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Auszüge aus dem Buch:

Geschichte der Abderiten

von Christoph Martin Wieland (1733-1813)

Eine Geschichte über menschliche Schwächen und welch schweres Leben diejenigen wenigen Personen erdulden, die davon frei sind. 1774-1780 erschienen, zeitlos gültig.



Die Abderiten. Eine sehr wahrscheinliche Geschichte von Herrn Hofrath Wieland ist ein satirischer Roman von Christoph Martin Wieland, der in der Zeitschrift Der Teutsche Merkur in den Jahren 1774–1780 in Fortsetzungen erschienen ist. Darin verspottet Wieland die Einfalt seiner kleinstädtischen Zeitgenossen deutscher Freier Reichsstädte.

Die oft (auch von Zeitgenossen Wielands) geäußerte Meinung, er beschreibe Verhältnisse seiner Heimatstadt Biberach an der Riß, greift viel zu kurz. Inhaltlich handelt es sich weitgehend um die von antiken Komödiendichtern und Satirikern kolportierten Geschichten aus Abdera, das im klassischen Hellas als „Schilda“ verrufen war. Möglicherweise hatte Wieland einige Charaktere aus Biberach vor seinem geistigen Auge, aber die hätte man zweifellos in jedem anderen Städtchen finden können: Wieland stellt eine gleichsam „kosmopolitische“ Abderitheit, Narrheit dar, die zu allen Zeiten an allen Orten unter Menschen zu finden ist.

Hervorzuheben ist die massenpsychologische Dimension seines Romans, die den soziologischen und psychologischen Erkenntnissen seiner Zeit weit voraus ist.

Der Roman erschien im von Wieland herausgegebenen Teutschen Merkur (1774–1780) und hat viele „Nachahmer“ inspiriert, u. a. August von Kotzebue, Friedrich Dürrenmatt, Richard Strauss, Peter Ustinov.

Abderit ist eine Bezeichnung für einen Einfaltspinsel, einen Schildbürger, also einen naiven, dummen Menschen. Hergeleitet wird der Begriff von der antiken Stadt Abdera, die zwar die Heimat so bedeutender Männer wie Demokrit und Protagoras war, aber dennoch bei den Hellenen in den Ruf Schildas kam.


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INHALT



IV. Viertes Buch oder der Proceß um des Esels Schatten

    Kapitel:
  1. Veranlassung des Processes, und Facti Species
  2. Verhandlung vor dem Stadtrichter Philippides
  3. Wie die Parteien sich höhern Orts um Unterstützung bewerben
  4. Gerichtliche Verhandlung - Relation des Assessor Miltias Urtel, und was daraus erfolgt
  5. Gesinnungen des Senats - Tugend der schönen Gorgo, und ihre Wirkungen - Der Priester Strobylus tritt auf, und die Sache wird ernsthafter
  6. Verhältnis des Latonentempels - zum Tempel des Jasons - Contrast in den Charakteren des Oberpriesters Strobylus und des Erzpriesters Agathyrsus - Strobylus erklärt sich für die Gegenpartei des letztern, und wird von Salabanda unterstützt, welche eine wichtige Rolle in der Sache zu spielen anfängt
  7. Das ganze Abdera teilt sich in zwo Parteien - Die Sache kommt vor Rat
  8. Gute Ordnung in der Kanzlei von Abdera - Präjudicialfälle, die nichts ausmachen - Das Volk will das Rathaus stürmen, und wird von Agathyrsus besänftigt - Der Senat beschließt, die Sache dem großen Rat zu überlassen
  9. Politik beider Parteien - Der Erzpriester verfolgt seinen erhaltenen Vorteil - Die Schatten ziehen sich zurück - Der entscheidende Tag wird fest gesetzt
  10. Was für eine Mine der Priester Strobylus gegen einen Collegen springen läßt - Zusammenberufung der Zehnmänner - Der Erzpriester wird vorgeladen findet aber Mittel sich sehr zu seinem Vorteil aus der Sache zu ziehen
  11. Agathyrsus beruft seine Anhänger zusammen - Substanz seiner Rede an sie - Er ladet sie zu einem großen Opferfeste ein - Der Archon Onolaus will sein Amt niederlegen - Unruhe der Partei des Erzpriesters über dieses Vorhaben - Durch was für eine List sie solches vereiteln
  12. Der Entscheidungstag - Maßregeln beider Parteien - Die Vierhundert versammeln sich, und das Gericht nimmt seinen Anfang - Philanthropischpatriotische Träume des Herausgebers dieser merkwürdigen Geschichte
  13. Rede des Sykophanten Physignathus
  14. Antwort des Sykophanten Polyphonus
  15. Bewegungen, welche die Rede des Polyphonus verursachte - Nachtrag des Sykophanten Physignathus - Verlegenheit der Richter
  16. Unvermutete Entwicklung der ganzen Komödie und Wiederherstellung der Ruhe in Abdera



V. Fünftes Buch oder die Frösche der Latona

    Kapitel:
  1. Erste Quelle des Übels, welches endlich den Untergang der abderitischen Republik nach sich zog - Politik des Erzpriesters Agathyrsus - Er läßt einen eignen öffentlichen Froschgraben anlegen - Nähere und entferntere Folgen dieses neuen Instituts
  2. Charakter des Philosophen Korax - Nachrichten von der Akademie der Wissenschaften zu Abdera - Korax wirft in derselben eine verfängliche Frage, in Betreff der Latonenfrösche, und sich selbst zum Haupt der Gegenfröschler auf - Betragen der Latonenpriester gegen diese Secte, und wie sie bewogen wurden, selbige für unschädlich anzusehen
  3. Ein unglücklicher Zufall nötigt den Senat, von der unmäßigen Froschmenge in Abdera Notiz zu nehmen - Unvorsichtigkeit des Ratsherrn Meidias - Die Majora beschließen, ein Gutachten der Akademie einzuholen - Der Nomophylax Hypsiboas protestiert gegen, diesen Schluß, und eilt, den Oberpriester Stilbon dagegen in Bewegung zu setzen
  4. Charakter und Lebensart des Oberpriesters Stilbon - Verhandlung zwischen den Latonenpriestern und den Ratsherren von der Minorität - Stilbon sieht die Sache aus einem eignen Gesichtspunct an, und geht, dem Archon selbst Vorstellungen zu machen - Merkwürdige Unterredung zwischen den Zurückgebliebnen
  5. Was zwischen dem Oberpriester und dem Archon vorgefallen – eines der lehrreichsten Kapitel in dieser ganzen Geschichte
  6. Was der Oberpriester Stilbon tat, als er wieder nach Hause gekommen war
  7. Auszüge aus dem Gutachten der Akademie - Ein Wort über die Absichten, welche Korax dabei gehabt, mit einer Apologie, woran Stilbon und Korax gleichviel Anteil nehmen können
  8. Das Gutachten wird bei Rat verlesen, und nach verschiednen heftigen Debatten, einhellig beschlossen, daß es den Latonenpriestern communiciert werden sollte
  9. Der Oberpriester Stilbon schreibt ein sehr dickes Buch gegen die Akademie - Es wird von Niemand gelesen; im übrigen aber bleibt vor der Hand alles beim Alten
  10. Seltsame Entwicklung des ganzen abderitischen tragikomischen Possenspiels

Christoph Martin Wieland
Geschichte der Abderiten

Viertes Buch


Erstes Kapitel
Veranlassung des Processes, und Facti Species

Der Periodus fatalis der Stadt Abdera schien endlich gekommen zu sein. Kaum hatten sie sich von dem wunderbaren Theaterfieber, womit sie des ehrlichen, arglosen Euripides Götter- und Menschenherrscher Amor heimgesucht hatte, wieder ein wenig erholt; kaum sprachen die Bürger wieder in Prosa mit einander auf den Straßen; kaum verkauften die Drogisten wieder ihre Niesewurz, schmiedeten die Waffenschmiede wieder ihre Rappiere und Transchiermesser, machten sich die Abderitinnen wieder keusch und emsig an ihr Purpurgewebe, und warfen die Abderiten ihr leidiges Haberrohr weg, um ihren verschiednen Berufsarbeiten wieder mit ihrem gewöhnlichen guten Verstande obzuliegen: als die Schicksalsgöttinnen, ganz ingeheim, aus dem schalsten, dünnsten, unhaltbarsten Stoff, der jemals von Göttern oder Menschen versponnen worden ist, ein so verworrenes Gespinnste von Abenteuern, Händeln, Verbitterungen, Verhetzungen, Kabalen, Parteien, und anderm Unrat herauszogen, daß endlich ganz Abdera davon umwickelt und umsponnen wurde, und, da das heillose Zeug durch die unbesonnene Hitze der Helfer und Helfershelfer in Flammen geriet, diese berühmte Stadt darüber beinahe, und vielleicht gänzlich, zu Grunde gegangen wäre, wofern sie, nach des Schicksals Schluß, durch eine geringere Ursache als – Frösche und Ratten hätte vertilgt werden können.

Die Sache fing sich (wie alle große Weltbegebenheiten) mit einer sehr geringfügigen Veranlassung an. Ein gewisser Zahnarzt, Namens Struthion, von Geburt und Vorältern aus Megara gebürtig, hatte sich schon seit vielen Jahren in Abdera häuslich niedergelassen; und weil er vielleicht im ganzen Lande der einzige von seiner Profession war, so erstreckte sich seine Kundschaft über einen ansehnlichen Teil des mittäglichen Thracien. Seine gewöhnliche Weise, denselben in Contribution zu setzen, war, daß er die Jahrmärkte aller kleinen Städte und Flecken auf mehr als dreißig Meilen in der Runde bereisete, wo er, neben seinen Zahnpulver und seinen Zahntincturen, gelegenheitlich auch verschiedene Arcana wider Milz-und Mutterbeschwerungen, Engbrüstigkeit, böse Flüsse u.s.w. mit ziemlichem Vorteil absetzte. Er hatte zu diesem Ende eine eigene Eselin im Stalle, welche bei solchen Gelegenheiten zugleich mit seiner eignen kurzdicken Person, und mit einem großen Quersack voll Arzneien und Victualien beladen wurde. Nun begab sichs einsmals, da er den Jahrmarkt zu Gerania besuchen sollte, daß seine Eselin Abends zuvor ein Füllen geworfen hatte, folglich nicht im Stande war, die Reise mitzumachen. Struthion mietete sich also einen andern Esel, bis zum Ort, wo er sein erstes Nachtlager nehmen wollte; und der Eigentümer begleitete ihn zu Fuß, um das lastbare Tier zu besorgen und wieder nach Hause zu reiten. Der Weg ging über eine große Heide. Es war mitten im Sommer, und die Hitze diesen Tag sehr groß. Der Zahnarzt, dem sie unerträglich zu werden anfing, sah sich lechzend nach einem Schattenplatz um, wo er einen Augenblick absteigen, und etwas frische Luft schöpfen könnte. Aber da war weit und breit weder Baum noch Staude, noch irgend ein andrer schattengebender Gegenstand zu sehen. Endlich, als er seinem Leibe keinen Rat wußte, machte er Halt, stieg ab, und setzte sich in den Schatten des Esels.

Nu, Herr, was macht Ihr da, sagte der Eseltreiber, was soll das? –

Ich setze mich ein wenig in den Schatten, versetzte Struthion, denn die Sonne gibt mir ganz unleidlich auf den Schädel.

Nä, mein guter Herr, erwiderte der andre, so haben wir nicht gehandelt! Ich vermietete euch den Esel, aber des Schattens wurde mit keinem Wort dabei gedacht.

I, sagte der Zahnarzt lachend, der Schatten geht mit dem Esel, das versteht sich.

Ei, beim Jason! das versteht sich nicht, rief der Eselmann ganz trotzig; ein anders ist der Esel, ein anders ist des Esels Schatten. Ihr habt mir den Esel um so und so viel abgemietet. Hättet Ihr den Schatten auch dazu mieten wollen, so hättet Ihrs sagen müssen. Mit einem Wort, Herr, steht auf, und setzt Eure Reise fort, oder bezahlt mir für des Esels Schatten was billig ist.

Was, schrie der Zahnarzt, ich habe für den Esel bezahlt, und soll itzt auch noch für seinen Schatten bezahlen? Nennt mich selbst einen dreidoppelten Esel, wenn ich das tue. Der Esel ist einmal für diesen ganzen Tag mein, und ich will mich in seinen Schatten setzen, so oft mirs beliebt, und darin sitzen bleiben, so lange mirs beliebt, darauf könnt Ihr Euch verlassen!

Ist das im Ernst Eure Meinung? fragte der andre mit der ganzen Kaltblütigkeit eines thracischen Eseltreibers.

In ganzem Ernste, versetzte Struthion.

So komm der Herr nur gleich stehenden Fußes wieder zurück nach Abdera vor die Obrigkeit, sagte jener, da wollen wir sehen, wer von uns beiden Recht behalten wird. So wahr Priapus mir und meinem Esel gnädig sei, ich will sehen, wer mir den Schatten meines Esels wider meinen Willen abtrotzen soll!

Der Zahnarzt hatte große Lust, den Eseltreiber durch die Stärke seines Arms zur Gebühr zu weisen. Schon ballte er seine Faust zusammen, schon hob sich sein kurzer Arm; aber als er seinen Mann genauer betrachtete, fand er für besser, ihn – allmählig wieder sinken zu lassen, und es noch einmal mit gelindern Vorstellungen zu versuchen. Aber er verlor seinen Atem dabei. Der ungeschlachte Mensch bestand darauf, daß er für den Schatten seines Esels bezahlt sein wollte; und da Struthion eben so hartnäckig dabei blieb, nicht bezahlen zu wollen: so war zuletzt kein andrer Weg übrig, als nach Abdera zurückzukehren, und die Sache bei dem Stadtrichter anhängig zu machen.

Zweites Kapitel
Verhandlung vor dem Stadtrichter Philippides

Der Stadtrichter Philippides, vor den alle Händel dieser Art in erster Instanz gebracht werden mußten, war ein Mann von vielen guten Eigenschaften; ein ehrbarer, nüchterner, seinem Amte fleißig vorstehender Mann, der jedermann mit großer Geduld anhörte, den Leuten freundlichen Bescheid gab, und im allgemeinen Ruf stund, daß er unbestechlich sei. Überdies war er ein guter Musikus, sammelte Naturalien, hatte einige Schauspiele gemacht, die, nach Gewohnheit der Stadt, sehr wohl gefallen hatten, und war beinahe gewiß, beim ersten Erledigungsfalle Nomophylax zu werden.

Zu allen diesen Verdiensten hatte der gute Philippides nur einen einzigen kleinen Fehler, und das war: daß, so oft zwo Parteien vor ihn kamen, ihm allemal derjenige Recht zu haben schien, der zuletzt gesprochen hatte. Die Abderiten waren so dumm nicht, daß sie das nicht gemerkt hätten; aber sie glaubten, daß man einem Manne, der so viele gute Eigenschaften besitze, einen einzigen Fehler leicht zu gut halten könne. Ja, sagten sie, wenn Philippides diesen Fehler nicht hätte, er wäre der beste Stadtrichter, den Abdera jemals gesehen hat. – Indessen hatte doch der Umstand, daß dem ehrlichen Manne immer beide Parteien Recht zu haben schienen, natürlicher Weise die gute Folge, daß er nichts angelegners hatte, als die Händel, die vor ihn gebracht wurden, in Güte auszumachen; und so würde die Blödigkeit des guten Philippides ein wahrer Segen für Abdera gewesen sein, wenn die Wachsamkeit der Sykophanten, denen mit seiner Friedfertigkeit übel gedient war, nicht Mittel gefunden hätte, ihre Wirkung fast in allen Fällen zu vereiteln.

Der Zahnarzt Struthion und der Eseltreiber Anthrax kamen also brennend vor diesen würdigen Stadtrichter gelaufen, und brachten beide zugleich mit großem Geschrei ihre Klage vor. Er hörte sie mit seiner gewöhnlichen Langmut an; und, da sie endlich fertig oder des Schreiens müde waren, zuckte er die Achseln, und der Handel deuchte ihm einer der verworrensten, die ihm jemals vorgekommen. Und wer von euch beiden ist denn eigentlich der Kläger, fragte er?

Ich klage gegen den Eselmann, antwortete Struthion, daß er unsern Contract gebrochen hat.

Und ich, sagte dieser, klage gegen den Zahnarzt, daß er sich ohnentgeltlich einer Sache angemaßt hat, die ich ihm nicht vermietet hatte.

Da haben wir zween Kläger, sagte der Stadtrichter, und wo ist der Beklagte? Ein wunderlicher Handel! Erzählt mir die Sache noch einmal mit allen Umständen – aber einer nach dem andern denn es ist unmöglich, klug daraus zu werden, wenn beide zugleich schreien.

Hochgeachter Herr Stadtrichter, sagte der Zahnarzt, ich habe ihm den Gebrauch des Esels auf einen Tag abgemietet. Es ist wahr, des Esels Schatten wurde dabei nicht erwähnt. Aber wer hat auch jemals erhört, daß bei einer solchen Miete eine Clausel wegen des Schattens wäre eingeschaltet worden? Es ist ja, beim Herkules, nicht der erste Esel, der zu Abdera vermietet wird.

Da hat der Herr Recht, sagte der Richter.

Der Esel und sein Schatten gehen mit einander (fuhr Struthion fort); und warum sollte der, der den Esel selbst gemietet hat, nicht auch den Nießbrauch seines Schattens haben?

Der Schatten ist ein Accessorium, das ist klar, versetzte der Stadtrichter.

Gestrenger Herr, schrie der Eseltreiber, ich bin nur ein gemeiner Mann, und verstehe nichts von euren Arien und Orien. Aber das geben mir meine vier Sinne, daß ich nicht schuldig bin, meinen Esel umsonst in der Sonne stehen zu lassen, damit sich ein andrer in seinen Schatten setze. Ich habe dem Herrn den Esel vermietet, und er hat mir die Hälfte voraus bezahlt; das gesteh ich. Aber ein anders ist der Esel, ein anders ist sein Schatten.

Auch wahr, murmelte der Stadtrichter.

Will er diesen haben, so mag er halb so viel dafür bezahlen als für den Esel selbst; denn ich verlange nichts als was billig ist, und ich bitte mir zu meinem Rechte zu verhelfen.

Das Beste, was ihr hierbei tun könnt, sagte Philippides, ist, euch in Güte von einander abzufinden. Ihr, ehrlicher Mann, laßt immerhin des Esels Schatten, weils doch nur ein Schatten ist, mit in die Miete gehen; und Ihr, Herr Struthion, gebt ihm eine halbe Drachme dafür: so können beide Teile zufrieden sein.

Ich gebe nicht den vierten Teil von einem Blaffert, schrie der Zahnarzt, ich verlange mein Recht!

Und ich, schrie sein Gegenpart, besteh auf dem meinigen. Wenn der Esel mein ist, so ist der Schatten auch mein, und ich kann damit als mit meinem Eigentum schalten und walten; und weil der Mann da nichts von Recht und Billigkeit hören will: so verlang ich itzt das Doppelte, und will sehen, ob noch Justiz in Abdera ist!

Der Richter war in großer Verlegenheit. Wo ist denn der Esel, fragte er endlich, da ihm in der Angst nichts anders einfallen wollte, um etwas Zeit zu gewinnen.

Der steht unten auf der Gasse vor der Türe.

Führt ihn in den Hof herein, sagte Philippides.

Der Eigentümer des Esels gehorchte mit Freuden; denn er hielt es für ein gutes Zeichen, daß der Richter die Hauptperson im Spiele sehen wollte. Der Esel wurde herbei geführt. Schade, daß er seine Meinung nicht auch zu der Sache sagen konnte! Aber er stund ganz gelassen da, schaute mit gereckten Ohren erst den beiden Herren, dann seinem Meister ins Gesicht, verzog das Maul, ließ die Ohren wieder sinken, und – sagte kein Wort.

Da seht nun selbst, gnädiger Herr Stadtrichter, rief Anthrax, ob der Schatten eines so schönen, stattlichen Esels nicht seine zwo Drachmen unter Brüdern wert ist, zumal an einem so heißen Tage wie der heutige?

Der Stadtrichter versuchte die Güte noch einmal, und die Parteien fingen schon an, es allmählig näher zu geben: als, unglücklicher Weise, Physignathus und Polyphonus, zween von den namhaftesten Sykophanten in Abdera, dazu kamen, und, nachdem sie gehört, wovon die Rede war, der Sache auf einmal eine andere Wendung gaben. Herr Struthion hat das Recht völlig auf seiner Seite, sagte Physignathus, der den Zahnarzt für einen wohlhabenden und dabei sehr hitzigen und eigensinnigen Mann kannte. Der andre Sykophant, wiewohl ein wenig verdrießlich, daß ihm sein Handwerksgenosse so eilfertig zuvorgekommen war, warf einen Seitenblick auf den Esel, der ihm ein hübsches wohlgenährtes Tier zu sein schien, und erklärte sich sogleich mit dem größten Nachdruck für den Eseltreiber. Beide Parteien wollten nun kein Wort mehr vom Vergleichen hören, und der ehrliche Philippides sah sich genötigt, einen Rechtstag anzusetzen. Sie begaben sich nun jeder mit seinem Sykophanten nach Hause; der Esel aber, mit seinem Schatten als dem Object des Rechtshandels, wurde bis zu Austrag der Sache in den Marstall gemeiner Stadt Abdera abgeführt.

Drittes Kapitel
Wie die Parteien sich höhern Orts um Unterstützung bewerben

Nach dem Stadtrecht der Abderiten wurden alle über Mein und Dein unter den gemeinen Bürgern entstandne Händel vor einem Gerichte von zwanzig Ehrenmännern abgetan, welche sich wöchentlich dreimal in der Vorhalle des Tempels der Nemesis versammelten. Alles wurde, aus billiger Rücksicht auf die Nahrung der Sykophanten, schriftlich vor diesem Gerichte verhandelt; und weil der Gang der abderitischen Justiz eine Art von Schneckenlinie beschrieb, und sich auch mit der Geschwindigkeit der Schnecke fortbewegte; zumal die Sykophanten nicht eher zum Beschließen verbunden waren, bis sie nichts mehr zu sagen hatten: so währte das Libellieren gemeiniglich so lange, als es die Mittel der Parteien wahrscheinlicher Weise aushalten konnten. Allein diesesmal kamen so viele besondere Ursachen zusammen, der Sache einen schnellern Schwung zu geben, daß man sich nicht darüber zu verwundern hat, wenn der Proceß über des Esels Schatten binnen weniger als vier Monaten schon so weit gediehen war, daß nun am nächsten Gerichtstage das Endurteil erfolgen sollte.

Ein Rechtshandel über eines Esels Schatten würde sonder Zweifel in jeder Stadt der Welt Aufsehen machen. Man denke also, was er in Abdera tun mußte? Kaum war das Gerüchte davon erschollen, als von Stund an alle andre Gegenstände der gesellschaftlichen Unterhaltung fielen, und jedermann mit eben so viel Teilnehmung von diesem Handel sprach, als ob er ein Großes dabei zu gewinnen oder zu verlieren hätte. Die einen erklärten sich für den Zahnarzt, die andern für den Eseltreiber. Ja, sogar der Esel selbst hatte seine Freunde, welche dafür hielten, daß derselbe ganz wohl berechtigt wäre, interveniendo einzukommen, da er durch die Zumutung, den Zahnarzt in seinem Schatten sitzen zu lassen, und unterdessen in der brennenden Sonnenhitze zu stehen, offenbar am meisten prägraviert worden sei. Mit einem Worte, der besagte Esel hatte seinen Schatten auf ganz Abdera geworfen, und die Sache wurde mit einer Lebhaftigkeit, einem Eifer, einem Interesse getrieben, die kaum größer hätten sein können, wenn das Heil gemeiner Stadt und Republik auf dem Spiele gestanden hätte.

Wiewohl nun diese Verfahrungsweise überhaupt niemanden, der die Abderiten aus der vorgehenden wahrhaften Geschichtsklitterung kennen gelernt hat, befremden wird: so glauben wir doch denen Lesern, welche eine Geschichte nur alsdenn recht zu wissen glauben, wenn ihnen das Spiel der Räder und Triebfedern mit dem ganzen Zusammenhang der Ursachen und Folgen einer Begebenheit aufgeschlossen wird – keinen unangenehmen Dienst zu erweisen, wenn wir ihnen etwas umständlicher erzählen, wie es zugegangen, daß dieser Handel – der in seinem Ursprung nur zwischen Leuten von geringer Erheblichkeit, und über einen äußerst unerheblichen Gegenstand vorwaltete – wichtig genug werden konnte, um zuletzt die ganze Republik in seinen Strudel hineinzuziehen.

Die sämtliche Bürgerschaft in Abdera war (wie von jeher die meisten Städte in der Welt) in Zünfte abgeteilt, und vermöge einer alten Observanz gehörte der Zahnarzt Struthion in die Schusterzunft. Der Grund davon war, wie Gründe der Abderiten immer zu sein pflegten, mächtig spitzfindig. In den ersten Zeiten der Republik hatte nämlich diese Zunft bloß die Schuster und Schuhflicker in sich begriffen. Nachmals wurden alle Arten von Flickern mit dazu genommen; und so kam es, daß in der Folge die Wundärzte, als Menschenflicker, und somit (ob paritatem rationis) alle Arten von Ärzten zu dieser Zunft geschlagen wurden. Struthion hatte demnach (bloß die Ärzte ausgenommen, mit denen er immer stark über'n Fuß gespannt war) die ganze löbliche Schusterzunft, und besonders alle Schuhflicker, auf seiner Seite, die (wie man sich noch erinnern wird) einen sehr ansehnlichen Teil der Bürgerschaft von Abdera ausmachten Natürlicherweise wandte sich also der Zahnarzt vor allen andern sogleich an seinen Vorgesetzten, den Zunftmeister Pfrieme; und dieser Mann, dessen patriotischer Eifer für die Constitution der Republik niemanden unbekannt ist, erklärte sich sogleich mit seiner gewöhnlichen Hitze: daß er sich eher mit seinem eigenen Schusterahl erstechen, als geschehen lassen wollte, daß die Rechte und Freiheiten von Abdera in der Person eines seiner Zunftverwandten so gröblich verletzt würden.

»Billigkeit, sagte er, ist das höchste Recht. Was kann aber billiger sein, als daß derjenige, der einen Baum gepflanzet hat, wiewohl es dabei eigentlich auf die Früchte angesehen war, nebenher auch den Schatten des Baums genieße? Und warum soll das, was von einem Baume gilt, nicht eben so wohl von einem Esel gelten? Wo, zum Henker, soll es mit unsrer Freiheit hinkommen, wenn einem zünftigen Bürger von Abdera nicht einmal frei stehen soll, sich in den Schatten eines Esels zu setzen? Gleich als ob ein Eselsschatten vornehmer wäre, als der Schatten des Rathauses oder des Jasontempels, in den sich stellen, setzen und legen mag wer da will. Schatten ist Schatten, er komme von einem Baum oder von einer Ehrensäule, von einem Esel oder von Sr. Gnaden dem Archon selbst! Kurz und gut, setzte Meister Pfrieme hinzu, verlaßt euch auf mich, Herr Struthion; der Grobian soll euch nicht nur den Schatten, sondern zu eurer gebührenden Saxfazion den Esel noch obendrein lassen, oder es müßte weder Freiheit noch Eigentum mehr in Abdera sein; und dahin solls, beim Element! nicht kommen, so lang ich der Zunftmeister Pfrieme heiße!«

Während daß der Zahnarzt sich der Gunst eines so wichtigen Mannes versichert hatte, ließ es der Eseltreiber Anthrax seines Orts auch nicht fehlen, sich um einen Beschützer zu bewerben, der jenem wenigstens das Gleichgewicht halten könnte. Anthrax war eigentlich kein Bürger von Abdera, sondern nur ein Freigelassener, der sich in dem Bezirk des Jasontempels aufhielt; und er stand als ein Schutzverwandter desselben unter der unmittelbaren Gerichtsbarkeit des Erzpriesters dieses Heroen, der bekanntermaßen zu Abdera göttlich verehrt wurde. Natürlicherweise war also sein erster Gedanke, wie er dazu gelangen könnte, daß der Erzpriester Agathyrsus sich seiner mit Nachdruck annehmen möchte. Allein der Erzpriester Jasons war zu Abdera eine sehr große Person, und ein Eseltreiber konnte schwerlich hoffen, ohne einen besondern Canal den Zutritt zu einem Herrn von diesem Range zu erhalten.

Nach vielen Beratschlagungen mit seinen vertrautesten Freunden wurde endlich folgender Weg beliebt. Seine Frau, Krobyle, war mit einer Putzmacherin bekannt, deren Bruder der begünstigte Liebhaber des Aufwartmädchens einer gewissen milesischen Tänzerin war, welche, wie die Rede ging, bei dem Erzpriester in großen Gnaden stund. Nicht als ob er etwan – wie es zu gehen pflegt – – sonderlich weil die Priester des Jasons unverheiratet sein mußten – kurz, wie die Welt argwöhnisch ist, man sprach freilich allerlei – Aber das Wahre von der Sache ist: der Erzpriester Agathyrsus war ein großer Liebhaber von pantomimischen Solotänzen; und weil er die Tänzerin, um kein Ärgernis zu geben, nicht bei Tage zu sich kommen lassen wollte: so blieb ihm nichts anders übrig, als sie, mit der erforderlichen Vorsicht, bei Nacht durch eine kleine Gartentür in sein Cabinet führen zu lassen. Da nun einst gewisse Leute eine dichtverschleierte Person in der Morgendämmerung wieder herausgehen gesehen hatten: so war das Gemurmel entstanden, als ob es die Tänzerin gewesen sei, und als ob der Erzpriester eine besondere Freundschaft auf diese junge Person geworfen habe; welche in der Tat fähig gewesen wäre, in jedem andern als einem Erzpriester noch etwas mehr zu erregen. – Wie nun dem auch sein mochte, genug, der Eseltreiber sprach mit seiner Frau, Frau Krobyle mit der Putzmacherin, die Putzmacherin mit ihrem Bruder, der Bruder mit dem Aufwartmädchen, und, weil das Aufwartmädchen alles über die Tänzerin vermochte, von welcher vorausgesetzt wurde, daß sie alles über den Erzpriester vermöge, der alles über die Magnaten von Abdera und – ihre Weiber vermochte: so zweifelte Anthrax keinen Augenblick, seine Sache in die besten Hände von der Welt gelegt zu haben.

Aber unglücklicher Weise zeigte sichs, daß die Favoritin der Tänzerin ein Gelübde getan hatte, ihre Allvermögenheit eben so wenig unentgeltlich auszuleihen, als Anthrax den Schatten seines Esels. Sie hatte eine Art von Taxordnung, vermöge deren der geringste Dienst, den man von ihr verlangte, wenigstens eine Erkenntlichkeit von vier Drachmen voraussetzte; und in gegenwärtigem Falle war ihr um so weniger zuzumuten, auch nur eine halbe Drachme nachzulassen, da sie ihrer Schamhaftigkeit eine so große Gewalt antun sollte, eine Sache zu empfehlen, worin ein Esel die Hauptfigur war. Kurz, die Iris bestand auf vier Drachmen, welches just doppelt so viel war, als der arme Teufel, im glücklichsten Falle, mit seinem Proceß zu gewinnen hatte. Er sah sich also wieder in der vorigen Verlegenheit. Denn wie konnte ein schlechter Eseltreiber hoffen, ohne eine haltbarere Stütze als die Gerechtigkeit seiner Sache, gegen einen Gegner zu bestehen, der von einer ganzen Zunft unterstützt wurde, und sich überall rühmte, daß er den Sieg bereits in Händen habe?

