unter Verwendung des korrigierten Textes:
RICHARD MÜLLER -FREIENFELS
PHILOSOPHIE DER INDIVIDUALITÄT
U.B.C. LIBRARY
THE LIBRARY
THE UNIVERSITY OF BRITISH COLUMBIA
Gift of H R. MacMillan
Digitized by the Internet Archive in 2010 with funding from University of British Columbia Library
Vorwort
Eine Philosophie der Individualität ist nicht ohne weiteres eine individualistische Philosophie. Es soll hier nicht die Individualität als Lösung für alle philosophischen Probleme geboten, sie soll vor allem selbst zum Problem gemacht werden. Gewiß werde ich bei diesem Verfahren viele landläufige Vorstellungen von der Individualität zerstören müssen, aber ich hoffe, etwas anderes an deren Stelle setzen zu können, etwas, was zwar vielleicht weniger bequem zu handhaben ist, aber der ungeheuren Verflochtenheit des Tatbestandes besser gerecht wird. Ich gedenke der Individualität nicht mehr zu geben, als ihr gebührt, allerdings auch nicht weniger. Mir scheint, daß die Philosophen dieses Eingangstor zur Erkenntnis, das in vieler Hinsicht das nächstliegendste ist, mit Unrecht verschmäht haben. Daß es sich bei solchen Untersuchungen um die Kategorie der Individualität, nicht um die Person des Verfassers handelt, ist hoffentlich überflüssig zu bemerken.
Dieses Buch, obwohl in sich abgeschlossen, ist in mancher Hinsicht ein Gegenstück und eine Ergänzung zu einem früheren Buche, das ich unter dem Titel „Persönlichkeit und Weltanschauung. Psychologische Untersuchungen zu Religion, Kunst und Philosophie” bei B. G. Teubner 1919 veröffentlicht habe. Suchte ich dort den Ichbegriff soweit als irgend möglich einer rationalen Betrachtungsweise zu unterwerfen, so stelle ich hier gerade die Irrationalität, die niemals ganz in rationale Begriffe eingeht, in den Vordergrund. Die in den „Annalen der Philosophie I” veröffentlichte Abhandlung „Die Individualität als fiktive Konstruktion” kann ich von meinem jetzigen Standpunkt nur als Vorstudie ansehen, die ich in sehr wesentlichen Punkten verbessern mußte.
Wie in meinen früheren Büchern habe ich auch in diesem meinen Ehrgeiz darein gesetzt, möglichst so zu schreiben, daß jeder Gebildete das Werk zu lesen vermag. Für Leser, die eine pompöse Terminologie und Schwerverständlichkeit für einen Beweis von Tiefe halten, verschmähe ich zu schreiben. Ein nicht auf die einfachste Form gebrachter Gedanke kann gewiß richtig sein, er ist aber doch ein unfertiger Gedanke. Wie schwer es ist, einfach zu schreiben, habe ich gerade den verwickelten Problemen dieses Buches gegenüber empfunden. Literarische Nachweise für Anschauungen, die hier nur gestreift werden konnten, habe ich in die Anmerkungen verwiesen, um den Text nicht zu sehr zu belasten.
Gern erfülle ich die Pflicht, meinem verehrten Freund Julius Schultz für die Anregungen zu danken, die er durch seine Werke und Gespräche auf dieses Buch ausgeübt hat, auch dort, wo unsere Meinungen auseinandergehen. Desgleichen bin ich meiner Frau für verständnisvolles Interesse und mannigfache Mitarbeit zu herzlichem Danke verpflichtet.
Berlin-Halensee 1920.
Richard Müller-Freienfels.
[1]
Einleitung
1. Die Problemstellung der Philosophie der Individualität.
Philosoph sein heißt - wenn ich seinen Beruf richtig erfasse - nicht nur um die Lösungen der Probleme sich bemühen, nein auch Sinn haben für die Problematik der Lösungen. Philosophie treiben heißt nicht, die irrationale, unendliche, unergründliche Welt in eine rationale, endliche, aufgeklärte verwandeln, wie Förster und Gärtner einen Urwald zu einem Parke zurechtstutzen, damit ein verehrliches Publikum auf gebahnten Wegen wandelnd sich freuen kann, wie regelmäßig und brauchbar das alles hergerichtet sei. Des Philosophen Beruf scheint mir gerade, den Sinn zu schärfen für das Irrationale der Welt, Unendlichkeit als Unendlichkeit, ja selbst Geheimnis als Geheimnis erleben zu lassen. Seine paradox anmutende Aufgabe ist es, mit den Mitteln des Verstandes an ein Sein heranzuführen, das niemals ganz mit den Mitteln dieses Verstandes erfaßbar ist.
So soll hier versucht werden, die menschliche Individualität anzuschauen, ein Etwas also, das ein jeder lebt, und das doch den meisten so fremd und unbekannt ist wie nichts sonst unter der Sonne. Es soll der Versuch gemacht werden, die wunderbare Spindel am Werk zu beobachten, die unablässig in unser aller Innern sich abspult, tausend und abertausend Fäden zusammenspinnt zu einem Gewebe, das aus dem Unendlichen kommend im Unendlichen verläuft. Wir wollen hineinsehen in einen Zauberspiegel, in dem ein unablässiger Wandel von Gesichten geschieht, einen Spiegel, in dem wir uns selbst zu erblicken meinen, und der doch zugleich der einzige Rahmen ist, in dem wir die übrige Welt zu erschauen [2] bekommen. - Und insofern wird es möglich sein, im Problem des Ich zugleich die Probleme der Welt zu ergreifen, nicht Psychologie allein, sondern Philosophie zu treiben.
2. Der Begriff der Individualität und die Wissenschaft.
Dieser Begriff der Individualität, den ich zum Grundstein eines philosophischen Gebäudes zu machen versuche, ist von den Bauleuten meistens verworfen worden. Die Philosophen haben entweder in einseitigem Interesse für die Objektivität das individuelle Ich, ja das Ich überhaupt übersehen, wenn nicht gar für ein Phantom oder ein Nichts erklärt, oder sie haben, wenn sie die Bedeutung des Subjektiven in der Welt anerkannten, doch nur von einem „allgemeinen Ich”, einem „erkenntnistheoretischen Subjekt” gesprochen, einem überall gleichen Mannequin, um das die individuellen Besonderheiten, soweit sie überhaupt beachtet wurden, wie zufällige Maskerade herumhängen sollten.
Die Historiker älterer Richtung erwiesen den Individualitäten insofern größere Reverenz, als sie ihnen das gesamte Weltgeschehen aufbürdeten; aber sie behandelten die Individualität zugleich als eine Art Mysterium, der gegenüber jeder Erklärungsversuch von vornherein zum Scheitern verdammt sei. - Die Historiker neueren Schlages, die ihre Methodik der der Naturwissenschaften anzupassen bestrebt waren, stürzten die Individuen von den hohen Thronen, worauf die älteren Kollegen sie gesetzt hatten, und gingen ihnen mit allerlei Erklärungsprinzipien zu Leibe: dem eigentlichen Problem der Individualität jedoch kamen auch sie nicht auf den Grund. Denn ihre Erklärungsprinzipien, mögen sie „Rasse”, „Milieu”, „Zeitliches Diapason” oder anders heißen, lassen doch gerade das Individuelle beiseite und packen höchstens das Generelle im Individuum.
Auch die Psychologen, ebenso wie Physiologen, Biologen und andere Forscher naturwissenschaftlicher Richtung, haben lange Zeit das Problem der Individualität vernachlässigt. Man kann dickleibige Werke über Psychologie von vorn bis hinten durchstöbern, ohne dem Wort Individualität nur einmal [3] zu begegnen. Das ist allerdings seit 1900 anders geworden, seitdem die differentielle oder vergleichende Psychologie eine selbständige Methodik ausgebildet hat; indessen selbst diese Methodik geht nicht eigentlich auf das Individuelle, sondern auf „Typen” aus, ein Mittelding zwischen der allgemeinen und der einzelmenschlichen seelischen Verfassung, eine „relative Allgemeinheit”. Auch für diese Richtung der Seelenkunde ist das Individuum nur interessant als Angehöriges einer Gruppe, nicht um seiner selbst willen.
Im Gegensatz zu allen diesen Wissenschaften soll hier die Individualität als solche in den Mittelpunkt gestellt werden. Nicht das an ihr, was sie als Glied einer Gruppe erscheinen läßt, interessiert mich, nein gerade das, was sie von anderen unterscheidet, ihre Singularität, ihre Unterschiedenheit von allem anderen in der Welt.
Denn die Individualität erscheint mir, um dies Ergebnis vorwegzunehmen, als etwas Irrationales, etwas, das nicht eingeht in die Begriffe der traditionellen Logik, etwas, das zwar unter mancherlei Gesichtspunkten rationalisierbar ist, aber in seinem tiefsten Wesen sich doch jeder Schablone entzieht und als ein einziges, wenn auch nicht abgrenzbares, dem Prinzip der Identität nicht unterworfenes, wenn auch darum keineswegs chaotisches Wesen zu begreifen ist. Dieser Tatbestand war der älteren Logik nicht unbekannt, denn sie bezeichnete das Individuum als „ineffabile” und zog daraus den Schluß, daß es keine Erkenntnis vom Individuum geben könne, einen Schluß, den ich nicht mitmache. Ich behaupte nämlich, darin mit vielen neueren Denkern einig, daß die rationale Logik nur eine Art der Erkenntnis, nicht die Erkenntnis schlechthin begründe. Denn das Leben ist mehr als die rationale Wissenschaft, und Philosophie ist mir nicht bloß Wissenschaftslehre, sondern Erkenntnis auch dessen noch, was nicht in die Wissenschaft eingeht. - Ja, Philosophie ist mehr noch als Erkenntnis; Philosophie ist selber Leben, eine Auseinandersetzung nicht nur des Kopfes, sondern des ganzen Menschen mit der Welt.
[4]
3. Rational und Irrational.
Freilich scheinen wir uns bereits auf der Schwelle in ein unmögliches Verfahren einzulassen. Ist die Individualität, so gefaßt, nicht ein Etwas, das jeder wissenschaftlichen Behandlung unzugänglich ist? Denn alle Wissenschaft ist doch rational, arbeitet mit den Begriffen der rationalen Logik, die aufgebaut sind auf den Sätzen der Identität und des Widerspruches, und geht aus auf allgemeine Erkenntnisse. Und müssen wir nicht, um überhaupt uns verständlich zu machen, beständig rationale Begriffe verwenden, in Sätzen sprechen, die auf allgemeine Gültigkeit Anspruch erheben? Also eine rationale Fassung des Irrationalen, eine allgemeine Erkenntnis des schlechthin Singulären - das wäre unser Ziel?
Ich antworte mit Ja! Und zwar weise ich darauf hin, daß auch sonst sehr wohl der Versuch gemacht wird, mit begrifflichen Mitteln irrationaler Größen habhaft zu werden. Ich erinnere nur an die Mathematik, ich erinnere daran, daß auch Naturwissenschaft und Philosophie mit Begriffen wie Unendlichkeit, Ewigkeit und anderen umgehen, die schlechthin irrational sind, ja ich behaupte sogar, daß die Rationalität aller Begriffe, soweit sie auf die Wirklichkeit angewandt werden, nur ein idealer Grenzfall ist. Das Rationale aller von der Wirklichkeit abstrahierten Begriffe ist nur dadurch möglich, daß man vom irrationalen Rest gewaltsam abstrahiert. Höchstens in der Mathematik gibt es wahrhaft rationale Begriffe, Mathematik aber ist eine ideale Konstruktion, nicht Wirklichkeit. Wenn Mathematik auf die Wirklichkeit angewandt wird, so geht das nur mit vielfältigen Gewaltsamkeiten. Hätten wir mikroskopisch scharfe Sinne, so wären die mathematischen Naturgesetze nie gefunden worden. Und so ist es fast überall mit der rationalen Wissenschaft; sie ist nicht so sehr Aufdeckung einer natürlichen Wirklichkeit, als vielmehr die Konstruktion einer künstlichen Unwirklichkeit, die sich als Wirklichkeit ausgibt. Dies Verfahren hat sich gewiß praktisch tausendfältig bewährt, kann aber vom philosophischen Standpunkt nicht als reine Erkenntnis gelten. Eine solche wird [5] niemals mit rationalen Begriffen auskommen, sondern wird sich Denkmittel schaffen müssen, die auch der irrationalen Wirklichkeit beizukommen geeignet sind. Dieser Versuch wird hier gemacht.
Ich stelle zunächst nochmals fest, was mit dem Worte „rational” gemeint ist. Rational im Sinne der herkömmlichen Logik heißt etwas, das klar von anderem abzugrenzen (zu definieren) ist, und das dem Satze der Identität (A = A) entspricht, das heißt, das sich sowohl selbst gleichbleibt als auch mit anderen „seinesgleichen” in einen gemeinsamen Begriff eingeht.
Indem ich etwas als „irrational” bezeichne, leugne ich zunächst seine Abgrenzbarkeit, weiter seine Identität mit sich selbst und drittens die Möglichkeit, es mit anderem restlos in einen rationalen Begriff zusammenzuordnen. Im übrigen werden die Begriffe des Rationalen wie des Irrationalen im Verlauf der Untersuchungen weiter geklärt und vertieft; dann erst soll auch die Frage erörtert werden, wieweit diesen Begriffen, die zunächst nur Formen des Erkennens sind, auch Formen des Seins entsprechen.
[7]
I. Teil
Die Irrationalität der Individualität
„Die Quelle kann nur gedacht werden,
insofern sie fließt ... die Geschichte
des Menschen ist sein Charakter . . .”
„Und so spalt' ich mich, ihr Lieben,
Und bin immerfort der Eine.”
„Sind nun die Elemente nicht
Aus dem Komplex zu trennen,
Was ist denn an dem ganzen Wicht
Original zu nennen?”
Goethe
[9]
I. Kapitel
Die sieben Erscheinungsweisen der Individualität
1. Der Begriff der Individualität.
Wie wir so viele Dinge nur darum, weil sie uns bekannt sind und wir täglich mit ihnen umgehen, ohne Nachprüfung für erkannt halten, so übersehen wir die unendlichen Probleme unsres eignen Ich, die uns darum nicht quälen, weil wir sie nicht wahrnehmen, wie der Müller das Räderklappern nicht hört, das ihn beständig umgibt. Ist doch unser Denken, das sich biologisch aus praktischen Stellungnahmen dieses Ich zur Außenwelt entwickelt hat, nach außen gerichtet und nicht nach innen. Unser naives Bewußtsein weiß nicht mehr über unser Inneres, als die spiegelnde Oberfläche eines Teiches von dem enthält, was in seinen Gründen an Schlinggewächs und mikroskopischem Tierleben sein Wesen treibt. Nur durch mancherlei Kombinationen und Rückschlüsse können wir etwas erfahren über den dunkelsten aller aus unbekannten Tiefen aufquellenden Brunnen, dem unser unablässig sich wandelndes, sich spaltendes und über sich selbst hinausströmendes Innenleben zu vergleichen ist.
Mit dem Worte „Individualität” meine ich nicht dasselbe wie mit dem Worte „Individuum”. Jenes ist ein weiterer Begriff. Als „Individuum” bezeichne ich nur den physischpsychischen „Träger” der Individualität, die mir der Inbegriff auch alles Lebens und Wirkens ist, das von jenem Träger ausstrahlt, und, obwohl nicht mit dem Individuum identisch, doch „individuelle Färbung” trägt, wie später ausführlich darzulegen sein wird. So kann der Mensch sagen: ich bin mehr [10] als ich. Denn die Individualität steht mit der übrigen Welt in tausendfältiger Beziehung, und obwohl sie sich selbst als gegensätzlich zur Außenwelt erlebt, ist sie doch bei aller Selbständigkeit ein Teil dieser Welt. Der Begriff des Ich setzt den des Nichtich voraus, ist in einem höheren Sinne eins damit. Daher wird nicht nur das Innenleben der Individualität, nein auch ihre Beziehungen zur Außenwelt, die nur durch eine imaginäre Grenze von jener geschieden ist, werden Gegenstand dieses Buches sein. Das Wesen der Individualität ist also Selbständigkeit, jedoch nicht eine im Sinne absoluter Isoliertheit genommene, sondern eine in beständigen Beziehungen sich behauptende Selbständigkeit.
Wenn auf diesen Seiten der Begriff des „Ich” gebraucht wird, so ist damit nur das individuelle Ich, nicht jenes allgemeine Ich gemeint, das sonst in der Philosophie sein Wesen treibt. Denn die Erfahrung, soweit wir sie spannen, lehrt uns überall, in uns wie außer uns, nur individuelle Iche kennen. Das „allgemeine Ich” ist eine abstrakte Konstruktion, ein leeres Gespenst. Es ist beim Lichte der Studierlampe beschworen worden und zergeht, wie alle Gespenster, sobald man es bei dem Lichte des Tages betrachten will. Auch wir erkennen den Satz an: Ich denke, also bin ich. Aber wir betonen: Ich denke, darum bin ich, d. h. das individuelle Ich. Die hypothetische Übereinstimmung dieses individuellen Ichs mit anderen nehmen wir nicht als ungeprüfte Voraussetzung an, sondern sie ist uns eines der wichtigsten Probleme, das erst zu lösen ist. Und bei genauer Untersuchung kommen wir zu dem Ergebnis, daß eine solche Übereinstimmung in absolutem Sinne überhaupt nicht besteht, daß höchstens von Verwandtschaften oder Ähnlichkeiten gesprochen werden kann, neben denen die fundamentalen Verschiedenheiten auf keinen Fall übersehen werden dürfen. Die Frage, wieweit durch Kontakt nachträglich etwas wie eine überindividuelle Subjektivität sich bildet, ist für uns sekundär und wird besonders behandelt, ebenso wie die andere, wieweit man bei Tieren, Pflanzen usw. von Individualität sprechen [11] kann. Zunächst rede ich nur von der menschlichen Individualität, die wir allein aus eigenem Erleben zu erkennen vermögen.
2. Die sieben Erscheinungsweisen der Individualität.
Fassen wir den Begriff der Individualität in dem weiten Sinne, den ich umschrieben habe, so ergibt sich, daß wir dieser komplexen Wesenheit nicht von einem einzigen Standpunkt aus gerecht werden können. Wie wir von einer komplexen Gegebenheit der äußeren Welt, sagen wir einer Stadt, uns kein allumfassendes Bild machen können, wie wir sie von den verschiedensten Seiten aus und unter den verschiedensten Gesichtspunkten betrachten müssen, so wird auch die Individualität nicht in einem einzigen Aspekt als Gesamtheit eingefangen. Ja vielleicht ist alles, was wir von der Individualität erfassen können, niemals die Individualität an sich, sondern nur Erscheinung eines hinter den wechselnden Formen wirkenden Wesens? Diese Frage wird zu entscheiden sein, wenn die verschiedenen Erscheinungsweisen, die zwar alle zusammenhängen und aufeinander hindeuten, dabei jedoch relativ selbständig sind, eingehend erörtert sind. Es sei dabei ausdrücklich hervorgehoben, daß die Erscheinungsweisen der Individualität nicht reale Teile sind, sondern eher „Seiten” eines Ganzen, wenn auch innerhalb jedes Aspekts sich mancherlei „Spaltungen” zeigen. Natürlich sind alle Ausdrücke wie „Aspekt”, „Seiten” usw. nur metaphorisch gebraucht, da es an wirklichen Analogien für die Individualität in der nichtindividuellen Welt naturgemäß fehlt.
Um zu meiner Individualität vorzudringen, befrage ich zunächst mein unmittelbares, d. h. nicht reflektiertes Bewußtsein, ich beuge mich gleichsam über den unablässig quellenden „Bewußtseinsstrom” und suche zu ergründen, was in dessen wechselnden Zuständen „ichhaft” ist und was nicht. Da dieses unmittelbare Bewußtsein jeden Augenblick neu wird, so spreche ich auch von „Momentanbewußtsein” und nenne das in ihm erscheinende Ich das Momentan-Ich oder das unmittelbare Bewußtseins-Ich, das zwar nicht als gesonderter In[12]halt, sondern als eine spezifische Färbung aller Wellen des Stroms erscheint. Dies wäre die erste Erscheinungsweise.
Die zweite ist der Leib, den man zum wechselnden Bewußtseinsleben als „Träger” hinzudenkt, wie man zu einer flackernden Flamme eine Kerze oder eine Lampe hinzudenkt. Der Leib ist zwar nicht identisch mit der Individualität, aber ebenfalls eine ihrer wesentlichsten Erscheinungsweisen.
Der Leib genügt jedoch nicht als „Träger” des Bewußtseins, sobald die grundsätzliche Verschiedenheit zwischen Materie und Bewußtsein zugegeben ist. Man braucht ein besonderes Substrat für die Bewußtseinsvorgänge und schafft sich ein solches in der „Seele”. Indem wir uns selber als „Seele” denken, bekommen wir eine dritte Erscheinungsweise. Die Seele ist weder das Bewußtsein noch ist sie leiblich, sondern ein Träger sui generis des wechselnden Bewußtseins.
Indessen können wir den Begriff der Individualität auch weiter ziehen und auch allen geistigen Besitz, die Inhalte unseres Wahrnehmens, Vorstellens, Denkens, die ja alle eine besondere Färbung dadurch bekommen, daß sie in meine Individualität eingehen und also „mein” sind, einbeziehen in den Individualitätsbegriff. Das ist ein vierter Aspekt. Ich nenne diese Erscheinungsweise des Ich: den geistigen Besitzstand oder das „Mein”.
Nun betrachtet sich der Mensch in der Regel nicht bloß unter diesen verengerten Aspekten, sondern er sucht alles zusammenzufassen und so ein Gesamtbild von sich zu bekommen. Den so entstehenden Komplex nenne ich das Innenbild, das allerdings kein passiver Inhalt der Seele ist, sondern selbst gestaltgebend wirkt als eine Rolle, die wir spielen.
Diesem Innenbild steht ein Außenbild gegenüber, die Art und Weise, wie wir uns in anderen Individualitäten spiegeln. Das ist die sechste Erscheinungsweise, die allerdings nur in weiterem Sinne zur Individualität gehört, aber so sicher dazu gehört wie das Furchteinflößende, Majestätische zum Wesen des Löwen gehört. Besonders da das Außenbild [13] mannigfach auf das Innenbild zurückwirkt, muß man es einbeziehen in den Kreis der Individualität.
