist die natürliche Rationalisierung als etwas Bejahtes, Gewolltes, im Bewußtsein Vorweggenommenes und durch geeignete Hilfen Unterstütztes. Ihre Mittel sind also ebenfalls Gewöhnung, Nachahmung, Anpassung. Nur wo diese wirken, geht die Erziehung in die Tiefe. Ein rein rationales Wissen um die Tugend hat noch niemals einen tugendhaften Menschen geschaffen. Nicht intellektualistische Belehrung ist daher das beste Mittel zur Erziehung, sondern Gewöhnung, Anpassung, Wiederholung. Die künstliche Rationalisierung wird darauf aus sein müssen, in der Weise der natürlichen Rationalisierung die Seele zu beeinflussen.
2. Fremd- und Selbsterziehung, Normal- und Individualerziehung.
Die Erziehung als künstliche Rationalisierung kann von außen wie von innen geschehen, kann Fremderziehung und Selbsterziehung sein. In jenem Fall ist die Absicht bei anderen Individuen, im zweiten Falle [107] liegt sie im Menschen selber. Die Fremderziehung geht der Selbsterziehung voraus; jener muß sich jedes Individuum unterwerfen, das nicht völlig einsam lebt; diese tritt, obwohl sie die wertvollste Frucht aller Fremderziehung sein sollte, nicht bei allen Menschen auf, setzt einen höheren Grad der Bewußtheit voraus.
Noch einen zweiten Unterschied pflegt man zu machen: den zwischen Individual- und Normalerziehung. In unsere Begriffsbildung übertragen heißt das, die Individualerziehung stellt die innerindividuelle Rationalisierung voran, die Normalerziehung betont vor allem die Angleichung der Individuen aneinander. In der pädagogischen Praxis hat im allgemeinen die Normalerziehung überwogen, da sie einem sozialen Bedürfnis entspricht, während man erst neuerdings - zum Teil in Erkenntnis der allzuweit getriebenen zwischenindividuellen Rationalisierung - den Wert auch der asozialen Erziehung erkannt, ja sogar die soziale Bedeutung des Asozialen eingesehen hat. Denn man ist sich klar darüber geworden, daß man der Allgemeinheit besser dadurch dient, daß man Persönlichkeiten schafft an Stelle von manufakturhaften Normalmenschen. Die Begriffe Normal- und Individualerziehung decken sich keineswegs völlig mit denen der Fremd- und Selbsterziehung, wenn auch zugegeben werden kann, daß die Normalerziehung überwiegend durch Fremde geschehen muß, während die Individualerziehung am besten vom Selbst ausgeht.
Ich möchte hier den Begriff der Persönlichkeit einführen, unter dem ich die durch Erziehung geformte Individualität verstehe. Nicht jede Individualität ist mir also bereits Persönlichkeit; diese, das „höchste Glück der Erdenkinder”, ist ein innerhalb der Individualität zu erreichendes Resultat, das aber niemals so verstanden werden darf, daß das Individuum die Irrationalität völlig unterdrücken solle. Persönlichkeit läßt vielmehr auch dem Irrationalen reichsten Spielraum, nur auf der Basis einer innerindividuellen und zwischenindividuellen Formung.
[108]
3. Das Idealichbild als Mittel der Erziehung.
Die künstliche Rationalisierung der Individualität bedient sich vornehmlich eines Mittels , das die unbewußt arbeitende Rationalisierung nicht kennt: sie stellt dem Individuum ein Ideal vor Augen, in dem sich gleichsam alle Erziehungstendenzen verkörpern. Das heißt in unserer Sprache, man ordnet die ganze werdende Individualität einem Ichbild unter, das noch nicht ihre Wirklichkeit ist, das aber Wirklichkeit werden soll. Da das Ichbild, wie ich zeigte, diejenige Erscheinungsweise ist, die die meisten anderen Erscheinungsweisen der Individualität in sich vereinigt, so ist offenbar, daß von ihm aus auch alle übrigen beeinflußt werden können. Das Ideal ist das Vor-bild, das Vor-ichbild, dem das Individuum sich anzupassen und das es nachzuahmen hat. Freilich darf man auch diese Idealbilder nicht als freie Schöpfungen der Ratio denken; sie sind vielmehr in der Regel als Nachbildungen bereits gewordener Individualitäten anzusehen oder wenigstens als Umbildungen solcher.
Natürlich ist das Idealichbild nicht passiv zu denken, sondern, wie das Ichbild überhaupt, als Rolle, die man aktiv übernimmt, in die man sich einlebt, und aus der man heraus lebt. Ist es dem Erzieher gelungen, seinen Zögling zu wirklich aktiver Übernahme eines Ideal-ichbildes zu bringen, so wird dieser bald zu von diesem Ichbild geleiteten Handlungen gelangen, die dann zu Gewöhnungen werden. Damit aber ist ein Wesentliches erreicht. Dann wird die zuerst nur äußerlich übernommene Rolle verinnerlicht, sie wird zum anderen Ich. Je fester solche Gewöhnungen werden, um so tiefer ist die Rationalisierung eingedrungen. Persönlichkeitsbildung ist die Einfügung eines solchen Idealbildes in die irrationale Wirklichkeit des Individuums als innere Richtlinie, die innerhalb der mannigfachen Triebe und Tendenzen des Lebens eine gewisse Einheit garantiert.
Dieses Idealich der Erziehung kann konkret gegeben sein. Es ist stets der günstigste Fall, wenn der Erzieher in sich das Ideal, das er lehrt, verkörpert, so daß der Zögling ihn selbst [109] als Vorbild nehmen kann. Da indessen auch Erzieher ihre Schwächen haben, so genügt die Realität in der Regel nicht, und abstrakte Vorbilder müssen die Wirklichkeit ergänzen. Auch diese jedoch sind, wenn sie lebendig wirken sollen, nicht aus der Luft gegriffen, sondern aus der Wirklichkeit entnommen und nur von gewissen allzu menschlichen Zügen geläutert. So ist für die christliche Erziehung Jesus zum Idealbild geworden, dem gegenüber alle irdischen Erzieher höchstens schwache Abbilder sind. Die Imitatio Christi ist der Sinn aller christlichen Erziehung. Seinen Geist gilt es zu übernehmen, aus seinem Geiste heraus zu handeln, es gilt „aufs Neue geboren zu werden”, den „alten Adam” abzulegen, „Jesum in sich aufzunehmen”, wie es in der biblischen Sprache anschaulich heißt.
Freilich ist die Herrschaft des idealen Einheitsichs niemals so vollkommen, daß die übrige Individualität ganz in ihm aufginge. Nein, es bestehen oft genug schwere Konflikte zwischen Ideal und Wirklichkeit. Gewiß kann das Ideal auch eine Wirklichkeit werden, aber es wird doch niemals die einzige. Die einzelnen Menschen sind da verschieden; es gibt solche, die tatsächlich ihr Einheitsich annähernd verwirklichen ; das sind die einfachen, geschlossenen Naturen; es gibt aber auch solche, denen stets eine Kluft zwischen ihrem idealen Einheitsich und ihrer Wirklichkeit schmerzlich bewußt ist, z. T. deshalb, weil sie ihr Ideal zu hoch stecken oder weil sie ein wesensfremdes Ideal erwählt haben. In diesem Falle wird nicht Einheit, sondern noch tieferer Zwiespalt in die Individualität hineingetragen. Es geht ähnlich wie oft in der Politik, wo auch eine Partei alle anderen in sich aufnehmen soll und deren Zahl doch nur um eine neue Partei vermehrt. Immerhin aber gelingt es in der Regel, dem Einheitsich zu einer gewissen, wenn auch nicht unumschränkten Herrschaft zu verhelfen, so daß dann das Einheitsich nicht eine Partei neben anderen ist, sondern die Regierung im Ichstaat übernimmt, ein Gleichnis, das ich später noch ausführe.
4. Das Normideal als Mittel zwischenindividu[110]eller Rationalisierung.
Aber nicht nur die innerindividuelle, auch die zwischenindividuelle Rationalisierung bedient sich eines idealen Ichbildes als Mittels. Innerhalb welcher Gemeinschaft auch immer Erziehung auf eine Norm hin angestrebt wird, stets schwebt ein solches vereinheitlichendes Normideal vor, das zwar in der Regel noch blasser und schemenhafter bleibt, als die individuellen Ideale schon ohnehin sind, das aber trotzdem große erzieherische Wirkung auszuüben vermag. So wird innerhalb der meisten Stände ein Standesideal gepflegt, um so mehr, je geschlossener der Stand ist. So schwebt jedem Offizier ein idealer Offizier vor; alle Geistlichen, alle Ärzte, kurz fast alle Berufe haben mehr oder weniger deutlich ein Normbild vor sich. Ebenso ist's mit anderen Gemeinschaften: so gibt es ein Idealbild vom Deutschen, vom internationalen Gentleman, vom „Manne” wie vom „Weibe”, - Alle diese Idealbilder werden selten ganz realisiert, sie tragen aber stark dazu bei, die Individuen untereinander anzugleichen. Es werden bestimmte körperliche und geistige Gewöhnungen erzwungen, Anpassung und Nachahmung kommen hinzu. Oft ohne daß der einzelne es weiß, trägt sein „Persönlichkeitsideal” Züge des in seinem sozialen Kreise geltenden Normideals, oft die mehrerer solcher Vorbilder nebeneinander. So kann einer in sich die Idealbilder des Edelmannes, des guten Deutschen, des Christen und noch einige andere nebeneinander zu verwirklichen streben. Freilich nicht immer lassen sich diese verschiedenen „Obersubjekte”, wie ich einmal alle diese „regierenden” oder die Regierung anstrebenden Ichbilder nennen will, miteinander vereinigen.