Endlich besann sich der ehrliche Anthrax eines Mittels, wie er vielleicht den Erzpriester ohne Dazwischenkunft der Tänzerin und ihres Aufwartmädchens auf seine Seite bringen könnte. Das Beste davon deuchte ihm, daß er es nicht weit zu suchen brauchte. Ohne Umschweife – er hatte eine Tochter, Gorgo genannt, die, in Hoffnung auf eine oder andre Weise beim Theater unterzukommen, ganz leidlich Singen und Zitherspielen gelernt hatte. Das Mädchen war eben keine von den schönsten. Aber eine schlanke Figur, ein paar große schwarze Augen, und die frische Blume der Jugend ersetzten, seinen Gedanken nach, reichlich, was ihrem Gesichte abging; und wirklich, wenn sie sich tüchtig gewaschen hatte, sah sie in ihrem Festtagsstaat, mit ihren langen pechschwarzen Haarzöpfen, und mit einem Blumenstrauß vor dem Busen so ziemlich dem wilden thracischen Mädchen Anakreons ähnlich. Da sich nun bei näherer Erkundigung fand, daß der Erzpriester Agathyrsus auch ein Liebhaber vom Zitherspielen und von kleinen Liedern war, deren die junge Gorgo eine große Menge nicht übel zu singen wußte: so machten sich Anthrax und Krobyle große Hoffnung, durch das Talent und die Figur ihrer Tochter am kürzesten zu ihrem Zweck zu kommen.

Anthrax wandte sich also an den Kammerdiener des Erzpriesters, und Krobyle unterrichtete inzwischen das Mädchen, wie sie sich zu betragen hätte, um, wo möglich, die Tänzerin auszustechen, und von der kleinen Gartentür ausschließlich Meister zu bleiben. Die Sache ging nach Wunsch. Der Kammerdiener, der durch die Neigung seines Herrn zum Neuen und Manchfaltigen nicht selten ins Gedränge kam, ergriff diese gute Gelegenheit mit beiden Händen; und die junge Gorgo spielte ihre Rolle für eine Anfängerin meisterlich. Agathyrsus fand eine gewisse Mischung von Naivheit und Mutwillen, und eine Art wilder Grazie bei ihr, die ihn reizte, weil sie ihm neu war – Kurz, sie hatte kaum zwei- oder dreimal in seinem Cabinette gesungen, so erfuhr Anthrax schon von sichrer Hand, daß Agathyrsus seine gerechte Sache verschiedenen Richtern empfohlen, und sich mit einigem Nachdruck habe verlauten lassen: wie er nicht gesonnen sei, auch den allergeringsten Schutzverwandten des Jasontempels ein Schlachtopfer der Schikanen des Sykophanten Physignathus und der Parteilichkeit des Zunftmeisters Pfrieme werden zu lassen.

Viertes Kapitel
Gerichtliche Verhandlung
Relation des Assessor Miltias Urtel, und was daraus erfolgt

Inzwischen war nun der Gerichtstag herbeigekommen, da dieser seltsame Handel durch Urtel und Recht entschieden werden sollte. Die Sykophanten hatten in Sachen beschlossen, und die Acten waren einem Referenten, Namens Miltias, übergeben worden, gegen dessen Unparteilichkeit die Mißgönner des Zahnarztes verschiedenes einzuwenden hatten. Denn es war nicht zu leugnen, daß er mit dem Sykophanten Physignatus sehr vertraut umging; und überdies wurde ganz laut davon gesprochen, daß die Dame Struthion 65) (die für eine von den hübschen Weibern in ihrer Classe passierte) ihm die gerechte Sache ihres Mannes zu verschiedenenmalen in eigner Person empfohlen habe. Allein da diese Einwendungen auf keinem rechtsbeständigen Grunde beruhten, und der Turnus nun einmal an diesem Miltias war, so blieb es bei der Ordnung.

Miltias trug die Geschichte des Streits so unbefangen, und beides, sowohl Zweifels- als Entscheidungsgründe, so ausführlich vor, daß die Zuhörer lange nicht merkten, wo er eigentlich hinaus wolle. Er leugnete nicht, daß beide Parteien vieles für und wider sich hätten. Auf der einen Seite scheine nichts klärer, sagte er, als daß derjenige, der den Esel, als das Principale, gemietet, auch das Accessorium, des Esels Schatten, stillschweigend mit einbedungen habe; oder (falls man auch keinen solchen stillschweigenden Vertrag zugeben wollte) daß der Schatten seinem Körper von selbst folge, und also demjenigen, der die Nutznießung des Esels an sich gebracht, auch der beliebige Gebrauch seines Schattens ohne weitere Beschwerde zustehe; um so mehr, als dem Esel selbst dadurch an seinem Sein und Wesen nicht das Mindeste benommen werde. Hingegen scheine auf der andern Seite nicht weniger einleuchtend: daß, wiewohl der Schatten weder als ein wesentlicher noch außerwesentlicher Teil des Esels anzusehen sei, folglich von dem Abmieter des letztern keinesweges vermutet werden könne, daß er jenen zugleich mit diesem stillschweigend habe mieten wollen, gleichwohlen, da besagter Schatten schlechterdings nicht für sich selbst, oder ohne besagten Esel, bestehen könne, und ein Eselsschatten im Grunde nichts anders als ein Schattenesel sei, der Eigentümer des leibhaften Esels mit gutem Fug auch als Eigentümer des von jenem ausgehenden Schattenesels betrachtet, folglich keineswegs angehalten werden könne, letztern ohnentgeltlich an den Abmieter des erstern zu überlassen. Überdies, und wenn man auch zugeben wollte, daß der Schatten ein Accessorium des mehr eröfterten Esels sei, so könne doch dem Abmieter dadurch noch kein Recht an denselben zuwachsen: indem er durch den Mietcontract nicht jeden Gebrauch desselben, sondern nur denjenigen, ohne welchen die Absicht des Contracts, nämlich seine vorhabende Reise, ohnmöglich erzielt werden könne, an sich gebracht habe. Allein da sich unter den Gesetzen der Stadt Abdera keines finde, worin der vorliegende Fall klar und deutlich enthalten sei, und das Urteil also lediglich aus der Natur der Sache gezogen werden müsse: so komme es hauptsächlich auf einen Punct an, der von den beiderseitigen Sykophanten aus der Acht gelassen, oder wenigstens nur obenhin berührt worden, nämlich auf die Frage: ob dasjenige, was man Schatten nenne, unter die gemeinen Dinge, an welche jedermann gleiches Recht hat, oder unter die eigentümlichen, zu welchen einzelne Personen ein ausschließendes Recht haben, oder erwerben können, zu zählen sei? Da nun, in Ermangelung eines positiven Gesetzes, die Übereinstimmung und allgemeine Gewohnheit des menschlichen Geschlechts, als ein wahres Orakel der Natur selbst, billig die Kraft eines positiven Gesetzes habe; vermöge dieser allgemeinen Gewohnheit aber die Schatten der Dinge (auch dererjenigen, die nicht nur einzelnen Personen, sondern ganzen Gemeinheiten, ja den unsterblichen Göttern selbst eigentümlich zugehören) bisher aller Orten einem jeden, wer er auch sei, frei, ungehindert und ohnentgeltlich zur Benutzung überlassen worden: so erhelle daraus, daß, ex Consensu et Consuetudine Generis Humani, besagte Schatten, eben so wie freie Luft, Wind und Wetter, fließendes Wasser, Tag und Nacht, Mondschein, Dämmerung, und dergleichen mehr, unter die gemeinen Dinge zu rechnen seien, deren Genuß jedem offen stehe, und auf welche – in so fern etwa besagter Genuß, unter gewissen Umständen, etwas Ausschließendes bei sich führe – der erste, der sich ihrer bemächtige, ein momentanes Besitzrecht erhalten habe. – Diesen Satz (zu dessen Bestätigung der scharfsinnige Miltias eine Menge Inductionen vorbrachte, die wir unsern Lesern erlassen wollen) – diesen Satz zum Grunde gelegt, könne er also nicht anders, als dahin stimmen: daß der Schatten aller Esel in Thracien, folglich auch derjenige, der zu vorliegendem Rechtshandel unmittelbaren Anlaß gegeben, eben so wenig einen Teil des Eigentums einer einzelnen Person ausmachen könne, als der Schatten des Berges Athos oder des Stadtturms von Abdera; folglich mehrbesagter Schatten weder geerbt, noch gekauft, noch inter vivos oder mortis causa geschenkt, noch vermietet, noch auf irgend eine andre Art zum Gegenstand eines bürgerlichen Contracts ge macht werden könne; und daß also aus diesen und andern angeführten Gründen, in Sachen des Eseltreibers Anthrax, Klägers, an einem, entgegen und wider den Zahnarzt Struthion, Beklagten, am andern Teil, pcto. des von Beklagten zu Klägers angeblicher Gefährde und Schaden angemaßten Eselsschatten (salvis tamen melioribus) zu Recht zu erkennen sei: daß Beklagter sich des besagten Schattens zu seinem Gebrauch und Nutzen zu bedienen, wohl befugt gewesen; Kläger aber, Einwendens ungeachtet, nicht nur mit seiner unbefugten Foderung abzuweisen, sondern auch in alle Kosten, wie nicht weniger zum Ersatz alles dem Beklagten verursachten Verlusts und Schadens, nach vorgängiger gerichtlicher Ermäßigung, zu verurteilen sei. V.R.W.

Wir überlassen es dem geneigten und rechtserfahrnen Leser, über dieses, zwar nur auszugsweise, mitgeteilte Gutachten des weisen Miltias, nach Belieben, seine Betrachtung anzustellen. Und da wir in dieser ganzen Sache uns keines Urteils anzumaßen, sondern bloß die Stelle eines unparteiischen Geschichtschreibers zu vertreten, entschlossen sind: so begnügen wir uns, zu berichten, daß es seit undenklichen Zeiten eine Observanz bei dem Stadtgerichte zu Abdera war, das gutächtliche Urteil des Referenten jedesmal entweder einhellig, oder doch mit einer großen Mehrheit der Stimmen zu bestätigen. Wenigstens hatte man seit mehr als hundert Jahren kein Beispiel vom Gegenteil gesehen. Es konnte auch, nach Gestalt der Sachen, nicht wohl anders sein. Denn während der Relation, welche gemeiniglich sehr lange dauerte, pflegten die Herren Beisitzer eher alles andre zu tun, als auf die Rationes dubitandi et decidendi des Referenten Acht zu geben. Die meisten stunden auf, guckten zum Fenster hinaus, oder gingen weg, um in einem Nebenzimmer Kuchen oder kleine Bratwürste zu frühstücken, oder machten einen fliegenden Besuch bei einer guten Freundin; und die wenigen, welche sitzen blieben, und einigen Teil an der Sache zu nehmen schienen, hatten alle Augenblicke etwas mit ihren Nachbar zu flüstern, oder schliefen wohl gar überm Zuhören ein. Kurz, es waltete eine Art von stillschweigendem Compromiß auf den Referenten vor, und es geschah bloß um der Form willen, daß einige Minuten, eh er zur wirklichen Conclusion kam, sich jedermann wieder auf seinem Platz einfand, um mit gehöriger Feierlichkeit das abgefaßte Urtel zu bekräftigen. So war es bisher immer, auch bei ziemlich wichtigen Händeln, gehalten worden. Allein dem Proceß über des Esels Schatten widerfuhr die unerhörte Ehre, daß das ganze Gericht beisammen blieb, und (drei bis vier Beisitzer ausgenommen, welche dem Zahnarzt ihre Stimme schon versprochen hatten, und ihr Recht, in der Session zu schlafen, nicht vergeben wollten) jedermann mit aller Aufmerksamkeit zuhörte, die eines so wundervollen Processes würdig war; und als die Stimmen gesammelt wurden, fand sich, daß das Urtel nur mit einem Mehr von 12 gegen 8 bekräftiget wurde.

Sogleich nach geschehener Publication ermangelte Polyphonus, der klägerische Sykophant, nicht, seine Stimme zu erheben, und gegen das Urtel, als ungerecht, parteiisch und mit unheilbaren Nullitäten behaftet, an den großen Rat von Abdera zu appellieren. Da der Proceß über eine Sache geführt wurde, die der beschwert zu sein vermeinte Teil selbst nicht höher als zwo Drachmen geschätzt hatte, und dieses, auch selbst mit Einschluß aller billig mäßigen Kosten und Schaden, noch lange nicht Summa appellabilis war: so erhub sich hierüber ein großer Lerm im Gerichte. Die Minorität erklärte sich, daß es hier gar nicht auf die Summe, sondern auf eine allgemeine Rechtsfrage ankomme, die das Eigentum betreffe, und noch durch kein Gesetz in Abdera bestimmt sei, folglich, vermöge der Natur der Sache, vor den Gesetzgeber selbst gebracht werden müsse; als welchem allein es zukomme, in zweifelhaften Fällen dieser Art den Ausspruch zu tun.

Wie es zugegangen, daß der Referent, bei aller seiner Affection zur Sache des Beklagten, nicht daran gedacht, daß die Gönner des Gegenteils sich dieses Vorwandes bedienen würden, die Sache vor den großen Rat zu spielen – davon wissen wir keinen andern Grund anzugeben, als daß er ein Abderit war, und, nach der allgemeinen althergebrachten Gewohnheit seiner Landesleute, jedes Ding nur von einer Seite, und auch da nur ziemlich obenhin, anzusehen pflegte. Doch kann vielleicht noch zu seiner Entschuldigung dienen, daß er einen Teil der letzten Nacht bei einem großen Gastmahl zugebracht, und, als er nach Hause gekommen, der Dame Struthion noch eine ziemlich lange Audienz hatte geben müssen, und also vermutlich – nicht ausgeschlafen hatte. Genug, nach langem Streiten und Lärmen erklärte sich endlich der Stadtrichter Philippides: daß er, bewandten Umständen nach, nicht umhin könne, die Frage, ob die von Klägern eingewandte Appellation statt finde, vor den Senat zu bringen. Hiermit stund er auf; das Gericht ging ziemlich tumultuarisch auseinander; und beide Parteien eilten, sich mit ihren Freunden, Gönnern und Sykophanten zu beraten, was nun weiter in der Sache anzufangen sei.

Fünftes Kapitel
Gesinnungen des Senats
Tugend der schönen Gorgo, und ihre Wirkungen
Der Priester Strobylus tritt auf, und
die Sache wird ernsthafter

Der Proceß über des Esels Schatten, der Anfangs die Abderiten bloß durch seine Ungereimtheit belustigt hatte, fing nun an, eine Sache zu werden, in welche die Gerechtsamen, das Point d'honneur, und allerlei Leidenschaften und Interessen verschiedner zum Teil ansehnlicher Glieder der Republik verwickelt wurden.

Der Zunftmeister Pfrieme hatte seinen Kopf darauf gesetzt, daß sein Zunftangehöriger gewinnen müßte; und da er sich meistens alle Abende in den Versammlungsorten der gemeinen Bürger einfand, hatte er schon beinahe die Hälfte des Volks auf seine Seite gebracht, und sein Anhang nahm täglich zu.

Der Erzpriester hingegen hatte den Handel bisher nicht für wichtig genug gehalten, sein ganzes Ansehn zu Gunsten seines Beschützten anzuwenden. Allein da die Sachen zwischen ihm und der schönen Gorgo ernsthafter zu werden anfingen, indem sie, anstatt einer gewissen Gelehrigkeit, die er bei ihr zu finden gehofft hatte, einen Widerstand tat, dessen man sich zu ihrer Herkunft und Erziehung nicht hätte vermuten sollen, ja sich sogar vernehmen ließ: »Wie sie Bedenken trage, ihre Tugend noch einmal den Gefahren eines Besuchs durch die kleine Gartentüre auszusetzen« – so war es ganz natürlich, daß er nun nicht länger säumte, durch den Eifer, womit er die Sache des Vaters zu unterstützen anfing, sich ein näheres Recht an die Dankbarkeit der Tochter zu erwerben.

Der neue Lärm, den der Eselsproceß durch die Provocation an den großen Rat in der Stadt machte, gab ihm Gelegenheit, mit einigen von den vornehmsten Ratsherren aus der Sache zu sprechen. »So lächerlich dieser Handel an sich selbst sei, sagte er, so könne doch nicht zugegeben werden, daß ein armer Mann, der unter dem Schutze Jasons stehe, durch eine offenbare Kabale unterdrückt werde. Es komme nicht auf die Veranlassung an, die oft zu den wichtigsten Begebenheiten sehr gering sei; sondern auf den Geist, womit man die Sache treibe, und auf die Absichten, die man im Schilde, oder wenigstens in Petto führe. Die Insolenz des Sykophanten Physignathus, der eigentlich an diesem ganzen Skandal Schuld habe, müsse gezüchtigt, und dem herrschsüchtigen, unverständigen Demagogen (dem Zunftmeister Pfrieme) noch in Zeiten ein Zügel angeworfen werden, eh es ihm gelinge, die Aristokratie gänzlich über den Haufen zu werfen, u.s.w.«

Wir müssen es zur Steuer der Wahrheit sagen, Anfangs gab es verschiedene Herren des Rats, welche die Sache ungefähr so ansahen, wie sie anzusehen war, und es dem Stadtrichter Philippides sehr verdachten, daß er nicht Sinn genug gehabt, einen so ungereimten Zwist gleich in der Geburt zu ersticken. Allein unvermerkt änderten sich die Gesinnungen; und der Schwindelgeist, der bereits einen Teil der Bürgerschaft auf die Köpfe gestellt hatte, ergriff endlich auch den größern Teil der Ratsherren. Einige fingen an die Sache für wichtiger anzusehen, weil ein Mann wie der Erzpriester Agathyrsus sich derselben so ernstlich anzunehmen schien. Andre setzte die Gefahr, die der Aristokratie aus den Unternehmungen des Zunftmeisters Pfrieme erwachsen könnte, in Unruhe. Verschiedene ergriffen die Partei des Eseltreibers bloß aus Widersprechungsgeist; andre aus einem wirklichen Gefühl, daß ihm Unrecht geschehe; und noch andre erklärten sich für den Zahnarzt, weil gewisse Personen, mit denen sie nie einer Meinung sein wollten, sich für seinen Gegner erklärt hatten.

Mit allem dem würde dennoch dieser geringfügige Handel, so sehr die Abderiten auch – Abderiten waren, niemals eine so heftige Gärung in ihrem gemeinen Wesen verursacht haben, wenn der böse Dämon dieser Republik nicht auch den Priester Strobylus angeschürt hätte, sich, ohne einigen nähern Beruf, als seinen unruhigen Geist und seinen Haß gegen den Erzpriester Agathyrsus, mit ins Spiel zu mischen.

Um dies dem geneigten Leser verständlicher zu machen, werden wir die Sache, wie jener alte Dichter seine Ilias, ab ovo anfangen müssen; um so mehr, als auch gewisse Stellen in unsrer Erzählung des Abenteuers mit dem Euripides, und gewisse Ausdrücke, die dem Priester Strobylus gegen den Demokrit entfielen, ihr gehöriges Licht dadurch erhalten werden.

Sechstes Kapitel
Verhältnis des Latonentempels
zum Tempel des Jasons
Contrast in den Charakteren des Oberpriesters Strobylus und des Erzpriesters Agathyrsus
Strobylus erklärt sich für die Gegenpartei des letztern, und wird von Salabanda unterstützt, welche eine wichtige Rolle in der Sache zu spielen anfängt

Der Dienst der Latona war (wie Strobylus den Euripides versichert hatte) so alt zu Abdera, als die Verpflanzung der lycischen Colonie; und die äußerste Einfalt der Bauart ihres kleinen Tempels konnte als eine hinlängliche Bekräftigung dieser Tradition angesehen werden. So unscheinbar dieser Latonentempel war, so gering waren auch die gestifteten Einkünfte ihrer Priesterschaft. Wie aber die Not erfindsam ist, so hatten die Herren schon von langem her Mittel gefunden, zu einiger Entschädigung für die Kargheit ihres ordentlichen Einkommens, den Aberglauben der Abderiten in Contribution zu setzen; und da auch dieses nicht zureichen wollte, hatten sie es dahin gebracht, daß der Senat (weil er doch von keiner Besoldungszulage hören wollte) zu Unterhaltung des geheiligten Froschgrabens gewisse Einkünfte aussetzte, deren größten Teil die billigdenkenden Frösche ihren Versorgern überließen.

Eine ganz andre Beschaffenheit hatte es mit dem Tempel des Jason, dieses berühmten Anführers der Argonauten, welchem in Abdera die Ehre der Erhebung in den Götterstand und eines öffentlichen Dienstes widerfahren war; ohne daß wir hievon einen andern Grund anzugeben wissen, als daß verschiedne der ältesten und reichsten Familien in Abdera ihr Geschlechtsregister von diesem Heros ableiteten. Einer von dessen Enkeln hatte sich, wie die Tradition sagte, in dieser Stadt niedergelassen, und war der gemeinsame Stammvater verschiedener Geschlechter geworden, von welchen einige noch in den Tagen unserer gegenwärtigen Geschichte in voller Blüte stunden. Dem Andenken des Helden, von dem sie abstammten, zu Ehren hatten sie Anfangs, nach uraltem Gebrauch, nur eine kleine Hauskapelle gestiftet. Mit der Länge der Zeit war eine Art von öffentlichem Tempel daraus geworden, den die Frömmigkeit der Abkömmlinge Jasons nach und nach mit vielen Gütern und Einkünften versehen hatte. Endlich, als Abdera durch Handelschaft und glückliche Zufälle eine der reichsten Städte in Thracien geworden war, entschlossen sich die Jasoniden, ihrem vergötterten Ahnherrn einen Tempel zu erbauen, dessen Schönheit der Republik und ihnen selbst bei der Nachwelt Ehre machen könnte Der neue Jasonstempel wurde ein herrliches Werk, und machte mit den dazu gehörigen Gebäuden, Gärten, Wohnungen der Priester, Beamten, Schutzverwandten u.s.w. ein ganzes Quartier der Stadt aus. Der Erzpriester desselben mußte allezeit von der ältesten Linie der Jasoniden sein; und da er, bei sehr beträchtlichen Einkünften auch die Gerichtsbarkeit über die zu dem Tempel gehörigen Personen und Güter ausübte: so ist leicht zu erachten, daß die Oberpriester der Latona alle diese Vorzüge nicht mit gleichgültigen Augen ansehen konnten, und daß zwischen diesen beiden Prälaten eine Eifersucht obwalten mußte, die auf die Nachfolger forterbte, und bei jeder Gelegenheit in ihrem Betragen sichtbar wurde.

Der Oberpriester der Latona wurde zwar als das Haupt der ganzen abderitischen Priesterschaft angesehen; allein der Erzpriester Jasons stand nicht unter ihm, sondern machte mit seinen Untergebenen ein besonderes Collegium aus, welches, außer der Schutzherrlichkeit der Stadt Abdera, von aller andern Abhänglichkeit frei war. Die Feste des Latonentempels waren die eigentlichen großen Festtage der Republik; allein da die Mäßigkeit seiner Einkünfte keinen sonderlichen Aufwand zuließ, so war das Fest des Jason, welches mit ungemeiner Pracht und großen Feierlichkeiten begangen wurde, in den Augen des Volks, wo nicht das vornehmste, wenigstens das, worauf es sich am meisten freute; und alle die Ehrerbietung, die man für das Altertum des Latonendienstes hegte, und der große Glaube des Pöbels an den Priester desselben und seine heiligen Frösche, konnte doch nicht verhindern, daß die größre Figur, die der Erzpriester machte, ihm nicht auch einen höhern Grad von Ansehen gegeben haben sollte. Und wiewohl das gemeine Volk überhaupt mehr Zuneigung zu dem Latonenpriester trug, so wurde doch dieser Vorzug dadurch wieder überwogen, daß der Jasonpriester mit den aristokratischen Häusern in einer Verbindung stund, die ihm so viel Einfluß gab, daß es einem ehrgeizigen Manne an diesem Platz ein Leichtes gewesen wäre, einen kleinen Tyrannen von Abdera vorzustellen.

Zu so vielen Ursachen der althergebrachten Eifersucht und Abneigung zwischen den beiden Fürsten der abderitischen Klerisei, kam bei Strobylus und Agathyrsus noch ein persönlicher Widerwille, der eine natürliche Frucht des Contrasts ihrer Sinnesarten war.

Agathyrsus, mehr Weltmann als Priester, hatte in der Tat vom letztern wenig mehr als die Kleidung. Die Liebe zum Vergnügen war seine herrschende Leidenschaft. Denn, wiewohl es ihm nicht an Stolz fehlte, so kann man doch von niemand sagen, daß er ehrgeizig sei, so lange sein Ehrgeiz eine andre Leidenschaft neben sich herrschen läßt. Er liebte die Künste und den vertraulichen Umgang mit Virtuosen aller Arten, und stund in dem Ruf einer von den Priestern zu sein, die wenig Glauben an ihre eignen Götter haben. Wenigstens ist nicht zu leugnen, daß er öfters ziemlich frei über die Frösche der Latona scherzte; und es war jemand, der es beschwören wollte, aus seinem eignen Munde gehört zu haben: »die Frösche dieser Göttin wären schon längst alle in elende Poeten und abderitische Sänger verwandelt worden.« – Daß er mit dem Demokritus in ziemlich gutem Vernehmen lebte, war auch nicht sehr geschickt, seine Orthodoxie zu bestätigen. Kurz, Agathyrsus war ein Mann von gutem Temperament, munterm Kopf und ziemlich freiem Leben; beliebt bei dem abderitischen Adel, noch beliebter bei dem schönen Geschlecht, und – wegen seiner Freigebigkeit und jasonmäßigen Figur – beliebt sogar bei den untersten Classen des Volks.

Nun hätte die Natur, in ihrer launigsten Minute, keinen völligern Antipoden von allem, was Agathyrsus war, machen können, als den Priester Strobylus. Dieser Mann hatte, wie viele seines gleichen, ausfindig gemacht, daß eine in Falten gelegte Miene und ein steifes Wesen unfehlbare Mittel sind, bei dem großen Haufen für einen weisen und unsträflichen Mann zu gelten. Da er nun von Natur ziemlich sauertöpfisch aussah, so hatte es ihm wenig Mühe gekostet, sich diese Gravität anzugewöhnen, die bei den Meisten weiter nichts beweist, als die Schwere ihres Witzes und die Ungeschliffenheit ihrer Sitten. Ohne Sinn für das Große und Schöne, war er ein geborner Verächter aller Talente und Künste, die diesen Sinn voraussetzen; und sein Haß gegen die Philosophie war bloß eine Maske für den natürlichen Groll eines Dummkopfes gegen alle, die mehr Verstand und Wissenschaft haben als er. In seinen Urteilen war er schief und einseitig, in seinen Meinungen eigensinnig, im Widerspruch hitzig und grob, und wo er entweder in seiner eignen Person oder in den Fröschen der Latona beleidigt zu sein glaubte, äußerst rachgierig; aber nichts destoweniger bis zur Niederträchtigkeit geschmeidig, sobald er eine Sache, an der ihm gelegen war, nicht ohne Hülfe einer Person, die er haßte, durchsetzen konnte. Überdies stand er mit einigem Grund in dem Ruf, daß er mit einer gehörigen Dose von Dariken und Philippen zu allem in der Welt zu bringen sei, was mit dem Äußerlichen seines Charakters nicht ganz unverträglich war.

Aus so entgegengesetzten Gemütsarten, und so vielen Veranlassungen zu Neid und Eifersucht auf Seiten des Priesters Strobylus, entsprang notwendig bei beiden ein wechselseitiger Haß, der den Zwang, den ihnen ihr Stand und Platz auferlegte, mit Mühe ertrug, und nur darin verschieden war, daß Agathyrsus den Oberpriester zu sehr verachtete, um ihn sehr zu hassen, und dieser jenen zu sehr beneidete, um ihn so herzlich verachten zu können, als er wohl gewünscht hätte.

Zu diesem allem kam noch, daß Agathyrsus, kraft seiner Geburt und ganzen Lage, für die Aristokratie; Strobylus hingegen, ohngeachtet seiner Verhältnisse zu einigen Ratsherren, ein erklärter Freund der Demokratie, und nächst dem Zunftmeister Pfrieme derjenige war, der durch seinen persönlichen Charakter, seine Würde, seine schwärmerische Hitze, und eine gewisse populäre Art von Beredsamkeit den meisten Einfluß auf den Pöbel hatte.

Man sieht nun leicht voraus, daß die Sache mit dem Eselsschatten oder Schattenesel notwendig ernsthafter werden mußte, sobald ein paar Männer wie die beiden Oberpriester von Abdera darein verwickelt wurden.

Strobylus hatte, so lange der Proceß vor den Stadtrichtern geführt wurde, nicht anders Teil daran genommen, als daß er sich gelegenheitlich erklärte: er würde an des Zahnarztes Platz eben so gehandelt haben. Aber kaum erfuhr er durch die Dame Salabanda, seine Nichte, daß Agathyrsus die Sache seines in der ersten Instanz verurteilten Schutzverwandten zu seiner eignen mache: so fühlte er sich auf einmal berufen, sich mit an die Spitze der Partei des Beklagten zu stellen, und die Kabale des Zunftmeisters mit allem Ansehen, das er bei den Ratsherren sowohl als bei dem Volk hatte, zu unterstützen.

Salabanda war zu sehr gewohnt, ihre Hand in allen abderitischen Händeln zu haben, als daß sie unter den letzten gewesen sein sollte, die in dem gegenwärtigen Partei nahmen. Außer ihrem Verhältnis mit dem Priester Strobylus hatte sie noch eine besondere Ursache, es mit ihm zu halten; eine Ursache, die darum nicht weniger wog, weil sie solche in Petto behielt. Wir haben bei einer andern Gelegenheit erwähnt, daß diese Dame, es sei nun aus bloß politischen Absichten, oder daß sich vielleicht auch ein wenig Coquetterie – und wer weiß, ob nicht auch zuweilen das, was man in der neuern französischen Feinenweltsprache das Herz einer Dame nennt, mit einmischen mochte: genug, ausgemacht war es, daß sie immer eine Anzahl demütiger Sclaven an der Hand hatte, unter denen (wie man glaubte) doch immer wenigstens der eine oder andre wissen müsse, wofür er diene. Die geheime Chronik von Abdera sagte, daß der Erzpriester Agathyrsus eine geraume Zeit die Ehre gehabt, einer von den letztern zu sein; und in der Tat kamen eine Menge Umstände zusammen, warum man dieses Gerüchte für etwas mehr als eine bloße Vermutung halten konnte. Kurz, die vertrauteste Freundschaft hatte seit geraumer Zeit unter ihnen obgewaltet, als die Tänzerin nach Abdera kam, und dem flatterhaften Jasoniden in kurzem so merkwürdig wurde, daß Salabanda endlich nicht länger umhin konnte, sich selbst für aufgeopfert zu halten.

Agathyrsus besuchte zwar ihr Haus noch immer auf den Fuß eines alten Bekannten, und die Dame war zu politisch, um in ihrem äußern Betragen gegen ihn die geringste Veränderung durchscheinen zu lassen. Aber ihr Herz kochte Rache. Sie vergaß nichts, was den Erzpriester immer tiefer in die Sache verwickeln, und immer in Feuer setzen konnte; heimlich aber beleuchtete sie alle seine Schritte und Tritte, und alle großen und kleinen, Vorder- und Hintertüren, die zu seinem Kabinet führen konnten, so genau, daß sie seine Intrigue mit der jungen Gorgo gar bald entdeckte, und den Priester Strobylus in den Stand setzen konnte, den Eifer des Erzpriesters für die Sache des Eseltreibers in ein eben so verhaßtes Licht zu stellen, als sie selbst unter der Hand bemüht war, ihm einen lächerlichen Anstrich zu geben.