Noch weiter abzuliegen von der Individualität scheint die letzte Erscheinungsform, die ich als die Objektivierung der Individualität in ihrem Wirken bezeichne. Und doch, so wahr als man den Baum an seinen Früchten erkennt, so erkennt man den Menschen an seinen Taten und Werken. Ja, oft genug ist diese Erscheinungsweise die einzige, die uns überhaupt zugänglich ist, und unser Bild von toten Individualitäten bauen wir fast ausschließlich unter diesem Aspekt auf.
Ich werde nun zunächst die einzelnen Erscheinungsweisen in ihrer Besonderheit noch genauer charakterisieren und dartun, wie, durch jeden dieser Rahmen geschaut, die irrationale Wesenheit der gesuchten Individualität sich darstellt. Es wird aufzuzeigen sein, wie diese Aspekte zusammenhängen und sich gegenseitig ergänzen, damit wir dann hinter den Erscheinungen zuletzt womöglich zum Wesen selber vordringen, diesem in zahllosen Facetten glitzernden und doch nicht chaotischen Wesen, das wir nur erschließen, nicht vorstellen können.
3. Das unmittelbar erlebte Individualitätsbewußtsein.
Ich beginne mit dem unmittelbaren Erlebnis der Individualität, jenem dumpfen und doch im wachen Bewußtsein nie ganz fehlenden Gefühl, daß ein Ich, und zwar „mein” Ich alles erlebt, was es empfindet, vorstellt, denkt, fühlt oder will. Dieses immanente Individualitätsgefühl ist nicht etwa eine selbständige Vorstellung, sondern ein ganz unselbständiges, ungreifbares Etwas, vielleicht der Klangfarbe eines Instrumentes vergleichbar, die auch in allen Weisen mitschwingt, die auf dem Instrumente gespielt werden. Es ist, obwohl es unmittelbar erlebt wird, nur durch Abstraktion aus dem wirren, beständig wechselnden Knäuel unserer seelischen Erlebnisse loslösbar und erscheint der späteren Reflexion wie ein durchgehender Faden, der alles zusammenhält.
Dabei ist dieses Individualitätsbewußtsein nicht etwa immer sich selber gleich; im Gegenteil, es wechselt jeden Augenblick, erscheint in jedem Erleben als ein anderes, fühlt sich bald [14] tätig, bald erleidend, bald frisch, bald müde, bald froh, bald traurig, kurz, es changiert durch alle möglichen Nuancen, deren ein Gefühl überhaupt fähig ist. Daß es daneben wieder als dasselbe erlebt wird, ist eine der merkwürdigen Paradoxien des Individualitätserlebens, denen wir immer wieder begegnen werden. Wegen dieser beständig sich wandelnden Natur des Individualitätsgefühls nenne ich dies auch die Momentanindividualität, um damit zu bezeichnen, daß dies Individualitätsbewußtsein nur dem Augenblick des jeweiligen Erlebens angehört, just auf jener scharfen Schwelle aufblitzt, die die Zukunft von der Vergangenheit trennt, und die der Schauplatz unseres Bewußtseinslebens ist.
Und doch erfüllt das Ichgefühl niemals den ganzen Umfang unseres Momentanbewußtseins, es ist stets nur der Begleiter irgendeines Inhalts, nur die oft mehr geahnte als voll ausklingende Tonika zu der flimmernden Melodie des geistigen Lebens. Es ist das Erlebende im Vergleich zum Erlebten, das ganz unsubstantiell zu denkende Subjekt zu jeder Art seelischer Tätigkeit, das Aktbewußtsein im Gegensatz zum Inhalt. Es ist wichtig, in jedem seelischen Erleben diesen Unterschied zwischen Objektivem und Subjektivem, zwischen Erlebtem und Erlebendem, zwischen Inhalt und Akt zu machen. Unsere Worte auf -ung (wie die romanischen auf -ion) vermengen diese Gegensätze: so bezeichnet Empfindung das Empfinden als Akt und das Empfundene als geistigen Inhalt, eine Vorstellung das Vorstellen wie das Vorgestellte*): Mit aller Schärfe machen wir diesen Unterschied zwischen dem Vorgestellten und dem Vorstellen, zwischen dem Gedachten als seelischem Inhalt und dem Vorstellen als seelischem Akt.
[*) Freilich enthält auch der Begriff des „Vorgestellten” eine Schwierigkeit. Hier ist stets nur der geistige Inhalt, nicht dessen Entsprechung in der Realität gemeint, an dessen Existenz wir, allem Konszientialismus zum Trotz, festhalten. Über diese erkenntnistheoretischen Fragen wird später zu sprechen sein.]
Denn das Empfundene, Vorgestellte, Gedachte (als geistige Inhalte) gehören erst in weiterem Kreis zu unserer Individualität, alles [15] das trägt zwar auch deren Stempel, ist aber doch von außen empfangen oder nach außen projiziert, während die Akte des Empfindens, Vorstellens, Wahrnehmens, Denkens, Urteilens, die uns alle nur als dumpfes Tätigkeits- oder auch Zwangs- oder Leidensgefühl bewußt werden, den innersten Kern unseres Individualitätserlebens ausmachen. Zuweilen freilich dringt dieses Ichgefühl gleichsam vor, färbt mit stärkeren Tönen alle Inhalte, wählt aus und verwirft. Das geschieht, wenn wir hassen oder lieben, wenn wir begehren oder abstoßen, kurz in unseren emotionalen und Willenserlebnissen. Gewiß, auch dort, wo wir wahrnehmen und denken, ist dies emotionale und wollende Ich am Werke, aber es hält sich im Hintergrunde; in den Gefühls- und Willenserlebnissen im besonderen Sinne nimmt es offen die Herrschaft an sich. Je bewußter wir fühlen und wollen, um so deutlicher tritt das Individualitätsgefühl hervor, um so mehr sind wir wir selbst. Das im Denken und Empfinden nur als dumpfes Tätigkeitsgefühl sich äußernde Ichgefühl nimmt hier deutlichere Gestalt an, tritt selbstherrlicher heraus. Obwohl auch das Lieben und Hassen, das Begehren und Fliehen sich auf „Inhalte” beziehen, sind diese doch als getrennter von unserem Ich erlebt als beim Denken und Vorstellen. Diese Inhalte sind um so reiner, je „objektiver” sie sind, je weiter unsere Individualität zurücktritt, wobei ich bemerke, daß ein ganz „objektives” Denken oder Vorstellen im Bereich des Bewußtseins nicht vorkommt, daß die Seele überall, wo sie wahrnimmt oder denkt, zugleich fühlt und will.
Genug! Wir spüren das unmittelbare Individualitätsbewußtsein am stärksten in allen emotionalen Erlebnissen, es ist aber, obschon zurücktretend, als Tätigkeitsbewußtsein auch in allen geistigen Akten lebendig.
Man bedenke bei allem, daß hier nur vom unmittelbaren Bewußtsein die Rede ist, nur von dem in jedem Augenblick einzigen Erlebnis, das aus dunklen Tiefen aufquillt, in jedem Momente wechselnd und zerrinnend, um neuen Gebilden Platz zu machen. In allen diesen Augenblicksbildern ist jenes Indi[16]vidualitätsbewußtsein vorhanden, sei es als Hintergrund im scheinbar „reinen” Denken, sei es als Vordergrund, wenn es als Wille oder Affekt auftritt.
Ein merkwürdiges Etwas, dies unmittelbare Individualitätsbewußtsein! Eher ist das Flimmern eines Blitzes auf tanzendem Bache zu greifen als das quirlende Kommen und Fliehen, Vor und Zurück, Hin und Her dieses Ichbewußtseins, das doch niemals fehlt. Und trotzdem wieder ist es nicht immer etwas ganz Neues! Denn es fügt sich dem rückschauenden Erinnern zusammen zu einer Kette, es perseveriert in den folgenden Augenblicken und geht als Gedächtnisinhalt ein in späteres Erleben, wie es von diesem auch als bedingend empfunden wird. Es ist wie der gerade erklingende Akkord einer vielstimmig vorüberrauschenden Symphonie, der auch nicht zufällig ertönt, sondern sinnvolle Folge ist aus früheren Akkorden und Vorbereitung für kommende. Es ist unberechenbar und doch bedingt und bedingend.
Kein Wunder, daß man in diesem Dilemma einen Ausweg gesucht hat und diese bunten Momente zu tieferer Einheit zusammenzufügen bestrebt war. So wechselnd und flimmernd sie schienen, man hat sie doch zur Kette gereiht und für die strudelnden Wellen, von denen wir nicht wissen, woher sie in uns auftauchen, ein festes Strombett gesucht. Man hat Umschau gehalten nach einer Einheit, die selbst wie jene Erlebnisse der Bewußtseinswelt angehören sollte, und hat sie gefunden in der „Seele”. Man hat ihnen auch einen Träger aus der physischen Welt gegeben und hat als diesen den Leib angesprochen.
Ehe ich zu diesen Substraten des unmittelbaren Ichbewußtseins übergehe, jedoch noch einige weitere Worte zu seiner Charakteristik. Es ist nicht nur Ich-, es ist Individualitätsbewußtsein, weil wir es als etwas durchaus Einziges, von allem in der Welt Verschiedenes erleben. Diese Einzigkeit ist nicht durch Reflexion entstanden, sie ist so unmittelbar wie das ganze Erlebnis selbst. Das Ichbewußtsein fühlt sich als unterschieden von der ganzen Welt, als selbständig ihr gegenüber[17]stehend. Dies Sichunterscheiden gehört zu seinem Wesen. Es mag in sich noch so sehr wechseln, der Gegensatz zur Außenwelt bleibt. Es kann, wie ich später zeigen werde, Teile der Außenwelt in sich einbeziehen und sie „mein” nennen, aber ein Gegensatz zum Nichtmein bleibt und innerhalb der Sphäre des „Mein” wieder das speziellere Ichbewußtsein.
Es fühlt sich auch als unterschieden von allen anderen Ichen. Und zwar nicht nur numerisch, auch qualitativ. Wir können uns nicht vorstellen, daß andere genau dasselbe fühlen wie wir selbst. Im Gefühl erlebt die Individualität sich selbst als wesentlich unterschieden von der Außenwelt wie von anderen Individuen. Trotzdem vermeint niemand, im Gefühl die ganze Individualität zu erleben, es ist nur eine Erscheinungsweise, die auf irgendein Tieferliegendes hinweist.
4. Die physische Erscheinungsweise der Individualität: der Leib.
Zwei Möglichkeiten bestehen, so sahen wir, um den kaleidoskopartig vorüberhuschenden Bewußtseinserlebnissen Halt zu geben: einerseits konnte man sie dem Körper, an den sie auf jeden Fall irgendwie geknüpft werden mußten, als bloße Begleitvorgänge zuordnen, andererseits konnte man, da die Verschiedenheit des Leibes von den Bewußtseinserscheinungen unüberwindbare Schwierigkeiten schuf, ein synthetisches Element eigener nichtkörperlicher Art ihnen unterbauen: die Seele.
Zunächst der Leib! Daß unsere Bewußtseinserlebnisse, auch das Individualitätsbewußtsein, aufs engste an ihn geknüpft sind, ist unmittelbares Erlebnis. Die meisten Veränderungen des Leibes strahlen ins Bewußtsein aus; und dieses scheint, besonders als Wille, auf den Leib zu wirken. Kein Wunder, daß man zu der einfachen Lösung kommen konnte: das Ich, die Individualität sei einfach der Leib! Und in gewisser Einschränkung ist das richtig: Der Leib ist zwar nicht die ganze Individualität, aber er ist eine Erscheinungsweise der Individualität!
Das Verhältnis des Bewußtseins zum Leibe ist nicht ohne seltsame Paradoxien. Das Bewußtsein kann den Leib mit den Sinnen wahrnehmen wie die übrige Außenwelt, und doch nimmt [18] es die übrige Außenwelt, ja den Leib selber nur wahr durch Vermittlung eben dieses Leibes, Daneben steht es mit dem Leibe noch in weiteren Beziehungen, die es mit nichts anderem in der Welt verbinden. Nicht nur die äußeren Sinne, auch die innerkörperlichen Sinne, wie die Gleichgewichts- und Organempfindungen, verknüpfen es mit dem Leibe. Er gehorcht wie nichts sonst in der Welt unseren Willensimpulsen. Auch unsere Gefühle sind eng verbunden mit Zuständen des Leibes; ist der Leib ermüdet, ändert sich das Bewußtsein und auch das ganze Ichgefühl. Und doch erscheint das Bewußtsein als etwas dem räumlich-physischen Leibe ganz Entgegengesetztes, so sehr, daß zuweilen der Leib als ein zu Bekämpfendes, zu Unterdrückendes, ja Abzustoßendes gilt (so dem asketischen Christentum).
Bei aller Nähe, bei aller Verknüpftheit zwischen Bewußtsein und Leib ist dieser jenem doch fremder als irgendein Ding in der Welt. Nur auf weiten Umwegen erlangt der Geist ein Wissen um das, was innerhalb der Haut seines Leibes vor sich geht. Was er unmittelbar erfährt, ist wenig: nur dumpfe Organempfindungen und Gefühle künden ihm von dem pochenden Herzen, dem verdauenden Magen, dem arbeitenden Gehirn. Was diese Organe, die da unablässig im Dunkel wirken, eigentlich sind, kann er nur sehr mittelbar erschließen. Ich kann Sterne erblicken, von denen das Licht viele Jahre braucht, um zu mir zu gelangen, niemals kann ich mein eigenes Herz, meine eigene Milz, mein eigenes Hirn sehen. Und selbst was ich mittelbar erfahre über deren Leben, ist recht kärglich. Über wenig Dinge in der Welt tappen wir so im Dunkeln als gerade über jene Organe und Vorgänge, durch die wir erkennen und denken. Innerhalb des weißen Ledersackes unserer Haut webt ein geheimnisvolles Leben, das wir selbst sind und das doch unserem Selbst ewig fremd ist. Da bauen sich Zellen an Zellen und leben ihr eigenes Dasein, da rieselt das rote Blut durch dunkle Adern, und in ihm wirken, uns unbekannt, winzige Wesen zu unserem Wohl, werden geboren und sterben, nähren sich und kämpfen Schlachten [19] aus, alles das gehört zu uns, alles das ist Teil unserer Individualität! Unser Bewußtsein gleicht einem Passagier in einem Wagen, der von einem von ihm nicht gebauten und von ihm nicht gekannten Mechanismus vorwärts getrieben wird, und nur ein wenig Steuerung scheint all sein Vermögen über dieses selbsttätige Fahrzeug. Und doch wird unser Bewußtsein mindestens ebensosehr gesteuert als unser Bewußtsein steuert.
Gewiß ist dieser unser Leib vom Bewußtseinsstandpunkt gesehen Außenwelt, und doch ist er dieser Außenwelt wiederum entgegengesetzt. Seine stärkste Tendenz, die Selbsterhaltung, sucht diese Selbständigkeit der Außenwelt gegenüber zu wahren. Sein Dasein ist beständige Auseinandersetzung mit dieser Außenwelt.
Und seine Unterschiedenheit von der Außenwelt geht in die Tiefe. Selbst von anderen Leibern ist er unverwechselbar getrennt. Nur grobe Augen sehen Doppelgänger, nur in schlechten Komödien werden Zwillinge verwechselt. Die Kriminalpraxis erkennt jeden Menschen unverwechselbar am Abdruck des vordersten Fingergliedes. Für andere Methoden könnte jeder sonstige Teil des Körpers als ebenso sicheres Merkmal der Unterscheidung gelten. Es gibt in der ganzen Welt nicht zwei Regenbogenhäute, nicht zwei Fingernägel, nicht zwei Nackenlinien, die sich völlig gleichen. Jede Stimme klingt anders, jede Ausdünstung hat ihren besonderen Geruch, jede Haut fühlt sich auf unterscheidbare Weise an. Prinzipiell müßte es möglich sein, all diese Dinge in System zu bringen wie die Fingerabdrücke, und niemals würde sich Gleichheit ergeben. Und mit dem Körperinnern ist's nicht anders. Jedes Herz pocht seinen besonderen Rhythmus, der in sich nie gleich ist und doch von allen anderen unterschieden. Jedes Blut ist verschieden zusammengesetzt, jede Niere scheidet bei gleicher Nahrung verschiedenes Harn aus. Alles ist individuell: der höchste Gedanke wie das schmutzige Exkrement. Und in den selbst im Mikroskope noch ähnlichen Samentierchen lebt unsere ganze Individualität unverwechselbar [20] weiter und wirkt in Kindern und Urenkeln neue Wesen, die den Zusammenhang mit uns nicht verleugnen. Nichts alberner als das Wort des Ben Akiba, es sei alles schon dagewesen! Nichts war da, alles ist neu, und die ganze Welt ist neu in jedem Augenblick. Nur unsere stumpfen Sinne lassen uns von Gleichheit und Ähnlichkeit reden.
Und doch ist der Leib nicht die ganze Individualität, auch er ist nicht das Wirkende, sondern ein Gewirktes, eine Erscheinungsweise. . .
5. Das psychische Substrat der Individualität: die Seele.
Man muß sich über den Begriff der Seele verständigen. Der populäre, vom Animismus primitiver Völker bis in die Kulturreligionen hinaufreichende Begriff von der Seele als einer „immateriellen Materie”, einem unräumlichen und doch in die Räumlichkeit eingehenden Wesen ist ein naiver widerspruchsvoller Halbmaterialismus. Um diese Widersprüche zu vermeiden und zugleich der Unmöglichkeit, Bewußtseinsvorgänge mit gewissen Körperprozessen gleichzusetzen, aus dem Wege zu gehen, hat die moderne Psychologie einen Seelenbegriff geschaffen, der ein rein fiktiver Unterbau für die kaleidoskopartig vorübergleitenden Bewußtseinsvorgänge ist. Diese Seele steht mit dem Leibe in Konnex, ist aber prinzipiell unleiblich, sie ist Trägerin des Bewußtseins, aber selber unbewußt, gedachtes Gefäß für die flutenden Inhalte, kurz eine Fiktion, d. h. eine, von Widersprüchen keineswegs freie Denkbarmachung des unzugänglichen Wirklichen, die aber praktisch brauchbar ist.
Praktisch brauchbar aber ist der Seelenbegriff trotz seiner Widersprüche. Er gestattet, die Bewußtseinserlebnisse als Äußerungen bestimmter Funktionen zu denken. Verwandte Arten des Erlebens werden als Äußerungen eines „Vermögens”, einer „Funktion”, einer „Disposition” oder wie die Ausdrücke lauten, begriffen. Ausdrücke, die doch alle nur Bezeichnungen für rein fiktive Gebilde sind, für fiktive Teile der fiktiven Seele überhaupt. In der Hauptsache lassen sich so die folgenden Funktionen der Seele unterscheiden:
[21]
1. Das Empfinden
2. Das Vorstellen
3. Das Denken
zusammen die geistige Sphäre der Seele.
4. Das Fühlen
5. Das Wollen
[zusammen] die emotionale Sphäre der Seele.
Die Einteilung schwankt. Manche Psychologen lassen noch die eine oder andere Gruppe, etwa das Denken oder das Wollen, herausfallen, weil sie glauben, sie als ableitbar aus anderen Funktionen erweisen zu können. Wie dem auch sei: wir halten jede Einteilung für inadäquat und nur fiktiv, und bei solchen Fiktionen entscheidet allein die Brauchbarkeit. Wir kennen nur die Äußerungen der Seele; was sie selbst ist, ist nicht einmal vorzustellen, selbst ihre Existenz bleibt hypothetisch. Unsere psychologische Terminologie ist eine Chiffreschrift.
Wie wir uns aber auch die Seele, das dauernde Substrat der vorüberhuschenden Bewußtseinserscheinungen denken mögen, auf keinen Fall dürfen wir die Seelen als gleich vorstellen. Wenn die allgemeine Psychologie so tut, als gäbe es eine Normalseele, so ist das eine weitere, nachweisbar unrichtige Fiktion, die ebenfalls höchstens praktisch zu rechtfertigen ist. Zu den ganz wenigen sicheren Aussagen, die sich über die hypothetische Seele machen lassen, gehört die, daß jede Seele von den anderen verschieden ist. Ob Seelen irgendwelcher Art existieren, wissen wir nicht: wenn sie existieren, müssen wir sie als unendlich verschieden denken. Ein Milieutheoretiker, der das leugnen wollte und behauptete, irgendein Säugling, am 28. August 1749 der Frau Rat Goethe als Kind untergeschoben, wäre später zu dem Dichter des Faust geworden, würde sich selbst lächerlich machen.
Die neuere Richtung der Psychologie, die differentielle Methode, hat darum ihr Interesse nicht so sehr auf die nur fiktive Gleichheit der Seele als auf ihre Unterschiedenheit gelenkt, und wird so fruchtbarer als jene ältere Richtung, die stets nur eine künstlich konstruierte Normalseele auseinander[22]nimmt. Die differentielle Methodik ordnet die Seelen nach dem Prävalenzverhältnis der Funktionen, und zweifellos ist das Verfahren praktisch ergiebig.
Nur erschöpft es die Fülle des Daseins nicht im entferntesten. Die Verschiedenheit reicht in ganz andere Tiefen hinab! Nicht nur die einzelnen Bewußtseinserlebnisse sind bei den verschiedenen Individuen verschieden. Wir müssen auch die seelischen Funktionen, als deren Äußerungen die Einzelakte gedacht sind, verschieden denken. Jeder Mensch hat seine ganz spezifische Weise zu lieben und zu hassen, zu empfinden und zu denken. Der Gegenstand dieser Akte reicht nicht aus, die Verschiedenheiten zu erklären: Selbst wenn zwei Männer dieselbe Frau lieben, tun sie es jeder auf seine Weise. Daß innerhalb des auch in jedem einzelnen Menschen wechselnden Gefühls doch eine gewisse typische Besonderheit bleibt, das eben berechtigt uns, diese Gefühle als Äußerungen derselben Funktion zu fassen. Gerade die relative Ähnlichkeit der Erlebnisse jedes Individuums ist ja wesentlich, damit es sich dauernd als Einheit fremden Individualitäten entgegengesetzt empfinden kann.
Mag also die Seele auch nur fiktiv sein, sie ist jedenfalls eine Erscheinungsweise, in der wir die Individualität zu denken pflegen. Die allerdings nur relative Einheit der Individualität kommt nur dadurch zustande, daß wir die chaotisch flutenden Augenblickserlebnisse in ihrer Unterschiedenheit zusammenordnen und ihnen die Seele als Substrat unterbauen, die Seele, die jedoch stets als ganz individuell zu denken ist.
Aber auch sie ist, wie wir sie auch denken, nur eine Erscheinungsweise der Individualität, niemals diese selbst, nur ein Gleichnis.