Es ist eine Irrlehre oberflächlicher Moralisten, daß sich die innerindividuelle und die zwischenindividuelle Rationalisierung, daß sich Persönlichkeit und Normmenschentum immer vertragen müßten. Gar manche echte Tragik liegt hier am Wege, und es ist kein Kräutlein gewachsen, das diese Konflikte behöbe, es würde sogar dem Leben nicht den schlechtesten seiner Reize nehmen, wollte man derartiges verwischen. Nicht nur konkrete Personen, auch ihre Ideale kämpfen einen [111] Kampf ums Dasein aus, und oft werden ernste Lebensfragen in diesem Kampfe entschieden.
Noch in anderer Weise durchkreuzen sich Persönlichkeits- und Normalrationalisierung. Das Persönlichkeitsideal erwächst keineswegs bloß im Innern der Individualität, sondern ist selbst oft stark beeinflußt von Normalvorbildern. Das heißt, manche Menschen machen das Normideal ganz zu ihrem persönlichen, haben gar kein Bedürfnis, als Individuen zu erscheinen; andererseits gibt es auch einen verneinenden Einfluß, indem zuweilen, besonders bei Adoleszenten, das Persönlichkeitsideal sich im Gegensatz zur Norm ausprägt, das Individuum sich vor allem unterscheiden und „nicht verwechselt werden” will.
5. Die Wirkung des Obersubjektes auf die verschiedenen Erscheinungsformen.
Die von der Erziehung geprägten idealen Einheitsbilder sind, wenn einigermaßen lebendig geworden, imstande, alle einzelnen Erscheinungsweisen des Ich aufs stärkste zu beeinflussen. So trägt das Äußere des Menschen, der Leib, neben den Zügen der irrationalen Singularität, diese oft verdeckend, die Züge der Einheitspersönlichkeit oder des Normalsubjekts. Es gehört das zu den merkwürdigsten Dingen im Umkreis dieser so merkwürdigen Probleme, daß sich in der äußeren Erscheinung eines Menschen nebeneinander außer der irrationalen Individualität alle möglichen rationalisierten Obersubjekte ausprägen, daß man einem Menschen außer seiner momentanen Stimmung zugleich seinen relativ dauernden Charakter, seinen Beruf, seine Nationalität und mancherlei sonst noch ansehen kann. Die Einheitsrolle nämlich projiziert sich ins Physische wie die Rolle eines Schauspielers und zwar nicht bloß vorübergehend, sondern dauernd. Gewöhnung, Nachahmung und Anpassung wirken zusammen, um das zuwege zu bringen. Man erkennt den Offizier an der straffen Haltung, den Büchermenschen an der blassen Farbe und der Kurzsichtigkeit, den Mann, der zu befehlen, und den, der zu gehorchen gewohnt ist, am ganzen äußeren Habitus, Die Dauerrolle „geht in Fleisch und Blut über”, wie die Sprache richtig sagt. Mit dem Momentan[112]bewußtsein, dem unmittelbarsten Ausdruck der irrationalen Individualität, haben die Obersubjekte vielfach heftige Kämpfe zu bestehen. Das Einheitssubjekt, das persönliche wie das normale, erstrebt Herrschaft über die widerspruchsvollen Gefühle und Willensregungen, die der Augenblick aufwirbelt, und die ihr Lebensrecht geltend machen. Das Obersubjekt soll sie bändigen wie ein Rosselenker auseinanderstrebende Pferde. Hier muß sich zeigen, wie stark die Regierung ist. Die Erziehung soll den Menschen so weit führen, daß das Obersubjekt imstande ist, widerspenstige Regungen des Augenblickes auszuschalten. Das gelingt freilich keineswegs immer. So geregelt ist kein Mensch, daß seine Wünsche, Begierden, Gefühle nicht oft genug wider den Stachel lockten. Besonders der Ethik ist dieser Konflikt bekannt. Zur sittlichen Persönlichkeit gehört, daß das Obersubjekt sittlichen Normen gemäß geformt, aber auch stark genug sei, widerstrebende Triebe zu überwinden. Seltsam genug erscheint in der Ethik das Obersubjekt, die künstlich geformte und normierte Einheitspersönlichkeit, als das „wahre” Ich des Menschen, während die aus seiner innersten Natur aufquellenden momentanen Regungen wie Zwang von außen empfunden werden, obwohl keine äußere Sinneslockung zur Gefahr wird, wenn sie nicht im Innern des Menschen verwandte Triebe erweckt! Mythologisch malt man diesen Kampf oft als Streit zwischen dem guten Geist des Menschen mit einem bösen Geist, der jenen verlocken will, aus.
Das Verfahren, das das Einheitsich anwendet, um die unmittelbaren Regungen zu unterdrücken, ist das einer Zensur, indem es den aufsteigenden, widerstrebenden Trieb durch entgegenstrebende zu verdrängen sucht. Natürlich gelingt solche Bekämpfung eines Triebes nur, wenn das Obersubjekt selbst stark emotional betont ist. Denn ein Affekt kann niemals unterdrückt werden, wie man Unkraut ausrottet, er kann jedoch durch einen stärkeren Affekt übertönt werden. Wenn die sittliche Einheitspersönlichkeit nur ein Wissen, eine Erkenntnisbildung ist, wird es ihr nie gelingen, der Triebe Herr zu [113] werden. Nur wenn sie selbst emotionalen Charakter hat, wenn hinter ihr eine leidenschaftliche Liebe zum Guten oder eine gewaltige Furcht vor Strafe stehen, nur dann kann sie triumphieren. Oder aber, wenn sie zur Gewohnheit, zur „zweiten Natur” geworden ist.
Damit komme ich auf die Frage, die zuweilen in ethischen Betrachtungen auftaucht, ob derjenige Mensch der wahrhaft sittliche sei, der in sich möglichst viel Gegentriebe überwinde, oder derjenige, der ganz instinktiv gut handele. Kant neigte bekanntlich zur ersten Anschauung. Indessen ist in einer stets erst nach Konflikten sittlich handelnden Individualität die sittliche Persönlichkeit doch noch nicht so weit durchgedrungen, daß sie den ganzen Menschen erfüllt und ihm „in Fleisch und Blut übergegangen” ist. Uns scheint ein Mensch, für den es heißt: „du kannst nicht töten”, sittlich auf höherer Stufe zu stehen als einer, der mit der ganzen Wucht des Sittengesetzes: „Du sollst nicht töten!” aufsteigende Mordlust niederschlagen muß. Mag jener für Romane und moralphilosophische Betrachtungen ein weniger interessanter Gegenstand sein, die sittliche Rationalisierung ist bei ihm doch tiefer gedrungen, weil sie in das Gebiet der Instinkte hinabreicht. Immerhin, ganz ohne Konflikte geht es nirgends ab, und ich werde später zu zeigen haben, daß es mit der Rationalisierung des Ethischen nicht so einfach liegt, wie es zuweilen den Moralphilosophen erscheint.
Mit dieser Schilderung der vom Obersubjekt ausgeübten Zensur ist sein Einfluß auf die "Seele" vorweggenommen. Der Weg dauernder Beeinflussung der Seele geht eben nur durch den Augenblick, denn das bejahte Augenblickserleben strebt sich zu wiederholen und schafft Gewohnheiten. Wir können uns, um ein bekanntes Wort Luthers zu zitieren, böser Gedanken nicht erwehren, sowenig wie wir Vögel verhindern können, über uns weg zu fliegen; wie wir diese aber hindern können, sich auf unseren Kopf niederzulassen, so können wir bösen Trieben wehren, in uns heimisch zu werden.
Wichtig für die Beherrschung der Individualität durch ein [114] Obersubjekt ist auch der geistige Besitz. Die Inhalte des Bewußtseins sind ja nicht tote Fracht, sondern wirken auf die Funktionen zurück. Auch nach dieser Hinsicht muß sich die Zensur des Obersubjekts betätigen. Freilich eine Festigkeit des Obersubjekts wird nicht dadurch allein erreicht, daß man gefährliche Inhalte ganz fernhält. Gewiß erfordert die Rationalisierung zunächst eine gewisse Beschränkung, eine Verfestigung in bestimmter Richtung, wirklich stark wird das Obersubjekt jedoch erst im Kampf mit fremden Inhalten. Darum ist nicht diejenige die stärkste Persönlichkeit, die keine Konflikte kennt, sondern die sie kennt, und auf die sie doch keinen schädlichen Einfluß haben, weil die Persönlichkeit fest gerichtet ist.