Agathyrsus, so wenig es ihm kostete, politische und ehrgeizige Vorteile dem Interesse seiner Vergnügungen aufzuopfern, hatte doch Augenblicke, wo der kleinste Widerstand in einer Sache, an der ihm im Grunde gar nichts gelegen war, seinen ganzen Stolz aufrührisch machte; und so oft dies geschah, pflegte ihn seine Lebhaftigkeit gemeiniglich unendlich weiter zu führen, als er gegangen wäre, wenn er die Sache einiger kühlen Überlegung gewürdiget hätte. Die Ursache, warum er sich Anfangs mit diesem abgeschmackten Handel bemengt hatte, fand itzt zwar nicht länger statt. Denn die schöne Gorgo hatte, ungeachtet des Unterrichts ihrer Mutter Krobyle, entweder nicht Geschicklichkeit oder nicht innern Halt genug gehabt, den anfänglich entworfnen Verteidigungsplan gegen einen so gefährlichen und erfahrnen Belagerer gehörig zu befolgen. Allein er war nun einmal in die Sache verwickelt; seine Ehre war dabei betroffen; er erhielt täglich und stündlich Nachrichten, wie unziemlich der Zunftmeister und der Priester Strobylus mit ihrem Anhang wider ihn loszögen, wie sie drohten, wie übermütig sie die Sache durchzusetzen hofften, und dergleichen – und dies war mehr, als es brauchte, um ihn dahin zu bringen, daß er seine ganze Macht anzuwenden beschloß, um Gegner, die er so sehr verachtete, zu Boden zu werfen, und für die Verwegenheit, sich gegen ihn aufgelehnt zu haben, zu züchtigen. Der Kabalen der Dame Salabanda ungeachtet, die nicht fein genug gesponnen waren, um ihm lange verborgen zu bleiben, war der größte Teil des Senats auf seiner Seite; und wiewohl seine Gegner nichts unterließen, was das Volk gegen ihn erbittern konnte: so hatte er doch, zumal unter den Zünften der Gerber, Fleischer und Bäcker, einen Anhang von derben stämmigten Gesellen, die eben so hitzig vor der Stirne als nervicht von Armen, und auf jeden Wink bereit waren, für ihn und seine Partei, je nachdem es nötig wäre, zu schreien, oder zuzuschlagen.

Siebentes Kapitel
Das ganze Abdera teilt sich in zwo Parteien
Die Sache kommt vor Rat

In dieser Gärung befanden sich die Sachen, als auf einmal die Namen Schatten und Esel in Abdera gehört, und in kurzem durchgängig dazu gebraucht wurden, die beiden Parteien zu bezeichnen. Man hat über den wahren Ursprung dieser Übernamen ganz zuverlässige Nachricht. Vermutlich, weil doch Parteien nicht lange ohne Namen bestehen können, hatten die Anhänger des Zahnarztes Struthion unter dem Pöbel den Anfang gemacht, sich selbst, weil sie für sein Recht an des Esels Schatten stritten, die Schatten, und ihre Gegner, weil sie den Schatten gleichsam zum Esel selbst machen wollten, aus Spott und Verachtung, die Esel zu nennen. Da nun die Anhänger des Erzpriesters diese Benennung nicht verhindern konnten, so hatten sie, wie es zu gehen pflegt, sich unvermerkt daran gewöhnt, sie, wiewohl bloß anfänglich zum Scherz, zu gebrauchen; nur mit dem Unterschiede, daß sie den Spieß umdrehten, und das Verächtliche mit dem Schatten, und das Ehrenvolle mit dem Esel verknüpften. Wenn es ja eins von beiden sein soll, sagten sie, so wird jeder braver Kerl doch immer lieber ein wirklicher leibhafter Esel mit all seinem Zubehör, als der bloße Schatten von einem Esel sein wollen.

Wie es auch damit zugegangen sein mag, genug, in wenig Tagen war ganz Abdera in diese zwo Parteien geteilt; und so wie sie nun einen Namen hatten, nahm auch der Eifer auf beiden Seiten so schnell und heftig zu, daß es gar nicht mehr erlaubt war, neutral zu bleiben. Bist du ein Schatten oder ein Esel, war immer die erste Frage, die die gemeinen Bürger an einander taten, wenn sie sich auf der Straße oder in der Schenke antrafen; und wenn ein Schatten just das Unglück hatte, an einem solchen Ort der einzige seines gleichen unter einer Anzahl Eseln zu sein, so blieb ihm, wofern er sich nicht gleich mit der Flucht rettete, nichts übrig, als entweder auf der Stelle zu apostasieren, oder sich mit tüchtigen Stößen zur Türe hinaus werfen zu lassen.

Die Unordnungen, die hieraus entstehen mußten, kann man sich ohne unser Zutun vorstellen. Die Verbitterung ging in kurzem so weit, daß ein Schatten sich lieber vor Hunger zum wirklichen stygischen Schatten abgezehrt, als einem Bäcker von der Gegenpartei für einen Dreier Brot abgekauft hätte.

Auch die Weiber nahmen, wie leicht zu erachten, Partei, und gewiß nicht mit der wenigsten Hitze. Denn das erste Blut, das aus Gelegenheit dieses seltsamen Bürgerkriegs vergossen wurde, kam von den Nägeln zwoer Hökerweiber her, die einander auf öffentlichem Markte in die Physionomie geraten waren. Man bemerkte indessen, daß bei weitem der größte Teil der Abderitinnen sich für den Erzpriester erklärte; und wo in einem Hause der Mann ein Schatten war, da konnte man sich darauf verlassen, die Frau war eine Eselin, und gemeiniglich eine so hitzige und unbändige Eselin, als man sich eine denken kann. Unter einer Menge teils heilloser teils lächerlicher Folgen dieses Parteigeists, der in die Abderitinnen fuhr, war keine der geringsten, daß mancher Liebeshandel dadurch auf einmal abgebrochen wurde, weil der eigensinnige Seladon lieber seine Ansprüche als seine Partei aufgeben wollte; so wie hingegen auch mancher, der sich schon Jahre lang vergebens um die Gunst einer Schönen beworben, und ihre Antipathie gegen ihn durch nichts, was jemals von einem unglücklichen Liebhaber versucht worden, hatte überwinden können, itzt auf einmal keines andern Titels bedurfte, um glücklich zu werden, als seine Dame zu überzeugen, daß er – ein Esel sei.

Inzwischen wurde die Präjudicialfrage, ob die von Klägern eingewandte Abberufung an den großen Rat statt finde oder nicht, vor den Senat gebracht. Wiewohl dies das erstemal war, daß es über die Eselssache bei diesem ehrwürdigen Collegio zur Sprache kam: so zeigte sich doch bald, daß jedermann schon seine Partei genommen hatte. Der Archon Onolaus war der einzige, der in Verlegenheit zu sein schien, wie er der Sache einen leidlichen Anstrich geben könnte. Denn man bemerkte, daß er viel leiser als gewöhnlich sprach, und am Schluß seines Vortrags in die merkwürdigen und ominosen Worte ausbrach: er besorge sehr, der Eselsschatten, über welchen itzt mit so vieler Hitze gestritten werde, möchte den Ruhm der Republik auf viele Jahrhunderte verfinstern. Seine Meinung war, man würde am besten tun, die eingelegte Appellation als unstatthaft abzuweisen, den Spruch des Stadtgerichts (bis auf den Punkt der Kosten, die gegen einander aufgehoben werden könnten) zu bestätigen, und beiden Parteien ein ewiges Stillschweigen aufzulegen. Indessen setzte er doch hinzu: wofern die Majora davor hielten, daß die Gesetze von Abdera nicht zureichend wären, einen so geringfügigen Handel auszumachen, so müsse er sich gefallen lassen, daß der große Rat den Ausspruch darüber tue; jedoch wollte er darauf angetragen haben, vorher im Archiv nachsuchen zu lassen, ob sich nicht etwa schon in ältern Zeiten dergleichen ungewöhnliche Fälle ereignet, und wie man sich dabei benommen habe.

Diese Mäßigung des Archon – die ihm von der unparteiischrichtenden Nachwelt einstimmig als ein Beweis von wahrer Regentenweisheit zum Verdienst angerechnet werden wird wurde damals, da der Parteigeist alle Augen verblendet hatte, als Schwachheit und phlegmatische Gleichgültigkeit ausgelegt. Verschiedene Senatoren von der Partei des Erzpriesters ließen sich weitläuftig und mit großem Eifer vernehmen: Man könne nichts geringfügig nennen, was die Rechte und Freiheiten der Abderiten betreffe; wo kein Gesetz sei, finde auch kein gerichtliches Verfahren statt; und das erste Beispiel, wo den Richtern gestattet würde, einen Handel nach einer willkürlichen Billigkeit zu entscheiden, würde das Ende der Freiheit von Abdera sein. Wenn der Streit auch noch was geringeres beträfe, so komme es nicht auf die Frage an, wie viel oder wenig er wert sei, sondern welche von den Parteien Recht habe; und da kein Gesetz vorhanden sei, welches in vorliegendem Fall entscheide, ob des Esels Schatten stillschweigend in der Miete begriffen sei oder nicht: so könne sich weder das Untergericht noch der Senat selbst ohne die offenbarste Tyrannie anmaßen, dem Abmieter etwas zuzusprechen, woran der Vermieter wenigstens eben so viel Recht habe, oder vielmehr ein ungleich besseres, da aus der Natur ihres Contracts keineswegs notwendig folge, daß die Meinung des letztern gewesen, jenem auch den Schatten seines Esels zu vermieten u.s.w. Einer von diesen Herren ging so weit, daß er in der Hitze heraus fuhr: er sei jederzeit ein eifriger Patriot gewesen; und eh er zugeben würde, daß einer seiner Mitbürger sich anmaßen sollte, nur den Schatten einer tauben Nuß dem andern willkürlich abzusprechen, eh wollt' er ganz Abdera in Feuer und Flammen sehen.

Itzt verlor der Zunftmeister Pfrieme alle Geduld. Das Feuer, sagte er, womit man die ganze Stadt mit solcher Verwegenheit bedrohe, sollte mit demjenigen angezündet werden, der sich zu reden unterstehe. »Ich bin kein studierter Mann, fuhr er fort; aber, bei allen Göttern, ich lasse mir Mäusedreck nicht für Pfeffer verkaufen! Man muß den Verstand verloren haben, um einem gesunden Menschen weis machen zu wollen, daß es ein eignes Gesetz brauche, wenn die Frage ist, ob sich einer auf eines Esels Schatten setzen dürfe, wenn er mit barem Geld das Recht erkauft hat, auf dem Esel selbst zu sitzen. Überhaupt ist es Schande und Spott, daß so viel ernsthafte gescheute Männer sich den Kopf über einen Handel zerbrechen, den jedes Kind auf der Stelle entschieden haben würde. Wenn ist denn jemals in der Welt erhört worden, daß Schatten unter die Dinge gehören, die man einander vermietet?«

Herr Zunftmeister, fiel der Ratsherr Buphranor ein, Ihr schlagt Euch selbst auf den Mund, wenn Ihr das behauptet. Denn wenn des Esels Schatten nicht vermietet werden konnte, so ist klar, daß er nicht vermietet worden ist; denn a non posse ad non esse valet consequentia. Der Zahnarzt kann also, nach Eurem eignen Grundsatz, kein Recht an den Schatten haben, und das Urtel ist an sich null und nichtig.

Der Zunftmeister stutzte; und weil ihm nicht gleich einfiel, was sich auf dieses feine Argument antworten ließe, so fing er desto lauter an zu schreien, und rief Himmel und Erde zu Zeugen an, daß er eher seinen grauen Bart Haar vor Haar ausraufen, als sich noch in seinen alten Tagen zum Esel machen lassen wollte. Die Herren von seiner Partei unterstützten ihn aus allen Kräften: allein sie wurden überstimmt; und alles, was sie endlich mit Beihülfe des Archon und des Ratsherrn, der immer leise auftrat, erhalten konnten, war: daß die Sache einsweilen in statu quo bleiben sollte, bis man im Archiv nachgesehen hätte, ob sich kein Präjudicium fände, wodurch dieser Handel ohne größre Weitläuftigkeiten entschieden werden könnte.

Achtes Kapitel
Gute Ordnung in der Kanzlei von Abdera
Präjudicialfälle, die nichts ausmachen
Das Volk will das Rathaus stürmen, und wird von Agathyrsus besänftigt
Der Senat beschließt, die Sache dem großen Rat zu überlassen

Die Kanzlei der Stadt Abdera – weil es doch die Gelegenheit mit sich bringt, ihrer hier mit zwei Worten zu erwähnen – war überhaupt so gut eingerichtet und bedient, als man es von einer so weisen Republik erwarten wird. Indessen hatte sie doch mit vielen andern Kanzleien zween Fehler gemein, über welche zu Abdera, schon seit Jahrhunderten, fast täglich Klage geführt wurde, ohne daß darum jemand auf den Einfall gekommen wäre: ob es nicht etwa möglich sein könnte, dem Übel auf eine oder andre Weise abzuhelfen?

Das eine dieser Gebrechen war: daß die Urkunden und Acten in einigen sehr dumpfen und feuchten Gewölben verwahrt lagen, wo sie aus Mangel der Luft verschimmelten, vermoderten, von Motten gefressen, und nach und nach ganz unbrauchbar wurden; das andre: daß man, alles Suchens ungeachtet, nichts darin finden konnte. So oft dies begegnete, pflegte irgend ein patriotischer Ratsherr, meistens mit Beistimmung des ganzen Senats, die Anmerkung zu machen: »es komme bloß daher, weil keine Ordnung in der Kanzlei gehalten werde.« In der Tat ließ sich schwerlich eine Hypothese erdenken, vermittelst welcher diese Erscheinung auf eine leichtere und begreiflichere Weise zu erklären gewesen wäre. Daher kam es nun, daß fast allemal, wenn bei Rat beschlossen wurde, daß in der Kanzlei nachgesehen werden sollte, jedermann schon voraus wußte, und meistens sicher darauf rechnete, daß sich nichts finden würde. Und eben daher kam es auch, daß die gewöhnliche Erklärung, die bei der nächsten Ratssitzung erfolgte: »es habe sich, alles Suchens ungeachtet, nichts in der Kanzlei gefunden«, mit der kaltsinnigsten Gelassenheit, als eine Sache, die man erwartet hatte, und die sich von selbst verstund, aufgenommen wurde.

Dies war nun auch dermalen der Fall gewesen, da die Kanzlei den Auftrag erhalten hatte, in den ältern Acten nachzusehen, ob sich nicht vielleicht ein Präjudicium finde, das der Weisheit des Senats bei Entscheidung des höchstbeschwerlichen Handels über den Eselsschatten zur Fackel dienen könnte. Es hatte sich nichts gefunden, ungeachtet verschiedene Herren in der letzten Session ganz positiv versicherten: es müßten unzählige ähnliche Fälle vorhanden sein.

Indessen hatte gleichwohl der Eifer eines Ratsherrn von der Partei der Esel die Acten von zween alten Rechtshändeln aufgetrieben, die einst vielen Lärm in Abdera gemacht, und mit dem gegenwärtigen eine Ähnlichkeit zu haben schienen.

Der eine betraf einen Streit zwischen den Besitzern zweier Grundstücke in der Stadtflur, über das Eigentumsrecht an einen zwischen beiden gelegnen kleinen Hügel, der ungefähr fünf oder sechs Schritte im Umfang betrug, und mit Verlauf der Zeit aus etlichen zusammengeflossenen Maulwurfshaufen entstanden sein mochte. Tausend kleine Nebenumstände hatten nach und nach eine so heftige Verbitterung zwischen den beiden im Streite befangnen Familien angestiftet, daß jeder Teil entschlossen war, lieber Haus und Hof als sein vermeintes Recht an diesen Maulwurfshügel zu verlieren. Die abderitische Justiz wurde dadurch in eine desto größere Verlegenheit gesetzt, da Beweis und Gegenbeweis von einer so ungeheuern Combination unendlich kleiner, zweifelhafter und unaufklärbarer Umstände abhing, daß nach einem Proceß von fünf und zwanzig Jahren die Sache nicht nur der Entscheidung nicht um einen Schritt näher gekommen, sondern im Gegenteil gerade fünf und zwanzigmal verworrener geworden war als Anfangs. Wahrscheinlicherweise würde sie auch nie zu Ende gebracht worden sein, wenn sich nicht beide Parteien endlich gezwungen gesehen hätten, die Grundstücke, zwischen welchen der strittige Maulwurfshügel lag, ihren Sykophanten für Proceßkosten und Advocatengebühren cum omni causa et actione abzutreten. Da nun hierunter auch das vermeintliche Recht an den besagten kleinen Hügel begriffen war, so hatten die Sykophanten sich noch selbigen Tages in Güte dahin verglichen, dieses Hügelchen der großen Themis zu heiligen, einen Feigenbaum darauf zu pflanzen, und unter denselben auf gemeinschaftliche Kosten die Bildsäule besagter Göttin aus gutem Föhrenholz, mit Steinfarbe angestrichen, setzen zu lassen. Auch wurde, unter Garantie des abderitischen Senats, festgesetzt, daß die Besitzer beider Grundstücke zu ewigen Zeiten schuldig sein sollten, besagte Bildsäule nebst dem Feigenbaum gemeinschaftlich zu unterhalten. Gestalten dann auch beide, und zwar der Feigenbaum in sehr ansehnlichen, die Bildsäule aber in sehr verfallnen und wurmstichigen Umständen, zum ewigen Gedächtnis dieses merkwürdigen Handels, noch zur Zeit des gegenwärtigen zu sehen waren.

Der andre Proceß schien mit dem vorliegenden noch eine nähere Verwandtschaft zu haben. Ein Abderit, Namens Pamphus, besaß ein Landgut, dessen vornehmste Annehmlichkeit darin bestund, daß es auf der südwestlichen Seite eine ganz herrliche Aussicht über ein schönes Tal hatte, welches zwischen zween waldigten Bergen hinlief, in der Ferne immer schmäler wurde, und sich endlich in das ägeische Meer verlor. Pamphus pflegte oft zu sagen: daß ihm diese Aussicht nicht um hundert attische Talente feil wäre; und er hatte um so mehr Ursache, sie so hoch zu taxieren, da das Gut an sich selbst so unerheblich war, daß ihm niemand, der bloß auf den Nutzen sah, fünf Talente darum gegeben haben würde. Unglücklicherweise fand ein ziemlich begüterter abderitischer Bauer, der auf eben dieser südwestlichen Seite sein Nachbar war, sich veranlaßt, eine Scheune bauen zu lassen, die dem guten Pamphus einen so großen Teil seiner Aussicht entzog, daß sein Landgütchen, seiner Rechnung nach, wenigstens um 80 Talente dadurch schlechter wurde. Pamphus wandte alles Mögliche an, den Nachbar in Güte und Ernst von einem so fatalen Bau abzuhalten. Allein der Bauer bestand auf seinem Rechte, seinen erbeigentümlichen Grund und Boden zu überbauen, wo und wie es ihm beliebte. Es kam also zum Proceß. Pamphus konnte zwar nicht erweisen, daß die strittige Aussicht ein notwendiges und wesentliches Pertinenzstück seines Gutes sei; oder, daß ihm Luft und Licht dadurch entzogen werde; oder, daß sein Großvater, der es käuflich an seine Familie gebracht, um besagter Aussicht willen nur eine Drachme mehr bezahlt habe, als das Gut nach damaligem Preise an sich selbst wert war; noch, daß ihm sein Nachbar, der Bauer, mit einiger Servitut verhaftet sei, Kraft deren er ein Recht hätte, ihm den Bau niederzulegen. Allein sein Sykophant behauptete, daß die Entscheidungsgründe dieser Sache viel tiefer lägen, und aus der ersten ursprünglichen Quelle alles Eigentumsrechts unmittelbar geschöpft werden müßten. Wäre die Luft nicht ein durchsichtiges Wesen, sagte der Sykophant: so möchte Elysium und der Olympus selbst dem Landgute meines Principals gegenüber liegen, er würde so wenig jemals davon zu sehen bekommen haben, als ob unmittelbar vor seinen Fenstern eine Mauer stünde, die bis an den Himmel reichte. Die durchsichtige Natur und Eigenschaft der Luft ist also die erste und wahre Grundursache der schönen Aussicht, die das Gut meines Principals beseligt. Nun ist aber die freie durchsichtige Luft, wie jedermann weiß, eines von den gemeinen Dingen, an welche ursprünglich alle ein gleiches Recht haben; und eben darum ist jede noch von niemand occupierte Portion derselben als eine Res Nullius, als eine Sache, die noch niemanden eigentümlich angehört, anzusehen, und wird folglich ein Eigentum des ersten, der sie occupiert. Seit unfürdenklichen Zeiten haben die Vorfahren meines Principals an diesem Gute die dermalen im Streit verfangne Aussicht inne gehabt, besessen und genossen, von männiglichen ungehindert und unangefochten. Sie haben also die dazu erforderliche Portion der Luft wirklich mit ihren Augen occupiert, und sie ist durch diese Occupation so wohl, als durch einen Besitz seit unfürdenklicher Zeit, ein eigentümlicher Teil des mehrbesagten Gutes geworden, wovon solchem nicht das Geringste entzogen werden kann, ohne die Grundgesetze aller bürgerlichen Ordnung und Sicherheit umzustoßen. – Der Senat von Abdera fand diese Gründe ganz bedenklich; es wurde lange für und wider mit großer Subtilität gestritten; und da Pamphus einige Zeit darauf in den Rat gewählt worden war, schien die Sache um so viel verwickelter, und seine Gründe von Zeit zu Zeit immer bedenklicher zu werden. Der Bauer starb endlich, ohne den Ausgang des Handels zu erleben; und seine Erben, welche zuletzt merkten, daß arme Bauersleute wie sie, gegen einen so großen Herrn als ein Ratsherr von Abdera war, nichts gewinnen könnten, ließen sich endlich von ihrem Sykophanten zu einem Vergleich bereden: vermöge dessen sie die Proceßkosten bezahlten, und von dem Bau der strittigen Scheune um so mehr abstanden, da sie – kein Geld mehr dazu hatten, und der Proceß von ihrem Erbgut so viel weggefressen hatte, daß sie keiner neuen Scheune mehr bedurften, um die wenigen Früchte, die ihnen noch zu bauen übrig blieben, aufzubehalten.

Nun war es zwar ziemlich klar, daß diese beiden Rechtshändel zu Entscheidung des vorliegenden sehr wenig Licht geben konnten; zumal da in keinem von beiden definitive war gesprochen worden, sondern beide durch gütlichen Vergleich ihre Endschaft erreicht hatten: allein der Ratsherr, der sie producierte, schien auch keinen andern Gebrauch davon machen zu wollen, als dem Senat zu zeigen: daß diese beiden Händel, die sowohl in Rücksicht auf die Wichtigkeit des Gegenstandes als die Subtilität der Rechtsgründe sehr viele Ähnlichkeit mit dem Eselsproceß zu haben schienen, so viele Jahre lang vor dem abderitischen kleinen Rat geführt und verhandelt worden, ohne daß sich jemand habe beigehen lassen, an den großen Rat zu provocieren, oder nur zu zweifeln, ob der kleine auch wohl Fug und Macht habe, in Sachen dieser Art zu erkennen.

Die sämtlichen Esel unterstützten diese Meinung ihres Parteiverwandten mit desto größerm Eifer, da sie die Majora in Händen hatten, wofern die Sache vor Rat abgetan worden wäre; allein eben darum beharrten die Schatten desto hartnäckiger bei ihrem Widerspruch.

Der ganze Morgen wurde mit Streiten und Schreien zugebracht; und die Herren würden endlich (wie ihnen öfters zu begegnen pflegte) um Mittagsessenszeit unverrichteter Dinge auseinander gegangen sein, wenn eine große Anzahl gemeiner Bürger von der Schattenpartei, die sich auf Veranstaltung des Zunftmeisters Pfrieme vor dem Rathause versammelt hatte, und durch eine Menge herbeigelaufnen Pöbels von der niedrigsten Gattung verstärkt worden war, der Sache nicht endlich den Ausschlag gegeben hätte. Die Partei des Erzpriesters legte in der Folge dem Zunftmeister zur Last, daß er geflissentlich ans Fenster getreten sei, und das Volk durch gegebne Zeichen zum Aufruhr angereizet habe. Allein die Gegenpartei leugnete diese Beschuldigung schlechterdings, und behauptete: das unziemliche Geschrei, das einige Esel auf einmal erhoben hätten, habe die unten versammelten Bürger auf die Gedanken gebracht, als ob den Herren von ihrem Anhang Gewalt geschehe, und dieser Irrtum habe den ganzen Lärm veranlaßt.

Wie dem auch sein mochte, auf einmal schallte ein brüllendes Geschrei zu den Fenstern des Rathauses hinauf: Freiheit, Freiheit! Es lebe der Zunftmeister Pfrieme! Weg mit den Eseln! Weg mit den Jasoniden! u.s.w.

Der Archon kam ans Fenster, und gebot den Aufrührern Ruhe. Aber ihr Geschrei nahm überhand; und einige der Frechsten drohten, das Rathaus auf der Stelle anzuzünden, wenn die Herren nicht unverzüglich aus einander gehen, und die Sache dem großen Rat und dem Volk anheimstellen würden. Etliche lose Buben und Heringsweiber drangen wirklich mit Gewalt in die benachbarten Häuser, rissen Brände von den Feuerherden, und kamen damit zurück, um den gnädigen Herren zu zeigen, daß es mit ihrer Drohung im Ernste gemeinet sei.

Indessen hatte der Auflauf, der hierdurch verursacht wurde, eine Anzahl von Eseln herbei gerufen, die den Herren von ihrer Partei mit Knitteln, Feuerzangen, Fleischmessern, Mistgabeln, und dem ersten dem Besten, was ihnen in die Hände gefallen war, zu Hülfe kommen wollten; und wiewohl sie von den Schatten bei weitem übermehrt waren: so trieb sie doch ihre Herzhaftigkeit und die Verachtung, womit sie die ganze Partei der Schatten ansahen, die wörtlichen Beleidigungen mit so nachdrücklichen Hieben und Stößen zu erwidern, daß es blutige Köpfe absetzte, und das Handgemeng in wenig Augenblicken allgemein wurde.

Bei so gestalten Sachen war nun freilich in der Ratsstube nichts anders zu tun, als einhellig zu beschließen: daß man, lediglich aus Liebe zum Frieden und um des gemeinen Bestens willen, für diesesmal und citra praeiudicium sich gleichwohl gefallen lassen wolle, daß der Handel wegen des Eselsschattens vor den großen Rat gebracht, und der Entscheidung desselben überlassen werden könnte.

Inzwischen war den guten Ratsherren so enge in ihrer Haut, daß sie, so bald man sich (wiewohl auf eine sehr tumultuarische Weise) dieses Schlusses vereiniget hatte, den Zunftmeister Pfrieme mit aufgehabnen Händen baten, sich herunter zu begeben, und das aufgebrachte Volk zu beruhigen. Der Zunftmeister, dem es mächtig wohl tat, die stolzen Patricier so tief unter die Gewalt des Knieriemens gedemütigt zu sehen, zögerte zwar nicht, ihnen die Probe seines guten Willens und seines Ansehens bei dem Volke zu geben; aber der Tumult war schon so groß, daß seine Stimme, wiewohl eine der besten Bierstimmen von ganz Abdera, eben so wenig gehört wurde, als das Geschrei eines Schiffjungens im Mastkorbe unter dem donnernden Geheul des Sturms und dem Brausen der zusammenprallenden Wellen. Er würde sogar in der ersten Wut, in welche der Pöbel (der ihn nicht sogleich erkannte) bei seinem Anblick aufbrannte, seines eignen Lebens nicht sicher gewesen sein, wenn nicht glücklicher Weise der Erzpriester Agathyrsus der diesen zufälligen Tumult für den geschicktesten Augenblick hielt, der Gegenpartei in die Flanke zu fallen – mit seinem vergoldeten Hammelsfell an einer Stange vor sich her, und mit seiner ganzen Priesterschaft hinterdrein, in eben diesem Momente herbeigekommen wäre, dem Aufruhr Einhalt zu tun; indem er dem Pöbel die Versicherung gab, daß ihnen genug getan werden sollte, und daß er selbst der erste sei, der darauf antrage, daß die Sache vor dem großen Rat abgetan werden müsse.

Diese öffentliche Versicherung des Erzpriesters, und seine Herablassung und Leutseligkeit, zugleich mit der Ehrfurcht, die das abderitische Volk für das vergoldete Hammelsfell zu tragen gewohnt war, tat eine so gute Wirkung, daß in wenig Augenblicken alles wieder ruhig war, und der ganze Markt von einem lauten: Lebe der Erzpriester Agathyrsus! erschallte. Die Verwundeten schlichen sich ganz geruhig nach Hause, um sich ihre Köpfe verbinden zu lassen. Der übrige Troß strömte hinter dem zurückkehrenden Erzpriester her. Der Zunftmeister aber hatte den Verdruß zu sehen, daß ein großer Teil seiner sonst so treuergebenen Schatten, von der Ansteckung des übrigen Haufens hingerissen, den Triumph seines Gegners vergrößern half, und in diesem Augenblick des Taumels leicht dahin hätte gebracht werden können, allen den wilden Mutwillen, den sie kurz zuvor an ihren vermeintlichen Feinden, den Eseln, auszuüben bereit waren, nun an ihren eignen Freunden, den Schatten, auszulassen.

Neuntes Kapitel
Politik beider Parteien
Der Erzpriester verfolgt seinen erhaltenen Vorteil
Die Schatten ziehen sich zurück
Der entscheidende Tag wird fest gesetzt

Dieser unvermutete Vorteil, den der Erzpriester über die Schatten gewann, kränkte diese um so viel empfindlicher, da er ihnen nicht nur die Freude und Ehre des Sieges, den sie im Senat erhalten hatten, verkümmerte, sondern ihre Partei selbst merklich schwächte und ihnen überhaupt zu erkennen gab, wie wenig sie sich auf die Unterstützung eines leichtsinnigen Pöbels verlassen dürften, der von jedem Wind auf eine andere Seite geworfen wird, und selten recht weiß was er selbst will, geschweige was diejenigen mit ihm machen wollen, von denen er sich treiben läßt.

Agathyrsus, der nun das erklärte Haupt der Esel war, hatte durch seine Emissarien erfahren, daß die Gegenpartei durch nichts mehr bei der gemeinen Bürgerschaft gewonnen habe, als durch den Widerstand, den die Beschützer des Eseltreibers anfänglich taten, da die Sache vor den großen Rat gespielt werden, sollte.

Da dieser Rat aus vierhundert Männern bestund, welche als die Repräsentanten der gesamten Bürgerschaft von Abdera angesehen wurden, und wovon beinahe die Hälfte wirklich bloße Krämer und Handwerksleute waren: so glaubte sich jeder gemeine Mann durch die vermeinte Absicht, die Vorrechte desselben einschränken zu wollen, persönlich beleidigt; und die Vorspieglung des Zunftmeisters Pfrieme, daß es auf einen gänzlichen Umsturz ihrer demokratischen Verfassung abgezielt sei, fand desto leichter Eingang.

In der Tat war es auch um das, was in der abderitischen Staatseinrichtung demokratisch schien, bloßes Schattenwerk und politisches Gaukelspiel. Denn der kleine Rat, dessen zwei Drittel aus alten Geschlechtern bestunden, machte im Grunde alles was er wollte; und die Fälle, wo die Vierhundert zusammenberufen werden mußten, waren in dem abderitischen Grundgesetz auf solche Schrauben gesetzt, daß es beinahe gänzlich von dem Urteil des kleinen Rates abhing, wenn und wie oft sie die Vierhundertmänner zusammenberufen wollten, um zu dem, was jener schon beschlossen hatte, ihre Beistimmung zu geben. Aber eben darum, weil dieses Vorrecht der abderitischen Gemeinen nicht sehr viel zu bedeuten hatte, waren sie desto eifersüchtiger darauf; und um so nötiger war es, dem Volk das Gängelband zu verbergen, an welchem man es führte, indem es allein zu gehen glaubte.