6. Der geistige Besitzstand der Individualität: das „Mein”.
Wenn ich die „Inhalte” den „Akten”, das Erlebte dem Erleben selbst entgegensetzte und nur den erlebenden Akt als individuell gelten lassen wollte, so muß ich das nunmehr korrigieren; in weiterem Sinne gehören auch die erlebten Inhalte zur Individualität. Nicht nur wie ich etwas er[23]lebe, auch was ich erlebe, ist grundsätzlich von allem nicht zu meiner Individualität Gehörigen verschieden. Ich kann die Individualität auch als erlebende Seele plus erlebtem Inhalt ansehen. Ich nenne diese Erscheinungsweise, die alles von uns Erlebte umspannt, den Individualitätsbesitz oder das Mein.
Ich spreche von meiner Wahrnehmung jenes Hauses, von meiner Vorstellung von München, von meinem Begriff von Gott. Alle diese Dinge als Bewußtseinsinhalte gehen ein in meine Individualität, sie sind prinzipiell unterschieden von jeder anderen Vorstellung oder jedem anderen Begriffe von den „gleichen” Objekten. Man hat den Versuch gemacht, denselben Vorwurf von mehreren Malern zu gleicher Zeit malen zu lassen, und hat dann nicht mehrere gleiche, sondern sehr verschiedene Bilder erhalten. Könnten verschiedene Menschen ihre Vorstellungen und Begriffe miteinander vergleichen wie dort die Bilder, so würden sie noch viel größere Unterschiede wahrnehmen. Wie unendlich verschieden ist meine Vorstellung von München, wo ich jahrelang gelebt habe, von der Vorstellung eines Mannes, der die Stadt drei Tage auf einer Sommerreise gesehen hat, oder gar von der eines Menschen, der nie dort war! Und auch jeder langjährige Einwohner von München hat ein völlig anderes Bild jener Stadt als ich. Was mir im Vordergrund steht, ist für ihn Nebensache oder gar nicht vorhanden. Selbst die Begriffe, die nach der Logik gleich sein sollen, sind unendlich verschieden. „Gleiche Begriffe” sind ideale Konstruktionen; die psychologische Wirklichkeit kennt nur unendliche Verschiedenheit, aus der allerdings gewisse Übereinstimmungen hervortreten, die in der Praxis von Gleichheit zu reden erlauben.
Aber nicht nur die Formen des einzelnen seelischen Inhaltes, auch die Auswahl im ganzen ist individuell verschieden, auch innerhalb dieser wieder bedingt größere Nähe oder Ferne zu dem erlebenden Ich als Mittelpunkt Verschiedenheiten. Jeder Mensch hat nicht nur einen eigenen Vorrat von Kenntnissen und Erfahrungen, er wertet sie auch, soweit sie gleich oder [24] ähnlich sind, verschieden. Innerhalb des „Mein” bilden bei jedem Menschen die persönlichen Erinnerungen einen gewissen, jeweils besonderen Grundstock, um den sich aller andere Inhalt gleichsam in weiteren Kreisen herumgruppiert. Die Gefühlstöne verteilen Lichter und Schatten in dieser bunten Landschaft und machen sie noch bunter.
Alles das aber geschieht im Rahmen dieser Erscheinungsweise, nicht außerhalb der Individualität, sondern in ihr. Die Gesamtheit seiner Kenntnisse und Überzeugungen, seine Weltanschauung, ist für den Einzelmenschen nicht äußerlich umgeworfenes Gewand, sondern Teil seiner Individualität. Das Was wirkt, wie später zu zeigen sein wird, zurück auf das Wie. Der Mensch formt nicht nur seine Erfahrungen, auch Erfahrungen formen den Menschen. Jedenfalls ist alles „Mein” eine Erscheinungsweise der Individualität, wenn auch keineswegs die Individualität selber. Diese ist für alle Einzelinhalte der Beziehungspunkt, dessen Realität erst später erörtert werden soll.
7. Der zusammenfassende Begriff von der eignen Individualität: das Innenbild.
Alle bisher besprochenen Erscheinungsweisen der Individualität sind unzweifelhaft nur „Teile” oder „Seiten” von ihr. Vielleicht bekommen wir jedoch die Gesamtheit zu fassen, wenn wir sie alle zusammennehmen, wenn wir eine Gesamtvorstellung oder einen Gesamtbegriff von der flutenden Vielheit, die wir bisher beleuchteten, bilden? In der Tat tun wir das beständig, wir machen uns ein Bild von uns selbst, in das mehr oder weniger deutliche Züge unseres Leibes, ein vager Begriff unserer seelischen Veranlagung, ein ungefährer Überschlag über unseren geistigen Besitzstand und, alles durchfärbend, die Spiegelung unserer augenblicklichen Stimmung eingehen. Ich nenne diese Gesamtvorstellung das Innenbild der Individualität. Das von ihm wesentlich verschiedene Außenbild, die Spiegelung des Innenbildes im Geiste anderer Individuen, wird später zu besprechen sein.
Dieses Innenbild ist nicht unmittelbar erlebt wie das Ich[25]gefühl, es ist mittelbar, durch Abstraktion entstanden. Seine Umrisse sind nicht immer klar, es geht meist nur als vager Schemen durch unsere Gedanken, von allem anderen nur durch die besonders lebhafte Gefühlsanteilnahme unterschieden. Zuweilen, nach Bedürfnis, nimmt es festere Formen an, ist jedoch auch dann nicht leicht zu fassen. Der berühmte Imperativ „Erkenne dich selbst!” enthält eine schwere, ja eine unmögliche Aufforderung. Denn er verlangt nicht mehr und nicht weniger, als daß eine unendliche, beständig sich wandelnde Mannigfaltigkeit in feste Begriffe gebannt werde, eine Aufgabe nicht weniger schwer als die, einen flutenden Bergbach in einen Becher zu fassen. Aber der Mensch versucht es doch beständig und formt wenigstens ein symbolisches Bild, eine ungefähre Repräsentation.
Dieses Innenbild taucht auf, wenn ich in irgendeinem betonten Sinne „Ich” sage, wenn ich sage, ein anderer habe „mich” beleidigt, oder „ich” würde heute abend ins Theater gehen. Es ist jedoch nicht etwa bloß intellektueller Inhalt, sondern enthält starke Wertbetonung. Wir können uns als bedeutend oder unbedeutend einschätzen, aber irgendwie fällt immer auf diese Ichvorstellung ein besonderer Akzent.
In gewissem Sinne ist das Ichbild immer schematisiert. Es faßt zusammen und vereinfacht. Es kann sogar gewisse überindividuelle Züge sehr stark betonen, so wenn ich mich nicht bloß als Individualität, sondern als Deutscher, als Mensch vorstelle und so Individuelles verallgemeinere.
Trotzdem bleibt das Innenbild der Individualität individuell genug. Jeder Mensch hat seine Weise, sich selbst zu denken. Die Weltdame stellt sich selbst als körperliche Schönheit vor, der Gelehrte als geistige Potenz mit reichem Wissensbesitz, der Fromme als „gute” oder „sündige” Seele. Und auch die Gefühlsbetonung ist verschieden. Jeder hat seine Weise, sich selbst zu fühlen, und dieses Selbstgefühl, das nicht zu verwechseln ist mit dem vorüberhuschenden dumpfen Ichgefühl, ist ein wesentlicher Bestandteil des Innenbildes. Ganz ohne Selbstgefühl kann kein Mensch leben. Auch der [26] zerknirschteste Sünder hat doch meist noch ein Wertbewußtsein ob dieser Zerknirschung, Und irgendwie verknüpft jeder Mensch mit seinem Innenbild das Gefühl der Unersetzlichkeit, irgendwie fühlt jeder wie jener Nachtwächter der alten Geschichte, der auf seinem Totenbette sein Dorf bedauerte, daß es nie wieder einen solchen Nachtwächter bekommen würde.
„Objektiv” jedenfalls in irgendeinem Sinne ist niemandes Innenbild. Bewußt oder unbewußt sträuben wir uns sogar gegen ein ganz wahres Bild. Wenn uns die „Wahrheit” über uns selbst gesagt wird, laufen wir in der Regel zum Kadi oder fordern den Wahrheitskünder zum Duell. Vor niemand pflegt der Mensch so sehr zu lügen, zu posieren, sich schöner zu machen als vor seinem Spiegel, d. h. vor sich selbst. Und die sich das nicht eingestehen, tun es vielleicht am meisten. Auch das Gegenteil, die Selbstverkleinerung, kommt vor. In gewissen Gemütszuständen sehen wir uns selber kleiner und schwächer, als wir anderen gelten. Ungetreu, unobjektiv aber ist unser Innenbild immer, schon darum, weil man eine Linie nicht durch einen Punkt wiedergeben kann. Unser Innenbild ist Maske, Rolle, und es steckt ein tiefer Sinn darin, daß das lateinische Wort persona, das etwa den Individualitätsbegriff meint, seiner etruskischen Urbedeutung nach eben die Maske des Schauspielers bedeutet.
Dieser Charakter des Innenbildes als Maske oder Rolle, wobei zunächst keinerlei Nachdruck auf der Absicht der Irreführung bei der Maskierung liegen soll, hat noch tiefere Wirkung. Das Innenbild ist nicht ein abstraktes Abbild, sondern ist ein wirkender Komplex, der unsere ganze Lebenshaltung beeinflußt. Wir spielen die Rolle, in der wir uns selber sehen, mögen wir es wissen oder nicht. Die meisten Menschen sind Schauspieler ihres eigenen Ideals, und eben auf dieser Fähigkeit, gleichsam aus einer übernommenen Rolle heraus zu leben, beruht die später zu besprechende Möglichkeit, die Individualität zu beeinflussen.
Wie unendlich kompliziert das ganze Problem ist, geht auch aus jener Erwägung hervor, ob sich der wahre Mensch [27] in dem offenbare, was er wirklich ist, oder in dem, was er sein möchte! Ich werde später, wo ich von der Spaltung der Individualität zu sprechen habe, auch diese Frage erörtern, ich möchte hier nur darauf hinweisen, daß auch ein ganz falsches Innenbild das Handeln und Leben tiefgreifend beeinflussen kann und deshalb auch zur Individualität gehört. Zur Eigenheit des größenwahnsinnigen Individuums gehört eben das falsche Innenbild, das es von sich hat.
Auf keinen Fall jedoch ist das Innenbild, die „Ichrolle”, das innerste Wesen der Individualität. Sie ist Zusammenfassung, aber durch Zusammenfassung von mehreren Aspekten erhalte ich niemals den Gegenstand selbst, sondern eben nur einen komplexen Aspekt. Daß wir uns dessen nicht immer bewußt sind, daß wir glauben, uns selbst zu kennen, weil wir uns eine Vorstellung von uns selber machen, gehört zu den vielen Seltsamkeiten unseres an Täuschungen so reichen Daseins.
8. Die Vorstellung anderer von unserer Individualität: das Außenbild.
Aber nicht nur wir selbst formen ein Individualitätsbild von uns, auch andere tun das. Unser Ich erscheint nicht bloß als Innenbild, sondern auch als Außenbild. Ist das nun noch zur Individualität gehörig? Ohne Zweifel, wenn anders die Farbe, die wir an jenem Gegenstand erblicken, dessen Eigenschaft, ein Teil seines Wesens ist! Denn die Farbe ist nur im Beschauer, gehört also zum Außenbild; im Gegenstand selbst liegen nur Anhalte für dies Erleben.
Aber noch in tieferem Sinne gehört das Außenbild zur Individualität; denn es wirkt auf das Innenbild und damit auf die ganze Lebenshaltung zurück. Die Einordnung unseres Ich ins soziale Leben ist nur durch Berücksichtigung der Außenbilder möglich. Wir spiegeln uns gleichsam in den anderen. Unser „Selbst” bewußtsein wurzelt, so widerspruchsvoll das klingt, zum guten Teil im Bewußtsein anderer von uns. Nirgends fühlt sich der Mensch sicherer und freier als in Kreisen, in denen man von seiner Überlegenheit und Sicherheit überzeugt ist. Der Reiz des Ruhmes liegt in dieser Rückstrah[28]lung des Außenbildes auf das Innenbild. Viele Dichter sind nur Schauspieler ihres Ruhms, viele Könige nur Schauspieler ihrer Macht. Sie geben sich nicht nur als das, für was man sie hält, sie werden es bis zu gewissem Grade, soweit eben der gute Schauspieler stets das wird, was er vorstellt. Die Wirkung der Individualität nach außen gehört zu ihr wie die Strahlen zum Stern.
Was oben vom Einfluß des Innenbildes auf das Leben und Handeln gesagt wurde, gilt auch vom zurückgestrahlten Außenbild. Indem wir die uns zugeschriebene Rolle übernehmen, handeln wir aus ihr heraus. Der Reiz der Maskerade liegt nicht zum wenigsten in der Rückwirkung des Außenbildes aufs Innenbild. Viele Menschen spielen ihr ganzes Leben lang eine Rolle, zu der andere sie zwingen. Wer als Fürst geboren ist, muß sein ganzes Leben lang das Fürstentum repräsentieren und darf nur in seltenen Augenblicken Mensch sein. Das Außenbild ist oft stärker als das Innenbild. Darin liegt die ungeheure Macht des Kostüms, das ein bestimmtes Außenbild bewirkt und so zum sozialen Zwang wird, indem das Außenbild zurückwirkt. So zwingt die Uniform dem Offizier eine bestimmte Haltung auf, die ihm, wie man zu sagen pflegt, zum „zweiten Ich” wird.
Erscheint nun im Außenbild die wahre Individualität? Ist es ein ähnliches Bild? Nun, es gelten alle Schwierigkeiten, die auch fürs Innenbild galten, vor allem die Unmöglichkeit, eine beständig sich wandelnde Wesenheit in festem Bilde zu fassen. Fällt die Überbewertung durchs eigene Subjekt weg, so tritt auf der anderen Seite eine viel geringere Kenntnis der Einzelheiten beim Außenstehenden hinzu. Die Außenbilder sind meist eher Karikaturen als getreue Photographien, sie halten einen oder einige bezeichnende Züge scharf, ja überscharf fest und kümmern sich nicht um den Rest. Sie dienen meist mehr der Erkennung als der Erkenntnis.
Das kompliziert sich ins Hundertfache dadurch, daß jeder Mensch ein anderes Außenbild von unserem Ich hat. Schon rein leiblich sieht uns fast jeder anders, was sich darin offen[29]bart, daß man sich über die Ähnlichkeit von Porträts in der Regel niemals einigen kann, weil jeder ein besonderes Außenbild vom andern hat. Bei dem viel schwerer zu gestaltenden Außenbild von unserem geistigen Ich wird diese Verschiedenheit noch unendlich größer. Wir würden, könnten wir unser Bild in der Seele selbst unserer Nächsten erblicken, uns kaum erkennen. Wenn unsere Bekannten Spiegel sind, so sind sie doch alle Zerrspiegel: die Bilder, die unsere Freunde sich von uns machen, mögen geschmeichelt sein, entstellt sind auch sie. Ein tiefer Sinn liegt in dem Volksspruch: „Der Horcher an der Wand, hört seine eigne Schand.” Fast jeder würde verwundert, erschreckt und empört sein, könnte er hören, was seine besten Bekannten unter sich von ihm sprechen. Molieres Menschenfeind mußte sich mit Notwendigkeit gesellschaftlich unmöglich machen, indem er offen aussprach, was er von den anderen dachte. Den Ruhm definiert ein geistreicher neuerer Romanschriftsteller als einen weitverbreiteten Irrtum über unsere Person.
Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, gleicht unser ganzes gesellschaftliches Leben einer tollen Maskerade oder besser noch jenem Fest des Märchens, auf dem ein böser Geist die Anwesenden so verzaubert hatte, daß keiner den anderen erkannte. Wir glauben uns zu kennen, aber wir täuschen bewußt oder unbewußt einander beständig. Wir wollen ja aber auch gar nicht ganz erkannt sein. Wir wollen in der Regel wertvoller und bedeutender wirken als wir sind. Wieder eine der merkwürdigen Paradoxien des Individualitätsbewußtseins: wir wollen, daß andere unserem Ich ihre Reverenz erweisen, aber nicht unserem wirklichen Ich, sondern einer Vergrößrung davon. Seltsam zu sagen: die meisten Menschen fühlen sich in ihrem Selbstbewußtsein geschmeichelt, wenn sie für etwas anderes gehalten werden als sie sind, etwa für Grafen oder sonst etwas Begehrenswertes. Wir wollen um unseres Selbst willen geliebt werden, aber doch nicht um unseres nackten Selbstes willen, sondern des geputzten! Und aller Putz gehört doch nur in sehr weitem Umkreis zu unserem Ich!
[30]
Sind also diese Außenbilder auch niemals ganz richtig, so sind sie doch auch niemals ganz falsch. Und vor allem gehören sie zur Individualität! Unser soziales Ich setzt sich zusammen aus diesen tausend Spiegelungen, in denen die Spiegel vielfach gar nicht das Original, sondern andre bereits getrübte Spiegelbilder widerspiegeln. Alles aber vereinigt sich, um das an sich schwer greifbare Ich noch mit weiterem Irrlichtglanz zu umgeben.
9. Die Objektivation der Individualität.
Noch einer letzten Erscheinungsweise der Individualität ist zu gedenken. Die Individualität setzt sich nicht bloß ins fremde Bewußtsein fort, sie prägt sich auch toten Dingen auf, sie objektiviert sich in ihren Leistungen, Deshalb spreche ich von der Objektivation der Individualität in ihren Werken.
Die Tatsachen sind bekannt. Niemand zweifelt daran, daß sich die Individualität Beethovens in seinen Symphonien, die Michelangelos in seinen Statuen, die Schillers in seinen Dramen objektiviere, und es ist ein Hauptbestreben fast aller Interpreten, solche Beziehungen zwischen Mensch und Werk aufzuzeigen. Aber nicht nur bei überragenden Persönlichkeiten ist das möglich, auch im täglichen Leben sagen wir: „Dieser Streich ist ganz N. N.”, „An dieser Handlung erkenne ich meinen Freund - !” Die Graphologie hat aus der Möglichkeit, in der Schrift den Charakter zu erkennen, beinahe eine Wissenschaft gemacht.
Ich will hier nicht erörtern, daß bei solchen Rückführungen aus den Objektivationen leicht Täuschungen unterlaufen können, insofern als das aus den Werken abstrahierte Bild sich später vor den realen Schöpfer stellt und dessen wahres Wesen ganz verdeckt. Wir sehen in den meisten Gestalten der Geschichte nicht die Menschen, die sie wirklich waren, als vielmehr diejenigen, die wir aus ihren Werken abstrahieren. Die legendäre Erscheinung verdrängt die wirkliche. Freilich wird in gewissem Sinne gerade die Legende später die wahre Wirlichkeit. Wirklichkeit im Ursinne des Wortes ist eben die Individualität nur, soweit sie sich objek[31]tiviert, soweit sie Wirkung, Werk geworden ist. Mögen die Bilder von Richard Wagner oder von Nietzsche, wie wir sie aus ihren Werken aufbauen, nicht ganz wahr sein, historisch wirklich, weil wirksam, sind nur sie allein. Jedenfalls dürfen wir, selbst wenn die Objektivation kein ganz exakter Abdruck der Individualität wäre, sie darum nicht abtrennen von der Individualität: sie gehört dazu wie die irrtümlichen Außenbilder, von denen wir oben sprachen.
Das Wesentliche bei allen Objektivationen des Ich ist in diesem Zusammenhang ihr Einzigkeitscharakter. Gewiß erstreckt sich das Bestreben nach Uniformierung, von dem später die Rede sein wird, gerade auf die objektiven Auswirkungen des Ich, aber sie gelangen doch kaum je zur vollen Unterdrückung des Individuellen. Wenn wir es mit unseren großen Sinnen nicht wahrnehmen, so ist das noch kein Beweis dafür, daß es überhaupt nicht da sei! Schon die größere oder geringere Leichtigkeit, mit der es zurückgedrängt werden kann, ist ein individueller Zug. Man darf z. B. neben dem „Ausdruck” des Individuellen, der in jedem Kunstwerk aufzeigbar ist, das daneben bestehende Bestreben, das Individuelle zu unterdrücken und einen „typischen” Stil auszuprägen, nicht übersehen, einen Stil, der durch die Rücksicht auf die typische Mentalität des aufnehmenden Publikums bedingt ist. Aber selbst dann spürt man noch unter dem typisierten Deckmantel das Individuum heraus.
10. Der Zusammenhang der Erscheinungsweisen.
Sieben verschiedene Erscheinungsweisen der Individualität habe ich aufgezeigt, ohne doch in einer derselben oder hinter ihnen allen eine Individualität an sich „als die eigentliche Individualität” zu finden. Muß damit nicht das Ganze auseinanderbrechen?
Nein! Nichts wäre falscher, als die inneren Zusammenhänge der Erscheinungsweisen, die uns gelegentlich schon auffielen, zu übersehen. So verschieden sie sein mögen, sie gehören doch zusammen wie die verschiedenen Aspekte eines vielseitigen Dinges, von denen jeder das Ganze repräsentiert. [32] Sie hängen ineinander wie die Glieder einer Kette, von denen man keines ergreifen kann, ohne die anderen mitzufassen.
Von welcher Seite wir an die Individualität herantreten, überall erschließt sich uns hinter dem ersten Aspekt auch die Gesamtheit der übrigen Erscheinungsweisen. Sie greifen in oft sehr merkwürdiger Art ineinander, und es sei, damit uns der Vorwurf, wir zerstückelten die Individualität gewaltsam, erspart bleibt, auf diese inneren Zusammenhänge besonders hingewiesen.
Gehen wir vom Leibe aus, der den meisten Menschen als konkreteste Repräsentation der Individualität erscheint, so ist er für den naiven Realismus zugleich der Behälter der Seele, des unmittelbaren Ichgefühls, des „Mein” und damit auch der Gegenstand des Innen- wie des Außenbildes und der Urheber der Objektivationen.
Ein Idealist wird lieber von der „Seele” ausgeben, die zugleich Substrat des Ichgefühls, des „Mein”, des Ichbildes ist, und für die der Leib entweder eine bloße Vorstellung oder eine Objektivation ist.
Von anderem Standpunkt wieder, etwa dem des Assoziationismus, ist das Ich nichts als die Summe seiner Empfindungen, Vorstellungen, Gefühle. Wer das Ich so betrachtet, geht von dem „Mein” aus, läßt jedes Substrat dafür wegfallen und sieht im Leibe nur dieselben „Elemente” in anderem Zusammenhang.