Die künstliche Rationalisierung strebt, auch das Außenbild zu festigen. Jeder Mensch arbeitet mehr oder weniger bewußt daraufhin, daß die Mitmenschen ein einheitliches Bild von ihm bekommen. Man spielt die Einheitsrolle nicht nur für sich, sondern auch für andere. Das ist Heuchelei, solange man sich bewußt ist, daß man spielt, d. h. daß man anderen eine Individualität vorführt, die gar nicht besteht. Es gehört aber zu den Seltsamkeiten des Individualitätslebens, daß man auch eine falsche Rolle spielen kann, ohne sich dessen bewußt zu sein. Der englische „Cant” wird oft als bewußte Heuchelei gedeutet; so einfach liegt es jedoch nicht, denn der betreflfende „Heuchler” weiß gar nicht, daß er ein falsches Außenbild von sich erweckt, er betrügt sich selber mit. Oft ist der Zwang, nach außen hin etwas zu repräsentieren, die beste Schulung dafür, es auch innerlich zu werden. Das Ordenskleid des Mönches, die Uniform des Offiziers sind nicht bloß nach außen gerichtet, sie sind auch wirksame Mittel, das innere Obersubjekt zu festigen.
Das gleiche gilt von den äußeren Handlungen. Auch sie wirken zurück auf das Ich. In dieser Erkenntnis empfahl Pascal das Mitmachen religiöser Übungen, selbst wenn zunächst der Glaube fehle: dieser würde schon kommen. Man braucht nicht eine sittlich geläuterte Persönlichkeit zu sein, um sittlich [115] zu handeln; indem man dem äußeren Anschein nach sittlich handelt, trägt man dazu bei, sittlich zu werden. Man muß diese scheinbare psychologische Paradoxie verstehen, um die Bedeutung zu begreifen, die in vielen Religionen und Sittenlehren den guten „Werken” beigelegt wird.
6. Der Erfolg der künstlichen Rationalisierung.
Wie hoch man aber auch die Macht der Erziehung einschätzen mag, es wäre eine grobe Täuschung, wollte man meinen, sie vermöchte ganz die Irrationalität der Individualität auszutilgen, und es wäre eine noch gröbere Täuschung, wollte man das auch nur für wünschenswert halten.
Gewiß ist es möglich, unter einfachen Menschen in einfacher Umgebung einen verhältnismäßig hohen Grad der Rationalisierung zu erzielen. Aber selbst die Mauern eines Klosters, der harte Zwang einer Kaste oder sonstige strenge Versuche, die Individualität zu vereinheitlichen, vermögen es niemals, der Phantasie ganz die Flügel zu beschneiden, die divergierenden Wünsche und Triebe des Menschen zu unterdrücken. Und gar für Individuen, die mitten im Leben stehen und beständig gezwungen sind, aus „sich” herauszutreten, in fremde Eigenart sich hineinzuversetzen, Kompromisse einzugehen, für alle die kann ein Einheitsideal zwar ein fernes Ziel vorstellen, auf das sie im großen und ganzen zustreben, dem sie aber fast niemals dauernd zusteuern können. Das Einheitsideal ist etwa ein Kompaß, der in schwierigem Gelände die Richtung anzeigt, aber niemals die, die in jeder einzelnen Minute einzuhalten ist, sondern nur eine, nach der man sich in den wechselndsten Lagen ungefähr orientieren kann. Erreichte Ideale sind keine Ideale mehr. Die meisten Ideale sind nur so lange erstrebenswert, als sie nicht ganz erreicht werden. Wären selbst die edelsten Ideale erfüllt, würden z. B. viele Menschen heute ganz christusähnlich, so würde sich doch zeigen, daß dies Ideal mannigfach abzuändern wäre. Das Leben wäre unerträglich, wären alle Menschen in sich geschlossene feste Wesen, es wäre noch unerträglicher, wäre gar die zwischenindividuelle Rationalisierung konsequent durch[116]geführt. Auch der Sozialismus mit der erstrebten Gleichheit der Menschen mag ein Ideal darstellen, aber auch nur ein Ideal, das folgerichtig nie in die Wirklichkeit überführt werden dürfte, um sich nicht selber ad absurdum zu führen.
IV. Kapitel
Die fiktive Rationalisierung
1. Das Wesen der fiktiven Rationalisierung.
Wir stehen also noch immer vor einem Dilemma. Gewiß arbeiten natürliche und künstliche Rationalisierung beständig an der inneren und äußeren Ausgleichung der Individuen, und doch wird dies Ziel niemals ganz erreicht, ja es ist unter vielerlei Gesichtspunkten gar nicht wünschenswert, daß es erreicht werde. Und dennoch ist die Rationalität der Individuen in aller Kultur eine überall stillschweigend gemachte Voraussetzung. Das Gesetz verlangt, daß die Menschen mit gleichem Maß gemessen werden sollen, unsere Kunst schafft für die Allgemeinheit, als wenn alle Menschen den gleichen Geschmack hätten, wir schwören Treue und geben Versprechungen ab, als wenn wir uns nicht verwandeln könnten, so daß jene Gelübde zur inneren Lüge würden, die Religion will alle Menschen gleich sein lassen vor Gott! Aber sie sind nicht gleich, und sie sind keine konstanten Größen; sie bleiben irrational trotz aller Rationalisierung. Wie hilft sich die Kultur all diesen Schwierigkeiten gegenüber, da natürliche wie künstliche Rationalisierung nicht ausreichen?
Sie wendet ein drittes Verfahren an: das der fiktiven Rationalisierung, das darin besteht, daß sie einfach über alles Irrationale hinwegsieht und die Menschen schlechthin so behandelt, als ob sie konstant und als ob sie gleiche Größen wären. Sie übertreibt innerhalb des Umkreises der Individualitäten alles Rationale und läßt das Irrationale als unwesentlich beiseite. Das ist gewiß, auf seine Richtigkeit [117] geprüft, ein sehr gewaltsames und trügerisches Verfahren, das jedoch - wie so viele andere Fiktionen - sich durch praktische Werte rechtfertigt.
2. Die Anhalte der fiktiven Rationalisierung.
Das Verfahren der fiktiven Rationalisierung erscheint auf den ersten Blick so widerspruchsvoll, daß man stutzt. Wie, wir sollten uns beständig eine Einheit mit uns selbst und eine Gleichheit mit anderen vortäuschen, die gar nicht vorhanden wären?
Und doch ist es so, was uns übrigens schon darum nicht zu wundern braucht, als unser Ichbild bereits früher sich als Maske oder Rolle, als Schematisierung erwies. Die hier gemeinte Fiktion ist nur eine Verlängerung dessen, was im Seelenleben jedes Menschen beständig vor sich geht.
Man darf sich die fiktive Rationalisierung nur nicht zu gewaltsam vorstellen; sie vollzieht sich meist unbeabsichtigt, und zwar darum, weil sie nicht nur in der natürlichen wie künstlichen Rationalisierung vorbereitet ist, nein, weil darüber hinaus noch andere Bewußtseinstatsachen bestehen, die die Fiktion erleichtern.
Ich erörtere diese zunächst für die persönliche Rationalisierung. Der Mensch neigt dazu, Ähnlichkeiten als Gleichheiten, ferner sehr langsame Wandlungen als Konstanten anzusehen, und er neigt auch dazu, einzelne repräsentative Tatbestände auf die Gesamtheit der Seele zu übertragen, so daß, wenn er eine partielle Dauer feststellt, er darum die ganze Seele als Dauerbestand anzusehen pflegt. Durch diese Selbsttäuschungen wird es dem Individuum erleichtert, die fiktive Rationalisierung als wirklich hinzunehmen.
Es sei das für die einzelnen Erscheinungsformen der Individualität durchgeführt, und zwar zunächst für das unmittelbare Bewußtsein! So wechselnd dessen kaleidoskopartiges Spiel erschien, so mußten wir doch gewisse Ähnlichkeiten zugeben, die eine Zusammenfügung in Reihen gestatteten. Auf diesen Reihen ähnlicher Erlebnisse beruhte ja die Möglichkeit, diese als Auswirkungen seelischer Funktionen zu fassen.
Diese Ähnlichkeit zwischen den Bewußtseinserlebnissen [118] wird durch zwei weitere Umstände verstärkt, die die Ähnlichkeit noch größer erscheinen lassen, als sie in Wirklichkeit ist. Zunächst färbt der augenblickliche Gemütszustand alle aufsteigenden Erinnerungen so, daß diese gleichsam sein Kolorit empfangen ; ja völlig stimmungsfremde Bewußtseinszustände kommen gar nicht auf. Bin ich in trüber Stimmung, so erscheinen mir selbst heitere Erinnerungen wie von grauem Schleier verhüllt, ja sie bleiben in der Regel ganz im Dunkel, weil die Gleichheit der Grundstimmung der wichtigste Hebel für die Erinnerungs- und Assoziationstätigkeit überhaupt ist. Da nun alle Ichzustände ihr spezifisches Kolorit auch der gesamten Vergangenheit mitteilen, so erscheint die Individualität im Rückblick einheitlicher, als kritische Nachprüfung sie erweist.