Es war also ein wahrer Meisterstreich von dem Erzpriester, daß er sich nun auf einmal und in einem Augenblick, wo die Wirkung davon plötzlich und entscheidend sein mußte, dem Volk in einer Sache zu Willen erklärte, auf die es einen so hohen Wert legte. Und da er, anstatt etwas dabei zu wagen, vielmehr dadurch einen starken Riß in den Plan der Gegenpartei machte: so hatte diese letztere alle Ursache, nun auf neue Mittel und Wege zu denken, wie sie den Erzpriester und seinen Anhang wieder aus dem Vorteil heben, und den günstigen Eindruck auslöschen möchte, den er auf das gemeine Volk gemacht hatte.

Die Häupter der Schatten kamen noch an selbigem Abend in dem Hause der Dame Salabanda zusammen, und beschlossen: daß man, anstatt die Ernennung eines nahen Tages zur Zusammenberufung der Vierhundert bei dem Archon zu betreiben, sich vielmehr (falls es nötig sein sollte) verwenden wolle, solche zu verzögern, um dem Volke Zeit zu geben, sich wieder abzukühlen. Inzwischen wollte man die Bürgerschaft unter der Hand und mit aller Gelassenheit zu überzeugen suchen: wie töricht sie wären, sich von dem Erzpriester und seinen Miteseln als etwas Verdienstliches anrechnen zu lassen, was doch nichts weniger als guter Wille, sondern bloße gezwungne Folge ihrer Schwäche sei. Wenn die Esel es in ihrer Gewalt gehabt hätten, die Sache dem großen Rat aus den Händen zu reißen, so würden sie es getan, und sich wenig darum bekümmert haben, ob es dem Volke lieb oder leid sei. Dieser plötzliche Absprung von ihrem vorigen stadtkundigen Betragen sei ein allzu grober Kunstgriff, die Volkspartei zu trennen, als daß man sich dadurch betrügen lassen könne. Vielmehr habe man um desto mehr Ursache, auf seiner Hut zu sein, da es augenscheinlich darauf angesehen sei, das Volk durch süße Worte einzuschläfern und unvermerkt dahin zu bringen, daß es unwissenderweise ein Werkzeug seiner eignen Unterdrückung werde.

Der Oberpriester Strobylus, der bei dieser Beratschlagung zugegen war, billigte zwar alles, was man tun könnte, um das Ansehen seines Nebenbuhlers bei der Bürgerschaft zu vermindern und seine Absichten verdächtig zu machen: »Allein ich zweifle sehr, setzte er hinzu, daß wir die gehofften Früchte davon erleben werden. Ich bereite ihm aber eine andere und schärfere Lauge zu, die desto besser wirken wird, wenn sie ihm ganz unversehens über den Kopf kommt. Es ist noch nicht Zeit, mich deutlicher zu erklären. Laßt mich nur machen! Mag er sich doch eine Weile mit der Hoffnung schmeicheln, den Priester Strobylus im Triumph hinter sich herzuschleppen! Die Freude soll ihm übel versalzen werden, darauf verlaßt euch! Inzwischen wenn wir, wie ich hoffe, ehrlich an einander sind, und wenn es uns Ernst ist, den Sieg über unsre Feinde zu erhalten, so müssen wir reinen Mund über das halten, was ich euch von meinem geheimen Anschlag habe merken lassen, und seiner Zeit davon entdecken werde. Agathyrsus muß sicher gemacht werden. Er muß glauben, daß wir nur noch mit einem Flügel schlagen, und daß alle unsre Hoffnung auf unserm Vertrauen, das Übergewicht im großen Rate zu machen, beruht.« – Jedermann fand, daß der Oberpriester die Sache sehr richtig gefaßt habe, und die Gesellschaft trennte sich, sehr neugierig, was das wohl für ein Anschlag sein könne, den er gegen den Erzpriester in Petto behalte, aber auch sehr überzeugt, daß, wenn es auf den Sturz des letztern angesehen sei, die Sache in keine bessere als in des Priesters Strobylus Hände gestellt werden könne.

Agathyrsus ermangelte inzwischen nicht, aus dem kleinen Siege, den er durch eine ihm eigene Gegenwart des Geistes zu so gelegener Zeit über seine Gegner erhalten hatte, allen möglichen Vorteil zu ziehen. Er hatte unter den Haufen gemeinen Volks, der ihn bis in den Vorhof des erzpriesterlichen Palasts begleitete, Brot und Wein austeilen lassen, bevor er sie mit einer ernstlichen Vermahnung, ruhig zu sein, wieder nach Hause gehen ließ; wo sie nun vom Lobe seiner Person, seiner Leutseligkeit und Freigebigkeit gegen ihre Nachbarn und Bekannten überflossen. Aber, wiewohl er den Geist der Republiken zu gut kannte, um die Gunst des Pöbels für nichts zu achten, so wußte er doch wohl, daß er damit noch nicht viel gewonnen hatte. Das Notwendigste war, sich der Zuneigung des größten Teils der Vierhundert gänzlich zu versichern; teils weil itzt auf diese alles ankam, teils weil man, wenn sie einmal gewonnen waren, mehr Staat auf sie machen konnte, als auf das übrige Volk. Er hatte zwar bereits einen ansehnlichen Anhang unter ihnen; aber außer einer Anzahl erklärter und eifriger Schatten, mit denen er sich nicht einlassen mochte, befanden sich noch sehr viele – und sie bestanden meistens aus den Vermöglichsten und Angesehensten von der Bürgerschaft – die sich entweder noch gar nicht erklärt hatten, oder nur darum gegen die Partei der Schatten hinneigten, weil ihnen die Häupter der Gegenpartei als herrschsüchtige, gewalttätige Leute beschrieben worden waren, die diese ganze lächerliche Onoskiamachie bloß darum angezettelt hätten, um die Stadt in Verwirrung zu setzen, und die Unruhen, wovon sie selbst die Urheber wären, zum Vorwand und zu Werkzeugen ihrer ehrgeizigen Absichten zu gebrauchen.

Diese Leute auf seine Seite zu bringen, schien ihm nun eben so leicht, als es für den Triumph seiner Partei entscheidend war. Er ließ sie alle noch an selbigem Abend zu Gaste bitten. Die meisten erschienen; und der Erzpriester, der eine besondere Gabe hatte, seiner Politik einen Firniß von Offenheit und aufrichtigem Wesen anzustreichen, machte ihnen kein Geheimnis daraus, daß er sie zu sich gebeten habe, um mit Hülfe so braver und verständiger Männer die Vorurteile zu zerstreuen, die, wie er hörte, der Bürgerschaft wider ihn beigebracht worden. »Daß man, sagte er, in dem Handel zwischen einem Eseltreiber und einem Zahnarzt, und in einem Handel, wo es bloß um den Schatten eines Esels zu tun sei, einen Mann seines Standes zum Haupt einer Partei machen wolle, komme ihm allzu lächerlich vor, als daß er sich jemals einfallen lassen werde, eine so alberne Beschuldigung von sich abzulehnen. Indessen sei der arme Anthrax ein Schutzverwandter des Jasontempels, und er habe ihm also nicht versagen können, sich seiner, so weit als es die Gerechtigkeit erfodre, anzunehmen. Ohne die bekannte auffahrende Hitze des Zunftmeisters Pfrieme, der sich etwas unzeitig zum Sachwalter des Zahnarztes aufgeworfen – nicht weil dieser Recht habe, sondern bloß weil er bei den Schustern zünftig sei – würde eine so unbedeutende Sache ohnmöglich zu solcher Weitläuftigkeit gekommen sein. Sei aber einmal ein Feuer angezündet, so fänden sich immer Leute, denen damit gedient sei, es anzublasen und zu nähren. Er seines Orts habe sich immer zum Gesetz gemacht, sich in nichts zu mischen, das ihn nichts angehe. Daß er sich aber dazu verwendet habe, den gefährlichen Tumult, der diesen Morgen von den Anhängern des Zunftmeisters vor dem Rathause erregt worden, durch seine Dazwischenkunft und gütliche Zureden zu stillen, werde ihm hoffentlich von keinem Billigdenkenden als eine ungeziemende Anmaßung, sondern vielmehr als die Tat eines guten Bürgers und Patrioten ausgelegt werden; zumal, da es dem Charakter eines Priesters immer anständiger sei, Friede zu machen und Unordnungen zu verhüten, als Öl ins Feuer zu gießen, wie von manchen bekannt sei, die er nicht zu nennen nötig habe. Im übrigen leugne er nicht, daß er – da die Sache mit dem Eselsschatten nun einmal in erster Instanz verdorben worden, und zu einem Handel erwachsen sei, an welchem ganz Abdera Anteil zu nehmen sich gleichsam genötigt sehe – immer gewünscht habe, daß die Sache je bälder je lieber vor den großen Rat gebracht würde; nicht sowohl, damit der arme Anthrax die gebührende Genugtuung erhalte (wiewohl nicht zu zweifeln sei, daß ihm solche bei dieser hohen Gerichtsstelle keineswegs werde versagt werden), als damit der zügellose Mutwille der Sykophanten endlich einmal durch irgend ein angemeßnes Gesetz eingeschränkt, und dergleichen Händeln, die der Stadt Abdera zu schlechter Ehre gereichten, fürs künftige nach Möglichkeit vorgebaut werden möchte.«

Agathyrsus brachte alles dies mit so vieler Gelassenheit und Mäßigung vor, daß seine Gäste sich nicht genug über die Ungerechtigkeit derjenigen verwundern konnten, welche einen so gut denkenden Herrn zum vornehmsten Anstifter dieser Unruhen hätten machen wollen. Sie hielten sich nun alle von dem Gegenteil vollkommen überzeugt; und es gelang ihm in wenigen Stunden, diese wackern Leute, ohne daß es sie selbst merkten, und indem sie noch immer ganz unparteiisch zu sein glaubten, zu so guten Eseln zu machen, als es vielleicht in Abdera gab; zumal nachdem die vortrefflichen Weine womit er sie bei der Abendmahlzeit beträufte, jeden Schatten des Mißtrauens vollends ausgelöscht, und jede Seele zur Empfänglichkeit aller Eindrücke, die er ihnen geben wollte, geöffnet hatten.

Man kann sich leicht vorstellen, daß dieser Schritt des Agathyrsus die Gegenpartei nicht wenig beunruhigen mußte. Da die Revolution, welche unter demjenigen Teil der Bürgerschaft, der bisher gleichgültig geblieben war, dadurch bewirkt worden, bald darauf sehr merklich zu werden anfing, und alle Batterien, die man mit verdoppeltem Eifer dagegen spielen ließ, nicht nur ohne Wirkung blieben, sondern gerade die gegenteilige Wirkung taten, und die Übelgesinntheit der Schatten durch die Vergleichung mit der Mäßigung und den patriotischen Gesinnungen des Prälaten nur desto auffallender machten: so würden die besagten Schatten äußerst verlegen gewesen sein, was sie anfangen wollten, um ihrer beinahe ganz gesunknen Partei wieder einen Schwung zu geben, wenn der Priester Strobylus sie nicht bei Mut erhalten, und versichert hätte, daß er, sobald der Gerichtstag festgesetzt sein würde, dem kleinen Jason (wie er ihn zu nennen pflegte) ein Gewitter über den Hals schicken wolle, dessen er sich mit aller seiner Schlauheit gewiß nicht versehn, und wodurch die Sache sogleich ein ganz ander Aussehen gewinnen werde. Die Schatten schienen sich nun so ruhig zu halten, daß Agathyrsus und sein Anhang diese anscheinende Niedergeschlagenheit ihrer Geister sehr wahrscheinlich der wenigen Hoffnung zuschreiben konnten, welche ihnen nach dem über sie erhaltnen zwiefachen Vorteil übrig blieb. Sie verdoppelten daher ihre Bemühungen bei dem Archon Onolaus (dessen Sohn ein vertrauter Freund des Erzpriesters und einer der hitzigsten Esel war), einen nahen Tag zur Versammlung des großen Rats anzuberaumen; und sie erhielten endlich durch ihr ungestümes Anhalten, daß diese Feierlichkeit auf den sechsten Tag nach der letzten Ratssitzung festgestellt wurde.

Diejenigen, welche die Weisheit eines Plans oder einer genommenen Maßregel nach dem Erfolg zu beurteilen pflegen, werden vielleicht die Sicherheit des Erzpriesters bei der plötzlichen Untätigkeit seiner Gegenpartei eines Mangels an Klugheit und Vorsicht beschuldigen, von welchem wir ihn allerdings nicht gänzlich freisprechen können. Wir leugnen es nicht, es würde behutsamer von ihm gewesen sein, diese Untätigkeit vielmehr irgend einem wichtigen Streich, über welchem sie in der Stille brüteten, als einem zu Boden gesunknen Mute zuzuschreiben. Allein es war einer von den Fehlern dieses Jasoniden, daß er aus allzulebhaftem Gefühl seiner eignen Stärke seine Gegner immer mehr verachtete, als die Klugheit erlaubte. Er handelte fast immer wie einer, der es nicht der Mühe wert hält zu berechnen, was ihm seine Feinde schaden können, weil er sich überhaupt bewußt ist, daß es ihm nie an Mitteln fehlen werde, das Ärgste, was sie ihm tun können, von sich abzutreiben. Indessen ist doch in gegenwärtigem Falle zu vermuten, daß tausend andre an seinem Platz, und bei so günstigen Anscheinungen, eben so gedacht, und, wie er, geglaubt hätten, sehr wohl daran zu tun, wenn sie sich den guten Willen ihrer neuen Freunde zu Nutze machten, bevor er wieder erkaltete, und ihren Feinden keine Zeit ließen, wieder zu sich selbst zu kommen.

Daß der Erfolg seiner Erwartung nicht gemäß war, kam von einem Streich des Priesters Strobylus her, den er mit aller seiner Klugheit nicht voraus sehen konnte; und der, so sehr er auch in dem Charakter dieses Mannes gegründet sein mochte, doch so beschaffen war, daß man nur durch die unmittelbare Erfahrung dahin gebracht werden konnte, ihn dessen für fähig zu halten.

Zehntes Kapitel
Was für eine Mine der Priester Strobylus gegen einen Collegen springen läßt
Zusammenberufung der Zehnmänner
Der Erzpriester wird vorgeladen findet aber Mittel sich sehr zu seinem Vorteil aus der Sache zu ziehen

Tages vorher, eh der Proceß über den Eselsschatten, der seit einigen Wochen die unglückliche Stadt Abdera in so weit aussehende Unruhen gestürzt hatte, vor dem großen Rat entschieden werden sollte, kam der Oberpriester Strobylus, mit zween andern Priestern der Latona und verschiedenen Personen aus dem Volke, in großer Gemütsbewegung und Eilfertigkeit frühmorgens zu dem Archon Onolaus, um Seiner Gnaden ein Wunderzeichen zu berichten, welches (wie man die höchste Ursache habe zu fürchten) die Republik mit irgend einem großen Unglück bedrohe.

Es hätten nämlich schon in der ersten und zweiten Nacht vor dieser letztern einige zum Latonentempel gehörige Personen zu hören geglaubt, daß die Frösche des geheiligten Teiches, anstatt des gewöhnlichen Wreckeckek Koax Koax, welches sie sonst mit allen andern natürlichen Fröschen, und selbst mit denen in den stygischen Sümpfen (wie aus dem Aristophanes zu ersehen) gemein hätten, ganz ungewöhnliche und klägliche Töne von sich gegeben; wiewohl besagte Leute sich nicht getraut, so nahe hinzuzugehen, um solche genau unterscheiden zu können. Auf die Anzeige, die ihm, dem Oberpriester, gestern Abends hievon gemacht worden, habe er die Sache wichtig genug gefunden, um mit seiner untergebnen Priesterschaft die ganze Nacht bei dem geheiligten Teiche zuzubringen. Bis gegen Mitternacht habe die tiefste Stille auf demselben geruht: allein um besagte Zeit habe sich plötzlich ein dumpfes, unglückweissagendes Getön aus dem Teich erhoben; und da sie näher hinzugetreten, hätten sie insgesamt die Töne: Weh! Weh! Pheu! Eleleleleleu! ganz deutlich unterscheiden können. Dieses Wehklagen habe eine ganze Stunde lang gedauert, und sei, außer den Priestern, noch von allen denen gehört worden, die er als Zeugen eines so unerhörten und höchst bedenklichen Wunders mit sich gebracht habe. Da nun gar nicht zu bezweifeln sei, daß die Göttin ihr bisher geliebtes Abdera durch dieses drohende und wundervolle Anzeichen vor irgend einem bevorstehenden großen Unglück habe warnen, oder vielleicht zur Untersuchung und Bestrafung irgend eines noch unentdeckten Frevels auffordern wollen, der den Zorn der Götter auf die ganze Stadt ziehen könnte: so wolle er, kraft seines Amtes und im Namen der Latona, Seine Gnaden hiemit ersucht haben, das Collegium der Zehnmänner unverzüglich zusammen berufen zu lassen, damit die Sache ihrer Wichtigkeit gemäß erwogen, und die weitern Vorkehrungen, die ein solcher Vorfall erfodere, getroffen werden könnten.

Der Archon, der in dem Ruf war, sich in Absicht der geheiligten Frösche ziemlich stark auf die freien Meinungen des Demokritus zu neigen, schüttelte bei diesem Vortrag den Kopf, und stund eine Weile, ohne den Priestern eine Antwort zu geben. Allein der Ernst, womit diese Herren die Sache vorbrachten, und der seltsame Eindruck, den solche bereits auf die gegenwärtigen Personen aus dem Volke gemacht zu haben schien, ließen ihn leicht voraussehen, daß in wenig Stunden die ganze Stadt von diesem vorgeblichen Wunder voll sein, und in schreckenvolle Ahndungen gesetzt werden würde, bei welchen ihm nicht erlaubt sein würde, gleichgültig zu bleiben. Es war ihm also nichts übrig, als sogleich in Gegenwart der Priester den Befehl zu geben, daß die Zehnmänner sich wegen eines außerordentlichen Vorfalls binnen einer Stunde in dem Tempel der Latona versammeln sollten.

Inzwischen hatte, durch Veranstaltung des Oberpriesters, das Gerücht von einem furchtbaren Wunderzeichen, welches seit drei Nächten in dem Haine der Latona gehört werde, sich bereits durch ganz Abdera verbreitet. Die Freunde des Erzpriesters Agathyrsus, die nicht so einfältig waren, sich durch solches Gaukelwerk täuschen zu lassen, wurden dadurch erbittert, weil sie nicht zweifelten, daß irgend ein böser Anschlag gegen ihre Partei darunter verborgen liege. Verschiedene junge Herren und Damen von der ersten Classe affectierten über das vorgegebene Wunder zu spotten, und machten Partien, in der nächsten Nacht der neumodischen Trauermusik im Froschteich der Latona beizuwohnen. Aber auf das gemeine Volk und auf einen großen Teil der Vornehmern, die in Sachen dieser Art allenthalben gemeines Volk zu sein pflegen, machte die Erfindung des Oberpriesters ihre vollständige Wirkung. Das Pheu Pheu, Eleleleleleu der Latonenfrösche unterbrach auf einmal alle bürgerliche und häusliche Beschäftigungen. Alte und Junge, Weiber und Kinder liefen auf den Gassen zusammen, und forschten mit erschrocknen Gesichtern nach den Umständen des Wunders. Und da beinahe ein jedes die Sache aus dem eignen Munde der ersten Zeugen gehört haben wollte, und der Eindruck, den man dergleichen Erzählungen auf die Zuhörer machen sieht, eine natürliche Anreizung für den Erzähler zu sein pflegt, immer etwas, das die Sache interessanter macht, hinzuzutun: so wurde das Wunder in weniger als einer Stunde in den verschiedenen Gegenden der Stadt mit so furchtbaren Umständen gefüttert, daß den Leuten beim bloßen Hören die Haare zu Berge standen. Einige versicherten, die Frösche, als sie den fatalen Gesang angestimmt, hätten Menschenköpfe aus dem Teich emporgereckt; andere, daß sie ganz feurige Augen von der Größe einer Walnuß gehabt hätten; noch andere, daß man zu eben der Zeit allerlei fürchterliche Gespenster, ungeheure heulende Töne von sich gebend, im Hain umherfahren gesehen; wieder andere, daß es bei hellem Himmel ganz erschrecklich über dem Teich geblitzt und gedonnert habe; und endlich beteuerten einige Ohrenzeugen, daß sie ganz deutlich die Worte: Weh dir Abdera! zu wiederholtenmalen, hätten unterscheiden können. Kurz das Wunder wurde, wie gewöhnlich, immer größer, je weiter es sich fortwälzte, und fand desto mehr Glauben, je ungereimter, widersprechender und unglaublicher die Berichte waren, die davon gegeben wurden. Und da man bald die Zehnmänner zu einer ungewöhnlichen Zeit in großer Hast und mit bedeutungsvollen Gesichtern dem Tempel der Latona zueilen sah: so zweifelte nun niemand mehr, daß Begebenheiten von der größten Wichtigkeit in dem Becher des abderitischen Schicksals gemischt würden, und die ganze Stadt schwebte in zitternder Erwartung der Dinge, die da kommen sollten.

Das Collegium der Zehnmänner war aus dem Archon, den vier ältesten Ratsherren, den zween ältesten Zunftmeistern, dem Oberpriester der Latona, und zween Vorstehern des geheiligten Teiches zusammengesetzt, und stellte das ehrwürdigste unter allen abderitischen Tribunalien vor. Alle Sachen, bei denen die Religion von Abdera unmittelbar betroffen war, standen unter seiner Gerichtsbarkeit, und sein Ansehen war beinahe unumschränkt.

Es ist eine alte Bemerkung, daß verständige Leute durchs Alter gewöhnlich weiser, und Narren mit den Jahren immer alberner werden. Ein abderitischer Nestor hatte daher selten viel dadurch gewonnen, daß er zwo oder drei neue Generationen gesehen hatte; und so konnte man ohne Gefahr voraussetzen, daß die Zehnmänner von Abdera, im Durchschnitt genommen, den Ausschuß der blödesten Köpfe in der ganzen Republik ausmachten. Die guten Leute waren so bereitwillig, die Erzählung des Oberpriesters für eine Tatsache, die gar keinem Einwurf ausgesetzt sein könne, anzunehmen, daß sie die Abhörung der Zeugen für eine bloße Formalität anzusehen schienen, womit man so schnell als möglich fertig zu werden suchen müsse. Da nun Strobylus die Herren von der Richtigkeit des Wunders schon zum voraus so wohl überzeugt fand: so glaubte er um so weniger zu wagen, wenn er ohne Zeitverlust zu demjenigen fortschritte, weswegen er sich die Mühe genommen, die ganze Fabel zu erfinden.

»Von dem ersten Augenblick an, sagte er, da meine eignen Ohren Zeugen dieses Wunderzeichens gewesen sind, welches, wie ich wohl sagen kann, in den Jahrbüchern von Abdera niemals seines gleichen gehabt hat, stieg der Gedanke in mir auf: daß es eine Warnung der Göttin sein könnte vor den Folgen ihrer Rache, die, wegen irgend eines geheimen unbestraften Verbrechens, über unsern Häuptern schweben möchte; und dies setzte mich in die Notwendigkeit, des Archons Gnaden zu gegenwärtiger Versammlung des sehr ehrwürdigen Zehnmännergerichts zu veranlassen. Was damals bloß Vermutung war, hat sich seit einer einzigen Stunde zur Gewißheit aufgeklärt. Der Frevler ist bereits entdeckt, und das Verbrechen durch Augenzeugen erweislich, gegen deren Wahrhaftigkeit um so weniger einiger Zweifel vorwaltet, da der Täter ein Mann von zu großem Ansehen ist, als daß etwas geringeres als die Furcht der Götter Leute von gemeinem Stande dahin bringen könnte, als Zeugen wider ihn aufzutreten. Sollten Sie es jemals für möglich gehalten haben, Hochgeachte Herren, daß jemand mitten unter uns verwegen genug sein könne, unsern uralten, von den ersten Stiftern unsrer Stadt auf uns angeerbten, und durch so viele Jahrhunderte unbefleckt erhaltenen Gottesdienst und dessen Gebräuche und heilige Dinge zu verachten, und, ohne Ehrerbietung weder für die Gesetze noch den gemeinen Glauben und die Sitten unsrer Stadt, mutwilligerweise zu mißhandeln, was uns allen heilig und ehrwürdig ist? Mit einem Wort, können Sie glauben, daß ein Mann mitten in Abdera lebt, der, dem Buchstaben des Gesetzes zu Trotz, Störche in seinem Garten unterhält, die sich täglich mit Fröschen aus dem Teich der Latona und andern geheiligten Teichen füttern?«

Erstaunen und Entsetzen drückte sich bei diesen Worten auf jedem Gesicht aus. Wenigstens mußte der Archon, um nicht der einzige zu sein, der die Ausnahme machte, sich eben so bestürzt anstellen, als es seine übrigen Collegen wirklich waren. Ists möglich? schrieen drei oder vier von den Ältesten zugleich; und wer kann der Bösewicht sein, der sich eines solchen Verbrechens schuldig gemacht hat?

»Verzeihen Sie mir, erwiderte Strobylus, wenn ich Sie bitte, diesen harten Ausdruck zu mildern. Ich meines Orts will lieber glauben, daß nicht Gottlosigkeit, sondern bloßer Leichtsinn, und was man heut zu Tage, zumal seit Demokritus sein Unkraut unter uns ausgestreut hat, Philosophie zu nennen pflegt, die Quelle dieser anscheinenden Verachtung unsrer heiligen Gebräuche und Ordnungen sei. Ich will und muß dies um so mehr glauben, da der Mann, der des besagten Frevels durch das einhellige Zeugnis von mehr als sieben glaubwürdigen Personen überwiesen werden kann, selbst ein Mann von geheiligtem Stande, selbst ein Priester, mit einem Wort, da es der Jasonide Agathyrsus ist.«

Agathyrsus? riefen die erstaunten Zehnmänner aus einem Munde. Drei oder vier von ihnen erblaßten, und schienen verlegen zu sein, einen Mann von solcher Bedeutung, und mit dessen Hause sie immer in gutem Vernehmen gestanden, in einen so schlimmen Handel verwickelt zu sehen.

Strobylus ließ ihnen keine Zeit sich zu erholen. Er befahl, die Zeugen hereinzurufen. Sie wurden einer nach dem andern abgehört; und es ergab sich: daß Agathyrsus allerdings seit einiger Zeit zween Störche in seinen Gärten unterhielt; daß man sie öfters über dem geheiligten Teiche schweben, und wirklich einen seiner quakenden Bewohner, der sich eben am Ufer sonnen wollte, die Beute derselben werden gesehen habe.

Wiewohl nun hierdurch die Wahrheit der Beschuldigung außer allen Zweifel gesetzt schien: so glaubte der Archon Onolaus dennoch, daß es der Klugheit gemäß sein würde, zu Verhütung unangenehmer Folgen, mit einem Manne wie der Erzpriester Jasons säuberlich zu verfahren. Er trug also darauf an, daß man sich begnügen sollte, ihm von Seiten der Zehnmänner freundlich bedeuten zu lassen: »Man sei geneigt für diesmal zu glauben, daß die Sache, worüber man sich zu beklagen habe, ohne sein Vorwissen geschehen sei; man verspreche sich aber von seiner bekannten billigen Denkart, daß er keinen Augenblick Anstand nehmen werde, die verbrecherischen Störche an die Vorsteher des heiligen Teiches auszuliefern, und den Zehnmännern sowohl als der ganzen Stadt hiedurch eine gefällige Probe seiner Achtung gegen die Gesetze und religiösen Gebräuche seiner Vaterstadt zu geben.«

Drei Stimmen von neunen bekräftigten den Antrag des Archon; aber Strobylus und die übrigen setzten sich mit großem Eifer dagegen. Sie behaupteten: außerdem, daß es auf keine Weise zu billigen sei, eine so übermäßige Gelindigkeit gegen einen Bürger von Abdera zu gebrauchen, der eines Verbrechens von solcher Schwere überwiesen sei, so erfodere auch die Gerichtsordnung, daß man ihn nicht eher verurteile, eh er gehört und zur Verantwortung gelassen worden. Strobylus trug also darauf an: daß der Erzpriester vorgeladen werden sollte, unverzüglich vor den Zehnmännern zu erscheinen, und sich auf die wider ihn angebrachte Klage zu verantworten; und dieser Antrag ging, Einwendens ungeachtet, mit sechs Stimmen gegen viere durch. Der Erzpriester wurde also mit allen in solchen Fällen üblichen Förmlichkeiten vorgeladen.

Agathyrsus war nicht unvorbereitet, als die Abgeordneten der Zehnmänner in seinem Haus erschienen. Nachdem er sie über eine Stunde hatte warten lassen, wurden sie endlich in einen Saal geführt, wo der Erzpriester, in seinem ganzen Ornat, auf einem erhöhten elfenbeinernen Lehnstuhl sitzend, das stotternde Anbringen ihres Worthalters mit großer Gelassenheit anhörte. Als sie damit fertig waren, winkte er mit der Hand einem Bedienten, der seitwärts hinter seinem Stuhle stand. Führe die Herren, sagte er zu ihm, in die Gärten, und zeige ihnen die Störche, von denen die Rede ist, damit sie ihren Principalen sagen können, daß sie solche mit eignen Augen gesehen haben; hernach bringe sie wieder hieher. Die Abgeordneten machten große Augen; aber die Ehrfurcht vor dem Erzpriester band ihre Zungen, und sie folgten dem Diener stillschweigend und als Leute, denen nicht ganz wohl bei der Sache war. Als sie wieder zurückgekommen, fragte sie Agathyrsus: ob sie die Störche gesehen hätten? und da sie insgesamt mit Ja geantwortet hatten, fuhr er fort: Nun so geht, macht dem sehr ehrwürdigen Gericht der Zehnmänner mein Compliment, und sagt denen, die euch geschickt haben: ich lasse ihnen wissen, daß diese Störche, wie alles übrige, was in dem Umfang des Jasontempels lebt, unter Jasons Schutze stehen; und daß ich die Anmaßung, einen Erzpriester dieses Tempels vorzuladen, und nach den abderitischen Gesetzen richten zu wollen, sehr lächerlich finde. Und damit winkte er ihnen, sich wegzubegeben.

Diese Antwort – deren sich die Zehnmänner um so mehr hätten versehen sollen, da ihnen nicht unbekannt sein konnte, daß der Jasontempel mit seiner Priesterschaft von der Gerichtsbarkeit der Stadt Abdera gänzlich befreit war – setzte sie in eine unbeschreibliche Verlegenheit; und der Oberpriester Strobylus geriet darüber in einen so heftigen Zorn, daß er vor Wut gar nicht mehr wußte, was er sagte, und endlich damit endigte, der ganzen Republik den Untergang zu drohen, wofern dieser unleidliche Stolz eines kleinen aufgeblasenen Pfaffen, der (wie er sagte) nicht einmal als ein öffentlicher Priester anzusehen sei, nicht gedemütigt, und der beleidigten Latona die vollständigste Genugtuung gegeben werde.