Wie andere Erscheinungsweisen voneinander abhängen und sich ergänzen, ist bereits angedeutet worden. Das Innenbild des Ich ist stark beeinflußt vom Ichgefühl, denn wenn wir uns gesund fühlen, was mit dem Leib zusammenhängt, so wächst unser Innenbild, das wiederum die Außenbilder beeinflußt und sich objektivieren kann. Andererseits beeinflußt unser, vom Außenbild stark abhängiges Innenbild auch das Ichgefühl. Haben wir äußeren Erfolg, fühlen wir uns freier und sicherer, was sich in der leiblichen Haltung ausprägt.
Derartige Zusammenhänge und die Verzahnungen der einzelnen Aspekte ließen sich noch weiterhin zahlreich nachweisen. [33] Die Tatsachen sind so bekannt, daß sie unschwer zu vermehren sind.
Gerade der Umstand aber, daß die Erscheinungsweisen alle zusammenhängen, keine einzige jedoch als das Zentrum aller übrigen angesehen werden kann, zwingt zur Vermutung, daß sie alle eben nur Aspekte eines tieferen Wesens sind, das sich in allen offenbart, ohne sich ganz zu erschließen. Es erwächst also die Frage nach diesem hinter allen Aspekten wirksamen Wesen als ein gesondertes Problem.
11. Die Einzigkeit als erstes Charakteristikum der Individualität.
Unter welchem Aspekt wir die Individualität betrachteten, immer erschien sie uns als singulär, einzig, in ihrer Gesamtheit keiner anderen gleich. Diese Einzigkeit der Individualität ist das erste Charakteristikum, das wir finden, und das die Individualität als irrational, d. h. in keine Identität mit anderen restlos eingehend, erscheinen läßt. Diese unendliche Fülle der Formen, die wir ja auch in der nichtmenschlichen Lebenswelt finden, ist von jeher als „wunderbar” empfunden worden und erweckt mit Recht immer wieder das Staunen der Philosophen, soweit sie nicht durch die Brillen ihrer logischen Schemata blind geworden sind für den Reichtum des Daseins.
Freilich ein Bedenken scheint unserer Behauptung, jedes Individuum sei einzig, entgegenzustehen: Ist es nicht ein vielgeglaubter Glaube, die Menschen auf niederen Kulturstufen hätten überhaupt keine Individualität, seien sozusagen nur Typen? Ja, hat man nicht sogar für Zeiten hoher Kultur wie das europäische Mittelalter ähnliches behauptet und die Individualität in ihrer Einzigkeit erst mit der italienischen Renaissance beginnen lassen?
Dieser Einwand ist schlecht begründet. Nur Bücherstubenweisheit kann glauben, die von der Kultur nicht beleckten Menschen seien gleichmäßig wie Fabrikware. Im Gegenteil, das Fabrikwarenhafte setzt erst mit der sogenannten Kultur ein. In gewissem Sinne ist bei primitiven Menschen die Eigenart freier und ausgeprägter entwickelt als bei Kulturmenschen. [34] Mit Recht haben gute Beobachter darauf hingewiesen, daß bei Naturvölkern alles viel mehr von der Geltendmachung der eigenen Persönlichkeit abhänge, nicht von allgemeinen Faktoren, wie sie mit dem Fortschritt der Kultur stärker hervortreten. Für denjenigen, der die Welt nur von weitem, auf einen Feiertag sieht, mögen die Menschen schablonenhaft aussehen; das liegt aber nur an der Kurzsichtigkeit des Beobachters. Hätte dieser Gelegenheit, mit ihnen zu leben, würden die Augen ihm aufgehen. Ist doch sogar bei Tieren die Individualität so ausgeprägt, daß Schäfer aus nach Tausenden zählenden Schafherden jedes Tier als Individualität kennen!
Das einzige, was man von jener Behauptung als richtig übernehmen kann, ist die Tatsache, daß zur Zeit der Renaissance die Singularität des Individuums als Wert empfunden wird, was früher nicht der Fall war. Wenn sich der vornehme Renaissancemensch als uomo unico oder uomo singolare empfand, so unterstrich er dabei mit einem Wertgefühl etwas, was als Tatsache auch früher bestand. Immerhin ist zuzugeben, daß diese Bewertung wesentlich ist und das Phänomen der Unterschiedenheit von anderen in neue Beleuchtung tritt. Man darf aber nicht verkennen, daß das, was den Kulturmenschen als singulär erscheinen läßt, oft gerade unindividuelle Dinge sind: die geistigen Einflüsse, die sich in seiner Seele kreuzen, die mannigfachen sozialen Beziehungen, in die er verflochten ist, kurz Dinge, die erst in sehr sekundärem Sinne zur Individualität gehören, während seine seelische Eigenart oft recht abgeschliffen ist. Man darf nicht übersehen, daß jene bewußte Unterschiedenheit von anderen, die in unserer Kultur als „Originalität” gilt, gar nicht original im Sinne von „ursprünglich”, d. h. jener natürlichen, irrationalen Einzigkeit ist, sondern ein Kunstprodukt, eine Rationalisierung mit umgekehrtem Vorzeichen. Jene Künstler, die ihren eigenen Stil suchen, die nicht original sind, sondern es bewußt erst werden wollen, sind am weitesten entfernt von jener „Ursprünglichkeit”, die uns hier als Charakteristikum der natürlich gewachsenen Individualität erschien. Die „Individualität” des [35] Kulturmenschen ist eine andere als die des Naturmenschen, aber nicht ein vollkommenes Novum. Bei aller Einzigkeit unterliegt jeder Mensch auf jeder Kulturstufe auch nichtindividuellen Formungen, wie später zu zeigen sein wird, und das einzige, was zugegeben werden kann, ist, daß das Verhältnis des Individuums zur Rationalisierung auf verschiedenen Kulturstufen verschieden ist.
Eine besondere Färbung hat das Individualitätsproblem neuerdings durch Nietzsche erhalten, der einen Rangunterschied zwischen den Individuen als philosophisches Prinzip eingeführt hat. Diese Anschauung, die historisch unter dem Einfluß der Renaissancemenschenindividualität erblüht ist, führt sozusagen ein dynamisches Moment ein, indem sie nur die starke Individualität als solche gelten lassen will. Indessen ist für uns die Stärke der individuellen Lebenspotenz nur eine Unterschiedenheit neben anderen, und zudem ist das, was von außen gesehen als Stärke erscheint, oft etwas ganz Unindividuelles, das nur dadurch bedingt ist, daß der historische Zufall einer Individualität Gelegenheit gab, ihre Potenz zu entfalten, eine Gelegenheit, die anderen versagt war, weshalb sie trotz vielleicht größerer individueller Anlagen im Schatten blieben.
Überhaupt nicht als Individualismus in meinem Sinne kann jene, besonders bei Nationalökonomen und Soziologen vorkommende Auffassung gelten, die den Einzelmenschen ohne Rücksicht auf seine Qualität dem Staate, dem Kollektivum, gegenüberstellt. Ich nenne diese Auffassung den numerischen Individualismus, weil das Individuum hier nur als Nummer fungiert und gerade von dem Wesentlichen, der qualitativen Unterschiedenheit abstrahiert wird. Eine Theorie, die jedem einzelnen Staatsbürger ohne Rücksicht auf seine Unterschiedlichkeit in gleicher Weise ein Recht der Allgemeinheit gegenüber erkämpfen will, wie das der Sinn etwa des alten Manchestertums war, kann ebensogut als Verneinung denn als Bejahung der Individualität angesehen werden.
[36]
II. Kapitel
Die Veränderungen der Individualität
1. Die Zeit als Faktor der Individualität.
Von welcher Seite wir bisher die Individualität anschauten, niemals haben wir die Zeit als wesentliches Moment des Begriffs genommen. Und doch ist sie ein unerläßliches Charakteristikum jeder Art von Wirklichkeit, von dem die herkömmliche Logik gewaltsam abstrahiert. Denn die Individualität "ist" nicht, sie geschieht. Sie ist um so mehr ein in bestimmten Beziehungen stehendes Nebeneinander von Erscheinungen als vielmehr ein sich änderndes Nacheinander. Wir müssen uns, wollen wir die Individualität wirklich philosophisch erfassen, daran gewöhnen, unser Selbst nicht als etwas Blockbildendes, Festes, Substantielles zu denken, sondern als etwas Gleitendes, Fließendes, beständig in Wandlung Begriffenes.
Die volkstümliche Meinung trägt dem nur insoweit Rechnung, als sie die individuelle Wandlung in einen festen Schematismus zwängt. Das Individuum bis zum Mannesalter wird als in Vorbereitung begriffen, das Individuum im Greisenalter als etwas Gewesenes angesehen, so daß in der Mitte das „wahre Sein” ruhte. Philosophisch betrachtet ist das falsch. Selbst wenn man die objektive Leistungsfähigkeit als zureichenden Maßstab zugeben würde, müßte man eingestehen, daß der physische Höhepunkt (mit Einschluß der geschlechtlichen Potenz) keineswegs mit dem geistigen Höhepunkt zusammenfällt, daß das Individuum intellektuell später kulminiert als physisch und emotional. Während nach Aussage von Sportsleuten der Mensch physisch zwischen 24 und 28 Jahren auf dem Gipfel ist und dann bereits ein Abstieg beginnt, werden die höchsten geistigen Leistungen vielfach erst von Fünfzigjährigen, ja oft von Greisen vollbracht. Auch liegen die Verhältnisse beim Weibe anders als beim Manne. Die Theoretiker des beständigen Fortschritts werden beim Einzel[37]leben so wenig ihre These durchführen können wie bei der Entwicklung der Völker und der Menschheit. Haben nicht in ästhetischer Hinsicht Jüngling und Jungfrau, ja sogar das Kind Vorzüge, die sie später für immer verlieren? Man gewöhne sich die grobmaterielle Einschätzung des Menschen nach der „Leistung” ab, und man wird die etwas simple Vorstellung von Entwicklung und „Höhepunkt” preisgeben. Vom philosophischen Standpunkt gesehen ist der Mensch als Kind ebenso auf der Höhe wie als Greis.
Räumt man das ein, so wird man die falsche Vorstellung aufgeben, das Wesen der Individualität müsse am „fertigen” Manne studiert werden. Umgekehrt, gerade am Kind und Jüngling treten Züge hervor, die später die Rationalisierung verhüllt! Ist das Individuum „fertig”, so ist gerade das spezifisch Lebendige und Individuelle eigentlich schon im Absterben. Ein bekannter Psychologe meint, die meisten Menschen seien mit 30 Jahren Maschinen geworden, die überhaupt nichts Neues mehr zu erleben vermöchten. Wir werden daher viele irrationale Züge besser am jugendlichen Menschen studieren.
Nun wäre es nicht nötig, bei der Veränderlichkeit der Individualität so eingehend zu verweilen, nähme nicht die landläufige Meinung an, es bliebe bei allen Veränderungen doch ein fester Grundstock. Die Wandlungen seien im Grunde so äußerlich wie etwa die Kleider, hinter denen doch „dasselbe” Ich als „Substanz” beharre. Diese Meinung muß widerlegt werden. Gewiß wandelt sich manches in der Individualität langsamer, anderes schneller, aber Veränderungen geschehen immer; auch das fertige Individuum ist in seinen Veränderungen nur verlangsamt und in feste Gleise gezwängt, aber keineswegs stationär geworden. Die Veränderungen sind radikaler, als man gemeinhin annimmt. Es ist weder so, daß eine Substanz beharrt und eine Form wechselt, noch daß eine Form bleibt und die Substanz wechselt, sondern beides, Substanz und Form, wandeln sich. Es besteht keinerlei Identität, sondern nur eine Kontinuität, die fälschlich für Identität gehalten wird.
[38]
2. Wandlungen und Spaltungen.
Die Veränderungen, die bei der Analyse jeder Individualität in Rechnung gesetzt werden müssen, sind verschiedener Art. Ich unterscheide zunächst die Schwankungen, die wohl Veränderungen sind, aber doch keine völlige Umbildung bedeuten, vielmehr im großen und ganzen einen früheren Zustand wiederkehren lassen. Als Beispiel solcher Schwankungen sei etwa der Wechsel von Frische und Ermüdung genannt, obwohl ein wirklicher „Normal”zustand eine reine Fiktion ist.
Anders ist's mit den Wandlungen des Individuums. Sie führen wirklich neue Zustände herauf, die nicht in einen Ausgangszustand zurückkehren. Unter diesen Wandlungen unterscheide ich wiederum typische Wandlungen und untypische. Jene kommen in jeder Individualität vor, diese nur in einzelnen oder wenigen. Als Beispiel der typischen Wandlung nenne ich die Reifung, den in jedem Menschen in annähernd paralleler Weise sich ausprägenden Übergang vom Kindesalter zum Jünglings-, Mannes- und Greisenalter. Auch die geschlechtliche Auseinanderentwicklung wäre zu nennen. - Als Beispiel untypischer Wandlungen seien die nur in manchen Individuen eintretenden religiösen Bekehrungen genannt. Plötzlich bricht aus irgendwelchen Tiefen der Individualität, unter oft seltsamen Gefühlsblitzen, ein neuer Geist ins Bewußtsein und erfüllt es so ganz, daß sogar der alte Name falsch klingt, daß ein Paulus aus einem Saulus wird.
Besonders die typischen Wandlungen sind interessant für das Studium der Individualität. Gerade sie machen deutlich, daß bei aller Veränderlichkeit die Individualität kein Chaos ist, sondern daß darin eine Ordnung eigener Art waltet, die kein Beharren ist, sondern ein Wechsel, aber ein Wechsel, der gleichsam „vorgesehen” ist, ein Wechsel, der gerichtet ist und unabhängig von äußerer Rationalisierung sich durchsetzt. Gerade sie machen die Bedeutung der Zeit für die Individualität offenbar.
Bei allen Veränderungen der Individualität kommt jedoch noch ein weiterer Gesichtspunkt in Betracht: der, ob die Ver[39]änderung sozusagen im Innern des Individuums angelegt ist oder von außen veranlaßt wird. Ungefähr deckt sich diese Unterscheidung auch mit der Sonderung ererbter von den erworbenen Momenten. In tieferem Sinne besteht dieser Unterschied freilich nicht so schroff, wie er sich dem oberflächlichen Beobachter darbietet. Fast alle in der Vererbung angelegten Variabilitäten brauchen äußerer Auslösungen, um aktuell zu werden, fast alle von außen einwirkenden Einflüsse werden erst dann wirksam, wenn sie einer „Disposition” begegnen, und zum mindesten werden sie durch den Bestand des Individuums stets modifiziert, so daß zum mindesten weder die ererbten Variabilitäten noch die erworbenen Einflüsse jemals „rein” in Erscheinung treten. Immerhin müssen wir bei jeder begrifflichen Fassung der Individualität in Rechnung setzen, daß gewisse Veränderungen angeborene „Bestimmung” sind, andere dagegen als zwar an sich zufällige, in der Gesamtheit jedoch ebenfalls notwendige Faktoren in Betracht kommen. Alles derartige führt auf die überaus schwierigen Probleme der Abgrenzung zwischen Ich und Außenwelt hin, die später erörtert werden.
3. Die Veränderungen des unmittelbaren Bewußtseins.
Am leichtesten ist die Wandlung als Wesen der Individualität unter dem Aspekt des unmittelbaren Bewußtseins einzusehen. Es besteht nur im Wandel, es erlischt im Augenblick, wo der Wandel stockt. Beweis: die Hypnose! Was ist das Tun des Hypnotiseurs? Das hartnäckige Darbieten desselben Eindrucks. Sobald es gelingt, erlischt das Bewußtsein, das Individuum schläft ein. In normalem Zustand entzieht es sich dieser Monotonie des Eindrucks. Wir sehen nicht „denselben” Gegenstand, wenn wir „denselben Gegenstand” mit Bewußtsein längere Zeit anblicken. Immer drängen andere Gedanken hinzu. Die künstlerische Betrachtung ist nicht unbewegtes Anstarren, sondern sukzessives Durchlaufen von Einzelheiten mit gelegentlicher Rückkehr zum Ganzen, ein Auflösen der Einheit in Wechsel, Bewegung und Leben. Wir apperzipieren nur, indem wir unablässig die Apperzeption ab[40]wandeln. Die süßesten Gefühle werden fade, wenn sie nicht unterbrochen und mit ein wenig Bitterkeit gewürzt werden. Torheit der Liebe, zu glauben, der Besitz des Gegenstandes garantiere ein dauerndes Gefühl! Kluge Frauen wissen, daß nichts die Beständigkeit des Mannes so erhält wie die Wandelbarkeit der Frau. In seelischen Erlebnissen ist Beharrung nur möglich durch Wechsel, weil Wechsel zum Wesen des Bewußtseins gehört.
Daß man sich nicht bewußt wird, wie sehr jeder Augenblick des Bewußtseins von allen anderen differiert, liegt daran, daß jeder Augenblick unser ganzes Bewußtsein färbt, so daß alle Erinnerungen, die in ihn eindringen, irgendwie seine Farbe tragen, wie, wenn man durch ein blaues Glas in eine Landschaft schaut, auch die widersprechenden Farben blaue Tönung erhalten. Und doch erweist aufmerksame Selbstprüfung, daß auch diese Tönung sich wandelt, daß nichts, gar nichts erhalten bleibt von unserem vorüberrauschenden Bewußtseinsstrom, und daß alles, was scheinbar bleibt, eine Umschaffung, eine Mumifizierung ist.
4. Die Veränderungen des Leibes.
Die Vorstellung der Individualität als eines statischen „Dinges” ist vor allem dadurch veranlaßt, daß man den sinnhaften Repräsentanten der Individualität, den Leib, als ein „Ding” annahm, weil er groben Augen und kurzem Gedächtnis wirklich als statisch erscheinen mag. Bereits die einfachste Überlegung freilich muß feststellen, daß diese Anschauung falsch ist, daß der Leib vielmehr in beständiger Verwandlung ist, ja daß sein Leben, chemisch gesehen, nur in unaufhörlichem Stoffwechsel besteht. Unablässig verbrauchen sich in unserem Körper die zellbildenden Stoffe, unablässig bauen sie sich auf. Unablässig pumpt das Herz neues Blut durch die Adern, um neue Stoffe zuzuführen, alte wegzutragen. Jeder Atemzug, jede Bewegung, jeder Gedanke bedeuten eine Umlagerung im Organismus. Dieser Stoffwechsel vollzieht sich so radikal, daß vom ganzen Leibe, wie er heute ist, nach wenigen Jahren stofflich nichts mehr vorhanden ist. Und auch der Zellenbestand wandelt [41] sich. Die Lebensdauer eines roten Blutkörperchens mag 4 bis 5 Wochen betragen; zehnmal also muß sich im Laufe des Jahres die Gesamtzahl derselben, 22 1/2 Billionen, erneuern, so daß man mit einer 600 - 800 maligen Erneuerung im Laufe eines Lebens rechnen kann. Unablässig sterben in uns Zellen, während andere sich vermehren, so daß im Laufe eines Menschenlebens die ungeheuere Zahl von 16000 Billionen Zellen in unserem Körper entstanden und vergangen sein mögen. Hübsch vergleicht Lotze einmal das Beharren des Leibes dem eines Wirbels, den ein besonders gestaltetes Hindernis im Flußbett eines Stromes erzeugt. „Solange die Form des Flußbetts dieselbe sein wird und so lange die Wellen zuströmen werden, wird unaufhörlich sich dies Spiel der Bewegung erneuern, in immer gleicher Gestalt, scheinbar unverändert, obwohl es doch von Augenblick zu Augenblick andere Fluten sind, die kommend es erzeugen und gehend es verlassen.”
Indessen muß man bei dieser Schilderung im Auge behalten, daß auch die Form des Leibes nicht beharrt. Wir würden, könnten wir als Dreißigjährige uns selbst in jener Gestalt, die wir als Zehnjährige hatten, auf der Straße begegnen, uns nicht erkennen, es sei denn, daß Bilder uns jenen Zustand vor Augen gehalten hätten. Und im Innern ist diese Umgestaltung der Form ebenfalls vorhanden, zunächst als Wachstum aller Formen, später als Erschlaffung, Verkalkung. Als „Substanz” wie als „Form” verwandeln wir uns, und wenn man das Wesen des Leibes als „Form” definiert, kann es nur eine sich wandelnde Form sein. Und neben den typischen Wandlungen greifen untypische ein. Krankheiten können den Leib bis zur Unkenntlichkeit entstellen, können ganze Organe verändern.
Dabei ist zu bedenken, daß ja der mit der Geburt sich freimachende Leib gar kein Anfang ist, sondern daß das erste Stadium des entstehenden Menschen ein einzelliges Wesen ist, daß man ihn dann im embryonalen Stadium als Parasiten ansehen kann, der im Mutterleibe schmarotzt, ehe er sich los[42]löst. In dieser Zeit aber durchläuft er wiederum mannigfache Wandlungen, die eine auffällige Ähnlichkeit mit systematisch tieferstehenden Tierklassen darbieten. So gleichen die Embryonen des Menschen (wie die der Säugetiere überhaupt und der Vögel) ganz auffallend den wasserbewohnenden Fischen in deren ausgewachsenem Zustand. Es treten die gleichen Schlundspalten auf, die Glieder sind breite flossenartige Platten, die Herzbildung ist wie bei den Fischen. Es sind das alles Beispiele jener Tatsachen, die zur Aufstellung des „biogenetischen Grundgesetzes” geführt haben, das heißt der Lehre, daß die Ontogenie die Rekapitulation der Phylogenie sei. Mag dies Gesetz auch im einzelnen mancher Einschränkungen bedürfen, es erhebt die Wandlung des Embryos doch über jeden Zweifel hinaus.
Aber auch die scheinbar vorübergehenden Schwankungen im Zustand des Leibes sind größer, als schlechte Beobachtung in der Regel annimmt. Interesse an der Gesundheit des anderen hat zwar auf „gutes” und „schlechtes” Aussehen, kräftige oder dürftige Durchblutung der Wangen achten gelehrt. Indessen sind das grobe Dinge. Eine schöne Frau, die gewohnt ist, ihr Äußeres aufs schärfste zu prüfen, weiß, daß daneben tausenderlei ungreifbare Schwankungen stattfinden, daß sie ihre „beaux jours” hat und solche, wo sie am liebsten gar nicht ausginge. Sie weiß, daß die Augen nicht immer den gleichen Glanz haben, die Iris täglich anders schimmert, sie weiß, daß die Haare sich manchmal gut, manchmal schwer nur frisieren lassen, sie weiß, daß die Lippen am einen Tage leicht und anmutig, am anderen nur gezwungen lächeln. Sie weiß, daß die Schönheit täglich neu errungen sein will. Derartige Schwankungen kehren zwar scheinbar in einem Gleichmaß zurück, in Wahrheit sind auch sie Schritte in einer Richtung, die täglich weiter abführt von früheren Zuständen.