Denn zweitens wird die Ähnlichkeit der Ichzustände dadurch verstärkt, daß wir nicht unsere Individualität als solche in ihnen erleben, sondern als bezogen auf Gegenstände, die der Außenwelt angehören und größere Konstanz haben als das wechselnde Ichbewußtsein. Wir vermengen dabei das Fühlen als Akt mit dem gefühlten Gegenstand, das Begehren mit dem begehrten Objekt. Wir begehren lange Zeit dasselbe Ziel, aber in sehr verschiedener Weise, bald hoffnungsfreudig, bald resignierend, bald erbittert, bald lässig. Weil aber das Ziel gleichbleibt, so erscheint jedes darauf bezogene Erleben jedem anderen auch darauf bezogenen ähnlicher, als es in Wirklichkeit ist. Wir ordnen ja unsere Erlebnisse nicht nach ihrer Bewußtseinsgleichheit, sondern nach der Übereinstimmung in bezug auf ihren Gegenstand. Besonders rückblickend erinnern wir uns nicht jener Nuancen; es scheint uns eine zurückliegende Liebe immer sich selbst ähnlich geblieben zu sein, mag sie in Wahrheit auch zwischen Himmelhochjauchzen und Zutodebetrübtsein geschwankt haben.
Bei der physischen Erscheinungsweise bewirkt vor allem die Langsamkeit des Wandels die Vortäuschung einer Konstanz. Selbst tiefgreifende Veränderungen wie das Altern fallen uns darum nicht auf, weil sie ganz allmählich vor sich gehen und wir selbst uns mitändern.
[119]
Die dritte Erscheinungsform, „die Seele”, faßten wir von vornherein bereits als Fiktion, als fiktives Substrat der wechselnden Zustände des Bewußtseins. Es ist mit dieser Fiktion also bereits eine Vorarbeit für die fiktive Vereinheitlichung der Gesamtindividualität geschehen. Indessen bietet die Fiktion des Seelensubstrats noch eine andere Grundlage für die weitergehende Rationalisierung. Gewiß erkannten wir, daß auch in der Seele, dem Verhältnis der einzelnen Funktionen, starke Veränderungen geschehen, trotzdem gibt es in der Regel ein Durchschnittsverhältnis, das durch gleichbleibende äußere Situationen stabilisiert wird. Besonders der Beruf dient dazu, im einzelnen Menschen bestimmte Begabungen so auf Kosten anderer auszubilden, daß der Erwachsene einen ziemlich konstant proportionierten Typus darstellt. Beim Maler wird sein gesamter seelischer Habitus durch die visuelle Einstellung, beim Gelehrten durch abstraktes Denken, beim Kaufmann durch Beziehungen auf Geldwerte beherrscht. Durch dies Hervortreten repräsentativer Funktionen wird die Konstanz der Seele stärker betont, als sie es in Wirklichkeit ist. Man nimmt die infolge der äußeren Lebenslage entstandene Konstellation der seelischen Anlagen für das Wesen der Seele, mag auch in Momenten des tiefsten Erlebens das Gefühl aufblitzen, als hätte man das eigenste Wesen der Seele vernachlässigt, als hätte man, wie Ibsens Rubek, niemals wirklich sein eigenes Leben gelebt, sondern das „Innenleben ertötet” Immerhin, für eine Rationalisierung bietet diese Stabilisierung der Seele gewichtige Anhalte.
Desgleichen ergeben sich im „seelischen Besitzstand Tatsachen, worauf eine fiktive Rationalisierung aufbauen kann. Ist doch die Grundlage alles geistigen Besitzes das Gedächtnis. Es hält eine große Anzahl von Inhalten dauernd fest und schafft so einen Grundstock, der relativ konstant bleibt. Vor allem die persönlichen Erinnerungen tragen durch ihre Dauer in jeder Individualität viel dazu bei, daß sie sich als „die gleiche” fühlt. Dabei ist auf die paradoxe Tatsache hinzuweisen, daß das Gedächtnis jenes Gefühl der Selbstidentität [120] keineswegs allein dadurch zuwege bringt, daß es seine Inhalte ganz getreu bewahrt, sondern gerade dadurch, daß es sie ändert, und zwar in Harmonie mit der übrigen Umbildung der Individualität. Denken wir an unsere Jugend zurück, so fällt es uns nicht schwer, uns als die gleiche Individualität damals und jetzt vorzustellen; lesen wir jedoch ein Tagebuch, das wir vor Jahren geschrieben, so begreifen wir nicht, daß wir es waren, die das zu Papier gebracht haben. Das liegt eben daran, daß das Gedächtnis nicht nur bewahrt, sondern auch ändert, fälschend die Ähnlichkeiten übertreibt.
Daneben wirken auch auf den geistigen Besitzstand äußere Einflüsse ein, um einen Bestand an Wissen wachzuhalten, der sich immer ähnlich bleibt. So zwingt die gleichbleibende Berufstätigkeit dazu, einen festen Fonds von geistigem Besitz stets bereitzuhalten, was ebenfalls scheinbare Identität erzeugt, die gewiß nicht absolut ist, aber der Rationalisierung Vorschub leistet.
Daß das Innenbild das Ich zusammenfaßt, gehört zu seinem Wesen. Da es jedoch selber mannigfachen Schwankungen unterliegt, so müssen diese wechselnden Innenbilder wieder vereinigt werden, und darin liegt eben die fiktive Rationalisierung, auf die ich hinaus will, die durch jene primären Vereinheitlichungen nur vorbereitet ist.
Auch das Außenbild, so vielspältig es sein mag, übertreibt gewisse ähnliche Züge der Individualität. Die bei der Bildung von Außenvorstellungen wirksame Trägheit im Umdenken wurde in anderem Zusammenhange erwähnt. Da außerdem in der Zweckmäßigkeit des Außenbildes nicht die Berücksichtigung der Nuance liegt, sondern die Hervorhebung charakteristischer Züge, so werden diese nicht nur in ihrer Bedeutung, auch in ihrer Konstanz überbetont. Außenbilder sind nicht Porträts, sondern Abstempelungen. Sie rücken sich wandelnde Phasen der Individualität stärker zusammen, heben nur das scheinbar Gleiche hervor. Sie halten sich an das Durchschnittliche, sie sehen das „Fernbild”, das nur einige Hauptzüge auf Kosten aller feineren Schwankungen und Wand[121]lungen hervorhebt. Auch hilft das Individuum der Gleichheit seines Außenbildes nach, dadurch, daß es der geforderten Identität durch bewußtes Schauspiel entgegenkommt. Selbst wenn wir uns innerlich zerrissen und "außer uns" fühlen, wahren wir doch nach außen die Haltung und helfen so mit, unser Außenbild als einheitlicher erscheinen zu lassen, als es sein müßte, sollte es jeweils der Wahrheit entsprechen. Und diese Rolle, die wir nach außen spielen, wirkt auf uns so sehr zurück, daß wir oft selbst nicht wissen, wie sehr wir spielen. Der Mensch, der gezwungen ist, nach außen immer die gleiche Wesenheit zu repräsentieren, fühlt sich allmähhch selbst als das, was er spielt.
Und ebenso ist es mit den übrigen Projektionen des Ich. Ganz unwillkürlich drängen wir Objektivierungen vorübergehender Zustände zurück. Auch wirkt das für die gesamte Individualität Typische im Werke stärker als das nur eine vorübergehende Schwankung Ausdrückende. Wir sehen in Rembrandtschen Bildern zunächst das eigentümlich Rembrandtsche, d. h. das in allen seinen Bildern Verwandte, später erst das Speziellere. Das ganz Momentane kann sich bereits aus dem Grunde in einem längere Zeit hindurch bearbeiteten Werke nicht ausprägen, weil es verwischt wird durch spätere Überarbeitung. Oft zeigt daher eine rasch hingeworfene Skizze eine Unmittelbarkeit des Ausdrucks, die das durchgearbeitete Bild nicht hat. Daher sind solche Werke kein ganz richtiger Gradmesser für das mannigfache Auf und Ab der seelischen Schwankungen, sie lassen, soweit sie die Individualität ausdrücken, diese gleichmäßiger erscheinen, als sie in Wahrheit ist. Was man in der Kunst als „Manier” bezeichnet, ist eine solche Übertreibung der Gleichheit.
3. Die Fiktion eines „Kerns” der Individualität.
Auf diese innerhalb der Individualität bestehenden Ähnlichkeiten und ihre Betonung basiert sich die fiktive Rationalisierung. Obwohl man täglich Schwankungen und in längeren Zeiten tiefgreifende, nichtumkehrbare Veränderungen in sich erfährt, denkt und spricht man allgemein von sich und anderen, [122] als ob es sich um geschlossene Einheiten handelte, deren geringe Variabilität niemals das Wesen berühre. Man tut, als sei innerhalb jedes Menschen, hinter schillernder und wandelbarer Oberfläche, ein ruhender Pol in der Erscheinungen Flucht, den man herauslösen könne wie den festen Kern aus einer Aprikose. In diesem Sinne heißt's im Wallenstein:
„Hab' ich des Menschen Kern erst untersucht,
so weiß ich auch sein Wollen und sein Handeln.”