Allein der Archon und seine drei Ratsherren erklärten sich: daß Latona (für deren Frösche sie übrigens alle schuldige Ehrerbietung hegten) nichts damit zu tun habe, wenn die Zehnmänner die Grenzen ihrer Gerichtsbarkeit überschritten. Ich hab' euchs vorhergesagt, sprach der Archon; aber ihr wolltet nicht hören. Würde mein Vorschlag angenommen worden sein, so bin ich gewiß, der Erzpriester hätte uns eine höfliche und gefällige Antwort gegeben, denn ein gut Wort findet eine gute Statt. Aber der ehrwürdige Oberpriester glaubte eine Gelegenheit gefunden zu haben, seinen alten Groll an dem Erzpriester auszulassen; und nun zeigt es sich, daß er und diejenigen, die sich von seinem unzeitigen Eifer hinreißen ließen, dem Gericht der Zehnmänner einen Schandfleck zugezogen haben, den alles Wasser des Hebrus und Nestus in hundert Jahren nicht wieder abwaschen wird. Ich gestehe es, (setzte er mit einer Hitze hinzu, die man in vielen Jahren nicht an ihm wahrgenommen hatte,) ich bin es müde, der Vorsteher einer Republik zu sein, die sich von Eselsschatten und Fröschen zu Grunde richten läßt, und ich bin sehr gesonnen, mein Amt, eh es Morgen wird, niederzulegen; aber so lang' ich es noch trage, Herr Oberpriester, sollt ihr mir für jede Unordnung haften, die von diesem Augenblick an auf den Straßen von Abdera entstehen wird. Und mit diesen Worten, die mit einem sehr ernstlichen Blick auf den betroffnen Strobylus begleitet waren, begab sich der Archon mit seinen drei Anhängern hinweg, und ließ die übrigen in sprachloser Bestürzung zurücke.

Was ist nun anzufangen, sagte endlich der Oberpriester, den die Wendung, die das Werk seiner Erfindung wider alles Vermuten genommen hatte, nicht wenig zu beunruhigen anfing; was ist nun zu tun, meine Herren?

Das wissen wir nicht, sagten die beiden Zunftmeister und der vierte Ratsherr, und gingen ebenfalls davon; so daß Strobylus mit den zween Vorstehern des geheiligten Teichs allein blieben, und nachdem sie eine Zeit lang alle drei zugleich gesprochen hatten, ohne selbst recht zu wissen, was sie sagten, endlich des Schlusses eins wurden: fördersamst bei dem einen der Vorsteher die Mittagsmahlzeit einzunehmen, und sodann mit ihren Freunden und Anhängern zu Rate zu gehen, wie sie es nun anzufangen hätten, um die Bewegung, worein das Volk diesen Morgen gesetzt worden war, auf einen Zweck zu lenken, der den Sieg ihrer Partei entscheiden könnte.

Elftes Kapitel
Agathyrsus beruft seine Anhänger zusammen
Substanz seiner Rede an sie
Er ladet sie zu einem großen Opferfeste ein
Der Archon Onolaus will sein Amt niederlegen
Unruhe der Partei des Erzpriesters über dieses Vorhaben
Durch was für eine List sie solches vereiteln

Inzwischen ließ Agathyrsus, so bald die Abgeordneten der Zehnmänner sich wieder wegbegeben, unverzüglich die Vornehmsten von seinem Anhang im Rat und unter der Bürgerschaft, nebst allen Jasoniden, zu sich berufen. Er erzählte ihnen, was ihm so eben auf Anstiften des Priesters Strobylus mit den Zehnmännern begegnet war, und stellte ihnen vor, wie notwendig es nun für das Ansehen ihrer Partei so wohl als für die Ehre und selbst für die Erhaltung der Stadt Abdera sei, die Anschläge dieses ränkevollen Mannes zu vereiteln, und dem Volke, welches er durch die lächerliche Fabel von der Wehklage der Latonenfrösche in Unruhe gesetzt, wieder einen entgegengesetzten Stoß zu geben. Es falle einem jeden von selbst in die Augen, daß Strobylus dieses armselige Märchen nur deswegen ersonnen habe, um die eben so ungereimte, aber wegen der abergläubischen Vorurteile des Volkes desto gefährlichere Anklage, die er gegen ihn, den Erzpriester, bei den Zehnmännern angebracht, vorzubereiten, und eine wichtige, die Wohlfahrt der ganzen Republik betreffende Sache daraus zu machen. Aber auch dies sei ihn Grunde doch nur ein Mittel, wozu er in der Verzweiflung gegriffen habe, um seiner darnieder gesunken Partei wieder auf die Füße zu helfen, und von den Bewegungen, welche in der Stadt dadurch erregt worden, bei der bevorstehenden Entscheidung des Eselsschattenhandels Vorteil zu ziehen. Weil nun aus eben diesem Grunde leicht vorauszusehen sei, daß der unruhige Priester aus dem, was diesen Morgen mit den Zehnmännern vorgegangen, neuen Stoff hernehmen werde, ihn, den Erzpriester, bei dem Volke verhaßt zu machen, und im Notfall wohl gar einen abermaligen noch gefährlichern Aufstand zu erregen: so habe er für nötig gehalten, seine und des gemeinen Wesens zuverlässigste Freunde in den Stand zu setzen, dem Volke und allen, die dessen bedürften, richtigere Begriffe von dem heutigen Vorgang und dessen allenfallsigen Folgen geben zu können. Was also die Störche anbelange, so wären solche ohne sein Zutun von selbst gekommen, und hätten sich auf einen Baum seines Gartens ein Nest gebaut. Er habe sich nicht für berechtigt gehalten, sie darin zu stören; teils weil die Störche seit undenklichen Zeiten bei allen gesitteten Völkern im Besitz einer Art von geheiligtem Gastrechte stünden; teils weil die Freiheit des Jasontempels und der Schutz dieses Gottes alle lebende und leblose Dinge angehe, die sich in dem Umfang seiner Mauern befänden. Das Gesetz, wodurch die Zehnmänner vor einigen Jahren die Störche aus dem Gebiet von Abdera verwiesen hätten, gehe ihn nichts an; indem die Gerichtsbarkeit dieses Tribunals sich nur über dasjenige erstrecke, was auf den Dienst der Latona und die Gebräuche desselben Bezug habe. Und überhaupt sei bekannt, daß der Jasontempel nur in so ferne mit der Republik in Verbindung stehe, als sich diese bei dessen Stiftung öffentlich verbindlich gemacht, ihn gegen alle gewaltsame Unternehmungen einheimischer oder auswärtiger Feinde zu beschützen, übrigens aber von allem Gerichtszwange der abderitischen Tribunalien, und von aller Oberherrlichkeit der Republik selbst, vollkommen und auf ewig befreit sei. Er habe also, indem er die unbefugte Vorladung von sich abgewiesen, nichts getan, als was seine Würde von ihm erfordert; die Zehnmänner hingegen hätten durch diesen unbesonnenen Schritt, wozu die Mehrheit derselben von dem Priester Strobylus verleitet worden, ihn in den Fall gesetzt, von der Republik wegen einer so groben Verletzung seiner erzpriesterlichen Vorrechte, im Namen Jasons und aller Jasoniden die strengste und vollständigste Genugtuung zu fordern. Die Sache wäre von wichtigern Folgen, als die Anhänger des Zunftmeister Pfrieme und Strobylus mit seinen Froschpflegern sich vielleicht vorstellten. Das goldne Vließ, welches die Jasoniden als ihr wichtigstes Erbgut in diesem Tempel aufbewahrten, wäre seit Jahrhunderten als das Palladium von Abdera betrachtet und verehrt worden. Die Abderiten hätten sich also wohl vorzusehen, keine Schritte zu tun noch zuzulassen, wodurch sie vielleicht durch eigne Schuld desjenigen beraubt werden könnten, an welches nach einem uralten und zur Religion gewordnen Glauben das Schicksal und die Erhaltung ihrer Republik gebunden sei.

Der Erzpriester empfing auf diesen Vortrag von allen Anwesenden die stärksten Versicherungen ihres Eifers sowohl für die gemeine Sache, als für die Rechte und Freiheiten des Jasontempels. Man besprach sich über die verschiednen Maßregeln die man nehmen wollte, um die Bürgerschaft in ihren guten Gesinnungen zu befestigen, und diejenigen wieder zu gewinnen, die entweder das vorgegebne Wunderzeichen mit den Fröschen der Latona irre gemacht, oder Strobylus gegen die Störche des Erzpriesters aufgewiegelt haben würde. Die Versammlung trennte sich hierauf, und jeder begab sich an seinen Posten, nachdem Agathyrsus sie alle zu einem feierlichen Opfer eingeladen hatte, welches er diesen Abend dem Jason in seinem Tempel bringen wollte.

Während daß dies im Palast des Erzpriesters vorging, war der Archon, äußerst mißvergnügt über die nicht allzuehrenfeste Rolle, die er wider Willen hatte spielen müssen, nach Hause gekommen, und hatte alle seine Verwandte, Brüder, Schwäger, Söhne, Tochtermänner, Neffen und Vettern, zu sich berufen lassen, um ihnen anzukündigen: was gestalten er fest entschlossen sei, morgenden Tages vor dem großen Rat seine Würde niederzulegen, und sich auf ein Landgut, das er vor einigen Jahren auf der Insel Thasos gekauft hatte, zurückzuziehen. Sein ältester Sohn und noch etliche von der Familie waren bei diesem Familienconvent nicht zugegen, weil sie eine halbe Stunde zuvor zu dem Erzpriester waren gebeten worden. Da nun die übrigen sahen, daß Onolaus, aller ihrer Bitten und Vorstellungen ungeachtet, unbeweglich auf seinem Vorsatz beharrte: so schlich sich einer von ihnen weg, um der Versammlung im Jasonstempel Nachricht davon zu geben, und sie um ihren Beistand gegen einen so unverhofften widrigen Zufall zu ersuchen.

Er langte eben an, da die Versammlung im Begriff war, auseinander zu gehen. Diejenigen, denen die Gemütsart des Archon von langem her bekannt war, fanden die Sache bedenklicher, als sie beim ersten Anblick den Meisten vorkam. Seit zehn Jahren, sagten sie, ist dies vielleicht das erstemal, daß der Archon eine Entschließung aus sich selbst genommen hat. Gewiß ist sie ihm nicht plötzlich gekommen! Er brütet schon eine geraume Zeit darüber, und der heutige Vorgang hat nur die Schale gesprengt, die über kurz oder lang doch hätte brechen müssen. Kurz, diese Entschließung ist sein eigen Werk; man kann also sicher darauf rechnen, daß es nicht so leicht sein wird, ihn davon zurückzubringen.

Die ganze Versammlung geriet darüber in Unruhe. Man fand, daß dieser Streich in einem so schwankenden Zeitpunkt, wie der gegenwärtige, der ganzen Partei und der Republik selbst sehr nachteilig werden könnte. Es wurde also einhellig beschlossen; daß man zwar so viel von diesem Vorhaben des Archons unter das Volk kommen lassen müßte, als vonnöten sei, solches in Furcht und Ungewißheit zu setzen; zugleich aber wollte man auch veranstalten, daß noch vor dem Opfer im Jasonstempel die Angesehensten von den Räten und Bürgern beider Parteien sich zu dem Archon begeben, und ihn im Namen des ganzen Abdera beschwören sollten, das Ruder der Republik nicht mitten in einem Sturm zu verlassen, wo sie eines so weisen Piloten am meisten vonnöten hätten.

Der Gedanke, die Vornehmsten von beiden Parteien hierin zu vereinigen, wurde dadurch notwendig, weil man voraus sah, daß ohne dieses alle ihre Arbeit an dem Archon fruchtlos sein würde. Denn wiewohl er von Jugend an der Aristokratie eifrig ergeben war: so hatte er sich doch zu einem Grundsatz gemacht, nicht dafür angesehen sein zu wollen; und die Popularität, die er zu diesem Ende schon so lange affectierte, daß sie ihm endlich ganz natürlich ließ, war es eben, was ihn beim Volke so beliebt gemacht hatte, als noch wenige von seinen Vorfahren gewesen waren. Besonders aber hatte er, seitdem sich die Stadt in die zwo Parteien der Esel und der Schatten geteilt befand, einen ordentlichen Ehrenpunct darin gesetzt, sich so zu betragen, daß er keiner von beiden Parteien Ursach gäbe, ihn zu der ihrigen zu zählen; und wiewohl beinahe alle seine Freunde und Anverwandte erklärte Esel waren, so blieben die Schatten doch überzeugt, daß sie nichts dadurch verlören, und die Esel nichts dabei gewönnen, indem diese letztere genötigt waren, alle ihre Schritte vor ihm zu verbergen, und bei jedem Vorteil, den sie über die Schatten erhielten, sich darauf verlassen konnten, daß er, um die Sachen wieder ins Gleichgewicht zu bringen, sich auf die Seite ihrer Gegner neigen würde, wiewohl er keinen einzigen von ihnen persönlich liebte.

Die Bekanntmachung der Entschließung des Archons hatte alle die Wirkung, die man sich davon versprochen hatte. Das Volk geriet darüber in neue Bestürzung; die Meisten sagten, man brauche nun weiter nicht nachzuforschen, was die Wehklage der geheiligten Frösche vorbedeute. Wenn der Archon die Republik in dem betrübten Zustande, worin sie sich befinde, verlasse, so sei alles verloren.

Der Priester Strobylus und der Zunftmeister Pfrieme erhielten die Nachricht von dem großen Opfer, das der Erzpriester veranstalte, und das Gerüchte von dem Entschluß des Archon, seine Stelle niederzulegen, zu gleicher Zeit. Sie übersahen beim ersten Blick die Folgen dieses gedoppelten Streichs, und eilten den einen zu erwidern und dem andern zuvorzukommen. Strobylus ließ das Volk zu einer Expiation einladen, welche auf den Abend in dem Tempel der Latona mit großen Feierlichkeiten angestellt werden sollte, um die Stadt von geheimen Verbrechen zu reinigen, und die schlimme Vorbedeutung des Eleleleleleu der geheiligten Frösche abzuwenden. Der Zunftmeister hingegen ging, die Räte, Zunftmeister und angesehensten Bürger von seiner Partei aufzusuchen, und sich mit ihnen zu beraten, wie der Archon auf andere Gedanken zu bringen sein möchte. Die Meisten waren schon durch die geheimen Werkzeuge der Gegenpartei vorbereitet, welche als ein großes Geheimnis herumgeflüstert hatten: man wüßte ganz gewiß, daß die Esel sich alle mögliche Mühe gäben, den Archon unter der Hand in seinem Entschluß zu bestärken. Die Schatten hielten sich dadurch überzeugt, daß ihre Gegner einen aus ihrem Mittel zu der höchsten Würde in der Republik zu erheben gedächten, und also der Mehrheit im großen Rat, bei welchem die Wahl stund, schon ganz gewiß sein müßten. Diese Betrachtung setzte sie in so großen Allarm, daß sie mit einer Menge Volks hinter ihnen her zur Wohnung des Onolaus eilten, und während der Pöbel ein Vivat nach dem andern erschallen ließ, hinaufgingen, um Seine Gnaden im Namen der ganzen Bürgerschaft flehentlich zu bitten, den unglücklichen Gedanken an Resignation aufzugeben, und sie niemals, am wenigsten zu einer Zeit zu verlassen, wo seine Weisheit zu Beruhigung der Stadt unentbehrlich sei.

Der Archon zeigte sich über diesen öffentlichen Beweis der Liebe und des Vertrauens seiner werten Mitbürger sehr vergnügt. Er verhielt ihnen nicht, daß kaum vor einer Viertelstunde der größte Teil der Ratsherren, der Jasoniden, und aller übrigen alten Geschlechter von Abdera, bei ihm gewesen, und eben diese Bitte in eben so geneigten und dringenden Ausdrücken an ihn getan hätten. So große Ursache er auch habe, der beschwerlichen Regierungslast müde zu sein, und zu wünschen, daß sie auf stärkere Schultern als die seinigen gelegt werden möchte: so habe er doch kein Herz, das diesem so lebhaft ausgedrückten Zutrauen beider Parteien widerstehen könne. Er sehe diese ihre Einmütigkeit in Absicht auf seine Person und Würde als eine gute Vorbedeutung für die baldige Wiederherstellung der gemeinen Ruhe an, und werde seines Orts alles Mögliche mit Vergnügen dazu beitragen.

Als der Archon diese schöne Rede geendigt hatte, sahen die Schatten einander aus großen Augen an, und fanden sich, zu ihrem empfindlichsten Mißvergnügen, auf einmal um die Hälfte klüger als zuvor. Denn sie merkten nun, daß sie von den Eseln betrogen, und zu einem falschen Schritt verleitet worden waren. Sie hatten, in der Meinung, daß sie diesen Schritt allein täten, den Archon ganz dadurch auf ihre Seite zu ziehen gehofft; und nun befand sichs, daß er ihren Gegnern eben so viel Verbindlichkeit hatte als ihnen; welches just so viel war, als ob er ihnen gar keine hätte. Aber das war noch nicht das Ärgste. Das hinterlistige Betragen der Esel war ein offenbarer Beweis, wie viel ihnen daran gelegen sei, daß die Stelle des Archons nicht ledig würde. Nun konnte ihnen aber an der Person des Onolaus selbst nicht viel gelegen sein; denn er hatte nie das Geringste für ihre Partei getan. Wenn sie also so eifrig wünschten, daß er seinen Platz behalten möchte: so konnt' es aus keiner andern Ursache geschehen, als weil sie sich versichert hielten, daß die Schatten Meister von der Wahl des neuen Archons bleiben würden. Diese Betrachtungen, die sich ihnen itzt in einem Blick darstellten, waren von einer so verdrießlichen Art, daß die armen Schatten alle Mühe von der Welt hatten, ihren Unmut zu verbergen, und sich, zu großem Vergnügen des Archons, ziemlich eilfertig wegbegaben, ohne daß es diesem eingefallen wäre, sich darüber zu verwundern, oder die Veränderung in ihren Gesichtern wahrzunehmen.

Der heutige Tag war ein großer Tag für den weisen und ziemlich schwerbeleibten Onolaus gewesen, und er war nun vollkommen wieder mit Abdera zufrieden. Er befahl also, daß seine Türe geschlossen werden sollte, zog sich in sein Gynäceum zurück, warf sich in seinen Lehnstuhl, schwatzte mit seiner Frau und seinen Töchtern, aß zu Nacht, ging zeitig zu Bette, und schlief, wohlgetröstet, und unbesorgt um das Schicksal von Abdera, bis an den hellen Morgen.

Zwölftes Kapitel
Der Entscheidungstag
Maßregeln beider Parteien
Die Vierhundert versammeln sich, und das Gericht nimmt seinen Anfang
Philanthropischpatriotische Träume des Herausgebers dieser merkwürdigen Geschichte

Die verschiedenen Maschinen, welche man diesen Tag über auf beiden Seiten hatte spielen lassen, brachten den abderitischen Staatskörper, bei dem Anschein der größten innerlichen Bewegung, durch die Stöße, die er nach entgegengesetzter Richtung erhielt, in eine Art von waagerechtes Schwanken, vermöge dessen um die Zeit, da die Vierhundert zu Entscheidung des Eselsschattenhandels zusammenkamen, sich alles ungefähr in eben dem Stande befand, worin es einige Tage zuvor gewesen war, d.i. daß die Esel den größten Teil des Rats, die Patricier und die Ansehnlichsten und Vermöglichsten von der Bürgerschaft auf ihrer Seite hatten, die Schatten hingegen ihre meiste Stärke von der größern Anzahl zogen. Denn, seit dem großen feierlichen Umgang um den Froschteich der Latona, welchen Strobylus den Abend zuvor veranstaltet, und dem die sämtlichen Schatten, mit dem Nomophylax Gryllus und dem Zunftmeister Pfrieme an ihrer Spitze, sehr andächtig beigewohnt hatten, war der Pöbel wieder gänzlich für die letztere Partei erklärt.

Es würde bei Gelegenheit dieses Umgangs dem Priester Strobylus und den übrigen Häuptern derselben ein Leichtes gewesen sein, mittelst ihres Ansehens über einen fanatischen Haufen Volkes, welcher größtenteils bei gänzlicher Zerrüttung der Republik mehr zu gewinnen als zu verlieren hatte, noch an selbigem Abend viel Unheil in Abdera anzurichten. Allein außerdem, daß der Oberpriester im Namen des Archons noch einmal nachdrücklichst angewiesen worden war, den Pöbel in gehöriger Ordnung zu erhalten, und dafür zu sorgen, daß der Tempel und alle Zugänge zu dem geheiligten Teiche noch vor Sonnenuntergang geschlossen wären – so waren sie auch selbst weit entfernt, die Sache, ohne höchste Not, aufs äußerste treiben, oder die ganze Stadt in Blut und Flammen setzen zu wollen; und so klug waren sie doch, Trotz ihrer übrigen Abderitheit, um einzusehen, daß, wenn ihnen der Pöbel einmal die Zügel aus den Händen gerissen hätte, es nicht mehr in ihrer Gewalt sein würde, der ungestümen Wut eines so blinden reißenden Tiers wieder Einhalt zu tun. Der Zunftmeister begnügte sich also da der Umgang vorbei war, und die Türen des Tempels geschlossen wurden, dem auseinandergehenden Volke zu sagen: er hoffe, daß sich alle redliche Abderiten morgen um neun Uhr auf dem Markte bei dem Urteil über den Handel ihres Mitbürgers Struthion einfinden, und, so viel an ihnen wäre, dazu verhelfen würden, daß seine gerechte Sache den Sieg davon trage.

Die Einladung war zwar, ungeachtet der glimpflichen, und, seiner Meinung nach, sehr behutsamen Ausdrücke, worin er sie vorbrachte, nicht viel besser, als ein höchst illegales Verfahren eines aufrührischen Zunftmeisters, der im Notfall die Richter durch die unmittelbare Gefahr eines Tumults nötigen wollte, das Urteil nach seinem Sinn abzufassen. Allein dies war es auch, worauf es ankommen zu lassen die Schatten fest entschlossen waren; und da die andere Partei hievon völlig überzeugt war, so hatten sie ihrerseits alle mögliche Maßregeln genommen, sich auf das Äußerste, was begegnen könnte, gefaßt zu machen.

Der Erzpriester ließ, sobald das Gericht den Anfang nahm, alle Zugänge zum Jasontempel von einer Schar handfester Gerber und Fleischer, die mit tüchtigen Knitteln und Messern versehen waren, besetzen; und in den Häusern der vornehmsten Esel hatte man sich in eine Verfassung gesetzt, als ob man eine Belagerung auszuhalten gedenke. Die Esel selbst erschienen mit Dolchen unter ihren langen Kleidern auf dem Gerichtsplatz: und einige von denen, die am lautesten sprachen, hatten die Vorsicht gebraucht, sogar einen Panzer unter ihrem Brustlatz zu tragen, um ihren patriotischen Busen mit desto größerer Sicherheit den Stößen der Feinde der guten Sache entgegensetzen zu können.

Die neunte Stunde kam nun heran. Ganz Abdera stund in zitternder Bewegung, erwartungsvoll des Ausgangs, den ein so unerhörter Handel nehmen würde; und niemand hatte sein Frühstück ordentlich zu sich genommen, wiewohl alles schon mit Tagesanbruch auf den Füßen war. Die Vierhundert versammelten sich auf der Terrasse der Tempel des Apollo und der Diana (dem gewöhnlichen Platz, wo der große Rat unter freiem Himmel gehalten wurde), dem großen Marktplatz gegenüber, von welchem man auf einer breiten Treppe von vierzehn Stufen zur Terrasse hinauf stieg. Auch die Parteien mit ihren nächsten Anverwandten und mit ihren beiden Sykophanten hatten sich bereits eingefunden, und ihren gehörigen Platz eingenommen; indessen sich der ganze Markt mit einer Menge Volks anfüllte, dessen Gesinnungen durch ein lärmendes Vivat, so oft ein Ratsherr oder Zunftmeister von der Schattenpartei einhergestiegen kam, sich deutlich genug verrieten.

Alles wartete nun auf den Nomophylax, der, nach den Gewohnheiten der Stadt Abdera, in allen Fällen, wo die Versammlung des großen Rates nicht unmittelbare Angelegenheiten des gemeinen Wesens betraf, das Präsidium bei demselben führte. Die Esel hatten zwar alles angewandt, den Archon Onolaus dahin zu bringen, daß er, weil es doch um ein neues Gesetz zu tun wäre, den elfenbeinernen Lehnstuhl (der, um drei Stufen über die Bänke der Räte erhöht, für den Präsidenten gesetzt war) mit seiner eignen ehrwürdigen Person ausfüllen möchte. Aber er erklärte sich: daß er lieber das Leben lassen, als sich dazu verstehen wolle, über ein Eselsschattengericht zu präsidieren. Man hatte sich also gezwungen gesehen, seiner Delicatesse nachzugeben.

Der Nomophylax – als ein großer Anhänger der Etikette, gewohnt, bei dergleichen Gelegenheiten auf sich warten zu lassen hatte dafür gesorgt, daß die Versammlung indessen mit einer Musik von seiner Composition unterhalten, und (wie er sagte) zu einer so feierlichen Handlung vorbereitet würde. Dieser Einfall, wiewohl er eine Neuerung war, wurde dennoch sehr wohl aufgenommen, und tat, (gegen die Absicht des Nomophylax, der seine Partei dadurch in verstärkte Bewegungen von Mut und Eifer hatte setzen wollen) eine sehr gute Wirkung. Denn die Musik gab denen von der Partei des Erzpriesters zu einer Menge späßiger Einfälle Anlaß, über welche sich von Zeit zu Zeit ein großes Gelächter erhob. Einer sagte: Dieses Allegro klingt ja wie ein Schlachtgesang – zu einem Wachtelkampfe, fiel ein anderer ein. Dafür tönt aber auch, sagte ein dritter, das Adagio, als ob es dem Zahnbrecher Struthion und Meister Knieriemen, seinem Schutzpatron, zu Grabe singen sollte. Die ganze Musik, meinte ein vierter, verdiene von Schatten gemacht, und von Eseln gehört zu werden, u.s.w. Wie frostig nun auch diese Scherze waren, so brauchte es doch bei einem so jovialischen und so leicht anzusteckenden Völkchen nichts mehr, um die ganze Versammlung unvermerkt in ihre natürliche komische Laune umzustimmen; eine Laune, die der Parteiwut, wovon sie noch besessen waren, unvermerkt ihren Gift benahm, und vielleicht mehr als irgend etwas anders zur Erhaltung der Stadt in diesem kritischen Augenblicke beitrug.

Endlich erschien der Nomophylax mit seiner Leibwache von armen alten Invalidenhandwerkern, welche, mit stumpfen Hellebarten und mit einer friedsamen Art von eingerosteten Degen bewaffnet, mehr das Ansehen von den lächerlichen Figuren hatten, womit man in Gärten die Vögel schreckt, als von Kriegsmännern, die dem Gericht beim Pöbel Würde und Furchtbarkeit verschaffen sollten. Wohl indessen der Republik, die zu Beschirmung ihrer Tore und innerlichen Sicherheit keiner andern Helden nötig hat als solcher!

Der Anblick dieser grotesken Milizer, und die ungeschickte possierliche Art, wie sie sich in dem kriegerischen Aufzuge, worein man sie nicht ohne Mühe verkleidet hatte, gebärdeten, erweckte bei dem zuschauenden Volke einen neuen Anstoß von Lustigkeit; so daß der Herold viele Mühe hatte, die Leute endlich zu einer leidlichen Stille, und zu dem Respect, den sie dem höchsten Gerichte schuldig waren, zu bringen.

Der Präsident eröffnete nunmehr die Session mit einer kurzen Rede; der Herold gebot ein abermaliges Stillschweigen, und die Sykophanten beider Teile wurden namentlich aufgefodert, sich mit ihrer Klage und Verantwortung mündlich vernehmen zu lassen.

Den Sykophanten, welche für große Meister in ihrer Art passierten, mußte die Gelegenheit, ihre Kunst an einem Eselsschatten sehen zu lassen, an sich allein schon eine große Aufmunterung sein. Man kann also leicht denken, wie sie sich nun vollends zusammengenommen haben werden, da dieser Eselsschatten ein Gegenstand geworden war, an dem die ganze Republik Anteil nahm, und um dessen willen sie sich in zwo Parteien getrennt hatte, deren jede die Sache ihres Clienten zu ihrer eignen machte. Seit ein Abdera in der Welt war, hatte man noch keinen Rechtshandel gesehen, der so lächerlich an sich selbst, und so ernsthaft durch die Art, wie er behandelt wurde, gewesen wäre. Ein Sykophant müßte nur ganz und gar kein Genie und keinen Sykophantensinn gehabt haben, der bei einer solchen Gelegenheit nicht sich selbst übertroffen hätte.

Um so mehr ist es zu beklagen, daß der übelberüchtigte Zahn der Zeit, dem so viele andere große Werke des Genies und Witzes nicht entgehen konnten, noch künftig entgehen werden, leider! auch der Originale dieser beiden berühmten Reden nicht verschont hat! wenigstens so viel uns bekannt ist. Denn wer weiß, ob es nicht vielleicht einem künftigen Fourmont oder Sevin, der auf Entdeckung alter Handschriften ausgeht, dereinst gelingen mag, eine Abschrift derselben in irgendeinem bestaubten Winkel einer alten griechischen Klosterbibliothek aufzuspüren, Oder, wenn dies nicht zu hoffen stünde, wer kann sagen, ob nicht in der Folge der Zeiten Thracien selbst wieder in die Hände christlicher Fürsten fallen wird, die sich (nach dem Beispiel einiger großen Könige unsers philosophischheroischen Alters) eine Ehre daraus machen werden, mächtige Beförderer der Wissenschaften zu sein, Akademien zu stiften, versunkne Städte ausgraben zu lassen, u.s.w. Wer weiß, ob nicht alsdann diese gegenwärtige Abderitengeschichte selbst (so unvollkommen sie ist), in die Sprache dieses künftig bessern Thraciens übersetzt, die Ehre haben wird, Gelegenheit zu geben, daß ein solcher neuthracischer Musagete auf den Einfall kommt, die Stadt Abdera aus ihrem Schutte hervorgraben zu lassen? Da dann ohne Zweifel auch die Kanzlei und das Archiv dieser berühmten Republik, und in demselben die sämtlichen Originalacten des Processes um des Esels Schatten, nebst den beiden Reden, deren Verlust wir beklagen, sich wieder finden werden, – Es ist wenigstens angenehm, sich solchergestalt auf den Flügeln patriotischmenschenfreundlicher Träume in die Zunkunft zu schwingen, und sich an den Glückseligkeiten zu laben, die unsern Nachkommen noch bevorstehen; Glückseligkeiten, für welche die (bekanntermaßen) immer steigende Vervollkommnung der Wissenschaften und Künste, und der von ihnen sich über alles Fleisch ergießenden Erleuchtung, Verschönerung und Sublimierung der Denkart, des Geschmacks und der Sitten uns sichre Bürgschaft leistet!

Inzwischen gereicht es uns doch zu einigem Troste, daß wir uns im Stande sehen, aus den Papieren, aus welchen gegenwärtige Fragmente der Abderitengeschichte genommen sind, wenigstens einen Auszug dieser Reden zu liefern, dessen Echtheit um so weniger verdächtig ist, da kein Leser, der eine Nase hat, den Duft der Abderitheit verkennen wird, der daraus emporsteigt – ein innerliches Argument, das am Ende doch immer das beste zu sein scheint, das für das Werk irgend eines Sterblichen, er sei nun ein Ossian, oder ein abderitischer Feigenredner, sich geben läßt.

Dreizehntes Kapitel
Rede des Sykophanten Physignathus

Der Sykophant Physignathus, der als Sachwalter des Zahnarztes Struthion zuerst redete, war ein Mann von Mittelgröße, starken Muskeln und breiten Lungenflügeln. Er wußte sich viel damit, daß er ein Schüler des berühmten Gorgias gewesen war, und machte Ansprüche, einer der größten Redner seiner Zeit zu sein. Aber darin war er, wie in vielen andern Stücken, ein offenbarer Abderit. Seine größte Kunst bestund darin, daß er, um seinem wortreichen Vortrag durch die manchfaltige Modulation seiner Stimme mehr Lebhaftigkeit und Ausdruck zu geben, in dem Umfang von anderthalb Octaven von einem Intervall zum andern wie ein Eichhorn herumsprang, und so viel Grimassen und Gesticulationen dazu machte, als ob er seinen Zuhörern nur durch Gebärden verständlich werden könnte.