5. Die Veränderungen der Seele.
Selbst die Struktur der Seele, mag diese auch als dauerndes Substrat dem Wechsel der Bewußtseinsphänomen unterlegt sein, kann nicht als dauernd [43] im absoluten Sinne angesehen werden. Soll sie nicht als leeres Gerüst wirken, so muß man auch für sie Veränderungen ansetzen.
Was die differentielle Psychologie als Fundamentalkriterium für die Unterscheidung der Seelen untereinander annimmt, das Prävalenzverhältnis der Anlagen, erleidet sowohl typische wie untypische Wandlungen. Die seelische Entwicklung des Adoleszenten ist durch ein sukzessives Vortreten der Instinkte gekennzeichnet: im jungen Menschen erwachsen häufig ganz abrupt bestimmte Interessen und Talente von oft sehr begrenzter Dauer. Während er heute nur nach Schmetterlingen jagte, hat er vielleicht morgen nur noch Interesse für Musik, und wieder ein Jahr später ist all sein Trachten auf Liebeslyrik gerichtet. Aber auch im reifen Menschen stocken diese Wandlungen nicht ganz: in jedem Menschen bringt das Mannesalter ein Zurücktreten der Phantasie zugunsten stärkeren Wirklichkeitssinnes, und das Greisentum ein Überwiegen der typischen Altersabstraktion. Das Vordringen und Zurücktreten des Sexuallebens bedeutet psychisch tiefgreifende Wandlungen. Es läßt dem Jüngling die Welt in neuen, glühenderen Farben aufleuchten, die im späteren Alter mählich verblassen, wenn auch gelegentlich stumpfes Wetterleuchten im Greisenalter aufzuckt.
Die Wandlung der Seele ist jedoch noch weit feinerer Art. Jedes Erlebnis wandelt irgendwie die Seele um. Wenn wir ein Musikstück einmal gehört haben, so ist die Seele dadurch geändert, sie reagiert beim zweitenmal ganz anders. Wir können nichts noch einmal erleben, weil das Erlebnis selber die Seele umformt. Die Seele kann nicht Erlebnisse abschütteln, wie man Staub vom Mantelkragen bürstet. Jede Tat schafft eine Disposition, leitet eine Gewohnheit ein. Und jede Gewohnheit ist eine seelische Umlagerung, die allerdings nicht abgeschlossen ist, sondern sich verstärkt oder auch sich abstumpft. Mit Recht sucht man vor allem eine erstmalige Versündigung zu verhindern. Das Wort „Principiis obsta!” hat seine tiefe psychologische Begründung eben darin, daß [44] keine Handlung bloß in sich, sondern auch als Umformung der Seele ihre Bedeutung hat. Andererseits liegt ein tiefer Sinn im juristischen Verfahren der strengeren Bestrafung der „Rückfälligen” und Vorbestraften, weil man hier nicht bloß das vielleicht zufällige Unterliegen, sondern die dauernde Disposition der Seele treffen will.
Auch für die „Schwankungen” des Bewußtseins muß ungeachtet des relativen Dauercharakters der Seele - eine Änderung des Substrats angenommen werden. Eine Dosis Alkohol ändert nicht bloß die momentane Stimmung der Seele und den Zustand des Leibes, sie verschiebt auch die Prävalenzverhältnisse in der Seele. Die Fähigkeit des logischen Denkens wird herabgesetzt, die Vorstellungsassoziationen stürmen zügellos einher, die Sinne werden unsicher. Auch der Wandel der Tages- und Jahreszeiten bedingt seelische Umlagerungen. Jeder Mensch ist im Frühling anders disponiert als im Spätherbst, am Abend anders als am Morgen. Wer hat nicht am Abend einen Brief geschrieben, ihn aber am nächsten Morgen nicht abgeschickt, weil er ihm so fremd vorkam, als wäre er nicht von ihm? Am deutlichsten vielleicht zeigt das periodische Vordringen und Zurücktreten des Sexualtriebes die seelische Umlagerung. Diese Schwankungen sind so beträchtlich, daß es unmöglich ist, auch für kürzere Zeiträume eine Normaldisposition anders denn als Fiktion gelten zu lassen.
Es leuchtet tief hinein in die Schwierigkeiten des Individualitätsbegriffs, daß die „Seele”, das Substrat des sich wandelnden Bewußtseins, auch ihrerseits als wandelbar gedacht werden muß.
6. Die Veränderungen des Mein.
Daß unser seelischer Besitzstand sich beständig ändert, ist nicht bestritten. Man vergleicht die Erfahrung mit unablässig sich mehrendem Schatze. Weniger klar ist man sich in der Regel, daß dieser Schatz sich auch beständig vermindert! Und vor allem, daß jede quantitative Vermehrung auch eine qualitative Veränderung des bisherigen Bestandes bedeutet. Die neuen Erfahrungen [45] stellen sich verdunkelnd vor die älteren, das System unseres Wissens wird durch jede neue Erkenntnis in seiner Gesamtheit umgruppiert. Durch neue Erlebnisse rücken die früheren oft in ganz anderes Licht. Unsere Erfahrungen bleiben nicht in der Seele, wie Akten im Schranke, sondern sie wandeln sich unter dem Einflüsse neuer Erfahrungen oft unmerklich, aber sicher, und nur der Mangel an objektiver Kontrolle läßt uns dessen nicht bewußt werden.
Wie undicht unser Gedächtnis ist, wird uns in der Regel erst bewußt, wenn wir es objektiv nachprüfen. Fast jeder Mensch ist erstaunt, wenn er eigene Briefe, Tagebücher, Werke aus vergangener Zeit zu lesen bekommt. Das habe ich geschrieben, das habe ich damals gewußt? fragt er sich bei jeder Seite. Besonders merkwürdig jedoch wird das Problem, wenn wir den unbewußten Besitzstand der Seele heranziehen, das heißt, wenn uns plötzlich klar wird, daß das Vergessene gar nicht völlig verschwunden ist. Hypnotisierte, denen man einredet, sie seien wieder Kinder, sollen über ihren gesamten ehemaligen geistigen Besitzstand verfügen. (Ich weiß allerdings nicht, wieweit diese oft wiederholte Behauptung wirklich objektiv nachgeprüft ist.) Sicher ist, daß aus ganz unbekannten Tiefen unseres Ichs zuweilen ein Wissen ins Bewußtsein bricht, das völlig entschwunden war. Und jedenfalls ist die Wirksamkeit des Unterbewußten viel höher einzuschätzen, als es gewöhnlich geschieht, vor allem aus dem oben bereits berührten Grunde, daß jede inhaltliche Bereicherung der Seele auch eine struktive Veränderung bedeutet. Zahllose „instinktive” Reaktionen der Seele, Sympathien und Antipathien gehen auf Erfahrungen zurück, über die wir als deutliche Vorstellungen nicht mehr verfügen, die nur aus dem Unterbewußtsein wirken. Unser Geist ist reicher, als er selber weiß. Auch der weiteste Bewußtseinsumfang umspannt nur einen Teil seines Besitzes. Wir werden uns des tiefen Wandels nicht bewußt, weil ein gewisser Grundstock, vor allem persönlicher Erinnerungen, uns stets leicht gegenwärtig bleibt, obwohl, wie gesagt, auch dieser sich fortwährend unmerklich ändert.
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Neben den Wandlungen dürfen die Schwankungen des geistigen Besitzes nicht übersehen werden. Die zeitliche Nähe vor allem bedingt solche Schwankungen. Die Erfahrungen jedes Tages bilden einen rasch wechselnden Vordergrund vor dauernderem Hintergrund, Was uns heute vom Gestern und Vorgestern noch in brennenden Farben vor der Seele steht, was uns vielleicht vieles Bedeutsame und Große verdunkelt, ist, sobald es in zeitliche Ferne gerückt ist, vielleicht in einem Monat schon, ganz vergessen. Und gegen Ende des Lebens treten die frühesten Erinnerungen wieder klarer hervor, wie man, wenn man von einem Gebirge wegwandert, die fernen höchsten Gipfel erst allmählich sich klar herausheben sieht, bis man in letzter Entfernung nur noch sie, in silberner Reinheit den Horizont überragend, erblickt.
Immerhin ist gerade dieser Fond persönlicher Erinnerungen der Grund, der uns stets wieder vergessen läßt, daß wir nicht mehr dieselben sind wie ehedem. Daß vergangene Individualitätsphasen als Erinnerungen weiterleben, läßt übersehen, daß jene Phasen selbst längst abgeklungen sind. Genau betrachtet freilich zeigen gerade diese Erinnerungen, ebenso wie objektive Bilder von uns, am besten, wie sehr wir uns verwandelt haben. Sie geben die Möglichkeit, uns durch die mannigfach verschlungenen Wege unserer Vergangenheit zurückzutasten wie an einem Ariadnefaden, aber wir verwechseln die Möglichkeit, zurückzudenken, mit der Möglichkeit, alles das noch einmal zu erleben, die Kontinuität mit der Identität. Was wir an Erinnerung mit uns führen, sind die Bilder von längst dahingegangenen Personen, und so wenig der Besitz einer Photographie das Leben der dargestellten Person verbürgt, so wenig verbürgen solche Erinnerungen das Weiterbestehen vergangener Lebensphasen. Erinnerungen sind Reliquien nicht des eigenen Lebens, sondern des allmählichen Sterbens unserer Individualität. Denn wir sterben an jedem Tag, an dem wir leben.
7. Die Veränderungen des Innenbildes.
Zugleich mit den darin eingehenden Erscheinungsformen der Individua[47]lität wandelt sich das Innenbild. Jeder Tag, ja jede Stunde zeichnen neue Striche hinein, heben hier, dämpfen dort eine Farbe und ändern so das Ganze, indem sie Einzelheiten ändern. Die typischen Erscheinungen der Reifung, die körperlichen wie die seelischen Wandlungen, die Erweiterungen des geistigen Besitzstandes spiegeln sich in dem Innenbild des Individuums ebenso wie die vorübergehenden Schwankungen, die ebenfalls die Tönung des Bildes ändern. Dazu treten noch spezifische Änderungen des Ichbildes, die bloß aus der Art von dessen Zustandekommen erklärt werden müssen. Die Jugend hat eine andere Weise, sich selbst zu sehen als der Greis. Dort mischt sich das Gefühl leidenschaftlicher hinein, drängt das Subjektive vor das Objektive, hier reiht man sich kühler ein in die Reihen der anderen. Auch Mann und Frau haben verschiedene Arten, ihr Innenbild zu formen; die Frau ist in der Regel subjektiver, der Mann unterliegt stärker sozialen Formungen. Denn das Hineinwachsen in einen Beruf hat bestimmte Wirkungen. Die spezifische Würde des Königs und des in machtvoller Stellung stehenden Politikers oder Fabrikherrn ist zwar ein Reflex des Außenbildes, beeinflußt aber auch das Innenbild.
Indem das Innenbild die anderen Erscheinungsweisen der Individualität in sich aufnimmt, ändert es sich doch nicht im gleichen Tempo mit ihnen. Oft eilt es voraus; so fühlt sich der Knabe, der Jüngling meist älter als er ist, sieht sich größer, freier, selbständiger und gefällt sich in dieser Ichrolle, die der Unterlage gar nicht entspricht. Oft aber bleibt auch das Innenbild hinter der tatsächlichen Entwicklung zurück; der Greis besonders will sich selbst oft nicht zugeben, wie alt er ist. Und alternde Frauen wenden alle möglichen Künste auf, um nicht nur anderen, sondern auch sich selbst ihr wahres Alter zu verstecken. So hat das Innenbild sein eigenes Schicksal, das sich oft bewußt loslöst vom realen Werden.
Trotzdem scheint vielleicht das Innenbild jene Zusammenfassung zu gewähren, die uns das Ich als beharrend im Strom der Wandlungen erscheinen läßt? Faßt, indem das Innenbild [48] das frühere Leben summarisch in sich aufnimmt, sich nicht die ganze Vergangenheit in ihm zusammen? Ein wenig vielleicht, aber nicht ganz und nicht so, daß man von Beharren sprechen könnte. Was schon von dem Gesamtschatz an Erinnerungen galt, gilt in noch höherem Grade von der komplexen Gestaltung, als die sich das Innenbild darstellt. Um lebensfähig zu bleiben, muß der Mensch nicht bloß seine Vergangenheit konservieren, er muß sie auch verleugnen. Er muß seine alten Rinden abstoßen, muß das Gestern vergessen können, um im Heute zu leben. Er muß ungerecht sein gegen frühere Stadien, so will es die Entwicklung. Denn Entwicklung verläuft, wie Hegel richtig gesehen hatte, nicht in kontinuierlichem Übergehen, sondern in Gegensätzen, die sich bekämpfen und erst später wieder zusammenfinden. Selbst das Strafrecht nimmt nicht an, daß ein Verbrecher zwanzig Jahre nach vollbrachter Tat notwendig noch Verbrecher sei; es gibt, indem es Verjährung der Schuld annimmt, zu, daß man ein anderer Mensch werden kann. Wieweit das Vergessen der eigenen früheren Ichrolle gehen kann, zeigen gerade gebesserte Verbrecher, bekehrte leichtfertige Renegaten aller Art, die alle das, was sie früher selbst gewesen sind, in den Pfuhl der Hölle verdammen. Nein, man kann die Ichrolle ausziehen wie ein altes Gewand und selbst vergessen, daß man sie je getragen hat. Und das Merkwürdige ist, daß fast jede augenblickliche Rolle dem Träger so erscheint, als habe er immer nur sie gespielt, wodurch dann die Täuschung von der Beharrung des Innenbildes entsteht. Aber keiner kann wissen, welche Möglichkeiten noch in ihm stecken. Mancher hat erst mit 70 Jahren das Gefühl, er selbst zu sein. Und vielleicht dann erst als Annäherung!
8. Die Veränderungen des Außenbildes.
Ähnlich wie das Innenbild wandelt sich das Außenbild, da auch dies, obgleich in anderer Weise, die übrigen Erscheinungsformen der Individualität berücksichtigt. Dabei hält seine Umgestaltung ebenfalls nicht das Tempo der übrigen Entwicklungen ein. sondern bleibt oft zurück. Eltern sehen ihre Kinder stets [49] kindlicher als sie sind; auch die Geschlechter sehen ineinander gern das Kind, denn der Mann sieht und liebt in der Frau die kindlichen, spielerischen, neckischen Züge, aber auch die Frau sieht gern im Manne, wenn sie es ihm auch klugerweise meist verschweigt, die jungenhaften Züge, die noch durchschimmern. Freilich unterliegt das Auflenbild ganz besonders dem Trägheitsgesetz. Es ist ja kein wirkliches Bild, sondern eine Abstempelung, und besonders Männer des öffentlichen Lebens müssen das erfahren. Hat ein Autor zufällig mit einer erfolgreichen Komödie begonnen, so sieht das Publikum, und wenn er ein Dutzend Tragödien geschrieben hat, nur den Komödiendichter in ihm und nimmt es ihm übel, wenn er anderes schreibt als Lustspiele. Der Politiker, der aus innerer Notwendigkeit seine Überzeugung wechselt, erscheint dem Außenstehenden als charakterlos, obwohl der wahre Charakter gerade darin sich zeigt, daß man eine Ichrolle, der man entwachsen ist, beiseite wirft; aber die Menge empfindet es als unbequem, umdenken zu müssen über einen anderen oder gar mit einem anderen, und so bleibt das Außenbild zurück und wird falsch. - Umgekehrt wie in der Geschichte des Dorian Gray ändert sich der Mann, das Bild bleibt.
Freilich ändert sich oft das Außenbild in anderem Tempo und in anderer Richtung als der Mensch selbst. An dem in hohe Stellung aufsteigenden Manne sieht der Fernstehende meist nur die Amtsrobe, nicht den Menschen, der oft schlicht und einfach bleibt hinter glänzenden Titeln und Orden, oder der Schwäche verbirgt hinter amtlicher Würde. - Verleumdungen, ungerechte Anklage können ein Außenbild ganz entstellen. Das große Publikum macht zwischen einem Angeklagten und einem Verurteilten keinen Unterschied, eine vorübergehende Trübung des Außenbildes bleibt als dauernder Flecken haften.
Sehr eigenartig sind die Wandlungen des Außenbildes nach dem Tode. Denn das Außenbild überlebt den Menschen, ja erfährt schon am Grabe eine Wiedergeburt. In der Leichenrede bereits ersteht der Verstorbene in verklärtem Licht. Der [50] politische Gegner wird ungefährlich, der beneidete Rivale ist kein Nebenbuhler mehr. Die Überlebenden sind pietätvoll und großmütig und reden nichts Böses über den Toten. Es ist nicht der Mollakkord der Begleitung allein, der hinzukommt, auch die Melodie ist eine andere.
In festerer Prägung tritt das Bild des Toten in die Geschichte. Aber es ist nicht endgültig. Es wandelt sich mit dem Bilde seiner Zeit. Dabei ist es ein Irrtum, an die „Objektivität” der Nachwelt zu glauben! Einige persönliche Züge der Entstellung entfallen gewiß, aber es ist nicht ohne Humor zu verfolgen, wie subjektiv die Weltgeschichte gerade Friedrich Schiller, der sie mit Emphase fürs Weltgericht erklärt hatte, im Laufe eines Jahrhunderts mitgespielt hat. Wie sie ihn beim Gedenkfest des Jahres 1859 zum nationalen Heros erhoben und dann in den Zeiten des Naturalismus unter die Phrasendrescher und Moraltrompeter eingereiht hat, um ihn später allmählich wieder steigen zu lassen. In dieser Welt des Wandels ist auch der Nachruhm kein dauernder Besitz, auch er unterliegt den Kursschwankungen des Tages und wandelt sich genau so lange, wie seine fragwürdige Ewigkeit dauert.
9. Die Veränderungen der
Individualitätsobjektivation.
Die objektive Auswirkung ist bedingt durch die Wandlungen der übrigen Erscheinungsweisen. Es läßt sich im Lebenswerk der meisten Künstler die typische Wandlung von Sturm und Drang zu männlicher Abklärung, ja zu jenem „stufenweisen Zurücktreten aus der Erscheinung”, das Goethe als Alterscharakteristikum nennt, beobachten. Auch untypische Wandlungen und Schwankungen lassen sich im Werke wiedererkennen. Goethe meinte, im Werke Schillers die Stellen namhaft machen zu können, die unter dem Einfluß des Alkohols entstanden sind. All das ist bekannt. Die Wandlungen des Stils sind Wandlungen des Menschen. Indessen auch losgelöst vom Urheber führen die Werke ihr eigenes Leben. Zunächst ganz materiell. Die Bilder Tizians sind nicht mehr dieselben, die sie waren; die Pigmente sind nachgedunkelt, und sie geben uns nur eine schwache Vorstel[51]lung von der einst gefeierten Farbenpracht, Daß die Bildwerke des Altertums ihr tragisches Geschick gehabt haben, ist bekannt. Aber nicht nur Verluste, auch Gewinne bucht die Geschichte. Das wundervolle Patinagrün der Kuppeln der Gontardschen Kirchen auf dem Berliner Gendarmenmarkt und anderer Barockbauten ist erst später hinzugekommen und gibt den Werken besonderen Reiz, ja vielleicht haben sogar die Franzosen dem Heidelberger Schloß durch ihre Zerstörung einen künstlerischen Dienst erwiesen, da es ohne Dach, als Ruine ästhetisch reizvoller ist, als es vorher war.
Tiefer greifen jene Wandlungen, die nicht im Werke selbst, die in der Verarbeitung durch die Nachlebenden liegen. Denn die Werke der Kunst, der Wissenschaft, der Religion sind nur scheinbar objektiv, in Wahrheit beruht ihr Dasein als geistige Werte in ihrer Resubjektivierung durch die Nachwelt. In Wahrheit leben Luther oder Beethoven nicht in dem mit Druckerschwärze gefärbten Papier ihrer Bücher und Noten, in Wahrheit leben sie nur dadurch, daß diese Objektivierungen in lebenden Subjekten wieder auferstehen.
Von diesen aber belebt jeder die Geister der Toten mit seinem eigenen Blute. Jede Generation, ja jedes Individuum liest einen anderen Shakespeare, spielt einen anderen Bach. Das liegt zum Teil an Äußerlichkeiten; denn eine Bachsche Fuge auf einem Blüthnerflügel gespielt, ist auch objektiv ein anderes Werk als jenes, das im 18. Jahrhundert auf einem Clavicembalo oder einem Spinett erklang. Und Shakespeares Hamlet, der auf der Drehbühne mit elektrischen Lichteffekten erscheint, ist nicht derselbe wie jener, der auf dem Globetheater des XVII, Jahrhunderts gespielt wurde. Tiefer aber als diese auf äußerlichen Mitteln beruhenden subjektiven Umbildungen gehen die rein psychologischen. Wenn wir vergleichen, was die englischen Komödianten des XVII. Jahrhunderts, was Voltaire, was Lessing, was Goethe, was Schiller, was die Romantik, was Otto Ludwig aus Shakespeares Werken herausgelesen haben, so würde einem, wenn nicht die Namen übereinstimmten, kaum der Gedanke kommen, es handle sich um „dieselben” [52] Werke, um „dieselben” Objektivationen „derselben” Individualität! Und wie hat das Werk Christi sich geändert im Laufe der Jahrhunderte! Er, der reines Feuer vom Altare brachte, hat nicht immer reine Flamme entzündet! In jedem Jahrhundert mehrmals lebte seine Lehre in immer wechselnder Gestalt wieder auf. Es ist angeblich dieselbe Lehre, die in Nicäa und Trient, die in Cluny und Wittenberg, die vom General Booth und Schleiermacher gelehrt wurde, und doch wie sehr hat sie sich jedesmal gewandelt und wieviel neue Wandlungen stehen ihr noch bevor!
Gewiß versucht die Geschichtsschreibung die Wirkung vom Urheber zu trennen. Aber gelingt das jemals ganz?