Diese fiktive Rationalisierung ist so stark und verbreitet, daß man sich im Leben wie in der Wissenschaft, in der Kunst wie sogar in der Psychologie gar nicht darüber klar wird, daß ein solcher, die ganze Individualität in ihrem Wesen umschließender Kern gar nicht besteht, daß ein Glas Wein zuviel diese ganze angeblich so festgefügte Individualität aus den Fugen heben und sie zu Taten veranlassen kann, die sie selber wenige Stunden nach der Tat nicht mehr begreift, daß sie sich spalten kann, daß die Außenwelt sie überspülen kann wie das Meer bei Sturm einen Strandsee, Es ist eine Fiktion und nicht mehr, wenn man innerhalb des wechselnden Stroms des individuellen Lebens einen konstanten Tenor zu erkennen behauptet, der sich rational fassen ließe. Gewiß gibt es Kontinuitäten und Ähnlichkeiten, aber sie gehen niemals ein in eine feste Formel. Noch niemand hat Jenen „Kern” des Individuums Goethe festzustellen vermocht, aus dem sich zugleich der Werther, die Natürliche Tochter, der Chorus mysticus im Faust, die Liebe zu Frau von Stein und die zu Christiane Vulpius, die Briefe aus der Schweiz und die Farbenlehre ableiten ließen. Nur als Fiktion, d. h. als zu praktischen Zwecken brauchbare Selbsttäuschung ist eine solche Rationalisierung angängig: einen wirklichen Erkenntniswert hat sie nicht.
Die praktische Brauchbarkeit jener Fiktion täuscht eben vielfach darüber hinweg, daß es sich um eine Fiktion handelt. Gewiß läßt sich auf Grund der vorindividuellen, der natürlichen und künstlichen Rationalisierung mancherlei voraussagen, man pflegt nur - wie bei anderen Weissagungen die nicht zutreffenden Fälle nicht zu zählen. Und doch, wer [123] ehrlich und ein einigermaßen guter Beobachter ist, wird zugeben, daß er sich oft genug in seinen Berechnungen auch bei solchen Menschen getäuscht hat, die ihm am nächsten stehen. Nur schlechte Pädagogen sind überzeugt, ihre Schüler restlos zu durchschauen; je feiner der Lehrer ist, um so mehr Respekt hat er vor der Irrationalität der Kinderseelen.
Aber man braucht noch nicht an andere zu denken, man fange nur bei sich selber an! Welcher Mensch ist fähig, sichere Aussagen über den Kern seiner eigenen Persönlichkeit zu machen? Wer vermöchte von sich selber immer vorauszusagen, wie er handeln wird? Wer hätte sich nicht in Lagen befunden, wo er sich selbst nicht begriff? Wer ehrlich vor sich selber ist und ein wenig Selbstbeobachtung hat, wird auch hier zugeben, daß beim Durchdenken dieser Fragen trotz aller Rationalisierung sich der angebliche Kern der Individualität als Fiktion herausstellt. Die reale Rationalisierung bringt es stets nur zu einer gewissen Wahrscheinlichkeit der Aussagen über die lebendige Individualität, niemals zu apodiktischer Gewißheit, wie fiktiv angenommen wird. Mit dem angeblichen Tenor der Individualität geht's wie mit der Grundtonart in einem modernen Musikstück, das zwar hier und da wieder zurückkehrt in die Ausgangslage, sonst aber durch alle anderen Tonarten hindurchmodulieren kann, wobei die angebliche Herrschaft der Grundtonart rein fiktiv ist.
4. Der Name als Mittel der Vereinheitlichung.
Wie bei der Rationalisierung der Begriffe in der Logik spielt auch bei der fiktiven Rationalisierung der Individualitäten das Wort eine große Rolle. Soviel hatte der alte Nominalismus, der freilich an der Oberfläche blieb und die, eine Rationalisierung ermöglichenden rationalen Elemente übersah, richtig erkannt: Der Träger der Einheit und Identität der Individualität ist der Name. Dieser gestattet es, in der Praxis die aufeinanderfolgenden, oft so außerordentlich wechselnden Phasen der Individualität zusammenzufassen und sie als Kontinuität anzusehen, die dann als Identität hingenommen wird. Bezeichnenderweise redet die Polizei, wenn sie den Namen [124] eines Individuums ermittelt hat, von Feststellung der „Identität”, obwohl vielleicht die Justiz bald darauf feststellt, daß die Identität der Individualität infolge zu reichlichen Alkoholgenusses gar nicht bestanden hat. Der Name ist, so luftig und vergänglich die paar Laute sein mögen, doch ohne Zweifel das Festeste an der ganzen Individualität, das einzig Feste, das auch den Tod überdauert, während die wirklichen Individualitätsformen sich selbst über das Grab hinaus noch wandeln.
Dabei ist die Sitte, das Individuum von der Wiege bis zur Bahre mit dem gleichen Namen zu bezeichnen, keineswegs so allgemein durchgeführt, wie das nach unseren Kulturgewohnheiten scheinen mag. In vielen Völkern erhalten die Männer bei wichtigen Wendepunkten des Lebens, etwa der Männerweihe, neue Namen, und selbst bei uns besteht dies Verfahren, starke Einschnitte des Lebens durch neue Namengebung zu markieren. Mädchen bekommen beim Eintritt in die Ehe neue Namen, bei der Taufe geben die christlichen Missionare einen anderen Namen, ja im Grunde sind die Titel, die wir dem Namen beim Erlangen wichtiger Stellen anfügen, wenn auch keine völlig neuen Bezeichnungen, so doch wesentliche Modifizierungen der alten. Innerhalb gesellschaftlicher Kreise, in studentischen Verbindungen z. B., werden ebenfalls neue Namen verliehen, Liebende geben sich neue Namen, in Verbindungen perverser Art sogar heterosexuelle Namen. Kurz, ganz konsequent wird auch die Namengebung als fixierendes Moment nicht durchgeführt, und das hat seinen tiefen Sinn, weil die Individualität eben nicht immer „dieselbe” ist.
5. Die Bedeutung des rationalisierten Einheitsich.
Indessen hieße es die große praktische Bedeutung der Einheitsindividualität verkennen, wollte man sie nur auf ihren realen Untergrund prüfen. Das geistige Leben rechnet nicht bloß mit realen, es rechnet wie die Finanzwirtschaft auch mit fiktiven Werten; diese zahlt ja nicht bloß mit Gold, sie zahlt auch mit Papier. Das Einheitsich ist ein solcher fiktiver Wert, der für das gesamte soziale und geistige Leben un[125]entbehrlich ist. Unser ganzes gesellschaftliches und geistiges Leben rechnet mit dieser fiktiven Einheit als praktischer Realität; wir tun so, als entspräche der fiktiven Einheit wirklich jene Individualität, die sie zu repräsentieren vorgibt. Gewiß setzen wir Schwankungen und Änderungen in Rechnung, aber in der Hauptsache basieren sich alle Beziehungen zwischen Menschen doch auf die Fiktion, daß die Individuen als Einheit genommen werden dürfen. So stellen wir nicht bloß alle die Forderungen nach Rationalisierung auf, sondern wir verhalten uns auch so, als böten uns unsere Mitmenschen die Gewähr, daß sie diese Forderungen erfüllten. Es gehört zum guten Ton, dem anderen zu glauben, wenn er etwas verspricht. Wir tun, als wären wir überzeugt, er wolle im nächsten Jahr seine Versprechungen halten, obwohl wir vielleicht innerlich der Meinung sind, bis dahin sei er sicher anderen Sinnes geworden. Das ganze Kreditwesen ist auf derselben Fiktion aufgebaut, daß die Individuen sich gleich bleiben. Wir schwören am Altar Treue und glauben dem Schwur des anderen Teils, weil wir wenigstens als Fiktion mit einer Identität und Konstanz der Individualitäten rechnen müssen.
Im übrigen möge ein Vergleich die Rolle des teils realen, teils fiktiven Einheitsich illustrieren. Betrachten wir die unrationalisierte Individualität in ihrer Wandelbarkeit, Vielspältigkeit und Unabgrenzbarkeit etwa als Volksmasse im anarchischen Zustande, so ist das rationalisierte Ich dem geordneten Staate zu vergleichen. Der Staat ist das rationalisierte Volk. Die Rolle des Einheitsichs innerhalb der Gesamtindividualität entspricht der der „Regierung”. Auch diese vertritt keineswegs genau den Volkswillen, ist keineswegs immer der Ausdruck der Jeweiligen Konstellation im Volke; dennoch wird sie vom Volke selbst wie im Verkehr nach außen als dauernde Repräsentation angenommen, weil aus praktischen Gründen eine dauernde Vereinheitlichung da sein muß, selbst auf die Gefahr hin, daß diese Vertretung kein richtiges Bild gebe. Gewiß wird jede Regierung beständig Kompromisse mit den Unterströmungen eingehen müssen, indessen muß sie besonders [126] nach außen hin sich als eine Repräsentation für die Gesamtheit geben, auch wenn sie nicht voller Ausdruck der Gesamtheit ist. Die Regierung schließt Verträge ab und erläßt Gesetze, als ob sie eine Dauereinrichtung wäre. So gilt auch nur derjenige Mensch als ethisch und sozial vollwertig, der eine einheitliche Rolle durchführt, der nicht jede Laune und jeden inneren Konflikt sich auswirken läßt, sondern eine einheitliche Haltung zu wahren weiß und sich selbst zu regieren versteht, oder wenigstens die Fiktion davon aufrecht erhalten kann.