Indessen wollen wir ihm doch hiemit das Verdienst nicht ableugnen, daß er mit allen den Handgriffen, womit man die Richter zu seinem Vorteil einnehmen, ihren Verstand verwirren, seinen Gegenteil verhaßt, und überhaupt eine Sache besser als sie ist, scheinen machen kann, ziemlich fertig umzuspringen, – auch, bei Gelegenheit, keine unfeine Gemälde zu machen wußte wie der scharfsinnige Leser aus seiner Rede selbst, ohne unser Erinnern, am besten abnehmen wird.

Physignathus trat mit der ganzen Unverschämtheit eines Sykophanten auf, der sich darauf verläßt, daß er Abderiten zu Zuhörern hat, und fing also an:

»Edle, Ehrenfeste und Weise, Großmögende Vierhundertmänner!

Wenn jemals ein Tag war, an welchem sich die Vortrefflichkeit der Verfassung unsrer Republik in ihrem größten Glanz enthüllt hat, und wenn jemals ich mit dem Gefühl, was es ist ein Bürger von Abdera zu sein, unter euch aufgetreten bin: so ist es an diesem großen festlichen Tage; da vor diesem ehrwürdigen höchsten Gerichte, vor dieser erwartungsvollen und teilnehmenden Menge des Volks, vor diesem ansehnlichen Zusammenfluß von Fremden, die der Ruf eines so außerordentlichen Schauspiels scharenweise herbeigezogen hat, ein Rechtshandel zur Entscheidung gebracht werden soll, der in einem minder freien, minder wohleingerichteten Staat, der selbst in einem Theben, Athen oder Sparta, nicht für wichtig genug gehalten worden wäre, die stolzen Verwalter des gemeinen Wesens nur einen Augenblick zu beschäftigen. Edles, preiswürdiges, dreimal glückliches Abdera! Du allein genießest unter dem Schutz einer Gesetzgebung, der auch die geringsten, auch die zweifelhaftesten und spitzfündigsten Rechte und Ansprüche der Bürger heilig sind, du allein genießest das Wesen einer Sicherheit und Freiheit von denen andere Republiken (was auch sonst die Vorzüge sein mögen, womit sich ihre patriotische Eitelkeit brüstet) nur den Schatten zum Anteil haben.

Oder, saget mir, in welcher andern Republik würde ein Rechtshandel zwischen einem gemeinen Bürger und einem der Geringsten aus dem Volke, ein Handel, der dem ersten Anblick nach kaum zwo oder drei Drachmen beträgt, ein Handel über einen Gegenstand, der so unbedeutend scheint, daß die Gesetze ihn bei Benennung der Dinge, welche ins Eigentum kommen können, gänzlich vergessen zu haben scheinen, ein Handel über etwas, dem ein subtiler Dialektiker sogar den Namen eines Dinges streitig machen könnte, mit einem Wort, ein Streit über den Schatten eines Esels – zum Gegenstand der allgemeinen Teilnehmung, zur Sache eines jeden, und also, wenn ich so sagen darf, gleichsam zur Sache des ganzen Staats geworden sein? In welcher andern Republik sind die Gesetze des Eigentums so bestimmt die gegenseitigen Jura vel quasi der Bürger vor aller Willkür der obrigkeitlichen Personen so sicher gestellt, die geringfügigsten Ansprüche oder Forderungen selbst des Ärmsten in den Augen der Obrigkeit so wichtig und hoch angesehen, daß das höchste Gericht der Republik selbst es nicht unter seiner Würde hält, sich feierlich zu versammeln, um über das zweifelhaft scheinende Recht an einen Eselsschatten zu erkennen? Wehe dem Mann der bei diesem Worte die Nase rümpfen, und aus albernen kindischen Begriffen von dem, was groß oder klein ist, mit unverständigem Hohnlächeln ansehen kann, was die höchste Ehre unsrer Justizverfassung, der Ruhm unsrer Obrigkeit, der Triumph des ganzen abderitischen Wesens und eines jeden guten Bürgers ist! Wehe dem Mann, ich wiederhol' es zum zweiten-und drittenmal, der keinen Sinn hat, dies zu fühlen! Und Heil der Republik, in welcher – sobald es auf die Gerechtsame der Bürger, auf einen Zweifel über Mein und Dein, die Grundfeste aller bürgerlichen Sicherheit, ankömmt – auch ein Eselsschatten keine Kleinigkeit ist!

Aber, indem ich solchergestalt auf der einen Seite mit aller Wärme eines Patrioten, allem gerechten Stolz eines echten Abderiten, fühle und erkenne, welch ein glorreiches Zeugnis von der vortrefflichen Verfassung unsrer Republik sowohl, als von der unparteiischen Festigkeit und nichts übersehenden Sorgfalt, womit unsre ruhmwürdigst regierende Obrigkeit die Waage der Gerechtigkeit handhabet, dieser vorliegende Handel bei der spätesten Nachkommenschaft ablegen wird: wie sehr muß ich auf der andern Seite die Abnahme jener treuherzigen Einfalt unsrer Vorältern, das Verschwinden jener mitbürgerlichen und freundnachbarlichen Sinnesart, jener gegenseitigen Dienstgeflissenheit, jener freiwilligen Geneigtheit, aus Liebe und Freundschaft, aus gutem Herzen, oder wenigstens um des Friedens willen, etwas von unserm vermeinten strengen Recht fahrenzulassen – wie sehr, mit einem Wort, muß ich den Verfall der guten alten abderitischen Sitten beklagen, der die wahre und einzige Quelle des unwürdigen, des schamvollen Rechtshandels ist, in welchem wir heute befangen sind! – Wie? werd ichs ohne glühende Schamröte heraus sagen können? – O du einst so berühmte Biederherzigkeit unsrer guten Alten, ist es dahin mit dir gekommen, daß abderitische Bürger – sie, die bei jeder Gelegenheit, aus vaterländischer Treue und nachbarlicher Freundschaft, bereit sein sollten, das Herz im Leibe mit einander zu teilen – so eigennützig, so karg, so unfreundlich, was sag' ich, so unmenschlich sind, einander sogar den Schatten eines Esels zu versagen?

Doch – verzeiht mir, werte Mitbürger – ich irrte mich in dem Worte – verzeiht mir eine unvorsetzliche Beleidigung. Derjenige, der einer so niedrigen, so rohen und barbarischen Denkart fähig war, ist keiner unsrer Mitbürger! Es ist ein bloßer geduldeter Einwohner unsrer Stadt, ein bloßer Schutzverwandter des Jasontempels, ein Mensch aus den dicksten Hefen des Pöbels, ein Mensch, von dessen Geburt, Erziehung und Lebensart nichts bessers zu erwarten war, mit einem Wort, ein Eseltreiber – der, außer dem gleichen Boden und der gemeinsamen Luft, die er atmet, nichts mit uns gemein hat, als was uns auch mit den wildesten Völkern der hyperboreischen Wüsten gemein ist. Seine Schande klebt an ihm allein; uns kann sie nicht besudeln. Ein abderitischer Bürger, ich unterstehe michs zu sagen, hätte sich keiner solchen Untat schuldig machen können.

Aber – nenn ich sie vielleicht mit einem zu strengen Namen, diese Tat? – Stellet euch, ich bitte, an den Platz eures guten Mitbürgers Struthion, und – fühlet!

Er reiset in seinen Geschäften, in Geschäften seiner edeln Kunst, die es bloß mit Vermindrung der Leiden seiner Nebenmenschen zu tun hat, von Abdera nach Gerania. Der Tag ist einer der schwülsten Sommertage. Die strengste Sonnenhitze scheint den ganzen Horizont in den hohlen Bauch eines glühenden Backofens verwandelt zu haben. Kein Wölkchen, das ihre sengende Strahlen dämpfe! Kein wehendes Lüftchen, den verlechzten Wandrer anzufrischen. Die Sonne flammt über seinem Scheitel, saugt das Blut aus seinen Adern, das Mark aus seinen Knochen. Lechzend, die dürre Zung' am Gaumen, mit trüben, von Hitze und Glanz erblindenden Augen, sieht er sich nach einem Schattenplatz, nach irgend einem einzelnen mitleidigen Baum um unter dessen Schirm er sich erholen, er einen Mund voll frischerer Luft einatmen, einen Augenblick vor den glühenden Pfeilen des unerbittlichen Apollo sicher sein könnte.

Umsonst! Ihr kennet alle die Gegend von Abdera nach Gerania. Zwei Stunden lang, zur Schande des ganzen Thraciens sei es gesagt! kein Baum, keine Staude, die das Auge des Wandrers in dieser abscheulichen Fläche von magern Brach und Kornfeldern erfrischen, oder ihm gegen die mittägliche Sonne Zuflucht geben könnte!

Der arme Struthion sank endlich von seinem Tier herab. Die Natur vermocht' es nicht länger auszudauern. Er ließ den Esel halten, und setzte sich in seinen Schatten. – Schwaches, armseliges Erholungsmittel! Aber so wenig es war, war es doch etwas!

Und welch ein Ungeheuer mußte der Gefühllose, der Felsenherzige sein, der seinem leidenden Nebenmenschen, in solchen Umständen, den Schatten eines Esels versagen konnte? Wär' es glaublich, daß es einen solchen Menschen gebe, wenn wir ihn nicht mit eignen Augen vor uns sähen, Aber hier steht er, und, was beinahe noch ärger, noch unglaublicher als die Tat selbst ist – er bekennt sich von freien Stücken dazu; scheint sich seiner Schande noch zu rühmen; und, damit er keinem seines gleichen der künftig geboren werden mag, eine Möglichkeit, ihm an schamloser Frechheit gleich zu kommen, übrig lasse, treibt er sie so weit, nachdem er schon von dem ehrwürdigen Stadtgericht in erster Instanz verurteilet worden, sogar vor der Majestät dieses höchsten Gerichtshofes der Vierhundertmänner zu behaupten, daß er Recht daran getan habe. ›Ich versagte ihm den Eselsschatten nicht, spricht er, wiewohl ich nach dem strengen Recht nicht schuldig war, ihn darin sitzen zu lassen; ich verlangte nur eine billige Erkenntlichkeit dafür, daß ich ihm, zu dem Esel, den ich ihm vermietet hatte, nun auch den Schatten des Esels überlassen sollte, den ich nicht vermietet hatte.‹ Elende, schändliche Ausflucht! Was würden wir von dem Manne denken, der einem halbverschmachtenden Wandrer verwehren wollte, sich ohnentgeltlich in den Schatten seines Baumes zu setzen, Oder wie würden wir denjenigen nennen, der einem vor Durst sterbenden Fremdling nicht gestatten wollte, sich aus dem Wasser zu laben, das auf seinem Grund und Boden flösse?

Erinnert euch, o ihr Männer von Abdera, daß dies allein, und kein andres, das Verbrechen jener lycischen Bauren war, die der Vater der Götter und der Menschen zur Rache wegen einer gleichartigen Unmenschlichkeit, die diese Elenden an seiner geliebten Latona und ihren Kindern ausübten – zum schrecklichen Beispiel aller Folgezeiten, in Frösche verwandelte. Ein furchtbares Wunder, dessen Wahrheit und Andenken mitten unter uns in dem heiligen Hain und Teich der Latona, der ehrwürdigen Schutzgöttin unsrer Stadt, lebendig erhalten, verewigt, und gleichsam täglich erneuert wird! Und du, Anthrax, du ein Einwohner der Stadt, in welcher dieses furchtbare Denkmal des Zorns der Götter über verweigerte Menschlichkeit ein Gegenstand des öffentlichen Glaubens und Gottesdienstes ist, du scheutest dich nicht, ihre Rache durch ein ähnliches Verbrechen auf dich zu ziehen?

Aber, du trotzest auf dein Eigentumsrecht – ›Wer sich seines Rechts bedient, sprichst du, der tut niemand Unrecht. Ich bin einem andern nicht mehr schuldig, als er um mich verdient. Wenn der Esel mein Eigentum ist, so ist es auch sein Schatten.‹

Sagst du das? Und glaubst du, oder glaubt der scharfsinnige und beredte Sachwalter, in dessen Hände du die schlimmste Sache, die jemals vor ein Götter- oder Menschengericht gekommen, gestellt hast, glaubt er, mit aller Zauberei seiner Beredsamkeit, oder mit allem Spinngewebe sophistischer Trugschlüsse unsern Verstand dergestalt zu überwältigen und zu umspinnen, daß wir uns überreden lassen sollten, einen Schatten für etwas Wirkliches, geschweige für etwas, an welches jemand ein directes und ausschließendes Recht haben könne, zu halten?

Ich würde, großmögende Herren, eure Geduld mißbrauchen, und eure Weisheit beleidigen, wenn ich alle Gründe hier wiederholen wollte, womit ich bereits in der ersten Instanz, actenkundigermaßen, die Nichtigkeit der gegnerischen Scheingründe dargetan habe. Ich begnüge mich, für itzt, nach Erfordernis der Notdurft, nur dies Wenige davon zu sagen. Ein Schatten kann, genau zu reden, nicht unter die wirklichen Dinge gerechnet werden. Denn das, was ihn zum Schatten macht, ist nichts Wirkliches und Positives, sondern gerade das Gegenteil; nämlich, die Entziehung desjenigen Lichtes, welches auf den übrigen, den Schatten umgebenden Dingen liegt. In vorliegendem Fall ist die schiefe Stellung der Sonne und die Undurchsichtigkeit des Esels (eine Eigenschaft, die ihm nicht, in so fern er ein Esel, sondern in so fern er ein opaker Körper ist, anklebt) die einzige wahre Ursache des Schattens, den der Esel zu werfen scheint, und den jeder andre Körper an seinem Platze werfen würde; denn die Figur des Schattens tut hier nichts zur Sache. Mein Client hat sich also, genau zu reden, nicht in den Schatten eines Esels, sondern in den Schatten eines Körpers gesetzt; und der Umstand, daß dieser Körper ein Esel, und der Esel ein Hausgenosse eines gewissen Anthrax aus dem Jasontempel zu Abdera war, ging ihn eben so wenig an, als er zur Sache gehörte. Denn, wie gesagt, nicht die Asinität oder Eselheit (wenn ich so sagen darf), sondern die Körperlichkeit und Undurchsichtigkeit des mehrbesagten Esels ist der Grund des Schattens, den er zu werfen scheint.

Allein, wenn wir auch zum Überfluß zugeben, daß der Schatten unter die Dinge gehöre: so ist aus unzähligen Beispielen klar und weltbekannt, daß er zu den gemeinen Dingen zu rechnen ist, an welche ein jeder so viel Recht hat, als der andre, und an die sich derjenige das nächste Recht erwirbt, der sie zuerst in Besitz nimmt.

Doch, ich will noch mehr tun; ich will sogar zugeben, daß des Esels Schatten ein Zubehör des Esels sei, so gut als es seine Ohren sind: was gewinnt der Gegenteil dadurch? Struthion hatte den Esel gemietet, folglich auch seinen Schatten. Denn es versteht sich bei jedem Mietcontract, daß der Vermieter dem Abmieter die Sache, wovon die Rede ist, mit allem ihrem Zubehör und mit allen ihren Nießbarkeiten zum Gebrauch überläßt. Mit welchem Schatten eines Rechts konnte Anthrax also begehren, daß ihm Struthion für den Schatten des Esels noch besonders bezahle? Das Dilemma ist außer aller Widerrede: Entweder ist der Schatten des Esels ein Teil und Zubehör des Esels, oder nicht. Ist er es nicht: so hat Struthion und jeder andre eben so viel Recht daran als Anthrax. Ist er's aber: so hatte Anthrax, indem er den Esel vermietete, auch den Schatten vermietet; und seine Forderung ist eben so ungereimt, als wenn mir einer seine Leier verkauft hätte, und verlangte dann, wenn ich darauf spielen wollte, daß ich ihm auch noch für ihren Klang bezahlen müßte.

Doch wozu so viele Gründe in einer Sache, die dem allgemeinen Menschensinn so klar ist, daß man sie nur zu hören braucht, um zu sehen, auf welcher Seite das Recht ist? Was ist ein Eselsschatten? Welche Unverschämtheit von diesem Anthrax, wofern er kein Recht an ihn hat, sich dessen anzumaßen, um Wucher damit zu treiben? Und wofern der Schatten wirklich sein war: welche Niederträchtigkeit, ein so weniges, das Wenigste was sich nennen oder denken läßt, etwas in tausend andern Fällen gänzlich Unbrauchbares, einem Menschen, einem Nachbar und Freunde, in dem einzigen Falle zu versagen, wo es ihm unentbehrlich ist?

Lasset, Edle und Großmögende Vierhundertmänner, lasset nicht von Abdera gesagt werden, daß ein solcher Mutwille, ein solcher Frevel, vor einem Gericht, vor welchem (wie vor jenem berühmten zu Athen) Götter selbst nicht erröten würden, ihre Streitigkeiten entscheiden zu lassen, Schutz gefunden habe! Die Abweisung des Klägers mit seiner unstatthaften, ungerechten und lächerlichen Klage und Appellation, die Verurteilung desselben in alle Kosten und Schäden, die er dem unschuldigen Beklagten durch sein unbefugtes Betragen in dieser Sache verursacht hat, ist itzt das Wenigste, was ich im Namen meines Clienten fodern kann. Auch Genugtuung, und wahrlich eine ungeheure Genugtuung, wenn sie mit der Größe seines Frevels in Ebenmaße stehen soll, ist der unbefugte Kläger schuldig! Genugtuung dem Beklagten, dessen häusliche Ruhe, Geschäfte, Ehre und Leumund von ihm und seinen Beschützern während dem Lauf dieses Handels auf unzählige Art gestört und angegriffen worden! Genugtuung dem ehrwürdigen Stadtgerichte, von dessen gerechtem Spruch er, ohne Grund, an dieses hohe Tribunal appelliert hat! Genugtuung diesem höchsten Gerichte selbst, welches er mit einem so nichtswürdigen Handel mutwilligerweise zu behelligen sich unterstanden! Genugtuung endlich der ganzen Stadt und Republik Abdera, die er bei dieser Gelegenheit in Unruhe, Zwiespalt und Gefahr gesetzt hat!

Fodre ich zu viel, Großmögende Herren! fodre ich etwas Unbilliges? Sehet hier das ganze Abdera, das sich unzählbar an die Stufen dieser hohen Gerichtsstätte drängt, und im Namen eines verdienstvollen schwergekränkten Mitbürgers, ja im Namen der Republik selbst, Genugtuung erwartet, Genugtuung fordert. Bindet die Ehrfurcht ihre Zungen: so funkelt sie doch aus jedem Auge, diese gerechte, diese nicht zu verweigernde Forderung! Das Vertrauen der Bürger, die Sicherheit ihrer Gerechtsame, die Wiederherstellung unsrer innerlichen und öffentlichen Ruhe, die Begründung derselben auf die Zukunft, mit einem Worte, die Wohlfahrt unsers ganzen Staats, hängt von dem Ausspruch ab, den ihr tun werdet, hängt von Erfüllung einer gerechten und allgemeinen Erwartung ab. Und wenn in den ersten Zeiten der Welt ein Esel das Verdienst hatte, die schlummernden Götter bei dem nächtlichen Überfall der Titanen mit seinem Geschrei zu wecken, und dadurch den Olympus selbst vor Verwüstung und Untergang zu retten: so möge itzt der Schatten eines Esels die Gelegenheit, und der heutige Tag die glückliche Epoke sein, in welcher diese uralte Stadt und Republik nach so vielen und gefahrvollen Erschütterungen wieder beruhiget, das Band zwischen Obrigkeit und Bürgern wieder fest zusammengezogen, alle vergangne Mißhelligkeiten in den Abgrund der Vergessenheit versenkt, durch gerechte Verurteilung eines einzigen frevelhaften Eseltreibers der ganze Staat gerettet, und dessen blühender Wohlstand auf ewige Zeiten sicher gestellt werde!«

Vierzehntes Kapitel
Antwort des Sykophanten Polyphonus

Sobald Physignathus zu reden aufgehört hatte, gab das Volk, oder vielmehr der Pöbel, der den Markt erfüllte, seine Beistimmung mit einem lauten Geschrei, welches so heftig und anhaltend war, daß die Richter endlich zu besorgen anfingen, die ganze Handlung möchte dadurch unterbrochen werden. Die Partei des Erzpriesters geriet in Verlegenheit. Die Schatten hingegen, wiewohl sie im großen Rat die kleinere Zahl ausmachten, faßten neuen Mut, und versprachen sich von dem Eindruck, den dieses Vorspiel auf die Esel machen müßte, einen günstigen Erfolg. Indessen ermangelten die Zunftmeister nicht, das Volk durch Zeichen zur Ruhe zu vermahnen; und nachdem der Herold endlich durch einen dreimaligen Ruf die allgemeine Stille wieder hergestellt hatte, trat Polyphonus, der Sykophant des Eseltreibers, ein untersetzter stämmichter Mann, mit kurzem krausem Haar und dicken pechschwarzen Augenbraunen, auf, erhob eine Baßstimme, die auf dem ganzen Markt widerhallte, und ließ sich folgendermaßen vernehmen:

»Großmögende Vierhundertmänner!

Wahrheit und Licht haben das vor allen andern Dingen in der Welt voraus, daß sie keiner fremden Hülfe bedürfen, um gesehen zu werden. Ich überlasse meinem Gegenpart willig alle Vorteile, die er von seinen Rednerkünsten zu ziehen vermeint hat. Dem, der Unrecht hat, kommt es zu, durch Figuren und Wendungen, und Fechterstreiche, und das ganze Gaukelspiel der Schulrhetorik Kindern und Narren einen Dunst vor die Augen zu machen. Gescheute Leute lassen sich nicht dadurch blenden. Ich will nicht untersuchen, wie viel Ehre und Nachruhm die Republik Abdera bei diesem Handel über einen Eselsschatten gewinnen wird. Ich will die Richter weder durch grobe Schmeicheleien zu bestechen, noch durch versteckte Drohungen zu schrecken suchen. Noch viel weniger will ich dem Volk durch aufwiegelnde Reden das Signal zu Lärmen und Aufruhr geben. Ich weiß, warum ich da bin, und zu wem ich rede. Kurz, ich werde mich begnügen zu beweisen, daß der Eseltreiber Anthrax Recht hat. Der Richter wird alsdann schon wissen, was seines Amtes ist, ohne daß ich ihn daran zu erinnern brauche.«

Hier fingen einige wenige vom Pöbel, die zunächst an den Stufen der Terrasse standen, an, den Redner mit Geschrei, Schimpfreden und Drohungen zu unterbrechen. Da aber der Nomophylax von seinem elfenbeinernen Thron aufstund, der Herold abermals Stille gebot, und die Bürgerwache, die an den Stufen stund, ihre langen Spieße lupfte: so ward plötzlich alles wieder stille, und der Redner, der sich nicht so leicht aus der Fassung bringen ließ, fuhr also fort:

»Großmögende Herren, ich stehe hier nicht als Sachwalter des Eseltreibers Anthrax, sondern als Bevollmächtigter des Jasontempels, und von wegen des Erlauchten und sehr Ehrwürdigen Agathyrsus, zeitigen Erzpriesters und Obervorstehers desselben, Hüters des wahren goldnen Vließes, obersten Gerichtsherrn über alle dessen Stiftungen, Güter, Gerichte und Gebiete, Oberhaupts des hochedeln Geschlechts der Jasoniden etc. um im Namen Jasons und seines Tempels von euch zu begehren, daß dem Eseltreiber Anthrax Genugtuung geschehe, weil er im Grunde doch am meisten Recht hat; und daß ers habe, hoffe ich, trotz allen den Kniffen, die mein Gegner von seinem Meister Gorgias gelernt zu haben rühmt, so klar und laut zu beweisen, daß es die Blinden sehen, und die Tauben hören sollen. Also, ohne weitere Vorrede, zur Sache!

Anthrax vermietete dem Zahnarzt Struthion seinen Esel auf einen Tag; nicht zu selbst beliebigem Gebrauch, sondern um ihn, den Zahnarzt, mit seinem Mantelsack, halbenweges nach Gerania zu tragen, welches, wie jedermann weiß, acht starke Meilen von hier entfernt liegt.

Bei der Vermietung des Esels dachte natürlicherweise keiner von beiden an seinen Schatten. Aber als der Zahnarzt mitten auf dem Felde abstieg, den Esel, der wahrlich von der Hitze noch mehr gelitten hatte als er, in der Sonne halten ließ, und sich in dessen Schatten setzte, war es ganz natürlich, daß der Herr und Eigentümer des Esels dabei nicht gleichgültig blieb.

Ich begehre nicht zu leugnen, daß Anthrax eine alberne und eselhafte Wendung nahm, da er von dem Zahnbrecher verlangte, daß er ihm für des Esels Schatten deswegen bezahlen sollte, weil er ihm den Schatten nicht mit vermietet habe. Aber dafür ist er auch nur ein Eseltreiber von Vorältern her, d.i. ein Mann, der eben darum, weil er unter lauter Eseln aufgekommen ist, und mehr mit Eseln als ehrlichen Leuten lebt, eine Art von Recht hergebracht und erworben hat, selbst nicht viel besser als ein Esel zu sein. Im Grunde war's also bloß – der Spaß eines Eseltreibers.

Aber in welche Classe von Tieren sollen wir den setzen, der aus einem solchen Spaß Ernst machte? Hätte der Herr Struthion wie ein verständiger Mann gehandelt, so brauchte er dem Grobian nur zu sagen: ›Guter Freund, wir wollen uns nicht um eines Eselsschattens willen entzweien. Weil ich dir den Esel nicht abgemietet habe, um mich in seinen Schatten zu setzen, sondern um darauf nach Gerania zu reiten: so ist es billig, daß ich dir die etlichen Minuten Zeitverlust vergüte, die dir mein Absteigen verursacht; zumal da der Esel um so viel länger in der Hitze stehen muß, und dadurch nicht besser wird. Da, Bruder, hast du eine halbe Drachme; laß mich einen Augenblick hier verschnaufen, und dann wollen wir uns, in aller Frösche Namen, wieder auf den Weg machen.‹

Hätte der Zahnarzt aus diesem Tone gesprochen, so hätt' er gesprochen wie ein ehrliebender und billiger Mann. Der Eseltreiber hätte ihm für die halbe Drachme noch Vergelts Gott! gesagt; und die Stadt Abdera wäre des ungewissen Nachruhms, den ihr mein Gegenteil von diesem Eselsproceß verspricht – und aller der Unruhen, die daraus entstehen mußten, sobald sich so viele große und angesehene Herren und Damen in die Sache mischten – überhoben gewesen. Statt dessen setzt sich der Mann auf seinen eignen Esel, besteht auf seinem bodenlosen Recht, sich vermöge seines Mietcontracts in des Esels Schatten zu setzen, so oft und so lange er wolle, und bringt dadurch den Eseltreiber in die Hitze, daß er vor den Stadtrichter läuft, und eine Klage anbringt, die eben so abgeschmackt und unsinnig ist, als die Verantwortung des Beklagten.

Ob es nun nicht, zu Statuierung eines lehrreichen Beispiels, wohl getan wäre, wenn dem Sykophanten Physignathus, meinem wertesten Collegen – als dessen Aufhetzung es ganz allein zuzuschreiben ist, daß der Zahnbrecher den von dem ehrwürdigen Stadtrichter Philippides vorgeschlagnen billigen Vergleich nicht eingegangen – für den Dienst, den er dem abderitischen gemeinen Wesen dadurch geleistet, die Ohren gestutzt, und allenfalls, zum ewigen Andenken, ein paar Eselsohren dafür angesetzt würden; imgleichen, was für einen öffentlichen Dank der ehrwürdige Zunftmeister Pfriem, und die übrigen Herren, die durch ihren patriotischen Eifer Öl ins Feuer gegossen, für ihre Mühe verdient haben möchten: überläßt der erlauchte Erzpriester, mein Principal, dem eignen einsichtsvollen Ermessen des höchsten Gerichts der Vierhundert. Er, seines Ortes, wird, als angeborner Oberherr und Richter des Eseltreibers Anthrax, nicht ermangeln, ihm, zu wohlverdienter Belohnung seines in diesem Handel bewiesenen Unverstands, unmittelbar nach geendigtem Proceß, fünf und zwanzig Prügel geben zu lassen. Da aber darum das Recht des mehrbesagten Eseltreibers, wegen der von dem Zahnarzt Struthion erlittnen Ungebühr, wegen des Mißbrauchs, den dieser von seinem Esel gemacht, und wegen der Weigerung einer billigen Vergütung des dadurch verursachten Zeitverlusts und Deterioration seines lastbaren Tieres, Genugtuung zu fordern, nichts destoweniger in seiner ganzen Kraft besteht: so begehret und erwartet der erlauchte Erzpriester von der Gerechtigkeit dieses hohen Gerichts, daß seinem Untertanen, ohne längern Aufschub, die gebührende vollständigste Entschädigung und Genugtuung verschafft werde.

Euch aber (setzte er hinzu, indem er sich umdrehte und gegen das Volk kehrte) soll ich im Namen Jasons ankündigen, daß alle diejenigen, die auf eine ungebührliche und aufrührische Art an der bösen Sache des Zahnbrechers Anteil genommen, so lange, bis sie dafür gebührenden Abtrag getan haben werden, von den Wohltaten, die der Tempel Jasons alle Monate den armen Bürgern zufließen läßt, ausgeschlossen sein und bleiben sollen. Dixi.«

Fünfzehntes Kapitel
Bewegungen, welche die Rede des Polyphonus verursachte
Nachtrag des Sykophanten Physignathus
Verlegenheit der Richter

Diese kurze und unerwartete Rede brachte auf einige Augenblicke ein tiefes Stillschweigen hervor. Der Sykophant Physignathus schien zwar große Lust zu haben, sich über die Stelle, die ihn persönlich betroffen hatte, mit Hitze vernehmen zu lassen. Allein, da er die Niedergeschlagenheit bemerkte, die der Inhalt der letzten Periode seines Gegners unter dem gemeinen Volke hervorgebracht zu haben schien: so begnügte er sich, gegen die ehrenrührige Stelle vom Ohrenabschneiden und andre Anzüglichkeiten sich quaevis competentia vorzubehalten, zuckte die Achseln, und schwieg.

Das Licht, in welches der Sykophant Polyphonus den wahren Statum controversiae gestellt hatte, tat einen so guten Effect, daß unter den sämtlichen Vierhundertmännern kaum ihrer zwanzig überblieben, die, nach abderitischer Gewohnheit, nicht versicherten, daß sie die Sache gleich vom Anfang an eben so angesehen; und es wurde in ziemlich lebhaften Ausdrücken gegen diejenigen gesprochen, welche Schuld daran hätten, daß eine so simple Sache zu solchen Weitläuftigkeiten getrieben worden sei. Die Meisten schienen darauf anzutragen: daß dem Erzpriester nicht nur die für seinen Angehörigen verlangte Entschädigung und Genugtuung zugesprochen, sondern auch eine Commission aus dem großen Rat niedergesetzt werden sollte, um nach der Schärfe zu untersuchen: wer die ersten Anstifter und Verhetzer dieses Handels eigentlich gewesen seien.