10. Rückblick.
Welch seltsames Schauspiel! Die Individualität, die zunächst in 7 verschiedenen Aspekten vor unseren Augen facettierte, ist durch Festlegung dieser Erscheinungsweisen keineswegs gefaßt, nein es erwies sich, daß sie in jedem dieser Aspekte sich unablässig änderte, teils innerer Bestimmung folgend, teils als Spielball äußerer Einwirkungen. Was soll dieser flutenden Mannigfaltigkeit gegenüber, für die ein strudelnder, flimmernder, springender Bergbach ein höchst unzulängliches Gleichnis ist, das tote Schema der rationalen Logik A ist A? Nein A, wenn darunter eine Individualität gedacht wird, ist in keinem zweiten Augenblick A, dasselbe A wie im ersten.
Der berühmte Identitätssatz versagt der lebendigen Individualität gegenüber, die in all ihren Erscheinungsweisen beständigem Wandel unterliegt. Das einzige, was man zugeben kann, ist, daß eine gewisse Kontinuität besteht, und das ist's denn auch, was den Glauben an die angebliche Identität des Individuums mit sich selbst hat aufkommen lassen. Aber Kontinuität ist keine Identität: Mögen einzelne Partien der Individualität festere Konsistenz haben, auch sie unterliegen der Wandlung. Wie der wissenschaftlich Denkende den Gletscher, der dem Laien als fester Block erscheint, als Fließendes erkennt, so muß der philosophisch Denkende das Ich nicht als „Ding”, als Substanz, als feste Form, sondern als ein unab[53]lässiges Geschehen begreifen. Jedes feste Bild, jeder feste Begriff verfälscht die Wirklichkeit. Denn gerade in dieser Variabilität liegt ein gut Teil des irrationalen Charakters begründet. Diese Veränderung ist nicht aus den früheren Stadien errechenbar. Was sich vorausbestimmen läßt, die Stadien der Reifung z. B., sind nur das Generelle, nicht das Individuelle; denn jeder Einzelmensch hat seine Art zu reifen und zu altern. Es ist ein Gaukelspiel, wenn gewisse Historiker behaupten, im jungen Goethe bereits den Verfasser des zweiten Faust aufzeigen zu können: das sind vaticinia post eventum, die über die Irrationalität des individuellen Seins nicht hinwegtäuschen können, eine Irrationalität, die - wie ich später zeige - zum Teil ihren Grund darin hat, daß der Einzelmensch gar nicht bloß Einzelmensch ist, sondern in untrennbarem Zusammenhang steht mit der Umwelt, die zum Teil aber auch im Wesen der Individualität selber beruht.
Zuweilen stellt man die Veränderlichkeit der Individualität als typische Kulturerscheinung hin und neigt dazu, den primitiven Menschen als stationär zu denken. Es dürfte sich jedoch nur um einen Unterschied des Tempos handeln, die sprichwörtliche Schnellebigkeit des modernen Menschen. In der Tat rechnen wir heute nach Sekunden und Minuten, wo noch der mittelalterliche Mensch höchstens nach Stunden rechnete. Wir verarbeiten eine unendlich größere Zahl von geistigen Inhalten als der Primitive und sind daher mehr Einflüssen ausgesetzt; auch schiebt sich die Zeit des Reifwerdens immer weiter hinaus - aber es handelt sich bei alledem nur um Gradunterschiede. Gewiß wird der Primitive in vieler Hinsicht früher zum „Manne”, er bleibt aber andererseits auch länger Kind, er bewahrt die Variabilität der Persönlichkeit auch noch in einem Alter, wo der Kulturmensch längst gelernt hat, sich zu „beherrschen”, d. h. eine Einheitspersönlichkeit auszubilden, wozu in dieser bewußten Form der Primitive niemals gelangt. Nicht die Wandelbarkeit überhaupt, nur die Art des Wandels wechselt. Immer geht die Zeit als wesentlicher Faktor ein in den Begriff der Individualität.
[54]
III. Kapitel
Die Spaltungen der Individualität
1. Die Einheit des Individuums als Problem.
Wenn die Philosophen, soweit sie das Ich überhaupt einer Überlegung würdigten und es nicht stillschweigend als bekannt voraussetzten, darüber eine Aussage machten, so war es in der Regel die, daß es „einheitlich” sei. Sie berufen sich für diese Einheit meist auf ein unmittelbares Gefühl. Indessen scheint mir dieser Glaube an die Einheit des Ich nur der Bequemlichkeit der betreffenden Denker seinen Ursprung zu danken, wie - um einen hübschen Scherz Lichtenbergs aufzunehmen - die Tausendfüßler nur darum ihren Namen führen, weil niemand sich die Mühe gibt, bis vierzehn zu zählen. In der Tat kann man nur dann, wenn man die vielfältigen Gegensätze gewaltsam übersieht, von einer Einheit des Ich reden. Und zwar nicht nur im Hinblick auf seine sukzessiven Zustände, was bereits dargetan ist, nein auch simultan ist das Ich nicht eine Einheit und zwar in keiner seiner Erscheinungsformen. Unter welchem der sieben Aspekte man die Individualität betrachten mag, stets ist sie ein Vielfältiges, dessen Einheit künstlich hergestellt werden muß.
Nein, das Individuum ist nicht In-dividuum! Die Individualität unterliegt nicht nur sukzessiven Veränderungen, sondern auch simultanen Spaltungen. Freilich ist im Gebiet des Bewußtseins der Begriff der Sukzession und der der Gleichzeitigkeit nicht immer zu trennen, da wir stets Vergangenes in der Form von Erinnerungen einbeziehen können in die Gegenwart und besonders eben Verflossenes noch eine Weile perserveriert. Daher wirken rascher Wechsel, sehr kurze Schwankungen doch als Gleichzeitigkeit, und als solche werden wir derartige Zustände hier ansehen. Aber es gibt auch wirkliche Gleichzeitigkeit im Bewußtsein, denn die Enge des Bewußtseins ist niemals auf absolute Einheit festgelegt, sondern duldet sehr wohl eine gewisse Mehrheit, in der freilich ge[55]wöhnlich ein Bestandteil vorherrscht. Blicken wir hinein in uns selbst, so werden wir finden, daß jedes Ich ein Schauplatz ist von Schlachten, in denen die meisten Kämpfe der äußeren Welt ihren Widerhall finden, ja in denen sie zum guten Teile wurzeln. Besonders der Ethik ist dieser Begriff des inneren Kämpfens geläufig; daß er mehr ist als bloßes Bild, daß ihm reale Tatsachen zugrunde liegen, das zu zeigen ist meine Absicht.
2. Die Spaltungen des unmittelbaren Bewußtseins.
Bereits für das unmittelbare Erleben, das Ichgefühl, besteht keine geschlossene Einheit. Wie oft streiten in uns zwei Gefühle, Lust und Unlust, Sympathie und Abscheu, Furcht und Lockung miteinander! Alle sogenannten Mischgefühle, deren Name gewiß nicht wörtlich zu nehmen ist, sind in Wahrheit miteinander ringende Gefühlsgegensätze: das Tragische, das Lächerliche, der wehmütige Humor und viele anderen Gefühle. - Und mit den Begehrungen ist's ähnlich. Wir können zu gleicher Zeit wollen und nicht wollen. Zwei Iche scheinen in uns zu kämpfen: das eine lockt, das andere warnt. Wer kennt nicht diese Zustände des Schwankens, der Unentschlossenheit, der Versuchung, der man widerstrebt, und hundert ähnliche, die alle die Einheit der Individualität aufheben, weil sich die Individualität zerspaltet und zu gleicher Zeit nach zwei Seiten getrieben wird?
Derartige Zustände kennen wir auch auf geistigem Gebiete. Was ist die Unfähigkeit zur Konzentration, die Unaufmerksamkeit, die Abgelenktheit anders als eine Uneinheitlichkeit des Bewußtseins, ein Hinundhergerissenwerden zwischen verschiedenen Interessen? Die Einheit des Bewußtseins, seine „Enge”, sind gar nicht ursprünglich, sondern zum guten Teil anerzogen und haben sich biologisch allmählich erst herausgebildet. Auch hinter der Bühne des Bewußtseins toben Kulissenkämpfe, die dem Zuschauer nur verborgen bleiben.
3. Die Spaltungen der leiblichen Individualität.
Eine wirkliche Einheit scheint der Leib zu sein. In wunderbarer Harmonie, wie Räder eines feinen Mechanismus, scheinen [56] seine Teile ineinanderzugreifen, ja darüber hinaus, in gewissen Restitutions- und Heilungsprozessen, stellt sich die Einheit von selbst wieder her, wenn sie von außen gestört worden ist. Diese Einheit des Organismus ist keineswegs erst durchs Bewußtsein gegeben, sondern ist gerade dort am größten, wo das Bewußtsein nicht eingreift. Das Bewußtsein scheint sogar die körperliche Einheit eher zu durchbrechen als sie zu fördern. Das Bewußtsein tritt gerade dort auf, wo die Einheit des Organismus ins Schwanken kommt, es ist biologisch betrachtet gleichsam ein Signal, um die bedrohte Einheit wiederherzustellen. So betrachtet, erscheint das Bewußtsein jedoch ganz irrational, sich zu betätigen. Manche Störungen des Körpers, die für die Gesamtheit wenig bedeuten, die Karies eines Zahns, die Verletzung eines Fingernagels sind von quälenden Schmerzen begleitet, während tiefgreifende Zerstörungen in Lunge oder Gehirn gar nicht empfunden werden.
Aber tief unter der Schwelle unseres Bewußtseinslebens tobt unablässiger Kampf. Unser Leib ist, ohne daß wir es wissen, ein Feld für einen Krieg ohne Ende. Nicht friedlich wohnen die 200 Billionen Zellen, die zu bestimmter Zeit einen Menschenleib aufbauen, nebeneinander; unablässig wogt erbitterte Konkurrenz. In engem Raum drängt sich Organ an Organ, kämpft Zellenkomplex mit Zellenkomplex, nur durch funktionelle Anpassung zu zeitweiligem Ausgleich gelangend. Selbst in der einzelnen Zelle herrscht nicht Burgfrieden, ja, der Wettbewerb zwischen den kleinsten Lebenseinheiten ist besonders lebhaft. Neuere Forscher haben gerade den „Kampf der Teile im Organismus” zur Deutung des organischen Lebens herangezogen.
Die funktionelle Einheit des Organismus ist daher nicht das Produkt friedlich-schiedlicher Verträge, sondern erbitterten Streites. Und sie ist auch als vollendete Tatsache nicht so groß wie vielfach angenommen wird. Beim Menschen erscheint die Vereinheitlichung besonders weit fortgeschritten, doch ist sie auch hier nicht vollkommen. Er kommt oft in Lagen, wo seine Reflexe sich widersprechen, seine Instinkte unsicher sind, [57] vor allem aber kann bei ihm eine Spaltung eintreten durch das Dazwischenkommen des Bewußtseins, das oft die physische Einheitlichkeit aufs äußerste gefährdet.
4. Die Spaltungen der Seele.
Die Uneinheitlichkeit des Augenblicksbewußtseins ebenso wie die des Leibes zwingen uns, auch die Seele nicht als vollständige Einheit zu denken.
Besonders wenn gewisse Gefühls- und Willenskonflikte öfter auftauchen, scheint es, daß zwei selbständige Iche miteinander ringen. „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust” klagt Faust, und oft genug hat es den Anschein, als wären es ein gut Teil mehr. Der psychologischen Betrachtungsweise entspricht es eher, von Gegensätzlichkeit der „Funktionen” zu sprechen. Der Konflikt zwischen Denken und Gefühl, zwischen Wissen und Glauben ist typisch. Selbst den großen Aristoteles läßt eine bekannte Fabel zum Sklaven seiner Verliebtheit werden. Haß und Liebe schalten oft das Urteil gleichsam aus. Das Prävalenz Verhältnis der Funktionen, das die differentielle Psychologie in an sich berechtigter Fiktion als konstitutiv ansieht, muß als erschütterlich gedacht werden. Stellt man die Seele als monarchisch organisiert vor, so fehlt es jedenfalls nicht an häufigen Revolutionen und Gegenrevolutionen, Es wäre überhaupt besser, statt des Kollektivums „die Seele” lieber den Plural „die seelischen Funktionen” zu brauchen, andererseits jedoch spielen in jedes Erleben sämtliche Funktionen hinein. Das Bewußtsein allein ist kein Beweis für die Einheit der Seele, im Grunde kommt die Einheit des Bewußtseins fast immer durch einen vorhergehenden Kampf im Unterbewußtsein zustande, wie die meisten Alleinherrscher nur durch Unterdrückung von Rivalen zur Regierung gelangen. Die „Enge” des Bewußtseins sagt nichts darüber aus, wie die darin erscheinende Einheit zustande gekommen ist. Wenn aus einer engen Tür auch stets nur eine Person nach der anderen herauskommt, so kann jenseits der Tür doch ein heftiger Kampf einer andrängenden Masse stattgefunden haben, aus der sich jene Einzelnen herausgelöst haben. So darf man aus der Einheit des Bewußtseins nicht auf die Einheit der Seele schließen.
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Nun nimmt man im allgemeinen an, das Bewußtsein habe den Nutzen, daß durch Ausgleich zwischen widerstreitenden Begierden die Erhaltung des Organismus gewahrt werde. Oft jedoch siegt die „Vernunft” auch nicht. Das Kind, das durstig ist, trinkt, auch wenn es weiß, daß der kalte Trunk ihm schadet. Der Morphinist greift zu seinem Gift, obwohl er weiß, daß es ihn ins Grab bringen wird. Die Vernunft als Sprecherin des einheitlichen Lebenswillens unterliegt eben sehr oft partikularistischen Tendenzen. Die Einheit der Seele, von der manche Philosophen als dem festesten Punkt in der Welt ausgingen, besteht in Wahrheit gar nicht. Was als Einheit erscheint, sind oft sehr flaue Kompromisse. Und wenn die Philosophie den Menschen durch die Vernunft regiert werden läßt, so ist zu bedenken, daß er sich oft recht unvernünftig benimmt.
5. Die Uneinheitlichkeit des seelischen Besitzstandes.
Mit den Spaltungen der Seele ist auch eine Uneinheitlichkeit des seelischen Besitzstandes gegeben, da jede Verschiebung der psychischen Dispositionen auch Umgruppierung in der Welt der geistigen Inhalte bedeutet. Das ist experimentell festzulegen, da jeder wechselnde Gemütszustand ganz andere Assoziationsketten ins Bewußtsein ruft. Im Zustand mangelnder Konzentration nehmen unsere Sinne beständig Eindrücke auf, die mühsam gesponnene Gedankenfäden jäh zerreißen.
Aber auch das, was wir als festen geistigen Besitz ansehen, ist nicht so geordnet, wie wir gern annehmen. Diejenigen, in deren Hirn alles Wissen wie in etikettierten Schubladen verstaut ist, sind wahrlich nicht zu beneiden. Im schöpferischen Geiste brodelt es wie in erhitzter Retorte, so nur kann es zu neuem Guß und neuer Formung kommen. Der Geist des echten Denkers ist ein Schlachtfeld von Ideen, kein Paradefeld. Die Widersprüche sind es, die vorwärtstreiben, aus Staunen und Zweifeln erwachsen Probleme und Antworten. Nicht, daß er mit billigen Antworten die Widersprüche des Daseins verkleistert, nein, daß er dort noch Ab[59]gründe und Dunkelheiten sieht, wo andere vorübergehen, das macht den Denker. Er hat den Sinn für die Uneinheitlichkeit des Seins außer sich und dessen Widerspiegelungen in sich. Was C. F. Meyer von seinem Hütten sagt: „Ich bin kein ausgeklügelt Buch, ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch”, das gilt von jedem echten Denker, Nur wer sich krampfhaft an einen Standpunkt klammert, wird glauben, mit einem System die Fülle der Welt eingefangen zu haben. Gewiß, man mag Systeme bauen; man muß es sogar, und es ist fruchtbar und wertvoll, die Möglichkeiten eines Standpunkts zu letzter Konsequenz durchzudenken; aber man sei sich bewußt, daß die so erzielte Einheitlichkeit künstlich ist. Die Einheit einer Weltanschauung, die durch Fernhalten aller Widersprüche entsteht, ist nicht fünf Batzen wert. Die Konsequenz der Scheuklappen ist im tiefsten unphilosophisch, mag sie unter Philosophen auch noch so häufig anzutreffen sein. Es ist ein billiger Sport mittelmäßiger Kopfe, in den Werken eines Plato, eines Goethe, eines Nietzsche nach Widersprüchen zu stöbern statt die innere Notwendigkeit dieser Widersprüche zu begreifen und gerade den Reichtum jener Geister daraus zu erkennen.
Im übrigen ist es erstaunlich, wieviel Widersprüche in einem Hirn bestehen können, ohne störend empfunden, ja ohne bemerkt zu werden. Daß man zugleich an die biblische Schöpfungsgeschichte und die Darwinsche Entstehung der Arten, daß man zugleich an die Unendlichkeit der Welt und an die zentrale Stellung der Erde und die Erlösung der Menschen durch Christi Opfertod glaubt, daß man an die Notwendigkeit der Naturgesetze und zugleich an die Unglückszahl 13 glaubt, sind nur ein paar, auch von bedeutenden Geistern bezeugte Tatsachen dieser Art.
Dabei ist es möglich, ganze Partien des Geistes gleichsam herauszunehmen. In der Hypnose werden die geläufigsten Erinnerungen des Individuums wie zugedeckt, feste Gedankenketten abgestellt wie Gasleitungen. In der Psychoanalyse sind die merkwürdigsten Verdrängungsphänomene aufgehellt worden, [60] wo ganze Erlebniskomplexe ins Unterbewußtsein gedrängt und dort eingesperrt gehalten werden wie Verbrecher in unterirdischem Kerker, an dessen Stäben sie nur zuweilen rütteln oder von wo sie gar plötzlich einbrechen in die gesittete Oberwelt des Bewußtseins.
6. Die Spaltungen des Innenbildes.
Das Innenbild von der Individualität will zwar eine Vereinheitlichung sein, indessen spiegeln sich die Spaltungen der anderen Erscheinungsformen auch in ihm. Das Merkwürdige ist, daß derartige Spaltungen vielfach nicht als Spaltungen eines einheitlichen Ichbildes, sondern als zwei einander gegenüberstehende vollständige Ichbilder ins Bewußtsein treten. Wenn zwei widersprüchliche Begehrungen im Menschen sich bekämpfen, so scheinen es vielfach zwei komplexe Personen zu sein, die in ihm streiten. In pathologischen Fällen tritt derartiges als eine Form der Besessenheit heraus: eine teufliche Stimme spricht und lockt oder ähnliche Spaltungen treten auf. Zuweilen erhalten die verschiedenen Ichbilder sogar verschiedene Namen: in Robert Schumann z. B. lebten zu gleicher Zeit ein sanfter „Eusebius” und ein tatenfroher „Florestan”.
Eine besonders typische Spaltung ist der Konflikt mit dem rationalisierten Einheitsich, das jeder Mensch im Laufe seines Lebens in sich ausbildet, und das später ausführlich zu besprechen sein wird, und einer auf Grund irrationaler, plötzlich auftauchender Stimmungen sich ergebenden zweiten Rolle. Besonders religiöse und moralisierende Schriftsteller sprechen oft von diesem Kampfe der Einheitspersönlichkeit, die als die „wahre” oder „bessere” erscheint, mit solchen aus unberechenbaren Tiefen der Seele plötzlich auftauchenden Eindringlingen, die das Ich von der gewohnten Bahn ablenken wollen.
Besonders eigentümlich sind jene Fälle der Spaltungen des Innenbildes, wo eine tatsächliche Simultaneität, nicht bloß ein häufiger Wechsel besteht. Wir kennen solche Zustände vom Lesen eines Romans her, wo wir uns in den Helden einfühlen und doch daneben unseres gewöhnlichen Selbst bewußt sind. Es bestehen da zahllose Übergänge vom wirk[61]lichen Sicheinsfühlen mit der fremden Rolle bis zum klarbewußten Nebeneinander. Der Kunstgenuß beruht nicht zum geringsten Teil auf dieser Fähigkeit, sich in fremde Personen einzuleben. Indessen verhalten sich die einzelnen Menschen verschieden. Während der Typus des „Mitspielers” sich ganz in der fremden Rolle vergißt, ist der „Zuschauer” auch dann, wenn er mit dem anderen fühlt, sich stets seines im bequemen Stuhle sitzenden Selbsts bewußt. Auch im Traume kommen solche Persönlichkeitsspaltungen vor, oft in eigentümlich dramatischer Form.
7. Die Spaltungen des Außenbildes.
Daß es überhaupt nicht ein Außenbild gibt, sondern strenggenommen so viele als Menschen das Individuum bespiegeln, ist schon bemerkt. Merkwürdiger ist bereits, daß diese sich widersprechenden Außenbilder keineswegs alle ganz falsch sind, sondern daß tatsächlich dasselbe Individuum verschiedenen Menschen gegenüber je ein anderes ist. Derselbe Mensch, der im Freundeskreis ein gemütlicher Plauderer ist, gibt sich im Amt als der unnahbare Geheimrat, der eherne Vorgesetzte, darum, weil die soziale Konstellation ihm diese Außenseite aufzwingt. Es ist zuweilen schwer, sich einem bestimmten Außenbilde, das andere an uns herantragen, entsprechend zu benehmen, oft recht peinlich, wenn wir unerwartet einer Atmosphäre von Verehrung oder Feindseligkeit gegenüberstehen. Derartige zwiespältige Beziehungen gehören zu den subtilsten soziologischen Problemen. So werden die Spaltungen des Außenbildes besonders bewußt, wenn ein Mensch zu gleicher Zeit zwei verschiedene Außenaspekte darbieten muß, wenn ihm etwa ein Freund, der ihn in höchst unfeierlichen Lagen kennt, bei einer feierlichen Situation in die Quere kommt. Wer sich zu beobachten weiß, hat diese Spaltungen des Außenaspekts je nachdem als peinlich oder komisch empfunden.
Kompliziert wird der ganze Phänomenkomplex noch dadurch, daß die Legendenbildung, der wir bereits früher begegneten, sich auch der Spaltungen bemächtigt, so daß jede Partei nicht nur ihr Außenbild hat, nein, daß sie es auch ins [62] Mythische steigert. So gibt es nicht nur eine protestantische Legende von Luther, in der er als idealer Glaubensstreiter erscheint, es gibt auch eine katholische, worin er als ein plumper, gemeiner Verbündeter des Antichristes gesehen ist. Und so geht's mit jeder bedeutenden Persönlichkeit mehr oder weniger. Die schon im Innern vorhandenen Spaltungen werden in der Spiegelung nach außen ins Unabsehbare vergröbert, so daß der Karneval des Lebens durch legendäre Gestalten noch abenteuerlicher gemacht wird. Und selbst in der angeblich wissenschaftlichen Geschichte arbeitet die mythenbildende Phantasie des Volkes weiter, um Menschen zu Heroen und Dämonen und oft zu beidem auf einmal umzuschaffen.