6. Die fiktive zwischenindividuelle Rationalisierung.
Ist schon die innerindividuelle Rationalisierung ein fiktiver Vorgang, der vielfältige Wirklichkeit gewaltsam in ein Klischee preßt, so gilt das in noch höherem Grade für die zwischenindividuelle Rationalisierung. In allen sozialen Gemeinschaften muß beständig die individuelle Unterschiedenheit bei Seite gesetzt, müssen die Individuen als rein numerische Mannigfaltigkeiten genommen werden. Jede soziale Gemeinschaft prägt in sich die Vorstellung einer Durchschnitts-, einer Normindividualität aus, von der fiktiverweise die Einzelmenschen als gleiche Exemplare gelten, gleichsam als Abdrücke derselben Platte. Über jeder sozialen Gemeinschaft schwebt diese fiktive Normalindividualität als etwas, was sein soll, ja als etwas, was wirklich ist.
Diese Nebenordnung der Individuen gilt trotz der dabei ebenfalls bestehenden Über- und Unterordnung. Wo es sich um Erfüllung ethischer Gebote, um die ästhetische Freude an öffentlichen Bauten, um die Anerkennung allgemeiner Wahrheiten handelt, sollten prinzipiell hoch und niedrig gleich sein. Trotzdem durchkreuzen sich Neben- und Überordnung der Individuen in bemerkenswerter Weise. Die fiktive Normalindividualität eines Volkes z. B. ist keineswegs auf statistisch genau ausgerechneten Durchschnitt gebaut, sondern wird stärker von einzelnen repräsentativen Personen und Schichten bestimmt als vom Typus der großen Menge. Wo es repräsentative Persönlichkeiten gibt, beeinflußt ihre Indivi[127]dualität aufs stärkste den Typus. Ludwig XIV., Friedrich der Große, Wilhelm II. haben weit über wirkliche Ähnlichkeiten hinaus den Typus ihres Volkes bestimmt. Jeder Franzose des „Siecle de Louis XIV” fühlte sich als kleiner Ableger des Königs, die meisten Deutschen der jüngsten Zeit ließen sich bewußt oder unbewußt von Wilhelm II. beeinflussen, was sich bis in die Barttracht verfolgen läßt. Aber keineswegs Monarchen allein, auch andere überragende Gestalten beeinflussen das Typusbild. Voltaire, Bismarck, Garibaldi haben alle der fiktiven Normalindividualität nach innen wie nach außen ihre Züge verliehen. Ebenso sind nicht alle sozialen Schichten gleichbedeutend für den Normaltypus. Im Frankreich des XVII. und XVIII. Jahrhunderts stand der Aristokrat im Vordergrund, im XIX. Jahrhundert der Bourgeois ; in England ist der Kaufmann repräsentativ, in Preußen war's lange Zeit der Offizier. Alle diese vorherrschenden Schichten beeinflussen weit über ihre numerische Stärke die Normalindividualität. Man nimmt an, daß jeder Bürger in England irgendwelche kaufmännische, in Preußen militärische Züge hat.
Einerlei jedoch, wie sich im einzelnen das Bild der Normalindividualität gestaltet, als Fiktion ist sie eine soziologische Notwendigkeit.
7. Die realen Unterlagen der zwischenindividuellen Rationalisierung.
Natürlich fehlt es auch für die zwischenindividuelle Rationalisierung nicht an realen Unterlagen, die allerdings erst in fiktiver Verstärkung einen Normaltypus abgeben. Das unmittelbare Erleben freilich muß hier wegfallen, denn dies läßt nur auf indirektem Wege eine Vergleichung zu, die oft täuschen kann. Zwei verschiedene Individuen können niemals genau wissen, ob sie das Gleiche empfinden oder fühlen; denn da sie sich darüber nur sprachlich verständigen können, die Sprache aber stets stark rationalisiert ist, so kann das unmittelbare Erleben nicht in Betracht kommen.
Bedeutsame Unterlagen für eine Rationalisierung gibt jedoch die physische Verwandtschaft. Die meisten sozi[128]alen Verbände sind ja durch leibliche Verwandtschaft verknüpft. Das gilt vor allem von der Familie. Die sprichwörtliche „Familienähnlichkeit” ist der äußere Ausdruck dieser physischen Gemeinsamkeit. In etwas weiterem Sinne sind auch der Stamm und auch das ganze Volk miteinander physisch verwandt, ja letzten Endes sind alle Menschen „von Adams Kindern”. Auch die Berufe und Stände entbehren meist (schon infolge Connubiums) nicht physischer Verbindung, ja nach neuerdings weitverbreiteter Ansicht ist eine Kulturgemeinschaft überhaupt nur bei „Blutsgemeinschaft” möglich. Diese physische Gemeinschaft geht viel weiter, als vielfach angenommen wird. Wir berücksichtigen in der Regel nur den visuellen Eindruck. Aber die Rassen unterscheiden sich z. B. auch durch typischen Geruch, der meist Rassefremden unangenehm ist. So widersteht dem Europäer der Geruch des Negers, der Ostasiate wiederum empfindet die Ausdünstung des Europäers unangenehm. Die physischen Gemeinsamkeiten der Rassen, die andererseits wieder als Unterscheidungsmerkmale dienen, sind noch lange nicht genügend untersucht. Wie die Hautfarbe, die Schädelbildung, die Haare, so könnte man in jedem Teil des Organismus vermutlich zwischenindividuelle Rationalisierungen nachweisen.
Schwerer als beim Leibe ist bei der Seele auszumachen, was als gleiches Erbgut vielen Menschen gemeinsam mitgegeben ist. Trotzdem pflegt man ein repräsentatives Funktionsverhältnis den meisten Rassen zuzuerkennen. Man gibt dem Romanen in der Regel feinere Wahrnehmungsfähigkeit, nimmt jedoch für den Deutschen größere Freiheit der Phantasie in Anspruch. Man erkennt beim Engländer seinen Sinn für Tatsachen an, konstatiert jedoch Mangel an musikalischem Sinn. Desgleichen sind Temperamentsunterschiede unverkennbar: daß das ganze seelische Leben des Italieners in anderem Tempo verläuft als das des Norwegers, wird von niemand ernsthaft bestritten. Jedermann kennt derartige Aussagen zur Psychologie der Völker, die, auf den einzelnen angewandt, selten ganz stimmen, im großen und ganzen jedoch Richtiges treffen.
[129]
Aber nicht nur bei Völkern, auch innerhalb kleinerer Verbände, bei Stämmen und Familien kann man repräsentative Züge feststellen, die zur Rationalisierung führen können.
Ebenso ist's mit geistigem Besitz. Die Bewohner desselben Hauses, derselben Stadt, desselben Landes haben seelische Inhalte gemein, die gewisse Verwandtschaft begründet. Der düstere Himmel nordischer Landschaften füllt die Seele mit Eindrücken, die alle Bewohner dieser Gegenden von Bewohnern südlicher Sonnenländer wesentlich unterscheiden. Die Sprache bedingt eine Fülle geistiger Gemeinsamkeiten; denn sie ist zugleich der Weg zu den meisten übrigen Kulturschätzen: der Poesie, der Religion, der Wissenschaft, die alle zum seelischen Bestand wichtige Beiträge liefern. Innerhalb jeder sozialen Gemeinschaft gibt es eine spezifische Allgemeinbildung. Wenn die Individuen nicht geistig dieselben Räume bewohnen, so haben sie doch gemeinsame neutrale Plätze, auf denen sie sich als gleich begegnen, sei's die Kunst, sei's die Politik oder ein sonstiges Gebiet „allgemeiner[n]” Interesses, Wenn man den geistigen Besitz zum Wesen der Individualität rechnet, kann man auch so ein Fundament für die zwischenindividuelle Rationalisierung gewinnen, das sogar oft für fester gehalten wird, als es in Wahrheit ist, da man die irrationalen Obertöne bei allem geistigen Besitz überhört.
Obwohl also, wie gezeigt, es an realen Grundlagen einer zwischenindividuellen Rationalisierung nicht fehlt, begnügt sich diese nicht mit Anerkennung der tatsächlichen Verhältnisse, sondern geht weiter, schafft die Fiktion einer viel tieferreichenden Gemeinsamkeit und behauptet eine solche Gemeinsamkeit auch dort, wo sie tatsächlich gar nicht besteht, ja sie verlangt sie als Pflicht.
Diese Fiktion zeigt sich vor allem in der Außerachtlassung der tatsächlichen großen Abweichungen, die bei aller Verwandtschaft bestehen. Ich zeige das zunächst am Beispiel der nationalen Gemeinschaft: da besteht ein Normalsubjekt des Deutschen, in das zugleich der Pommer wie der Rheinländer, der Schlesier wie der Allemanne eingehen sollen, obwohl [130] diese untereinander ganz außerordentlich verschieden sind und sich in vielen Zügen einzelnen nichtdeutschen Völkern mehr annähern als der fiktiven gemeindeutschen Normalsubjektivität. Denn hat nicht der Pfälzer im Temperament mehr Ähnlichkeit mit dem Franzosen als mit dem Pommern, und steht nicht der Niederdeutsche dem Skandinavier in vielem näher als dem Süddeutschen? Trotzdem besteht die Fiktion der allgemeindeutschen Subjektivität. Und wenn wir gar die Einzelmenschen heranziehen, die doch der Fiktion nach alle nur Ableger der Normalsubjektivität sein sollen, so werden die Unterschiede noch größer. Kennt nicht jeder in seinem Bekanntenkreise Individuen genug, auf die jene Klischeevorstellung absolut nicht passen will? Und trotzdem hat diese fiktive Rationalisierung unendliche Bedeutung, denn sie schafft jenes vereinheitlichende Normalichbild, das - mag es stimmen oder nicht - dennoch vermag, soziale Gemeinschaften zusammenzuschließen, da jedes Individuum von früh auf gezwungen ist, irgendwie doch dieser Fiktion Rechnung zu tragen, sie als unbewußte Rolle zu übernehmen.