Dieser Antrag brachte den Zunftmeister und diejenigen, die ihre Partei mit ihm gegen allen Erfolg zum voraus genommen hatten, auf einmal wieder in Harnisch. Der Sykophant Physignathus, der dadurch wieder Mut bekam, verlangte von dem Nomophylax noch einmal zum Gehör gelassen zu werden, weil er auf die Rede seines Gegenteils etwas neues vorzubringen habe; und da ihm dieses, den Rechten nach, nicht versagt werden konnte, so ließ er sich folgendermaßen vernehmen:

»Wenn das gerechte Vertrauen zu einem so ehrwürdigen Gericht, wie das gegenwärtige, den verhaßten Namen einer bestechenden Schmeichelei, womit mein Gegenteil solches zu belegen sich nicht gescheut hat, verdient – so muß ich mich darein ergeben, einen Vorwurf auf mir sitzen zu lassen, den ich nicht vermeiden kann; und ich glaube allenfalls durch eine allzuhohe Meinung von Euch, Großmögende Herren, weniger zu sündigen, als mein Gegner durch die Einbildung, Eure Gerechtigkeit und Einsicht in einer so groben Schlinge zu fangen, als diejenige ist, die er Euch gelegt hat. Der Schein von gesunder Vernunft womit er seine plumpe Vorstellungsart der Sache überstrichen und ein Ton, den er seinem Clienten abgeborgt zu haben scheint, können höchstens eine augenblickliche Überraschung wirken; aber daß sie die Weisheit des obersten Rats von Abdera ganz umzuwerfen vermögend wären, wäre an mir Lästerung zu fürchten, und war Unsinn an ihm, zu hoffen. Wie? Polyphonus, anstatt die gerechte Sache seines Clienten zu behaupten, wie er vor dem ehrwürdigen Stadtgerichte und bisher immer hartnäckig getan hat, gesteht nun auf einmal selbst ein, daß der Eseltreiber unrecht und unsinnig daran getan habe, seine gegen den Zahnarzt Struthion erhobne Klage auf sein vermeintes Eigentumsrecht an den Eselsschatten zu gründen er bekennt öffentlich, daß der Kläger eine unbefugte, ungegründete, frivole Klage erhoben habe: und er untersteht sich von Recht an Schadloshaltung zu schwatzen, und in dem trotzigen Tone eines Eseltreibers Genugtuung zu fordern? Was für eine neue unerhörte Art von Rechtsgelehrsamkeit, wenn der unrechthabende Teil damit durchkäme, daß er am Ende, wenn er sich nicht mehr anders zu helfen wüßte, selbst gestünde, er habe Unrecht, und mit fünfundzwanzig Prügel, die er sich dafür geben ließe (und die ein Kerl, wie Anthrax, schon auf seinen Buckel nehmen kann), sich noch ein Recht an Entschädigung und Satisfaction erwerben könnte? Gesetzt auch, des Eseltreibers Fehler bestünde bloß darin, daß er nicht die rechte Action instituiert: was geht das den unschuldigen Gegenteil oder den Richter an? Jener muß sich mit seiner Verantwortung nach der Klage richten; und dieser urteilt über die Sache, nicht wie sie vielleicht in einem andern Licht und unter einem andern Gesichtspunct erscheinen könnte, sondern wie sie ihm vorgetragen worden. Ich verspreche mir also im Namen meines Clienten, daß, der gegenteilischen Luftstreiche ungeachtet, die vorliegende Sache nicht nach dem neuen und allen bisherigen Verhandlungen zuwiderlaufenden Schwunge, den ihr Polyphonus zu geben gesucht, sondern nach Beschaffenheit der Klage und des Beweises abgeurteilt werde. Die Rede ist in gegenwärtigem Rechtsstreit nicht von Zeitverlust und Deterioration des Esels, sondern von des Esels Schatten. Kläger behauptete, daß sein Eigentumsrecht an den Esel sich auch auf dessen Schatten erstrecke, und hat es nicht bewiesen. Beklagter behauptete, daß er so viel Recht an des Esels Schatten habe, als der Eigentümer, oder was allenfalls daran abgehen könnte, hab' er durch den Mietcontract erworben; und was er behauptete, hat er bewiesen.

Ich stehe also hier, Großmögende Herren, und verlange einen richterlichen Spruch über das, was bisher den Gegenstand des Streits ausgemacht hat. Um dessentwillen allein ist gegenwärtiges höchstes Gericht niedergesetzt worden! Dies allein macht itzt die Sache aus, worüber es zu erkennen hat! Und ich unterstehe michs, vor diesem ganzen mich hörenden Volke zu sagen: entweder ist kein Recht in Abdera mehr, oder meine Forderung ist gesetzmäßig, und die Rechte eines jeden Bürgers sind darunter befangen, daß meinem Clienten das seinige zugesprochen werde!«

Der Sykophant schwieg, die Richter stutzten, das Volk fing von neuem an zu murmeln und unruhig zu werden, und die Schatten reckten ihre Köpfe wieder empor.

Nun, sagte der Nomophylax, indem er sich an Polyphonus wandte, was hat der klägerische Anwalt hierauf beizubringen?

»Hochgeachter Herr Oberrichter, erwiderte Polyphonus, Nichts – als Alles von Wort zu Wort, was ich schon gesagt habe. Der Proceß über des Esels Schatten ist ein so böser Handel, daß er nicht bald genug ausgemacht werden kann. Der Kläger hat dabei gefehlt, der Beklagte hat gefehlt, die Anwälte haben gefehlt, der Richter der ersten Instanz hat gefehlt, ganz Abdera hat gefehlt! Man sollte denken, ein böser Wind habe uns alle angeblasen, und es sei nicht so ganz richtig mit uns gewesen, als wohl zu wünschen wäre. Käm' es schlechterdings darauf an, uns noch länger zu prostituieren: so sollte mirs wohl auch nicht an Atem fehlen, für das Recht meines Clienten an seines Esels Schatten eine Rede zu halten, die von Sonnenaufgang bis zu Sonnenuntergang dauren sollte. Aber, wie gesagt, wenn die Komödie, die wir gespielt haben, so lange sie bloß Komödie blieb, noch zu entschuldigen ist: so wär' es doch, dünkt mich, auf keine Weise recht, sie vor einem so ehrwürdigen Gerichte, wie der hohe Rat von Abdera, länger fortzuspielen. Wenigstens habe ich keine Instruction dazu, und überlasse Euch also, Großmögende Herren, unter nochmaliger Wiederholung alles dessen, was ich im Namen des erlauchten und sehr ehrwürdigen Erzpriesters zu Recht gefordert habe, den Handel nun abzuurteln und auszumachen wie es Euch die Götter eingeben werden.«

Die Richter befanden sich in großer Verlegenheit; und es ist schwer zu sagen, was für ein Mittel sie endlich ergriffen haben würden, um mit Ehren aus der Sache zu kommen, wenn der Zufall, er zu allen Zeiten der große Schutzgott aller Abderiten gewesen ist, sich ihrer nicht angenommen, und diesem feinen bürgerlichen Drama eine Entwicklung gegeben hätte, deren sich einen Augenblick vorher kein Mensch versah, noch versehen konnte.

Sechszehntes Kapitel
Unvermutete Entwicklung der ganzen Komödie und Wiederherstellung der Ruhe in Abdera

Der Esel, dessen Schatten zeither (nach dem Ausdruck des Archon Onolaus) eine so seltsame Verfinsterung in den Hirnschädeln der Abderiten angerichtet hatte, war bis zu Austrag der Sache in den öffentlichen Stall der Republik abgeführt, und bisher daselbst notdürftig verpflegt worden.

Das Beste, was man davon sagen kann, ist, daß er nicht fetter davon geworden war.

Diesen Morgen nun war es den Stallbedienten der Republik, welche wußten, daß der Handel zu Ende gehen sollte, auf einmal eingefallen: der Esel, der gleichwohl eine Hauptperson bei der Sache vorstellte, sollte doch billig auch von der Partie sein. Sie hatten ihn also gestriegelt, mit Blumenkränzen und Bändern herausgeputzt, und brachten ihn nun, unter der Begleitung und dem Nachjauchzen unzähliger Gassenjungen, in großem Pomp herbei.

Der Zufall wollte, daß sie in der nächsten Gasse, die zum Markt führte, anlangten, als Polyphonus eben seinen Nachtrag geendigt hatte, und die armen Richter sich gar nicht mehr zu helfen wußten, das Volk hingegen zwischen der Furcht vor dem Erzpriester und dem neuen Stoß, den ihm die zwote Rede des Sykophanten Physignathus gegeben, in einer ungewissen und unmutigen Art von Bewegung schwankte.

Der Lerm, den die besagten Gassenjungen um den Esel her machten, drehte jedermanns Augen nach der Seite, woher er kam. Man stutzte und drängte sich hinzu.

Ha! rief endlich einer aus dem Volke, da kommt der Esel selbst! – Er wird den Richtern wohl zu einem Ausspruch helfen wollen, sagte ein andrer. – Der verdammte Esel, rief ein dritter, er hat uns alle zu Grunde gerichtet! Ich wollte, daß ihn die Wölfe gefressen hätten, eh er uns diesen gottlosen Handel auf den Hals zog! – Heida! schrie ein Kesselflicker, der immer einer der eifrigsten Schatten gewesen war; was ein braver Abderit ist, über den Esel her! Er soll uns die Zeche bezahlen! Laßt nicht ein Haar aus seinem schäbigten Schwanz von ihm übrig bleiben!

In einem Augenblick stürzte sich die ganze Menge auf das Tier, und, ehe man eine Hand umkehren konnte, war es in tausend Stücke zerrissen. Jedermann wollte auch einen Bissen davon haben. Man riß, schlug, zerrte, kratzte, balgte und raufte sich darum mit einer Hitze, die gar nicht ihres gleichen hatte. Bei einigen ging die Wut so weit, daß sie ihren Anteil auf der Stelle roh und blutig auffraßen; die meisten aber liefen mit dem, was sie davon gebracht, nach Hause; und da ein jeder eine Menge hinter sich her hatte, die ihm seinen Raub mit großem Geschrei abzujagen suchten: so wurde der ganze Markt in wenig Minuten so leer als um Mitternacht.

Die Vierhundertmänner waren im ersten Augenblick dieses Aufruhrs, wovon sie die Ursache nicht sogleich sehen konnten, in so große Bestürzung geraten, daß sie alle, ohne selbst zu wissen, was sie taten, die Dolche hervorzogen, die sie heimlich unter ihren Mänteln bei sich führten; und die Herren sahen einander mit keinem kleinen Erstaunen an, da auf einmal, vom Nomophylax bis zum untersten Beisitzer, in jeder Hand ein bloßer Dolch funkelte. Als sie aber endlich sahen und hörten was es war, steckten sie geschwinde ihre Messer wieder in den Busen, und brachen allesamt, gleich den Göttern im ersten Buch der Ilias, in ein unauslöschliches Gelächter aus.

Dank sei dem Himmel, rief endlich, nachdem die sehr ehrwürdigen Herren wieder zu sich selbst gekommen waren, der Nomophylax lachend aus: mit aller unsrer Weisheit hätten wir der Sache keinen schicklichern Ausgang geben können. Wozu wollten wir uns nun noch länger die Köpfe zerbrechen? Der Esel, der unschuldige Anlaß dieses leidigen Handels, ist (wie es zu gehen pflegt) das Opfer davon geworden; das Volk hat sein Mütchen an ihm abgekühlt; und es kommt itzt nur noch auf eine gute Entschließung von unsrer Seite an: so kann dieser Tag, der noch kaum so aussah, als ob er ein trübes Ende nehmen würde, ein Tag der Freude und der Wiederherstellung der allgemeinen Ruhe werden. Da der Esel selbst nicht mehr ist, was hülf' es, noch lange über seinen Schatten zu rechten? Ich trage also darauf an: daß diese ganze Eselssache hiemit öffentlich für geendigt und abgetan genommen, beiden Teilen, unter Vergütung aller ihrer Kosten und Schäden aus dem Stadtärario, ein ewiges Stillschweigen auferlegt, dem armen Esel aber auf gemeiner Stadt Kosten ein Denkmal aufgerichtet werde, das zugleich uns und unsern Nachkommen zur ewigen Erinnerung diene, wie leicht eine große und blühende Republik sogar um eines Esels Schatten willen hätte zu Grunde gehen können.

Jedermann klatschte dem Antrag des Nomophylax seinen Beifall zu, als dem klügsten und billigsten Auswege, den man, nach Gestalt der Sachen, treffen könne. Beide Parteien konnten damit zufrieden sein, und die Republik erkaufte ihre Beruhigung und Verhütung größeren Schimpfs und Unheils noch immer wohlfeil genug. Der Schluß wurde also von den Vierhundertmännern einhellig diesem Vortrag gemäß abgefaßt, wiewohl es einige Mühe kostete, den Zunftmeister Pfrieme dahin zu bringen, daß er nicht den Ungeraden machte; und der große Rat, mit seiner martialischen Bürgerwache im Vor- und Hintertreffen, begleitete den Nomophylax bis vor seine Wohnung zurück, wo er die Herren Collegen samt und sonders auf den Abend zu einem großen Concert einlud, welches er ihnen, zu Befestigung der wiederhergestellten Eintracht zum Besten geben wollte.

Der Erzpriester Agathyrsus erließ dem Eseltreiber nicht nur die versprochnen fünf und zwanzig Prügel, sondern schenkte ihm noch obendrein drei schöne Maulesel aus seinem eignen Stalle, mit dem ausdrücklichen Verbot, keine Schadloshaltung aus dem abderitischen Aerario anzunehmen. Des folgenden Tages gab er den sämtlichen Schatten aus dem kleinen und großen Rat ein prächtiges Gastmahl; und am Abend ließ er unter die gemeinen Bürger von allen Zünften eine halbe Drachme auf den Mann austeilen, um dafür auf seine und aller guten Abderiten Gesundheit zu trinken. Diese Freigebigkeit gewann ihm auf einmal wieder aller Herzen; und da die Abderiten ohnehin (wie wir wissen) Leute waren, denen es nichts kostete, von einer Extremität zur andern überzugehen: so ist sich, bei einem so edeln Betragen des bisherigen Oberhaupts der stärkern Partei, nicht zu verwundern, daß die Namen von Eseln und Schatten in kurzem gar nicht mehr gehört wurden. Die Abderiten lachten itzt selbst über ihre Torheit als einen Anstoß von fiebrischer Raserei, der nun, Gottlob! vorüber sei. Einer ihrer Balladenmänner (deren sie sehr viele und sehr schlechte hatten) eilte was er konnte, die ganze Geschichte in ein Gassenlied zu bringen, das sogleich auf allen Straßen gesungen wurde; und der Dramenmacher Thlaps ermangelte nicht, binnen wenigen Wochen sogar eine Komödie daraus zu verfertigen, wozu der Nomophylax eigenhändig die Musik componierte.

Dieses schöne Stück wurde öffentlich mit großem Beifall aufgeführt, und beide ehmalige Parteien lachten so herzlich darin, als ob die Sache sie gar nichts anginge.

Demokritus, der sich von dem Erzpriester hatte bereden lassen, mit in dies Schauspiel zu gehen, sagte beim Herausgehen: Diese Ähnlichkeit mit den Atheniensern muß man den Abderiten wenigstens eingestehen, daß sie recht treuherzig über ihre eigne Narrenstreiche lachen können. Sie werden zwar nicht weiser darum; aber es ist immer schon viel gewonnen, wenn ein Volk leiden kann, daß ehrliche Leute sich über seine Torheiten lustig machen, und mitlacht, anstatt, wie die Affen, tückisch darüber zu werden.

Es war die letzte abderitische Komödie, in welche Demokritus in seinem Leben ging: denn bald darauf zog er mit Sack und Pack aus der Gegend von Abdera weg, ohne einem Menschen zu sagen, wo er hinginge; und von dieser Zeit an hat man keine weitere Nachrichten von ihm.



Fünftes Buch


Erstes Kapitel
Erste Quelle des Übels, welches endlich den Untergang der abderitischen Republik nach sich zog
Politik des Erzpriesters Agathyrsus
Er läßt einen eignen öffentlichen Froschgraben anlegen
Nähere und entferntere Folgen dieses neuen Instituts

Die Republik Abdera genoß einige Jahre auf die eben so gefährlichen als – Dank ihrem gutlaunigen Genius! – so glücklich abgelaufnen Bewegungen wegen des Eselsschatten der vollkommensten Ruhe von innen und außen; und wenn es natürlicherweise möglich wäre, daß Abderiten sich lange wohl befinden könnten: so hätte man, dem Anschein nach, ihrem Wohlstande die längste Dauer versprechen sollen. Aber, zu ihrem Unglück, arbeitete eine ihnen allen verborgene Ursache – ein geheimer Feind, der desto gefährlicher war, weil sie ihn in ihrem eignen Busen herumtrugen – unvermerkt an ihrem Untergang.

Die Abderiten verehrten (wie wir wissen) seit undenklichen Zeiten die Latona als ihre Schutzgöttin.

So viel sich auch immer mit gutem Fug gegen den Latonendienst einwenden läßt: so war es nun einmal ihre von Vorältern auf sie geerbte Volks- und Staatsreligion; und sie waren in diesem Stücke nicht schlimmer dran, als alle übrigen griechischen Völkerschaften. Ob sie, wie die Athenienser, Minerven, oder Juno, wie die von Samos, oder Dianen, wie die Ephesier, oder die Grazien, wie die Orchomenier, oder ob sie Latonen verehrten, darauf kam's nicht an: eine Religion mußten sie haben, und in Ermangelung einer bessern war eine jede besser als gar keine.

Aber der Latonendienst hätte auch ohne den geheiligten Froschgraben bestehen können. Wozu hatten sie nötig, den einfältigen Glauben der alten Tejer, ihrer Vorältern, durch einen so gefährlichen Zusatz aufzustutzen? Wozu die Frösche der Latona, da sie die Latona selbst hatten? – Oder, wenn sie ja ein sichtbares Denkmal jener wundervollen Verwandlung der lycischen Bauern zur Nahrung ihres abderitischen Glaubens bedurften: hätten ein Halbdutzend ausgestopfte Froschhäute, mit einer schönen goldnen Inschrift, in einer Kapelle des Latonentempels aufgestellt, mit einem brokatnen Tuch umschleiert, und alle Jahr mit gehörigen Feierlichkeiten dem Volke vorgezeigt, ihrer Einbildungskraft nicht die nämlichen Dienste getan?

Demokritus, ihr guter Mitbürger, aber zum Unglück ein Mann, dem man nichts glauben konnte, weil er in dem bösen Rufe stand, daß er selbst nichts glaube, hatte, während er sich unter ihnen aufhielt, bei Gelegenheit zuweilen ein Wort davon fallen lassen: daß man des Guten, zumal wo Frösche mit im Spiele wären, leicht zu viel tun könne; und da seine Ohren, nach einer zwanzigjährigen Abwesenheit, an das liebliche Brekekekek Koax Koax, das ihm zu Abdera bei Nacht und Tag um die Ohren schnarrte, nicht so gewöhnt waren, als die etwas dicken Ohren seiner Landesleute: so hatte er ihnen einigemal nachdrückliche Vorstellungen gegen ihre Deisibatrachie (wie ers nannte) getan, und ihnen öfters bald im Scherz, bald im Ernst vorhergesagt, daß, wenn sie nicht in Zeiten Vorkehrung täten, ihre quakenden Mitbürger sie endlich aus Abdera hinausquaken würden. Die Vornehmern konnten über diesen Punct sehr gut Scherz vertragen; denn sie wollten wenigstens nicht dafür angesehen sein, als ob sie mehr von den Fröschen der Latona glaubten, als Demokritus selbst. Aber das Übel war, daß er sie weder durch Schimpf noch Ernst dahin bringen konnte, die Sache aus einem vernünftigen Gesichtspuncte zu beherzigen. Scherzte er darüber, so scherzten sie mit; sprach er ernsthaft, so lachten sie über ihn, daß er über so was ernsthaft sein könne. Und so blieb es denn, Einwendens ungeachtet, wie in allen Dingen, so auch hierinnen zu Abdera immer – beim alten Brauch.

Indessen wollte man doch zu Demokritus Zeiten eine gewisse Lauigkeit in Absicht auf die Frösche unter der edeln abderitischen Jugend wahrgenommen haben. Gewiß ist, daß der Priester Strobylus öfters große Klaglieder darüber anstimmte, daß die meisten guten Häuser die Froschgräben, die sie von Alters her in ihren Gärten unterhalten hätten, unvermerkt eingehen ließen; und daß der gemeine Mann beinahe der einzige sei, der in diesem Stücke noch fest an dem löblichen alten Brauch hange, und seine Ehrfurcht für den geheiligten Teich auch durch freiwillige Gaben zu Tage lege.

Wer sollte nun bei so bewandten Sachen vermutet haben, daß gerade unter allen Abderiten derjenige, auf den am wenigsten ein Verdacht, daß er an der Deisibatrachie krank sei, fallen könnte – kurz, daß der Erzpriester Agathyrsus der Mann war, der, bald nach Endigung der Fehde zwischen den Eseln und Schatten, dem erkalteten Eifer der Abderiten für die Frösche wieder ein neues Leben gab?

Gleichwohl ist es unmöglich, ihn von diesem seltsamen Widerspruch zwischen seiner innern Überzeugung und seinem äußerlichen Betragen freizusprechen; und wenn wir nicht bereits von seiner Art zu denken unterrichtet wären, würde das Letztere kaum zu erklären sein. Aber wir kennen diesen Priester als einen ehrgeizigen Mann. Er hatte sich während der letzten Unruhen an der Spitze einer mächtigen Partie gesehen, und hatte keine Lust, dieses Vergnügen gegen ein geringeres Aequivalent zu vertauschen, als einen fortdaurenden Einfluß auf die ganze nun wieder beruhigte Republik – eine Sache, die er nunmehr durch kein gewissers Mittel erhalten konnte, als durch eine große Popularität, und durch eine Gefälligkeit gegen die Vorurteile des Volks, die ihn um so weniger kostete, da er (wie so viele seines gleichen) die Religion bloß als eine politische Maschine ansah, und im Grunde äußerst gleichgültig darüber war, ob es Frösche oder Eulen oder Hammelsfelle seien, was ihm die freieste und sicherste Befriedigung seiner Lieblingsleidenschaften gewährte.

Diesemnach also, und um sich auf die wohlfeilste Art bei dem Volke im Ansehen und Einfluß zu erhalten, verbannte er bald nach Endigung des Schattenkriegs nicht nur die Störche, über welche die Froschpfleger Klage geführt hatten, aus allen Gerichten und Gebieten des Jasontempels; sondern trieb die Gefälligkeit gegen seine neuen Freunde so weit, daß er mitten auf einer Esplanade (die einer seiner Vorfahren zu einem öffentlichen Spazierplatz gewidmet hatte) einen Canal graben ließ, und sich zu Besetzung desselben auf eine sehr verbindliche Art einige Fässer mit Froschlaich aus dem geheiligten Teiche von dem Oberpriester Strobylus ausbat; welche ihm denn auch, nach einem der Latona gebrachten feierlichen Opfer in Begleitung des ganzen abderitischen Pöbels mit großer Feierlichkeit zugeführet wurden.

Von diesem Tage an war Agathyrsus der Abgott des Volks, und ein Froschgraben, zu rechter Zeit angelegt, verschaffte ihm, was er sonst mit aller Politik, Wohlredenheit und Freigebigkeit nie erlangt haben würde. Er herrschte, ohne die Ratsstube jemals zu betreten, so unumschränkt in Abdera als ein König; und weil er den Ratsherren und Zunftmeistern alle Wochen zwei- oder dreimal zu essen gab, und ihnen seine Befehle nie anders als in vollen Bechern von Chierwein insinuierte: so hatte niemand etwas gegen einen so liebenswürdigen Tyrannen einzuwenden. Die Herren glaubten nichts destoweniger auf dem Rathause ihre eigne Meinung zu sagen, wenn ihre Vota gleich nur der Widerhall der Schlüsse waren, welche Tages zuvor im Speisesaal des Erzpriesters abgefaßt wurden.

Agathyrsus war der erste, der sich, unter guten Freunden, über seinen neuen Froschgraben lustig machte. Aber das Volk hörte nichts davon. Und da sein Beispiel auf die Edeln von Abdera mehr wirkte, als seine Scherze: so hätte man den Wetteifer sehen sollen, womit sie, um ebenfalls Proben von ihrer Popularität abzulegen, entweder die vertrockneten Froschgräben in ihren Gärten wieder herstellten, oder neue anlegten, wo noch keine gewesen waren. Wie in Abdera alle Torheiten ansteckend waren, so blieb auch von dieser niemand frei. Anfangs war es nur Mode, eine Sache die zum guten Ton gehörte. Ein Bürger von einigem Vermögen würde sichs zur Schande gerechnet haben, hierin hinter seinem vornehmern Nachbar zurückzubleiben. Aber unvermerkt wurde es ein unvermeidliches Requisitum eines guten Bürgers; und wer nicht wenigstens eine kleine Froschgrube innerhalb seiner vier Pfähle aufweisen konnte, würde für einen Feind Latonens und für einen Verräter am Vaterlande ausgeschrien worden sein.

Bei einem so warmen Eifer der Privatpersonen ist leicht zu erachten, daß der Senat, die Zünfte und übrigen Collegien nicht die letzten waren, der Latona gleichmäßige Beweise ihrer Devotion zu geben. Jede Zunft ließ sich ihren eignen Froschzwinger graben. Auf jedem öffentlichen Platz der Stadt, ja gar vor dem Rathause selbst (wo die Kräuter- und Eierweiber ohnehin Lerms genug machten), wurden große mit Schilf und Rasen eingefaßte Bassins zu diesem Ende angelegt; und das Policeicollegium, dem hauptsächlich die Verschönerung der Stadt in seine Pflichten gegeben war, kam endlich gar auf den Einfall, durch die Alleen, womit Abdera ringsumgeben war, zu beiden Seiten schmale Canäle ziehen, und mit Fröschen besetzen zu lassen. Das Project wurde vor Rat gebracht, und passierte ohne Widerspruch; wiewohl man sich genötigt sah, um diese Canäle und die übrigen öffentlichen Froschteiche mit dem benötigten Wasser zu versehen, den Fluß Nestus beinahe gänzlich abgraben zu lassen. Weder die Kosten, die durch alle diese Operationen dem Aerario aufgeladen wurden, noch der vielfältige Nachteil, der aus dem Abgraben des Flusses entstund, wurden in die mindeste Betrachtung gezogen; und als ein junger Ratsherr nur im Vorbeigehn erwähnte, daß der Nestus nahe am Eintrocknen wäre – desto besser, rief einer von den Froschpflegern; so haben wir einen großen Froschgraben mehr, ohne daß es der Republik einen Heller kostet.

Wer sich bei diesem – freilich nur in Abdera möglichen Enthusiasmus für die Verschönerung der Stadt durch Froschgräben am besten befand, waren die Priester des Latonentempels. Denn, ungeachtet sie den Laich aus dem heiligen Teiche sehr wohlfeil, nämlich den abderitischen Cyathus (der ungefähr ein Nößel unsers Maßes betragen mochte) nur für zwo Drachmen verkauften: so wollte doch jemand berechnet haben, daß sie in den ersten zwei bis drei Jahren, da die Schwärmerei am wirksamsten war, über fünf tausend Dariken damit gewonnen hätten. Die Summe scheint uns bei allem dem zu hoch angesetzt; wiewohl nicht zu leugnen ist, daß sie sich für den Laich, den sie der Republik ablieferten, das Duplum aus der Baucasse bezahlen ließen.

Übrigens dachte in ganz Abdera niemand an die Folgen dieser schönen Anstalten. Die Folgen kamen, wie gewöhnlich, von sich selbst. Aber weil sie nicht auf einmal da stunden, so währte es nicht nur eine geraume Zeit, bis man sie bemerkte; sondern, da sie endlich auffallend genug wurden, um nicht länger, sogar von Abderiten, übersehen zu werden: so konnten diese doch, trotz ihrem bekannten Scharfsinn, die Quelle derselben nicht ausfindig machen. Die abderitischen Ärzte zerbrachen sich die Köpfe, um zu erraten, woher es käme, daß Schnuppen, Flüsse und Hautkrankheiten aller Arten von Jahr zu Jahr so mächtig überhand nahmen, und so hartnäckig wurden, daß sie aller ihrer Kunst und aller Niesewurz von Anticyra Trotz boten. Kurz, Abdera mit der ganzen Gegend umher war beinahe in einen allgemeinen unabsehbaren Froschteich verwandelt, eh es einem ihrer Philosophen einfiel, die Frage aufzuwerfen: ob eine grenzenlose Vermehrung der Froschmenge einem Staat nicht vielleicht mehr Schaden tun könnte, als die Vorteile, die man sich davon verspreche, jemals wieder gut zu machen vermöchten?

Zweites Kapitel
Charakter des Philosophen Korax
Nachrichten von der Akademie der Wissenschaften zu Abdera
Korax wirft in derselben eine verfängliche Frage, in Betreff der Latonenfrösche, und sich selbst zum Haupt der Gegenfröschler auf
Betragen der Latonenpriester gegen diese Secte, und wie sie bewogen wurden, selbige für unschädlich anzusehen

Der merkwürdige Kopf, der zuerst die Wahrnehmung machte, daß die Menge der Frösche in Abdera in der Tat übermäßig sei, und mit der Anzahl und dem Bedürfnis der zweibeinigten unbefiederten Einwohner ganz und gar in keinem Verhältnis stehe, nannte sich Korax. Es war ein junger Mann von gutem Hause, der sich etliche Jahre zu Athen aufgehalten, und in der Akademie (wie die von Plato gestiftete Philosophenschule bekanntermaßen genennt wurde) gewisse Grundsätze eingesogen hatte, die den Fröschen der Latona nicht allzugünstig waren. Die Wahrheit zu sagen, Latona selbst hatte durch seinen Aufenthalt zu Athen so viel bei ihm verloren, daß es kein Wunder war, wenn er ihre Frösche nicht mit aller der Ehrfurcht ansehen konnte, die von einem rechtdenkenden Abderiten gefodert wurde. »Eine jede schöne Frau ist eine Göttin, pflegte er zu sagen: wenigstens eine Göttin der Herzen; und Latona war unstreitig eine sehr schöne Frau; aber was geht das die Frösche, und – die Sache bloß menschlich und im Lichte der Vernunft betrachtet – was gehen am Ende die Frösche Latonen an? Und gesetzt auch, die Göttin für die ich übrigens so viel Ehrfurcht hege, als einer schönen Frau und einer Göttin gebührt – gesetzt, sie habe die Frösche vor allem andern Geziefer und Ungeziefer der Welt in ihren besondern Schutz genommen: folgt denn daraus, daß man der Frösche nie zuviel haben könne?«

Korax war, als er so zu raisonnieren anfing, ein Mitglied der Akademie, welche in Abdera zur Nachahmung der atheniensischen gestiftet worden war. Denn die Abderiten waren, wie wir wissen, schon von langem her darauf gestellt, alles wie die Athenienser haben zu wollen. Diese Akademie war ein kleiner in Spaziergänge ausgehauener Wald, ganz nahe bei der Stadt; und da sie unter dem Schutz des Senats stund, und auf Kosten des Aerariums angelegt worden war: so hatten die Herren von der Polizeicommission nicht ermangelt, sie reichlich mit Froschgräben zu versehen. Die Glieder der Akademie fanden sich zwar nicht selten durch den eintönigen Chorgesang dieser quakenden Philomelen in ihren tiefsinnigen Betrachtungen gestört. Allein, da dies an jedem andern Orte in und um die Stadt Abdera eben so wohl der Fall gewesen wäre: so hatten sie sich immer in Geduld darein ergeben; oder, richtiger zu reden, man war des Froschgesangs in Abdera so gewohnt, daß man nicht mehr davon hörte, als die Einwohner von Katadupa von dem großen Nilfall, in dessen Nachbarschaft sie leben, oder als die Anwohner irgend eines andern Wasserfalls in der Welt.