8. Die Spaltungen der Objektivation.
Desgleichen projizieren sich die inneren Spaltungen des Ich auch in seine Taten und Werke. Der Hypnotisierte, dem man einredet, er sei ein fünfzehnjähriges Mädchen, schreibt mit dünner, ungelenker Schrift, und auch die pathologischen Persönlichkeitsspaltungen äußern sich in der Schreibweise. Besonders der Schauspieler muß Projektionsfähigkeit für innere Zustände besitzen, denn das Wesen des Schauspielers beruht nicht (wie das Publikum meint) darin, daß er äußerlich darstellt, was er innerlich nicht erlebt; nein, es beruht darin, daß er alles darzustellen vermag, was er innerlich erlebt. Seine Kunst ist nicht so sehr Kunst der Verstellung als der Darstellung.
Auch der Dichter muß die Fähigkeit haben, den Ausdruck, und zwar sprachlichen Ausdruck, für gespaltene Zustände zu finden. Wie schon der Schlaftraum „dramatisiert”, d. h. wie sich hier das persönliche Erlebnis in verschiedene Rollen auseinanderlegt, so in noch höherem Grade der Wachtraum des Dichters. Da werden die Spaltungen des Innenbildes zu kompakten Gestalten: Faust und Mephisto, Tasso und Antonio. Unklar erlebt derartiges jeder Mensch; der Dichter hat die Fähigkeit der klaren Gestaltung. Bei ihm werden jene Spaltungen zu sprechenden und handelnden Wesen, die alle ein wenig Anteil haben an der Individualität des Schöpfers und in ihrer Gesamtheit doch noch lange nicht die Gesamtheit [63] seiner Individualität ausmachen. Wüßten wir's nicht aus dem inneren Erleben, so würden uns die Objektivationen belehren, daß die Einheit des Ich nicht besteht, daß der Mensch nach Goethes Ausdruck ein „Kollektivwesen” ist.
9. Die Einheitlichkeit des Ich als Aufgabe.
Blicken wir auf diese zahllosen Spaltungen der Individualität zurück, so scheint sie sich uns vollends zu verflüchtigen; sie scheint ein launisches Versteckspiel zu treiben, und man kommt sich selbst wie jener Ritter vor, der einen in hundert Formen ihn narrenden Geist zu haschen strebte. Und doch hilft es nichts, angesichts dieser Schwierigkeiten den Kopf in den Sand zu stecken und sich auf ein trotz all dieser hydraartigen Spaltbarkeit bestehendes Einheitsgefühl zu berufen, wenn immerhin sichere Tatsachen dem entgegenstehen. Gefühle können täuschen und tun das nachweislich sehr oft, und dem abstrakten Gefühl für die Einheit der Person steht häufig genug das der Zerrissenheit entgegen. Daß die Individualität darum einheitlich sei, weil sie räumlich von der Haut umgrenzt scheint und aus dieser Umgrenzung ein auf gewisse Zeitspannen einheitliches Handeln hervorgehen kann, berechtigt so wenig dazu, die Individualität als Einheit zu fassen, als der Umstand, daß ein Parlament in einem Hause vereinigt ist und zuweilen einheitlich handelt, berechtigt, dies Parlament als Einheit anzusehen. Denn in Wahrheit gibt es im Ich wie im Parlamente Spaltungen (Fraktionen), die sich heftig befehden, die Einheit kommt überall nur dadurch zustande, daß eine Majorität eine Minorität zum Schweigen bringt, und wirklich als vollkommene Einheit fühlen sich beide Körperschaften nur in besonderen Augenblicken. Es hilft nichts, man muß das Dogma von der simultanen Einheit des Ich preisgeben wie das von der sukzessiven, ja es ist nicht einmal ein Zeichen für große Leistungsfähigkeit des Individuums, wenn es allzu einheitlich ist. Annähernd vollkommene Einheit des Ich läßt Ibsen seinen Peer Gynt nur im - Irrenhaus finden. Selbst aber, wenn jenes Einheitsgefühl, auf das manche Theoretiker aufbauen, eine weit sicherere und nachweisbarere Tatsache wäre, als diese schlechten Psy[64]chologen annehmen, selbst dann noch wäre seine Entstehung ein interessantes Problem, und als solches wird es von mir betrachtet werden. Meiner Anschauung nach ist das Ich nämlich keine Einheit, sondern strebt eine zu werden, eine Einheit in sich und eine Einheit mit andern, und diesem höchst verwickelten Rationalisierungsprozeß wird der ganze zweite Teil dieses Werkes gewidmet sein.
Auf keinen Fall ist Einheitlichkeit etwas Gegebenes, sondern etwas, dem sich der Mensch annähern kann. Daß ein solches Streben nach Einheit in jeder Individualität notwendig, daß es eine soziale, in mannigfacher Hinsicht begründete Forderung ist, wird später zu besprechen sein, wo der Begriff der Rationalisierung zur Sprache kommt. Das Ich ist nicht einheitlich, aber es vereinheitlicht sich. Die irrationale Individualität strebt zum Ideal der geschlossenen „Persönlichkeit”.
Noch eine Anwendung kulturpsychologischer Art! Man nimmt zuweilen an, der primitive Mensch sei aus einem Guß, der moderne Kulturmensch dagegen von Widersprüchen zermürbt. Indessen ist die Einheitlichkeit des primitiven Menschen keineswegs so groß, als sie manchem Schreibtischpsychologen vorkommt. Die Vielspältigkeit beim unkultivierten Menschen ist nur anderer Art als beim Kulturmenschen. Bei jenem ist das Gefühls- und Willensleben ungebändigter, während der Intellekt wenig Konflikte kennt. Um zu wissen, was Leidenschaften sind, die den ganzen Menschen aus seiner Bahn reißen und sein Inneres zerklüften, muß man weitweg von unserer Stadtkultur wandern. Der Eindruck der Einheitlichkeit beim primitiven Menschen wird nur dadurch erzielt, daß sein Gesichtskreis enge ist und nur wenig heterogene geistige Einflüsse seine Seele treffen. Der Kulturmensch wird emotional von früh auf gebändigt, lernt Gefühle und Willen beherrschen, so daß wirkliche große Leidenschaften in unseren Städten so ausgestorben sind wie große Raubtiere in unseren Forsten. Dagegen hat der Kulturmensch ein ungeheuer reizbares Nervensystem, das auf feinste Nuancen reagiert und belastet ist mit Eindrücken aus fremdesten Sphären. Infolge [65] der mannigfachen sozialen Beziehungen changieren Innen- und Außenbild unablässig, und der „Impressionist”, der typische Vertreter einer Spätkultur, leugnet überhaupt das Ich, er kennt nur noch isolierte Impressionen. Indessen stehen diesen Zerklüftungen mannigfache Kulturtendenzen entgegen, die auf Vereinheitlichung gerichtet sind. Moden, gesellschaftliche Gruppierungen, Kulturströmungen schaffen Anpassungen, die der Naturmensch nicht kennt. Einheitlich ist weder der Naturmensch noch der Kulturmensch, die Spaltungen sind nur andere, ebenso wie sich die Rationalisierung anders betätigt. Auch alle derartigen Betrachtungen weisen auf das Problem der Rationalisierung hin, das sich als notwendige Ergänzung zu unseren bisherigen Betrachtungen überall aufreckt.
IV. Kapitel
Die Nichtabgrenzbarkeit der Individualität
1. Das Problem der Umgrenzbarkeit.
Außer der Identität spielt bei der Begriffsbildung in der rationalen Logik nichts eine so bedeutsame Rolle wie die „Definition”, die Abgrenzung gegen andere Begriffe. Grundsätzlich sollte jeder Begriff sich definieren lassen, und die rationale Logik ist von der Möglichkeit und der wesenerfassenden Bedeutung ihrer Definitionen durchdrungen. Da sie zugeben muß, daß Individuen nicht zu definieren seien, so fühlt sie sich berechtigt, alle Individualität als „zufällig” und „nebensächlich” abzutun. Ein solches Verfahren ist zwar bequem, aber nicht ganz einwandfrei. - Ich möchte umgekehrt in der Undefinierbarkeit, der Unabgrenzbarkeit des Individuums eine positive Qualität sehen, die von höchstem philosophischen Interesse ist. Und zwar möchte ich die Unabgrenzbarkeit der Individualität nicht bloß als ein Nichtpassen in die Klischees der rationalen Logik verstehen, sondern etwas tiefer fassen.
Diese Unumgrenzbarkeit der Individualität hat ihren wahren Grund in einer merkwürdigen Widersprüchlichkeit: einerseits [66] nämlich ist die Individualität der übrigen Welt in gewissem
Sinne selbständig gegenübergestellt, erscheint sich selbst und anderen als Mikrokosmus[sic], andererseits ist sie wiederum ein Teil dieser Welt. Mit diesem Widerspruch müssen sich alle Untersuchungen über die Grenzen der Individualität auseinandersetzen, und sie klopfen damit bereits an Pforten, die ins Reich der Metaphysik hinausgeleiten.
Trotzdem will ich zunächst rein empirisch vorgehen und wiederum die sieben Erscheinungsweisen, in denen uns die Individualität begegnete auf ihre Umgrenzungsmöglichkeiten hin prüfen.
Und zwar fasse ich den Begriff „Umgrenzung” in einem doppelten Sinne, erstens in einem äußeren, indem der zu umgrenzende Gegenstand im wörtlichen Sinne eingegrenzt wird, sei es räumlich gegen das Nebeneinander, sei es zeitlich gegen das Nacheinander. Bei der Individualität, die zwar wesentlich zeitlich verläuft, aber sich auch auf das Nebeneinander in den Raum ausdehnt, ist beides zu beachten. Die äußere Umgrenzung in diesen beiden Unterformen sondert das Ich ab gegen das Außerindividuelle.
Aber ich fasse die Um- oder Abgrenzbarkeit auch noch in einem übertragenen Sinne als innere Unterscheidung. Diese sondert das Ich nicht nur gegen das Außerindividuelle, sondern auch gegen das Überindividuelle ab, d. h. gegen andere Individuen, die mit ihm in eine übergeordnete Kategorie eingehen. Wir rühren damit an eines der merkwürdigsten Probleme unseres verwickelten Forschungsgebietes, das nämlich, daß bei aller Singularität die Individualität doch ihre Verwandtschaften hat, Verwandtschaften, die jene Singularität oft in seltsamster Weise durchkreuzen. Denn die Verschiedenheit der Individuen ist nicht so radikal, daß sie nicht hohe Ähnlichkeitsgrade zuließe, die - obenhin gesehen - wirklich als Gleichheit anmuten können. Gewiß gibt es in der Welt nicht zwei Menschen, die völlig gleich sind, aber dennoch ist wiederum nichts in der Welt einem Menschen ähnlicher als ein Mensch; verglichen mit einem Gorilla oder [67] einem Birnbaum erscheinen die Menschen als „gleich”. Oder die Angehörigen einer Familie, einer „Rasse”, einer historischen Epoche, einer sozialen Schicht offenbaren oft ganz merkwürdige Übereinstimmungen, die ich später als Formen vorindividueller, natürlicher oder künstlicher Rationalisierungen begreiflich machen werde, die jedoch dem oberflächlichen Beobachter die daneben bestehende Singularität ganz verdecken. Nun hat man seit alters diese partielle Gleichheit so verstanden, als wirke in allen Individuen, durch sie hindurchgreifend, eine überindividuelle Einheit, die man je nachdem „Idee”, „Universale”, „Gattung” genannt hat. Wir wollen hier nicht erörtern, ob dieses Überindividuelle wirklich eine einheitliche Seinsform ist - das Problem soll später zur Sprache gelangen -, hier kommt es auf Abhebung des Individuellen vom Überindividuellen an, und unsere These lautet vorweggenommen, daß hier, wie bei der äußeren Abgrenzung, eine absolute Absonderung nicht möglich ist. Es gilt diese, für das landläufige, die Welt in Stücke zerschneidende Denken paradox scheinende Tatsache auszudenken, daß je nach dem Gesichtspunkt das Individuum räumlich und zeitlich abgrenzbar und qualitativ unterscheidbar ist von der übrigen Welt, und daß trotzdem unter anderem Gesichtspunkt diese Grenzen und diese Unterschiedenheit als imaginär erscheinen. Das ist keinerlei Mystik, es erfordert nur ein wenig Emanzipation von der herkömmlichen Denkweise, daß die Welt als eine aus wohlbehauenen Bausteinen aufgeführte Begriffspyramide zu betrachten sei.
2. Die Grenzen des unmittelbaren Ichbewußtseins.
Bereits beim unmittelbaren Ichbewußtsein zeigt sich die Unmöglichkeit einer Abgrenzung. Denn das Ichbewußtsein ist eine zeitlich verlaufende, Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart in eins verschmelzende Reihe, ein Strom von unbestimmbarer Länge und ebensowenig bestimmbarer Breite. Was heißt es, einem Gefühl, einer Sehnsucht , einem Wollen, einer Aktivität, die uns als Kernphänomene des Icherlebnisses erscheinen eine Grenze setzen? Gewiß, ein Ge[68]fühl kann versiechen, ein Wollen kann resignieren, eine Aktivität sich bei erreichtem Ziel zufrieden geben, aber sind sie damit als Phänomene irgendwie umgrenzt? Sie weisen doch als Bewußtseinsphänomene alle über sich selbst hinaus, sie meinen etwas außerhalb des Ichs Liegendes und suchen es einzubeziehen in die Individualität. Das Leben des Bewußtseins besteht ja gerade darin, daß es über sich hinausgreift. Und das Wesen der Bewußtseinsphasen ist Übergang in andere, in denen sie weiterleben. Streng genommen gibt es überhaupt keine Abschnitte im Bewußtsein, sondern nur Metamorphosen, so radikal diese scheinen mögen. Und vom Standpunkt des unmittelbaren Icherlebens ist ja jeder geistige Inhalt zu gleicher Zeit von außen in die Individualität getreten und doch in sie aufgenommen. Das Licht des Sternes, das ich sehe, gehört dem Stern an und zugleich meiner Individualität, ist - als Licht - mein Erlebnis. Das Wesen des Ichbewußtseins besteht nur darin, daß es mit einem Nichtich in Beziehung tritt. Sein Wesen beruht nicht im Innehalten, sondern im Überschreiten einer rein imaginären Grenze, ist zugleich Zusammenprall und Vereinigung zwischen Ich und Außenwelt.
Beinahe noch schwieriger ist die Unterscheidung der Bewußtseinserlebnisse vom Überindividuellen. Gewiß, ich charakterisiere ein Gefühl als „mein” und will sagen, daß meine Individualität sich darin auswirkt. Ist damit aber wirklich etwas ausgesagt über seinen Ursprung, da wir doch eben diese Individualität gar nicht kennen? Müßten wir nicht konsequenter sagen: es fühlt in mir, es will in mir? Mancherlei Beobachtungen müssen das nahelegen. Kann ich wirklich etwas für meine Gefühle, Leidenschaften, Gedanken? Hat nicht Voltaire recht, wenn er die Frage, ob der Mensch für seine Träume haftbar sei, achselzuckend ablehnt mit der Antwort: „Soviel wie für seine Gedanken!” - Nein die Gefühle und Begehrungen bilden eine Erscheinungsform unseres Ich, aber dies als ihre Quelle hinzustellen geht nicht an. Gefühle und Begehrungen tauchen in uns auf, die nicht aus uns allein stammen. Sie spuken nach aus früheren Geschlechtern, sie [69] werden uns ohne daß wir es ahnen - von außen suggeriert. Wenn wir in eine „Masse” eingehen, mitgerissen werden zu Massenenthusiasmus oder Massenhaß, so brechen da Erscheinungen in das Ich, die ihm ganz fremd sind. Aber doch kommen sie auch nicht ganz von außen. Wir sind in unseren Gefühlen, sittlichen Instinkten, ästhetischen Neigungen nicht bloß wir selbst, sondern Teile der überindividuellen Nationalsubjektivität oder Zeitsubjektivität. Wo ist da ein Kriterium zu finden für das, was nur ich bin, gegen das, was als Hineingreifen einer überindividuellen Subjektivität anzusehen ist? Ich lasse die Frage offen, ob das Einheiten sind. Aber ist denn ausgemacht, ob die Individualität eine Einheit ist? Wir antworteten „nein”! Und so gut wie wir sagen, „ich” will, kann ich auch sagen, meine Rasse will aus mir, mein Zeitgeschmack fühlt in mir.
3. Die Grenzen der leiblichen Individualität.
Lagen fürs unmittelbare Ichbewußtsein die Schwierigkeiten der Abgrenzung wesentlich in seiner Unräumlichkeit, so müssen, so scheint es, diese Schwierigkeiten bei der Umgrenzung des Leibes wegfallen. Denn der Leib gehört der Räumlichkeit an und in der Epidermis haben wir scheinbar eine deutliche Grenze. Der Leib ist, so scheint es ferner, räumlich von seiner Umgebung abtrennbar. Indessen haften derartige Betrachtungen an der Oberfläche. Gewiß von einzelnen Teilen der Räumlichkeit, genauer: der Erdoberfläche, kann sich der Leib absondern, nicht von den in dieser Räumlichkeit gegebenen Lebensbedingungen überhaupt. Denn er steht in beständigem Austausch mit dieser Umgebung. Täglich nimmt er Speise und Trank zu sich und gibt verbrauchte Stoffe seines Körpers an die Umgebung ab, unablässig verarbeitet er den Sauerstoff der Luft; und auch deren Druck und Wärme, das Licht, der Boden, auf dem er sich bewegt, sind Voraussetzungen seines Daseins. Die scheinbar so leicht zu ziehende Grenze ist also nicht absolut zu nehmen. Zum Bestehen des Leibes gehört mehr als er selbst.
Der Leib gehört aber auch der Zeit an. Auch hier [70] scheint die Grenze leicht zu bestimmen: Geburt und Tod. Aber diese Umgrenzung ist so oberflächlich wie die räumlicne durch die Haut. Die Geburt, der Augenblick des Austritts aus dem Mutterleibe, ist ein ganz äußerliches Datum. Bestand die Individualität nicht neun Monate bereits im Mutterleibe? Und wenn sie ihre Nahrung durch diesen empfing, dauert das nicht noch Monate lang weiter? Nur Art und Ort der Verbindung mit dem mütterlichen Leib haben sich geändert, nicht die Tatsache selber. Eher wäre der Augenblick der Empfängnis als zeitlicher Ursprung zu nehmen. Aber haben nicht vorher bereits Samen und Ei bestanden, die zusammen die spätere Individualität bedingten? Und lehrt nicht gerade die Biologie die „Kontinuität” des Keimplasmas? Erwägen wir das, so hat das Individuum strenggenommen überhaupt keinen „Ursprung”, sondern ist Welle eines Stromes, der - aus zahllosen Ahnengeschlechtern herkommend - weiterfließt in die Geschlechter der Nachfahren. Ja, erscheint unser ganzer Leib, in diesem Zusammenhang betrachtet, nicht bloß als untergeordneter Bewahrer für das durch ihn hindurchwirkende, kontinuierliche Keimplasma?
Wie der elterliche Leib dem unseren gegenüber nicht etwas völlig Außerindividuelles ist, sondern der unsere als Kontinuität von jenem angesehen werden muß, so ist mit dieser Kontinuität eine Art physischer Grundlage für die Wirksamkeit einer überindividuellen Subjektivität gesetzt. Wirkt auf diesem Wege nicht auch das überindividuelle Wesen der „Rasse” in uns hinein? Sind wir, indem wir kontinuierlich mit den Vorfahren zusammenhängen, nicht eins mit allen anderen Nachkommen derselben Vorfahren? Und geht nicht eine gemeinsame Subjektivität durch uns hindurch, was sich rein äußerlich als physische Ähnlichkeit, innerlich in Anlagen zu Krankheiten usw. äußern kann? Wenn mein Körper ein Teil einer überindividuellen physischen Einheit, der Rasse, ist, ist er da noch „mein” Körper? Ist es nicht lächerlich, daß das, in diesem Leibe sein unruhiges Wesen treibende Bewußtsein sich ein Eigentumsrecht diesem Körper gegenüber an[71]maßt? Ist es nicht berechtigt, wenn mein Volk, aus dem dieser Leib hervorgegangen ist, von diesem Leib im Kriege verlangt, er solle sich unter Umständen töten lassen, wie auch wir einen Teil unseres Körpers opfern würden, um den ganzen zu erhalten? Und gehört es nicht zum Wesen des leiblichen Individuums, daß es über sich hinausstrebt, zeugen will und sich fortpflanzen in Wesen, die seinesgleichen sind, Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinem Bein und doch nicht es selber, sondern Individuen für sich? Und lehrt die Abstammungstheorie nicht sogar eine Verwandtschaft, d. h. einen überindividuellen Zusammenhang aller lebenden Wesen überhaupt, so daß wir als physische Wesen im tiefsten Grunde verwandt sind mit allem was unter der Sonne kriecht und fliegt? Gerade von hier aus werden sich uns später Ausblicke in metaphysische Tiefen eröffnen, durch die die uralte Weisheit jenes Inders, der auf die gespaltene Granatfrucht deutend seinem Schüler sagen konnte „das bist du!”.- eine merkwürdige Bestätigung findet. Hier genügt es hervorzuheben, daß der scheinbar so abgeschlossene Leib doch nur eine relative, nicht eine absolute Sonderexistenz ist in dem überindividuelen Leben, das durch ihn hindurchgeht.
4. Die Grenzen der Seele.
Mußten wir schon fürs Augenblicksbewußtsein den Begriff der absoluten Grenze ablehnen, so auch für die ihm unterlegte Seele.