8. Nochmals die Ratio.
Ich kehre nun nochmals zum Begriff der Ratio zurück, der ich oben ihre schöpferische Bedeutung abgesprochen hatte, und die ich nur als Produkt wollte gelten lassen.
Was ist die Ratio? Kein ursprüngliches Vermögen, wie bereits die moderne Psychologie anerkennt, wenn auch nicht ausdrücklich, so doch durch die Tatsache, daß sie der Vernunft als besonderer Funktion keine Stelle in der Seele gibt. Die Ratio ist eine Anpassungsform des Denkens, biologisch zurückführbar auf schematisierende Reaktion auf ähnliche Eindrücke, teils aus innerindividueller, teils aus zwischenindividueller Anpassung hervorgegangen. Wann handelt ein Mensch „vernünftig?” Wenn er so handelt, wie es seinem Einheitsich und so, wie es dem Normich gemäß ist, wenn er seine Tat aus persönlichen Gründen nicht zu bereuen hat, und wenn er nicht mit anderen Individuen in Konflikt kommt. Vernünftig ist ein Mensch soweit, als er innerindividuell und zwischen[131]individuell rationalisiert ist. Eine schöne Sache also die Vernunft und doch ein klein wenig philiströs! Ein stets nur vernünftiger Mensch verzichtet eben auf ein sehr Wesentliches: die irrationale Eigenheit, die seine tiefste schöpferische Kraft ausmacht. Darum ist der ursprüngliche Mensch, vor allem dann, wenn er schöpferisch begabt ist, nie nur vernünftig. Die Ratio ist der Vorzug des Bürgers, den das Genie gewiß auch haben kann, aber es hat noch ein wenig mehr, es hat sich bei aller Rationalisierung auch die aus den Tiefen des Lebens aufsprudelnde Irrationalität gewahrt!
V. Kapitel
Die Rationalisierung der Individualität in
Wissenschaft und Kunst
Während die Erkenntnis des irrationalen Wesens der Individualität bei allem philosophischen Interesse, das sie bieten mag, jede praktische Arbeit unmöglich zu machen schien, bietet die rationalisierte Individualität mancherlei Handhaben für Wissenschaft und Kunst. In der Tat legen diese, soweit sie sich mit menschlischen Individualitäten beschäftigen, rationalisierte Individualitätsbegriffe zugrunde. Da indessen die reale Rationalisierung nirgends ausreicht, so müssen Wissenschaft wie Kunst auch fiktive Rationalisierungen heranziehen, was praktisch notwendig sein mag, was jedoch der unbefangene Beobachter feststellen muß. Ich prüfe zunächst die Versuche, die man gemacht hat, um wissenschaftlich und künstlerisch der Individualitäten habhaft zu werden.
1. Die Erfassung der Individualität in den historischen Wissenschaften.
Daß die Geschichte es mit Individuen zu tun habe, war wenigstens für die frühere Zeit ein fast allgemein zugegebener Satz. Die Mittel, deren man sich bediente, waren einerseits die Charakteristik, andererseits die Biographie.
[132]
Die Charakteristiken, mit denen die großen Historiker ihre Werke oft in ästhetisch bezaubernder Weise schmückten, gehen von der fiktiven Voraussetzung eines festen Kerns der Individualität aus. Sie nehmen an, es wäre möglich, durch einige repräsentative Züge das Wesen der Individualität festzunageln. Es genügt wohl, auf meine früheren Darlegungen hinzuweisen, um zu erhärten, daß das nur in sehr grob schematischer Weise tunlich ist. Mögen solche Charaktergemälde künstlerisch noch so hoch stehen, als ungefälschter Aufschluß einer Wirklichkeit können sie nicht gelten.
In Erkenntnis dessen strebt die Charakteristik in der Regel zur Biographie hin, die in der Tat den ernsten Versuch macht, die Wandlungen der Individualität einzubeziehen in das Bild, und damit in der Tat die Erkenntnismöglichkeiten sehr erweitert. Indessen werden auch die meisten Biographien der ganzen Breite der Individualität nicht gerecht, da sie meist unter dem einseitigen Gesichtspunkt der Hauptleistung der betreffenden Person geschrieben sind. Der Staatsmann wird stets in erster Linie als Staatsmann, der Feldherr als Soldat charakterisiert. Schon dadurch kommen naturgemäß gewisse Verschiebungen ins Bild. Es werden nicht nur die simultanen Mannigfaltigkeiten beschnitten, auch im Nacheinander entstehen Lücken. Gewiß läßt sich durch jene Einseitigkeit etwas wie eine kontinuierliche Entwicklungslinie konstruieren, aber sie ist um so künstlicher, je rationaler sie ist. Zudem arbeiten die meisten Biographen mit ganz ungeklärten Kausalitätsbegriffen. Die Begriffe der „Rasse”, des „Milieus”, des „Einflusses” usw., die da als rationale Begriffe eingeführt werden, meinen in Wahrheit sehr irrationale Dinge und schematisieren und vergewaltigen den lebendigen Fluß des Geschehens beständig. So reizvoll und interessant Biographien zu lesen sind, so muß sich doch der Leser bewußt bleiben , daß es sich nur um grob schematisierte Darstellungen handelt, die höchstens mit geographischen Karten, nicht mit einem naturgetreuen Bilde zu vergleichen sind, weil sie wohl zur Orientierung nütz[133]lich sind, aber die letzten und tiefsten Einsichten notwendig schuldig bleiben.
Das Unternehmen der Wissenschaft der Individualität gegenüber ist eben von vornherein widersprüchlich: sie soll eine irrationale Wesenheit fassen und doch zugleich rational verständlich machen. Um das zweite aber zu erreichen, muß sie die Irrationalität umformen. Schroff bezeichnet ist also das Verfahren der historischen Wissenschaft nicht eigentlich ein Erfassen der Wirklichkeit, sondern ein Zurechtmachen derselben, ebenfalls eine Rationalisierung. Sie setzt ein Verfahren noch weiter fort, das das Leben schon überall übt.
Daneben freilich kann sie sich auch noch bewußt künstlerischer Mittel bedienen. Dadurch wird immerhin die Irrationalität etwas erfaßt, aber freilich leidet dabei die strenge Wissenschaftlichkeit. So ist oft eingestanden worden, daß der große Künstler der Wahrheit näher kommen kann als der Gelehrte, wie ein künstlerisches Porträt in gewissem Sinne „ähnlicher” sein kann als eine Photographie.
2. Die Erfassung der Individualität in der Psychologie.
Die Psychologie hat neuerdings im Psychogramm eine Methode ausgearbeitet, die die Mängel der Biographie vermeiden will. Hier soll die ganze Breite des individuellen Lebensstromes erfaßt werden, nicht bloß eine repräsentative Strömung darin. Sie beachtet daher auch alle seelischen Tatsachen, die der Biograph als unwesentlich beiseite läßt. Außerdem verzichtet der Psychograph auf die hypothetischen Erklärungshilfen des Historikers, er beschränkt sich zunächst auf Feststellung von nachweisbaren und nachprüfbaren Tatsachen. Drittens will er die seelische Struktur des Individuums enthüllen, was die wenigsten Biographen unternehmen.
Die psychographische Methodik ist erst jung und hat vielleicht noch eine reiche Zukunft vor sich. Indessen birgt auch sie große Schwierigkeiten. Kann sie der simultanen Mannigfaltigkeit gerecht werden, so wird sie die sukzessive nur unvollkommen festhalten können, es sei denn, daß sie eine ganze Reihe von Psychogrammen nacheinander aufnimmt. Aber [134] auch dann wird sie schematisieren müssen und wird außerdem im einzelnen Fall schwer den Nachweis erbringen können, daß die von ihr gewählten Momente stets die charakteristischsten waren. Auch sie kommt nicht ohne fiktive Voraussetzungen aus, vor allem die, daß ein beliebiger Querschnitt oder eine Mehrzahl von solchen wirklich die innerste Struktur der Individualität enthüllte.
Gegenüber dem individuellen Psychogramm ist die Methode der typischen Zusammenordnung bewußt fiktiv, da sie nur an wenige rationalisierte Züge sich hält. Sie macht gar nicht den Versuch, das Irrationale des Individuums zu fassen, sondern hält sich an die repräsentativen Rationalisierungen. Damit ist natürlich ihrem Erkenntniswert eine Grenze gesetzt, aber indem sie zugestandenermaßen nur einige Züge der Persönlichkeit herausarbeitet, begeht sie zum mindesten keine Fälschung.
3. Die Erfassung der Individualität in der bildenden Kunst.
Der Individualitätsbegriff, mit dem die Künste in der Regel arbeiten, unterscheidet sich nur gradweise von dem der historischen Wissenschaften, deren Verwandtschaft mit der Kunst seit Kant oft genug hervorgehoben ist. Die bildenden Künste machen die fiktive Voraussetzung, es sei möglich, in einem bestimmten Augenblick das Wesen einer Person zu ergreifen; der Dichter hofft, dasselbe durch eine Reihe von bewegten Szenen aus dem Leben eines Individuums zu erreichen.
Nun ist von vornherein zuzugeben, daß es der bildenden Kunst in der Tat möglich ist, zum mindesten die Illusion zu erzeugen, sie brächte uns die ganze Persönlichkeit nahe. Ein echtes Kunstwerk erzielt diesen Eindruck in viel höherem Grade als eine Momentaufnahme. Und zwar entsteht jene Wirkung der Kunst oft dort am stärksten, wo die fiktive Rationalisierung von vornherein zugestanden ist. Wir sind überzeugt, daß Dürers Münchener Selbstporträt, Schlüters Großer Kurfürst, Rodins Balzac freie Umgestaltungen sind, dennoch wirken sie echter, lebendiger, „wahrer” als es Photo[135]graphien vermöchten. Der tiefste Grund liegt darin, daß sie bewußt gewisse repräsentative, rationalisierte Züge festhalten und zugleich den Beschauer zwingen, den irrationalen Rest zu ergänzen.
Daneben bestehen Unterschiede in der künstlerischen Darstellung, die man am besten durch den Gegensatz eines Raffaelschen und Rembrandtschen Porträts illustriert, der letzten Endes auf tiefe rassepsychologische Gegensätze zurückgeht. Raffael (wie der „klassische” Künstler überhaupt) arbeitet das Rationale viel einseitiger heraus, er geht auf ein Sein, einen statischen Zustand des dargestellten Menschen aus, Rembrandt dagegen erfaßt einen Augenblick im Fluge, er ergreift die Persönlichkeit im Geschehen und Handeln und läßt neben gewissen Rationalisierungen auch noch irrationale Obertöne anklingen, für die er als Germane mehr Sinn hat als der rationaler denkende Romane. Daher wirken die Bilder Raffaels klarer und einheitlicher; die gewollt verdämmernden und irrational schillernden Gemälde des nordischen Meisters dagegen scheinen uns etwas aufzuschließen von dem noch nicht rationalisierten Wesen des Dargestellten, das wir kraft der „Einfühlung” hineinlegen müssen.
4. Die Erfassung der Individualität in der Dichtung.
Ähnlich wie der bildende Künstler arbeitet der Dichter. Er geht in der fiktiven Umgestaltung bewußt weiter als der Historiker, indem er charakteristische Züge und Handlungen erfindet, die die Wirklichkeit nicht liefert. So wirken seine Darstellungen, obwohl sie bewußt „unwahr” sind, doch „wahrer” als wissenschaftliche Biographien.
Dabei finden wir in der Dichtung denselben Gegensatz zwischen klassischer und germanischer Kunst, den wir in der bildenden Kunst aufzeigten. Ich illustriere ihn durch Racine als Vertreter einer rationalen, Shakespeare als Vertreter einer auch das Irrationale berücksichtigenden Kunst. Die Gestalten des französischen Klassikers sind in wenigen Hauptzügen plastisch hervorgearbeitet, der Rest existiert kaum, Sie handeln konsequent nach einem festgelegten Charakter und erhalten [136] daher für unser Gefühl leicht etwas Maschinenhaftes. Aber die von ihnen getragene Handlung gewährt dafür dem Beschauer das Bild großer Klarheit und Logik. - Damit vergleiche man eine Gestalt wie Hamlet. Sein Charakter schillert in hundert Schattierungen, so daß die Gelehrten ihn bis heute nicht klassifizieren konnten, seine Handlungen sind ganz „unvernünftig”, irrational und erwecken doch gerade dadurch den Eindruck einer dämonischen Lebendigkeit, wie sie keine Figur Racines nur im entferntesten besitzt. - Ein anderer germanischer Dichter, der sich dieser Gegensätze klar bewußt war, August Strindberg, hat das für sich ausgesprochen. Er schreibt: „Der bürgerliche Begriff von der Unveränderlichkeit der Seele wurde dann aufs Theater übertragen, wo ja das Bürgerliche immer geherrscht hat. Ein Charakter war dort ein Herr, welcher fix und fertig war, welcher unveränderlich als Betrunkener, als Spaßmacher, als Betrübter auftrat. - Bei dieser Art und Weise, die Menschen einseitig aufzufassen, bleibt sogar noch der große Moliere stehen, Harpagon ist nur geizig, obgleich Harpagon hätte geizig und zugleich ein ausgezeichneter Finanzier, ein prächtiger Vater, ein guter Bürger sein können, - Meine Seelen (Charaktere) sind Konglomerate von vergangenen Kulturgraden und Brocken der angehenden Zeit, welche aus Büchern und Zeitungen entlehnt wurden, Stücke von Menschen, abgerissene Fetzen von Feiertagskleidern, welche zu Lumpen geworden sind, ganz wie die Seele zusammengeflickt ist.”
5. Das Schicksal als Objektivierung des Irrationalen.
Der Gegensatz zwischen Rationalität und Irrationalität im Menschen hat in der Geistesgeschichte zu einer außerordentlich merkwürdigen Anschauung geführt. Der Mensch,
der sich als rationalisiertes Wesen empfand, dabei aber doch
gegen das Irrationale in seinem Erleben nicht blind war, hat
diese Irrationalität aus sich heraus verlegt, in irgendwelche
transzendenten Sphären, von wo sie eingreift in sein Leben
und seine rationalen Zirkel stört. Ich meine den Glauben an
das Schicksal. Diese Vorstellung, so wechselnd sie sein [137] mag, ist eine Vergegenständlichung alles dessen, was an Irrationalem im Leben des Menschen aufsteigt. Sie ist erwachsen
aus dem Gefühl, daß bei aller Rationalisierung der Mensch
doch niemals eine abgeschlossene Wesenheit ist, daß er mit
dem, was vor ihm war und neben ihm wirkt, in seltsamen,
unfaßbaren und doch beständig lebendigen Beziehungen steht. Besonders große Dichter haben stets Sinn für das Schicksalshafte im Leben gehabt. Sei es, daß sie das Schicksal als unheimliche Moira über dem Menschen walten ließen, sei es, daß sie es in der Gestalt von Hexen oder Geistern ihm über den Weg kommen ließen, sei es, daß sie das Einzelleben mit dem Wandel der Sterne oder einer dritten Welt in Beziehung setzten. Die Kunst
„sieht den Menschen in des Lebens Drang
und wälzt die größre Hälfte seiner Schuld
den unglückseligen Gestirnen zu.”
So stark aber ist das Bedürfnis des Menschen zur Rationalisierung, daß er sogar dies irrationale Schicksal rational umgebogen hat, indem er es sich als vernünftige „Vorsehung” zu denken versucht hat. Tiefere Geister sind sich der Unmöglichkeit dieses Verfahrens bewußt geworden und haben sich stets vor dem Schicksal, dem Dämonischen, dem Reiche des Schweigens in stummer Verehrung gebeugt.
Abschluß des zweiten Teils
Blicken wir von hier aus nochmals zurück auf das, was durch vorindividuelle, natürliche und künstliche Rationalisierung wirklich an Einheit geschaffen wird, so ist es doch nur ein recht schwaches Fundament für die Fiktionen der innerindividuellen und zwischenindividuellen Einheitlichkeit, die tatsächlich unser ganzes Leben durchdringen. Diese Einheitlichkeit ergibt sich beim Zupacken als ein unzulängliches, vielfach entstellendes Gebilde, das seinen Kurswert nur dem Umstande dankt, daß man es fast niemals genau untersucht hat. Daß es gerade die Philosophen waren, die vor allem diese Fiktion [138] als Standpunkt erwählt haben, ohne die Sicherheit dieser Basis zu prüfen, ist kein Ruhmestitel der Philosophie. Daß ein Wechsel innerhalb gewisser Kreise Kredit besitzt, sollte gerade Denker, die den Ehrgeiz haben, das Wesen der Dinge jenseits des Scheins zu ergründen, nicht dazu verleiten, ihn für einen Wert an sich, ein universales Zahlungsmittel zu halten.
Und dennoch darf man nicht verkennen, daß diese luftige, verschwommene Fiktion der innerindividuellen und zwischenindividuellen Identität die Basis für die gewaltigsten Gebäude der Menschheit bildet. Die gesamte wirtschaftliche wie die geistige Kultur gehen zum guten Teil auf die nachweisbar falsche Annahme zurück, daß die Menschen in sich und untereinander wesentlich gleich seien. Alle ethischen, logischen, ästhetischen und sonstigen Werte, die die Menschheit hervorgebracht hat, haben, wenn auch selten bewußt, zur Voraussetzung die Gleichheit der menschlichen Natur. Diesen merkwürdigen Widerspruch zu beleuchten, diene ein besonderer Teil dieser Untersuchungen.
Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei nochmals hervorgehoben, daß mit dem Nachweis der fiktiven Rationalisierung die Größe und Bedeutung einzelner Persönlichkeiten nicht herabgesetzt sein soll. Nur muß man deren Größe zunächst in der irrationalen Lebenspotenz, dann aber in dem Umstande sehen, daß sie Exponenten überpersönlicher Mächte sind, daß sie „bedeutend” nur sind, soweit sie rationale Werte schaffen, die ihrerseits freilich re-individualisiert werden.
Erstellt am 01.09.2010 - Letzte Änderung am 20.10.2010.