Wir wollten sie als Bündel von emotionalen und geistigen Funktionen vorstellen. Soweit die Emotionen ins Bewußtsein traten, erschien die Anwendbarkeit des Begriffs einer Grenze ausgeschlossen. Sie ist es noch mehr, wenn wir die Bewußtseinserlebnisse als Auswirkung dauernder Dispositionen denken. Wie kann man von der Grenze eines Gefühls, eines Wollens, eines Strebens als Dispositionen sprechen? Gewiß, sie sind nicht unendlich, aber darum noch lange nicht klar abgrenzbar. Ununterbrochen gebären sich Fühlen und Wollen aufs neue. Wir taumeln von Begierde zu Genuß, und im Genuß verschmachten wir nach Begierde. Gewiß können unser Ehrgeiz, unsere Sehnsucht, unsere Hoffnung verstummen, vorübergehend [72] sich befriedigt fühlen, bald lodern sie wieder auf, und selbst wenn eine emotionale Strebung versiechen sollte, so treten andere an ihre Stelle. Es liegt im Wesen der emotionalen Funktionen, des Strebens und Wollens, daß sie prinzipiell gar keine Grenzen kennen, daß sie latent bleiben, um dann plötzlich um so heftiger zu erwachen. Und kann man im Hinblick auf geistige Funktionen von Grenzen sprechen? Gewiß auch sie sind nicht unendlich, aber wir haben z. B. die Sinne stark über ihre sogenannten natürlichen Grenzen hinaus erweitert. Mit Riesenfernrohren entwirren wir Nebelflecken, von denen unser natürliches Auge keinen noch so blassen Abglanz erfaßt. Mit Ultramikroskopen vermögen wir Partikelchen zu sehen, die nur 1/1.000.000 mm messen! Und weiter noch dringt der Gedanke, der das Gewicht des Wasserstoffmoleküls als 27 Quadrillionstel Gramm errechnet.
Aber selbst für natürliche Sinne sind die Grenzen nicht leicht zu bestimmen. Es erscheint dem naiven Menschen fast märchenhaft, zu welcher Feinheit Seidenfabrikanten ihren Farbensinn, Weinkenner ihre Zunge, Musiker ihr Ohr zu steigern vermögen. Sicherlich geht alles das nicht ins Endlose, aber wer will ein Ende bestimmen?
Und dabei spreche ich nicht von solchen Funktionen der Seele, die, wie das „Hellsehen”, gewiß nicht sicher bezeugt, aber noch lange nicht ohne weiteres ins Reich der Fabel zu verweisen sind !
Alle diese Funktionen sind nicht bloß individuell, sie sind zugleich überindividuell. Sie werden ererbt wie die physischen Anlagen, und wie diese erscheinen sie als Fortsetzungen der Anlagen unserer Väter.
Am deutlichsten treten die überindividuellen Erscheinungen auf dem Gebiete des Geschlechtstriebes hervor, der bereits als leibliche Funktion etwas über das Individuum Hinausweisendes, in der „Gattung” Verwurzeltes ist. Die merkwürdigen, logisch so gar nicht zu begründenden, sondern aller Logik spottenden Neigungen zum anderen Geschlecht, die wir als innerstes, persönlichstes Erleben empfinden, sind in Wahr[73]heit gesteuert von Mächten, die einem Überindividuellen angehören und in uns mit der Macht eines magischen Zwanges wirken, - All das ist nur zu begreifen, wenn wir auch die Seele als Teil überindividueller Zusammenhänge denken, die trotz äußerlicher Trennung fortwirken.
5. Die Nichtabgrenzbarkeit des „Mein”.
Ganz unmöglich ist es, dem geistigen Besitzstand eine Grenze zu ziehen. Schon das „Blickfeld” des Momentanbewußtseins ist auf seine Inhalte nicht zu umgrenzen. Gewiß, im „Brennpunkt” des Bewußtseins sind immer nur einer oder doch wenige Inhalte, um diese aber gruppieren sich zahllose „Fransen”: das Bewußtsein der räumlich-zeitlichen Umgebung, näherer und fernerer Zusammenhänge, so daß ich, wenn ich den Baum vor meinem Fenster anschaue, zugleich mein Zimmer, die Straße und den Himmel dahinter mitsehe. Aber geistig besitzen heißt nicht nur, im Bewußtsein haben. Der gesamte Inhalt meines Gedächtnisses auch im Zustand der Latenz ist geistiger Besitz, gehört zu meiner Individualität. Wo aber ist eine Grenze? Heute fällt mir eine Erinnerung nicht ein, die mir morgen wieder gegenwärtig ist. Je nach Stimmung und Konstellation verfüge ich über ganz verschiedene Assoziationen; aber die im Augenblick nicht verfügbaren sind ebenfalls „mein”. Und alle jene Gedächtnisinhalte, die ich nur mit Hilfe eines Buches heranziehen kann, sind auch mein. Ich kenne die Paragraphen des Strafgesetzbuches nicht „auswendig”; ich kann sie aber „nachschlagen”, weil ich mich im Strafgesetzbuch zurechtfinde. Meine Bibliothek ist eine Erweiterung meines Gedächtnisses wie das Fernrohr eine Verlängerung meines Auges. Und die öffentlichen Bibliotheken erweitern ebenfalls mein Gedächtnis; denn ich kann über ihre Inhalte mittelbar so verfügen wie über meine Gedächtnisinhalte unmittelbar. Was andere wissen und gewußt haben, kann einbezogen werden in meinen Geist. Läßt sich doch das Wissen der ganzen Menschheit als einheitlicher, über alles Individuelle erhobener Schatz anschauen, an dem die Individualität Teil hat wie der Leib an der Rasse!
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Gerade bei den geistigen Inhalten tritt auch die Überindividualität sehr stark hervor. Ja, die rationale Logik und die Wissenschaft überhaupt übersehen die individuelle Färbung aller Gedanken sogar mit Absicht vollkommen. Ihnen werden die geistigen Inhalte nicht nur zu überindividuellen, sie werden sogar zu übersubjektiven, rein objektiven Wesenheiten. Man trennt sie vollkommen vom Subjekte ab und sieht in dieser Abgetrenntheit einen besonderen Wert. Ich werde in einem späteren Kapitel das nachzuprüfen haben. Hier sei hervorgehoben, daß zwar die Vorstellung von München, die ein Mann hat, der in München wohnt, von der eines Mannes, der nur 3 Tage da war, und der eines dritten, der es nie betreten hat, individuell ungeheuer differiert, daß aber trotzdem eine überindividuelle Gemeinsamkeit besteht, daß trotz aller individuellen Obertöne der Begriff „München” etwas Überindividuelies ist. Und so sicher es ist, daß der allen Logikern teure Satz „Alle Menschen sind sterblich” im Munde eines Materialisten einen ganz anderen Sinn hat als im Munde eines frommen Christen, so hat er daneben doch auch seine überindividuelle Gültigkeit. Zwischen Mein und Nichtmein gibt es keine Grenze. Was wir wissen, ist zugleich in uns und außer uns, gehört uns und übergeordneten Zusammenhängen an.
6. Die Nichtabgegrenztheit des Innenbildes.
Das Innenbild beschränkt sich nicht etwa darauf, die vier ersten Erscheinungsweisen der Individualität zu einer Gesamtheit zu verarbeiten, es überschreitet vielmehr überall diesen Rahmen und zieht zahlreiche Inhalte mit ein, die eigentlich außerindividuell sind. So paradox es scheint, so umfaßt unsere Ichvorstellung zahlreiche gar nicht zum Ich gehörige Dinge, und unser Selbstbewußtsein wurzelt in außerhalb des Selbst Liegendem. Zunächst tragen die Kleider sehr viel zum Ichbilde bei. Wir fühlen uns als andere Menschen im Frack denn im Strandkostüm; in allen Fällen gehört die Kleidung zum Innenbild. Die Ichrolle ist abhängig vom Kostüm. Aber auch unser anderer Besitz gehört zum Ich! Das eigene Haus ist eine Art Gewand, das gewiß nicht alle mit Geschmack zu [75] tragen wissen, das jedoch ebenfalls das Innenbild erweitert und eingeht in dieses. Ferner alle Dinge, die das Ich als „Sockel” braucht, um sich zu erhöhen! Da dienen die Stadt oder das Land, worin einer geboren ist, das Bankkonto, über das er verfügt, die Berufsklasse, zu der er gehört, als Erweiterung des Innenbildes, werden alle einbezogen in den größeren Rahmen der Individualität. Der eine sieht sich als Besitzer der größten Briefmarkensammlung, der andere als Träger des Rennpreises, der dritte als Ministerpräsident, und stets wird solcher Besitz oder Posten dem Individualitätsbild einverleibt. Daß auch die zurückgespiegelten Außenbilder, also Ehre und Ruhm, das Innenbild erweitern wie ein Reifrock das körperliche Bild, hilft ebenfalls, die Vorstellung von der Individualität zum Zentrum eines schlechthin unbegrenzten Strahlenglanzes zu machen. Es ist ebenso kompliziert wie amüsant, die Künste der menschlichen Eitelkeit unter die psychologische Lupe zu nehmen.
Auch zeitlich dehnt sich das Innenbild die Vergangenheit wie in die Zukunft aus. Es trägt nicht nur die eigene Geschichte in seinen Hintergründen, es will auch „Hochwohlgeboren” sein und reiht möglichst viele Ahnen als Mehrer seiner Würde hinter sich. Auch aus der Zukunft leiht sich das Innenbild Farben. Der überschwängliche Stolz des Jünglings ist ein Wechsel auf die Zukunft; der Marschallstab im Tornister, der erträumte Lorbeer für spätere Taten werden einbezogen in das Innenbild.
Nicht immer ist das Überindividuelle, das in das Individualitätsbild eingeht, scharf vom Außerindividuellen zu sondern. In diesem Fall ziehen wir fremde Inhalte ein in unser Ich, in jenem Fall gehen wir mit anderen Individualitäten in höhere Einheit ein, was oft auf Ähnliches hinauskommt. Überindividuelle Einheiten der bezeichneten Art sind Familie, Freundschaften, Stamm, Volk, Menschheit. Mit unserer Familie fühlen wir uns als „eins”; stirbt ein Freund, so ist uns, als sei ein Stück unserer eigenen Individualität in die Grube gefahren. Bei vielen Völkern wird ein Verbrechen nicht am Individuum [76] allein, sondern an der ganzen Familie bestraft, ja bis ins dritte und vierte Glied will Jahwe den Frevel sühnen. In China werden nicht nur die Nachfahren, wie auch bei uns, geadelt, nein auch alle Ahnen werden in den Adelsstand erhoben.
Jede Liebe ist ein Durchbrechen der Individualitätsschranke. Wie in der physischen Vereinigung zweier Liebenden eine neue Einheit sich bildet, so tritt auch psychisch eine Überschreitung der eigenen Lebenssphäre ein. Es ist der unbeschreibliche Reiz des dichterischen Schaffens, daß das Ich untertaucht in fremde Ichbilder, nicht nur das eigene, sondern ungezählte fremde Leben mitlebt, und derjenige, der Gedichtetes nacherlebt, wird dieses Reizes teilhaftig. Ja, der Mystiker, der sich in seiner Ekstase über sein Ich erhebt, dem sein Ichbild wie Nebel verblaßt, fühlt sich aufgegangen in höhere Einheit, in Gott.
7. Die Nichtabgegrenztheit des Außenbildes
Das in anderen Individuen sich spiegelnde Außenbild pflanzt sich fort in unübersehbare Perspektiven hinein. Schon die Zahl der „Spiegel” schließt jede Grenze aus.
Aber auch inhaltlich erweitert sich das Außenbild wie das Innenbild. Alles, was dieses erhöht und glänzen läßt, kann auch im Außenbild wirken. Kleider erscheinen auch im Außenbild als Teil der Individualität. Mancher glaubt, eine Frau zu lieben und liebt nur ihre elegante Robe oder ihr schönes Haar, das vielleicht auch nur - Gewand ist! Vielleicht liebt er auch nur ihr Geld, ihr Haus, ihren Namen, ohne sich dessen bewußt zu sein, weil die Individualität jener Frau für ihn eine Einheit mit diesen Dingen bildet. Umgekehrt liebt die Frau vielfach nur die Stellung, das Ansehen, den Ruhm ihres Gatten. In der pathologischen Erscheinung des Fetischismus verdrängen gewisse äußere Zugehörigkeiten sogar das Ich selber, so daß sich die erotische Erregung stärker auf die Kleider oder den Schmuck als auf den Körper der geliebten Person bezieht.
Auch ins Außenbild gehen Vergangenheit und Zukunft [77] ein. Mancher gute Gatte sieht in seiner Frau noch immer die, die sie ehemals war, übersieht ihre Runzeln und grauen Haare, mancher Jüngling wird um dessen willen geliebt und geehrt, was er an Taten „verspricht”. Auch im Bösen haftet Vergangenheit. Manchem Verbrecher, der ehrlich nach anständigem Lebenswandel strebte, ist seine Vergangenheit zum Schwergewicht geworden, das ihn für immer daniederhielt.
Ebenso färbt Überindividuelles das Außenbild. Die Familie, das Land, aus dem einer stammt, beeinflussen das Bild. Mancher kann sich niemals dessen erwehren, daß man in seiner Individualität den Typus mitsieht, zu dem er vielleicht nur äußerlich gehört. Wie mancher Jude hat z. B. einen vergeblichen Kampf gegen das Vorurteil zu führen, das für nichtjüdische Augen sein Außenbild entstellt. Ebenso können typische Berufsbilder das Außenbild der Individualität beeinflussen. Viele Leute sehen in anderen überhaupt nur den Typus, sie sehen in der Frau nicht das Individuum, nur „das Weib” oder „das Weibchen”. Die Komödie der Irrungen, als die uns früher die Spiegelung der Individualität in fremden Hirnen erschien, wird oft genug zur Tragödie.
Jedenfalls sind wir auch im Geiste der anderen nie bloß wir selbst, immer Teile größerer Zusammenhänge.
8. Die Nichtabgrenzbarkeit der Individualitäts-Objektivierung.
Jede Objektivation der Individualität ist an sich eine Überschreitung von deren engeren Grenzen, und nur darum, weil eine Zurückbeziehung des Werkes auf den Urheber stattfinden kann und tatsächlich immer stattfindet, kann man die Objektivierung zur Individualität selber rechnen.
Freilich verschiebt diese Zurückbeziehung das Bild der Individualität oft vollkommen, läßt sie in neuer Beleuchtung erglänzen, hebt sie in Höhen, an die das sich auswirkende Individuum kaum dachte. Was würde mancher Künstler und mancher Denker sagen, könnten sie die Wirkungen überschauen, die von ihnen ausgegangen sind, die Jünger, die in ihrem Namen sich betätigt haben, die Auslegungen, die ihre Werke erfahren! Und es ist gar nicht abzusehen, was für Wirkungen [78] die Individualitäten Platos, Christi, Goethes noch fernerhin haben werden. Jedes Individuum ist nicht nur die direkte Ursache seiner Wirkungen, es wird auch zur Auslösung latenter Spannungen und Kräfte, die seinen Namen führen, wenn es auch nur der zufällige Funke war, der aufgehäufte Energien zum Zünden brachte. Dabei zeigt sich das eigentümliche Bedürfnis des Menschen, große, an sich unpersönliche Bewegungen auf individuelle Namen zu taufen. Die ungeheure Bewegung des Christentums geht nur zum Teil auf Jesu Anstoß zurück, historische Mächte ganz unreligiöser Provenienz schrieben seinen Namen auf ihre Fahnen und verübten Taten unter dem Zeichen des Kreuzes, vor denen der Bergprediger aus Galiläa erschüttert sein Haupt verhüllt hätte. Ja, man erfindet für anonyme Geschehnisse Namen, die sich zu Individualitäten auswachsen, Homer, Moses, Lykurg gehören dahin. - Wie schwer feststellbar eine Grenze ist, geht daraus hervor, daß frühere Zeiten überpersönliche Mächte als Individuen verkörpert dachten, während die neueste Zeit vielfach in den Individuen nur Durchgangspunkte für überindividuelle Mächte sieht daß beides möglich ist, liegt an der Nichtabgrenzbarkeit der Individualität. Wer hat nicht schaudernd verspürt, daß unsere Taten wie unsere Kinder, in denen doch unsere Individualität weiterlebt, ihr eigenes Leben gewinnen und, obwohl sie unseren Namen tragen, ihre Herkunft völlig verleugnen? - Und noch ein anderes sei erwähnt! Wie oft meint der Mensch, nur seine Individualität durchzusetzen in seinem Werk und wird doch zum Erfüller überindividueller Tendenzen! Pro patria est dum ludere videmur, für ihr Volk, ihre Zeit, für die Menschheit ist's, daß die Künstler schaffen, die Gelehrten forschen, auch wo sie nur ihren scheinbar ganz persönlichen Antrieben folgen. Überall zerfließt die Grenze der Individualität.
9 Rückblick.
Nur wer die Fesseln der traditionellen Logik zu sprengen weiß, wird das Ergebnis dieser Betrachtungen würdigen können, nur wer Hegels Erkenntnis, daß alles Einzelsein nur im Zusammenhang der Welt zu begreifen ist, sich zu eigen gemacht hat, wird uns folgen. Denn Hegel, [79] der zunächst als der Rationalisten konsequentester erscheint, war doch zugleich viel mehr als das, war zugleich ein Bahnbrecher des Irrationalismus.
Nichts scheint dem naiven Realisten und leider auch den meisten Philosophen klarer und fester umgrenzt als das Ich; deutlich scheint es der übrigen Welt gegenüber zu stehen. Indem wir jedoch das Ich unter seinen verschiedenen Aspekten auf seine Grenzen hin prüfen, zerfließen uns diese wie Nebel, je genauer wir nachforschen, um so tiefere Zusammenhänge entdecken wir zwischen Individualität und mancherlei überindividuellen Subjektivitäten, ja selbst der Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt gerät ins Wanken. Wir mußten erkennen, daß alle Erscheinungsweisen der Individualität niemals die reine Individualität, sondern stets nur deren Inbeziehungstehen mit Außerindividuellem zeigten.
Wie bei allen anderen Charakterisierungen des Ich bestehen auch hinsichtlich der Abgrenzung Verschiedenheiten je nach der kulturellen Stufe. Aber hier wie dort handelt es sich nur um Gradunterschiede, die das Wesentliche nicht aufheben. Der primitivste wie der kultivierteste Mensch fühlen sich zugleich als Ich und als zusammenhängend mit Außerindividuellem. Nur die Art dieses Außerindividuellen wechselt. Während der primitive Mensch sich mit seiner Familie, seinem Clan untrennbar verwachsen fühlt und innerhalb dieser überindividuellen Gesamtheit sein Ich sich kaum herauslöst, fühlt er sich in schroffstem Gegensatz gegen jeden Fremden, auch gegen die Natur (von einigen Tieren, die er sich verwandt glaubt, abgesehen). Der Kulturmensch neigt dazu, die Bande zur Familie, zum Stamme zu lockern, er fühlt dagegen Verwandtschaft mit weitesten sozialen Kreisen, mit der Menschheit; die Nächstenliebe wird zur Fernstenliebe, ja er fühlt sich in einer Weise eins mit der „Natur”, wie das der Naturmensch niemals vermag. Ein Solipsismus besteht auch in dieser Hinsicht nur in der Theorie. Mag die Entwicklung vom typischen zum individuellen, subjektiven, reizsamen Seelenleben gehen, so darf man doch nicht übersehen, daß der Loslösung [80] des Individuums aus den natürlichen überindividuellen Zusammenhängen neue Zusammenhänge entgegenstehen, die die nach der einen Seite schärfer gezogene Grenze nach anderen weiter hinausrücken oder ganz verwischen. Niemals kann sich das Individuum vom Nichtindividuellen überhaupt loslösen; wenn es einzelne Beziehungen löst, muß es dafür andere knüpfen.
Abschluß des ersten Teiles
Das bisherige Ergebnis.
Zu einem merkwürdigen Ergebnis sind wir gelangt auf unseren bisherigen Wegen. Die Individualität, die uns zunächst als eine selbständige, einheitliche, singulare, von der übrigen Welt wohl unterschiedene Wesenheit erschien, verlor, je fester wir zupackten, mehr und mehr von diesen Qualitäten, sie verflüchtigte sich, und vor unseren Augen öffnete sich statt dessen ein unendlich mannigfaltiger, sich wandelnder, sich spaltender, bei aller Selbständigkeit doch unabgrenzbarer und bei aller Unterschiedenheit doch mit tausend anderen Formen aufs nächste verwandter Strom von Geschehnissen, der über alle rationale Fassung hinwegflutete.
Ist diese Erkenntnis nun nicht rein negativ? Muß sie nicht mehr Verwirrung stiften als Klarheit erbringen? Ich antworte darauf, daß auch scheinbar negative Erkenntnisse ihren positiven Wert haben können, und daß eine Irrationalität höhere Erkenntnisbedeutung haben kann als eine Rationalität, die trügerisch ist.
Im einzelnen jedoch werde ich mich gegen zwei Einwände zu wehren haben, die gegenüber der hier aufgezeigten Irrationalität sich erheben mögen. Der eine wird behaupten, daß das hier beschriebene Ich ein Chaos sei, der zweite wird erklären, ich hätte das Icherlebnis, die unmittelbarste Gegebenheit der Welt, in eine Fata morgana, ein Phantom, ein Nichts aufgelöst. Beide Einwände treffen mich nicht.
Dem Nachweis, daß das irrationale Ich kein Chaos sei, wird der zweite und in gewissem Sinne auch der dritte Teil [81] dieses Buches dienen, worin ich die Tendenzen zur Rationalisierung als notwendige Ergänzung zur Irrationalität erweisen werde. Denn auch jene ist ein unentbehrliches Kennzeichen des Lebens, das nicht bloß in amorphem, dunkel tastendem, unendlich gestaltungsfähigem Werden vorwärtsdrängt, sondern auch feste Formen auszuprägen strebt, innerindividuelle und zwischenindividuelle Angleichungen, die zwar auch nicht absolut sind, sondern nur Plattformen, von denen aus das irrationale Leben wiederum zu neuem Werden und neuen Gestaltungen sich erhebt.
Dem Nachweis aber, daß bei aller Ungreifbarkeit die Individualität kein bloßes Phantom ist, wird das vierte Buch gehören. Hier werde ich versuchen, hinter die wechselnden Erscheinungen vorzudringen, jenes hypothetische Subjekt zu greifen, das solch bunten Schleiertanz vor unseren Augen aufführt. Denn alle bisher analysierten Aspekte sind uns ja nur Erscheinung, nicht das Wesen, nicht die Individualität selbst. Diese, so müssen wir vorläufig annehmen, muß etwas „hinter” jenen Aspekten sein, ein proteusartiges Gebilde, das sich wohl ahnen und erschließen, nie aber in reiner Wirklichkeit ergreifen läßt. Alle jene Erscheinungsweisen sind nur natura naturata - individualitas individuata, wenn dies Latein erlaubt ist. Unser Ziel ist die Erfassung der natura naturans, der individualitas individuans.
Erstellt am 01.09.2010 - Letzte Änderung am 20.10.2010.