Allein mit Korax, dessen Ohren durch seinen Aufenthalt zu Athen die Empfindlichkeit, die allen gesunden menschlichen Ohren natürlich ist, wieder erlangt hatten, war es eine andre Sache. Man wird es also nicht befremdlich finden, daß er gleich bei der ersten Sitzung, der er beiwohnte, die spitzige Anmerkung machte: er glaube, das Käuzlein der Minerva qualificiere sich ungleich besser zu einem außerordentlichen Mitgliede der Akademie, als die Frösche der Latona. – »Ich weiß nicht, meine Herren, wie Sie die Sache ansehen, setzte er hinzu: aber, mich deucht, die Frösche haben seit einigen Jahren auf eine ganz unbegreifliche Art in Abdera zugenommen.«

Die Abderiten waren ein dumpfes Völklein, wie wir alle wissen; und es gab vielleicht (eine einzige berühmte Nation allenfalls ausgenommen) kein anderes in der Welt, das in der sonderbaren Eigenschaft, »den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen zu können«, ihnen den Vorzug streitig machen konnte. Aber dies mußte man ihnen lassen, sobald es nur einem unter ihnen einfiel, eine Bemerkung zu machen, die jedermann eben so gut hätte machen können als er, wiewohl sie niemand vor ihm gemacht hatte: so schienen sie allesamt plötzlich aus einem langen Schlaf zu erwachen, sahen nun auf einmal – was ihnen vor der Nase lag, verwunderten sich der gemachten Entdeckung, und glaubten demjenigen sehr verbunden zu sein, der ihnen dazu verholfen hatte. In der Tat, antworteten die Herren von der Akademie, die Frösche haben seit einiger Zeit auf eine ganz unbegreifliche Art zugenommen.

»Wenn ich sagte, auf eine ganz unbegreifliche Art, (versetzte Korax,) so will ich damit keineswegs gesagt haben, daß etwas übernatürliches in der Sache sei. Im Grunde ist nichts begreiflicher, als daß die Frösche sich auf eine ganz ungeheure Art an einem Orte vermehren müssen, wo man solche Anstalten zu ihrer Unterhaltung vorkehrt, wie zu Abdera: das Unbegreifliche liegt, meiner geringen Meinung nach, bloß darin, wie die Abderiten einfältig genug sein können, diese Anstalten vorzukehren?«

Die sämtlichen Mitglieder der Akademie stutzten über die Freiheit dieser Rede, sahen einander an, und schienen verlegen zu sein, was sie von der Sache denken sollten.

»Ich rede bloß menschlicher Weise«, sagte Korax.

Wir zweifeln nicht daran, versetzte der Präsident der Akademie, der ein Ratsherr und einer von den Zehnmännern war; allein die Akademie hat sichs bisher zum Gesetz gemacht, dergleichen schlüpfrige Materien, auf welchen die Vernunft so leicht ausglitschen kann, lieber gar nicht zu berühren.

»Die Akademie zu Athen hat sich kein solches Gesetz gemacht, fiel ihm Korax ein; wenn man nicht über alles philosophieren darf, so wär's eben so gut, man philosophierte über – gar nichts.«

Über alles, sagte der Präsident Zehnmann mit einer bedenklichen Miene, nur nicht über Latonen, und –

Ihre Frösche? – setzte Korax lächelnd hinzu. Dies war's auch wirklich, was der Präsident hatte sagen wollen; aber bei dem Wörtchen und überfiel ihn eine Art von Beklemmung, als ob er wider Willen fühlte, daß er im Begriff sei, eine Sottise zu sagen; und so hielt er plötzlich mit offnem Munde still, und überließ es dem Korax, die Periode zu vollenden.

»Ein jedes Ding kann von sehr vielerlei Seiten, und in mancherlei Lichte betrachtet werden, fuhr Korax fort; und dies zu tun, ist, deucht mich, just, was dem Philosophen zukömmt, und was ihn von dem dummen undenkenden Haufen unterscheidet. Unsere Frösche, zum Exempel, können als Frösche schlechtweg, und als Frösche der Latona betrachtet werden. Denn in so fern sie Frösche schlechtweg sind, sind sie weder mehr noch weniger Frösche als andre. Ihr Verhältnis gegen die Abderiten ist in so fern ungefähr das nämliche, wie das Verhältnis aller übrigen Frösche zu allen übrigen Menschen; und in so fern kann nichts unschuldigers sein, als zu untersuchen, ob z.E. die Froschmenge in einem Staat mit der Volksmenge in gehörigem Verhältnis stehe oder nicht? und – wofern sich fände, daß der Staat einen großen Teil mehr Frösche ernähren müßte, als er nötig hätte die diensamsten Mittel vorzuschlagen, wodurch ihre übermäßige Menge vermindert werden könnte.«

Korax spricht verständig, sagten etliche junge Akademisten.

»Ich rede bloß menschlicherweise von der Sache«, sagte Korax.

Ich wollte lieber, daß wir gar nicht davon angefangen hätten, sagte der Präsident.

Dies war der erste Funke, den Korax in die schwindlichten Köpfe einiger speculativen jungen Abderiten warf. Unvermerkt wurde er zum Haupt und Worthalter einer philosophischen Secte, von deren Grundsätzen und Meinungen in Abdera nicht allzuvorteilhaft gesprochen wurde. Sie wurden, nicht ohne Grund, beschuldiget, daß sie nicht nur unter sich, sondern sogar in großen Gesellschaften und auf den öffentlichen Spazierplätzen behaupteten: »es lasse sich mit keinem einzigen triftigen Grunde beweisen, daß die Frösche der Latona etwas bessers als gemeine Frösche wären; die Sage, daß sie von den milischen Froschbauern, oder Bauerfröschen abstammten, wäre ein albernes Volksmärchen; und selbst die alte Tradition, daß Jupiter die milischen Bauern, weil sie Latonen mit ihren Zwillingen nicht aus ihrem Teiche hätten trinken lassen wollen, in Frösche verwandelt habe, sei etwas, woran man allenfalls zweifeln könnte, ohne sich eben darum an Jupitern oder Latonen zu versündigen. Es möchte aber auch damit sein wie es wollte, so sei es doch ungereimt, aus Devotion gegen die schöne Latona, die ganze Stadt und Republik Abdera zu einer Froschpfütze zu machen« – und was dergleichen Behauptungen mehr waren, die, so simpel und vernunftmäßig sie uns heutiges Tages vorkommen, zu Abdera gleichwohl, zumal in den Ohren der Latonenpriester, sehr übelklingend gefunden wurden, und dem Philosophen Korax und seinen Anhängern den verhaßten Namen Batrachomachen oder Gegenfröschler zuzogen; ein Titel, dessen sie sich jedoch um so weniger schämten, weil es ihnen gelungen war, beinahe die ganze junge und schöne Welt mit ihren freien Meinungen anzustecken.

Die Priester des Latonentempels und das Collegium der Froschpfleger ermangelten nicht, bei jeder Gelegenheit ihr Mißfallen an dem mutwilligen Witze der Gegenfröschler zu zeigen; und der Oberpriester Stilbon vermehrte, aus dieser Veranlassung, sein Buch von den Altertümern des Latonentempels mit einem großen Kapitel über die Natur der Latonenfrösche. Indessen hatten sie einen sehr wesentlichen Beweggrund, es dabei bewenden zu lassen; und dieser war: daß, ungeachtet der freigeisterischen Denkart über die Frösche, welche Korax in Abdera zur Mode gemacht hatte, nicht ein einziger Froschgraben in und um die Stadt weniger zu sehen war als zuvor. Der Philosoph Korax und seine Anhänger waren schlau genug gewesen, zu merken, daß sie sich die Freiheit, »von den Fröschen überlaut zu denken, was sie wollten«, nicht wohlfeiler erkaufen könnten, als wenn sie es, was die Ausübung betraf, gerade eben so machten, wie alle andre Leute. Ja, der weise Korax, als derjenige, auf den man am meisten Acht gab, hatte für schicklich angesehen, lieber zu viel als zu wenig zu tun; und also, gleich nach seiner Aufnahme in die Akademie, auf seinem angeerbten Grund und Boden einen der schönsten Froschgräben in ganz Abdera angelegt, und mit einer beträchtlichen Menge schöner wohlbeleibter Frösche aus dem geheiligten Teich besetzt, wovon er den Priestern jedes Stück mit vier Drachmen bezahlte. Dies war eine Höflichkeit, für welche diese Herren, so wenig sie sich ihm auch sonst dafür verbunden halten mochten, doch, um des guten Beispiels willen, nicht umhin konnten, dankbar zu scheinen; zumal da diese nämliche Handlung des sogenannten Philosophen hinlänglichen Vorwand gab, diejenigen, die sich an seinen freien Meinungen und witzigen Einfällen hätten ärgern mögen, zu überzeugen, daß es ihm nicht Ernst damit sei. Seine Zunge ist schlimmer als sein Gemüt pflegten sie zu sagen; er will dafür angesehen sein, als ob er zu viel Witz hätte, um zu denken wie andre Leute; aber im Grunde ists bloße Ziererei. Wenn er nicht im Herzen eines Bessern überzeugt wäre, würde er wohl seine freigeisterischen Meinungen durch seine Handlungen widerlegen? Man muß solche Leute nicht nach dem, was sie sprechen, beurteilen, sondern nach dem, was sie tun.

Bei allem dem ist nicht zu leugnen, daß Korax unter der Hand mit keinem geringern Anschlag umging, als, gleich einem neuen Herkules, Theseus oder Harmodius, sein Vaterland von den – Fröschen zu befreien, von welchen es, wie er zu sagen pflegte, mit größerm Unheil bedroht würde, als alle die Ungeheuer, Räuber und Tyrannen, von denen jene Heroen das ihrige befreiten, jemals im ganzen Griechenlande angerichtet hätten.

Drittes Kapitel
Ein unglücklicher Zufall nötigt den Senat, von der unmäßigen Froschmenge in Abdera Notiz zu nehmen
Unvorsichtigkeit des Ratsherrn Meidias
Die Majora beschließen, ein Gutachten der Akademie einzuholen
Der Nomophylax Hypsiboas protestiert gegen, diesen Schluß, und eilt, den Oberpriester Stilbon dagegen in Bewegung zu setzen

Das Ungemach, das die Abderiten von der ungeheuren Vermehrung ihrer heiligen Frösche erduldeten, wurde inzwischen von Tag zu Tag drückender, ohne daß der damalige Archon Onokradias (ein Schwestersohn des berühmten Onolaus, und, die Wahrheit zu sagen, der lockerste Kopf, der jemals am Ruder von Abdera gewackelt hatte) vermocht werden konnte, die Sache vor den Senat zu bringen – bis bei einer großen Feierlichkeit, wo der Rat und die ganze Bürgerschaft in Procession durch die Hauptstraßen ziehen mußte, das Unglück begegnete, »daß ein paar Dutzend Frösche, die sich zu weit aus ihren Gräben herausgewagt hatten, im Gedränge des Volks zertreten wurden, und, aller schleunig vorgekehrten Hülfe ungeachtet, jämmerlich ums Leben kamen.«

Dieser Vorfall schien so bedenklich, daß sich der Archon genötiget fand, eine außerordentliche Ratsversammlung ansagen zu lassen, um sich zu beraten, was für eine Genugtuung die Stadt für dieses zwar unvorsetzliche, aber nichts desto weniger höchst unglückliche Sacrilegium der Latona zu leisten hätte, und durch was für Vorkehrungen einem ähnlichen Unglücke fürs künftige vorgebaut werden könnte?

Nachdem eine gute Weile viel abderitische Plattheiten über die Sache vorgetragen worden waren, platzte endlich der Ratsherr Meidias, ein Verwandter und Anhänger des Philosophen Korax, heraus: »Ich begreife nicht, warum die Herren um ein halb Schock Frösche mehr oder weniger ein solches Aufheben machen mögen. Jedermann ist überzeugt, daß die Sache ein bloßer Zufall war, den uns Latona unmöglich übel nehmen kann; und weil das Schicksal, das über Götter, Menschen und Frösche zu befehlen hat, doch nun einmal den Untergang einiger quakenden Geschöpfe bei dieser Gelegenheit verhängen wollte: möchten's doch anstatt vier und zwanzig eben so viele Myriaden gewesen sein!«

Es waren im ganzen Senat vielleicht nicht fünfe, die in ihrem Hause, oder in Privatgesellschaften, (wenigstens seit Korax die erste Entdeckung gemacht,) nicht tausendmal über die allzugroße Vermehrung der Frösche geklagt hätten. Gleichwohl da es in vollem Senat noch nie darüber zur Sprache gekommen war, stutzte jedermann über die Kühnheit des Ratsherrn Meidias, nicht anders, als ob er der Latona selbst an die Kehle gegriffen hätte. Einige alte Herren sahen so erschrocken aus, als ob sie erwarteten, daß ihr Herr College für diese verwegene Rede auf der Stelle zum Frosch werden würde.

»Ich hege alle gebührende Achtung für den geheiligten Teich« (fuhr Meidias, der alles wohl bemerkte, ganz gelassen fort); »aber ich berufe mich auf die innere Überzeugung aller Menschen, deren Mutterwitz noch nicht ganz eingetrocknet ist, ob jemand unter uns ohne Unverschämtheit leugnen könne, daß die Menge der Frösche in Abdera ungeheuer ist?«

Die Ratsherren hatten sich indessen von ihrem ersten Schrecken wieder erholt; und wie sie sahen, daß Meidias noch immer in seiner eignen Gestalt da saß, und ungestraft hatte sagen dürfen, was sie im Grunde allesamt als Wahrheit fühlten: so fing einer nach dem andern an zu bekennen; und nach einer kleinen Weile zeigte sichs, daß der ganze Senat einhellig der Meinung war: es wäre zu wünschen, daß der Frösche in Abdera weniger sein möchten.

Man ist in seinem eignen Hause nicht mehr vor ihnen sicher, sagte einer. – Man kann nicht über die Straße gehen, ohne Gefahr zu laufen, einen oder ein paar zugleich mit jedem Tritte zu zerquetschen, sagte ein andrer. – Man hätte der Freiheit, Frosch gräben anzulegen, gleich Anfangs Schranken setzen sollen, sagte ein dritter. – Wär ich damals im Senat gewesen, da die Stiftung der öffentlichen Froschteiche beschlossen wurde, ich würde meine Stimme nimmermehr dazu gegeben haben, sagte ein vierter. – Wer hätte aber auch gedacht, daß sich die Frösche in wenig Jahren so unmenschlich vermehren würden? sagte ein fünfter. – Ich sah es wohl vorher, sagte der Präsident der Akademie; aber ich habe mir zum Gesetze gemacht, mit den Priestern der Latona in Frieden zu leben.

Ich auch, sagte Meidias; aber unsre Umstände werden dadurch nichts gebessert.

Was ist also bei so gestalten Sachen anzufangen, meine Herren? frug endlich in seinem gewöhnlichen nieselnden Tone der Archon Onokradias.

Da sitzt eben der Knoten, antworteten die Ratsherren aus einem Munde! Wenn uns nur jemand sagen wollte, was anzufangen ist?

Was anzufangen ist? rief Meidias hastig, und hielt plötzlich wieder inne.

Es erfolgte eine allgemeine Stille in der Ratsstube. Die weisen Männer ließen ihre Häupter auf die Brust fallen, und schienen, mit Anstrengung aller ihrer Gesichtsmuskeln nachzusinnen, was anzufangen sei.

Aber wofür haben wir denn eine Akademie der Wissenschaften in Abdera? rief nach einer Weile der Archon zu allgemeiner Verwunderung aller Anwesenden. Denn man hatte ihn seit seiner Erwählung zum Archontat noch nie seine Meinung in einer rhetorischen Figur vorbringen hören.

Der Gedanke Seiner Hochweisheit ist unverbesserlich, versetzte der Ratsherr Meidias; man trage der Akademie auf, ihr Gutachten zu geben, durch was für Mittel –

Das ists eben, was ich meine, unterbrach ihn der Archon; wofür haben wir eine Akademie, wenn wir uns mit dergleichen subtilen Fragen die Köpfe zerbrechen sollen?

Vortrefflich! riefen eine Menge dicker Ratsherren, indem sie sich alle zugleich mit der flachen Hand über ihre platten Stirnen fuhren – die Akademie! die Akademie soll ein Gutachten stellen!

Ich bitte Sie, meine Herren, rief Hypsiboas, einer der Häupter der Republik; denn er war zur Zeit Nomophylax, erster Froschpfleger, und Mitglied des ehrwürdigen Collegiums der Zehnmänner. Aller dieser Würden ungeachtet lebte schwerlich im ganzen Abdera ein Mann, der an Latonen und ihren Fröschen im Herzen weniger Anteil nahm als er. Aber weil ihm der Jasonide Onokradias bei der letzten Archonswahl vorgezogen worden war, so hatte er sichs zum Grundsatz gemacht, dem neuen Archon immer und in allem zuwider zu sein. Er wurde daher von den Jasoniden und ihren Freunden nicht unbillig beschuldiget: daß er ein unruhiger Kopf sei, und mit nichts geringerm umgehe, als eine Partei im Rate zu formieren, welche sich allen Absichten und Schlüssen der Jasoniden (die freilich seit langer Zeit den Meister in der Stadt gespielt hatten) entgegen setzen sollte. – »Ich bitte Sie, meine Herren, übereilen Sie sich nicht«, rief Hypsiboas; »die Sache gehört nicht vor die Akademie, sie gehört vor das Collegium der Batrachotrophen. Es wäre wider alle gute Ordnung, und würde von den Priestern der Latona als die gröbste Beleidigung aufgenommen werden müssen, wenn man eine Frage von dieser Natur und Wichtigkeit der Akademie auftragen wollte!«

Es betrifft aber keine bloße Froschsache, Hochgeachteter Herr Nomophylax, sagte Meidias mit seiner gewöhnlichen spöttelnden Gelassenheit; leider! ists, Dank sei es den schönen Anstalten, die man seit einigen Jahren getroffen hat, eine Staatssache –

Und vielleicht die wichtigste, die jemals ein allgemeines Zusammentreten aller vaterländischgesinnten Gemüter notwendig gemacht hat, fiel ihm Stentor ins Wort; Stentor, einer der heißesten Köpfe in der Stadt, und der seiner polternden Stimme wegen viel im Senat vermochte. Die Jasoniden hatten ihn, wiewohl er nur ein Plebejer war, durch die Vermählung mit einer natürlichen Tochter des verstorbenen Erzpriesters Agathyrsus, auf ihre Seite gebracht, und pflegten sich gewöhnlich seiner guten Stimme zu bedienen, wenn etwas gegen den Nomophylax Hypsiboas durchzusetzen war, der eine eben so starke, wiewohl nicht völlig so polternde Stimme hatte als Stentor.

Wohl bekam es diesmals den Ohren der abderitischen Ratsherren, daß sie durch das ewige Koax Koax ihrer Frösche ein wenig dickhäutig geworden waren; sie würden sonst in Gefahr gewesen sein, bei dieser Gelegenheit völlig taub zu werden. Aber man war solcher Artigkeiten auf dem Rathause zu Abdera schon gewohnt, und ließ also die beiden mächtigen Schreier, gleich zween eifersüchtigen Bullen, einander so lange anbrüllen, bis sie – vor Heiserkeit nicht mehr schreien konnten.

Da es von diesem Augenblick an nicht mehr der Mühe wert war, ihnen zuzuhören, so fragte der Archon den Stadtschreiber: wieviel die Uhr sei? – und auf die Versicherung, daß die Mittagsessenszeit herannahe, wurde unverzüglich zur Umfrage geschritten.

Hier beliebe man sich zu erinnern, daß es auf dem Rathause zu Abdera bei Abfassung eines Schlusses niemals darum zu tun war, die Gründe, welche für oder wider eine Meinung vorgetragen worden waren, kaltblütig gegen einander abzuwägen, und sich auf die Seite desjenigen zu neigen, der die besten gegeben hatte: sondern man schlug sich entweder zu dem, der am längsten und lautsten geschrien hatte, oder zu dem, dessen Partei man hielt. Nun pflegte zwar die Partei des Archon in currenten Sachen fast immer die stärkere zu sein; aber diesesmal, da es (mit dem Präsidenten der Akademie zu reden) eine so schlüpfrige Sache betraf, würde Onokradias schwerlich die Oberhand erhalten haben, wenn Stentor seine Lungenflügel nicht so außerordentlich angegriffen hätte. Es wurde also mit 28 Stimmen gegen 22 beschlossen: daß der Akademie ein Gutachten abgefodert werden sollte, durch was für Mittel und Wege der übermäßigen Vermehrung der Frösche in und um Abdera (jedoch der schuldigen Ehrfurcht für Latonen und den Rechten ihres Tempels in alle Wege unbeschadet) Einhalt getan werden könnte?

Die Clausel hatte der Ratsherr Meidias ausdrücklich einrücken lassen, um die Partei des Nomophylax entweder zu gewinnen oder ihr wenigstens keinen Vorwand zu lassen, dessen sie sich bedienen könnte, das Volk gegen die Majorität aufzuwiegeln. Aber der Nomophylax und sein Anhang versicherten, daß sie nicht so einfältig wären, sich durch Clauseln eine Nase drehen zu lassen. Sie protestierten gegen den Schluß ad Protocollum, ließen sich davon Extractum in forma probante erteilen, und begaben sich unverzüglich in Procession zu dem Oberpriester Stilbon, um ihn von diesem unerhörten Eingriffe in die Rechte der Batrachotrophen und des Latonentempels Nachricht zu geben, und die Maßnehmungen abzureden, welche zu Aufrechthaltung ihres Ansehens schleunigst ergriffen werden müßten.

Viertes Kapitel
Charakter und Lebensart des Oberpriesters Stilbon
Verhandlung zwischen den Latonenpriestern und den Ratsherren von der Minorität
Stilbon sieht die Sache aus einem eignen Gesichtspunct an, und geht, dem Archon selbst Vorstellungen zu machen
Merkwürdige Unterredung zwischen den Zurückgebliebnen

Der Oberpriester Stilbon war bereits der dritte, der dem ehrwürdigen Strobylus (dessen Asche im Frieden ruhe!) in dieser Würde gefolgt war. In den Charakteren dieser beiden Männer war, den Eifer für die Sache ihres Ordens ausgenommen, sonst wenig ähnliches. Stilbon hatte von Jugend an die Einsamkeit geliebt, und sich in den unzugangbarsten Gegenden des Latonenhains, oder in den abgelegensten Winkeln ihres Tempels mit Speculationen beschäftigt, die desto mehr Reiz für seinen Geist hatten, je weiter sie sich über die Grenzen der menschlichen Erkenntnis zu erheben schienen; oder, richtiger zu reden, je weniger sich der mindeste praktische Gebrauch zum Vorteil des menschlichen Lebens davon machen ließ. Gleich einer unermüdeten Spinne saß er im Mittelpunct seiner Gedanken- und Wortgewebe; ewig beschäftigt, den kleinen Vorrat von Ideen, den er in dem engen Bezirke des Latonentempels und bei einer so abgeschiedenen Lebensart hatte erwerben können, in so klare und dünne Fäden auszuspinnen, daß er alle die unzählbaren leeren Zellen seines Gehirns über und über damit austapezieren konnte.

Außer diesen metaphysischen Speculationen hatte er sich am meisten mit den Altertümern von Abdera, Thracien und Griechenland, und besonders mit der Geschichte aller festen Länder, Inseln und Halbinseln, die (nach uralten Traditionen) einst da gewesen, aber seit undenklichen Zeiten nicht mehr da waren, zu tun gemacht. Der ehrliche Mann wußte kein Wort davon, was zu seiner eignen Zeit in der Welt vorging, und noch weniger, was 50 Jahre vor seiner Zeit darin vorgegangen; sogar die Stadt Abdera, an deren einem Ende er lebte, war ihm wenig bekannter als Memphis oder Persepolis. Dafür aber war er desto einheimischer in dem alten Pelasgerlande, wußte genau, wie jedes Volk, jede Stadt und jeder kleine Flecken geheißen, ehe sie ihren gegenwärtigen Namen führten; wußte, wer jeden in Ruinen liegenden Tempel gebauet hatte, und zählte die Successionen aller der Könige an den Fingern her, die vor der Überschwemmung Deukalions unter den Toren ihrer kleinen Städte saßen, und jedem Recht sprachen, der – sichs nicht selbst zu verschaffen im Stande war. Die berühmte Insel Atlantis war ihm so bekannt, als ob er alle ihre herrlichen Paläste, Tempel, Marktplätze, Gymnasien, Amphitheater u.s.w. mit eignen Augen gesehen hätte; und er würde untröstbar gewesen sein, wenn ihm jemand in seinem dicken Buche von den Wanderungen der Insel Delos, oder in irgend einem andern von den dicken Büchern, die er über eben so interessante Materien hatte ausgehen lassen, die kleinste Unrichtigkeit hätte zeigen können.

Mit allen diesen Kenntnissen war Stilbon freilich ein sehr gelehrter, aber auch, ungeachtet derselben, ein sehr beschränkter, und in allen Sachen, die das praktische Leben betrafen, höchsteinfältiger Mann. Seine Begriffe von den menschlichen Dingen waren fast alle unbrauchbar, weil sie selten oder nie auf die Fälle paßten, wo er sie anwandte. Er urteilte immer schief von dem, was gerade vor ihm stund, schloß immer richtig aus falschen Vordersätzen, wunderte sich immer über die natürlichsten Ereignisse, und erwartete immer einen glücklichen Erfolg von Mitteln, die seine Absichten notwendig vereiteln mußten. Sein Kopf war und blieb, so lang er lebte, ein Sammelplatz aller populären Vorurteile. Das blödeste alte Mütterchen in Abdera war nicht leichtgläubiger als er; und, so ungereimt es vielen unsrer Leser scheinen wird, so gewiß ist es, daß er vielleicht der einzige Mann in Abdera war, der in vollem Ernst an die Frösche der Latona glaubte.

Bei allem dem wurde der Oberpriester Stilbon durchgehends für einen wohlgesinnten und friedliebenden Mann gehalten – und in so ferne man ihm die negativen Tugenden, die eine notwendige Folge seiner Lebensart, seines Standes und seiner Neigung zum speculativen Leben waren, für voll anrechnete: so konnte er allerdings für weiser und besser gelten, als irgend einer seiner Mitabderiten. Diese letztern hielten ihn für einen Mann ohne Leidenschaften, weil sie sahen, daß nichts von allem, was die Begierden andrer Leute zu reizen pflegt, Gewalt über ihn hatte. Aber sie dachten nicht daran, daß er auf alle diese Dinge keinen Wert legte: entweder, weil er sie nicht kannte; oder, weil er durch eine lange Gewohnheit, bloß in Speculationen zu leben, sich Untüchtigkeit und Abneigung zu allem, was andre Gewohnheiten voraussetzt, zugezogen hatte.

Indessen hatte der gute Stilbon, wiewohl ohne es selbst zu wissen, eine Leidenschaft, welche ganz allein hinreichend war, soviel Unheil in Abdera anzustiften, als alle übrigen, die er nicht hatte und das war die Leidenschaft für seine Meinungen. Selbst aufs vollkommenste von ihrer Wahrheit überzeugt, konnte er nicht begreifen, wie ein Mensch, wenn er auch nichts als seine bloßen fünf Sinne und den allgemeinsten Menschenverstand hätte, über irgend etwas eine andre Vorstellungsart haben könne, als er. Wenn sich also dieser Fall zutrug, so wußte er sich die Möglichkeit desselben nicht anders zu erklären, als durch die Alternative: daß ein solcher Mensch entweder nicht bei Sinnen – oder daß er ein boshafter, vorsetzlicher und verstockter Feind der Wahrheit, und also ein ganz verabscheuenswürdiger Mensch sein müsse. Durch diese Denkart war der Oberpriester Stilbon, mit aller seiner Gelehrsamkeit und mit allen seinen negativen Tugenden, ein gefährlicher Mann in Abdera; und würde es noch ungleich mehr gewesen sein, wenn seine Indolenz und sein entschiedener Hang zur Einsamkeit nicht alles, was um ihn her geschah, so weit von ihm entfernt hätte, daß es ihm selten bedeutend genug vorkam, um die mindeste Kenntnis davon zu nehmen.

Ich habe nie gehört, daß man Ursache haben könnte, sich über eine allzugroße Menge der Frösche zu beklagen, sagte Stilbon ganz gelassen, als der Nomophylax mit seinem Vortrag zu Ende war.

Davon soll itzt die Rede nicht sein, Herr Oberpriester, versetzte jener. Der Senat ist über diesen Punct so ziemlich einer Meinung, und, ich denke, die ganze Stadt dazu. Aber daß der Akademie aufgetragen worden, die Mittel und Wege, wodurch der übermäßigen Froschmenge am füglichsten abgeholfen werden könne, vorzuschlagen: das ists, was wir niemals zugeben können.

Hat der Senat der Akademie einen solchen Auftrag getan? fragte Stilbon.

»Sie hören ja, rief Hypsiboas etwas ungeduldig; das ists ja eben, was ich Ihnen sagte, und warum wir da sind.«

So hat der Senat einen Schritt getan, wobei ihn seine gewöhnliche Weisheit gänzlich verlassen hat, erwiderte der Priester eben so kaltblütig wie zuvor. Haben Sie den Ratschluß bei sich?

»Hier ist eine Abschrift davon!«

Hm, hm, sagte Stilbon und schüttelte den Kopf, nachdem er ihn sehr bedächtlich ein- oder zweimal überlesen hatte; hier sind ja beinahe so viel Absurditäten als Worte! Primo: muß erst erwiesen werden, daß zu viel Frösche in Abdera sind; oder vielmehr, dies kann in Ewigkeit nicht erwiesen werden. Denn, um bestimmen zu können, was zu viel ist, muß man erst wissen, was genug ist; und dies ist gerade, was wir unmöglich wissen können, es wäre denn, daß der delphische Apollo, oder seine Mutter Latona selbst, uns durch ein Orakel darüber verständigen wollte. Die Sache ist sonnenklar. Denn da die Frösche unmittelbar unter dem Schutz und Einfluß der Göttin stehen: so ist es ungereimt zu sagen, daß ihrer jemals mehr seien, als der Göttin beliebt; und also braucht die Sache nicht nur gar keiner Untersuchung, sondern sie läßt auch keine Untersuchung zu. Secundo: gesetzt, daß der Frösche wirklich zu viel wären, so ist es doch ungereimt, von Mitteln und Wegen zu reden, wodurch ihre Anzahl vermindert werden könnte. Denn es gibt keine solche Mittel und Wege, wenigstens keine, die in unsrer Willkür stehen, welches eben so viel ist, als ob es gar keine gebe. Tertio: ist es ungereimt, der Akademie einen solchen Auftrag zu machen. Denn die Akademie hat nicht nur kein Recht, über Gegenstände von dieser Wichtigkeit zu erkennen, sondern sie besteht auch, wie ich höre, größtenteils aus Witzlingen und seichten Köpfen, die von solchen Dingen gar nichts verstehen; und zum klaren Beweis, daß sie nichts davon verstehen, sollen sie, wie ich höre, sogar albern genug sein, darüber zu scherzen und zu spotten. Ich traue diesen armen Leuten zu, daß es aus Unverstand geschieht. Denn, hätten sie mein Buch von den Altertümern des Latonentempels mit Bedacht gelesen: so müßten sie entweder aller Sinne beraubt, oder offenbare Bösewichter sein, wenn sie der Wahrheit, die ich darin sonnenklar dargelegt habe, widerstehen könnten. Das Senatusconsultum ist also, wie gesagt, durchaus ungereimt, und kann folglich von keinem Effect sein, indem ein absurder Satz eben so viel ist, als gar kein Satz. Sagen Sie dies unsern gnädigen Herren in der nächsten Session, hochgeachteter Herr Nomophylax! Δευτεραι φροντιδες σοφοτεραι. Unsre gnädigen Herren werden sich unfehlbar eines Bessern besinnen; und solchenfalls werden wir am besten tun, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

»Herr Oberpriester«, antwortete ihm Hypsiboas, »Sie sind ein grundgelehrter Mann, das wissen wir alle. Aber, nehmen Sie mir nicht übel, auf Welthändel und Staatssachen verstehen Sich Ew. Ehrwürden nicht. Die Majora im Senat haben einen Schluß gefaßt, der den Gerechtsamen der Batrachotrophen präjudicierlich ist. Indessen nach der Regel »Majora concludunt« bleibts bei diesem Ratsschlusse, und der Archon wird ihn zur Execution gebracht haben, eh ich in der nächsten Session Ihre logikalischen Einwendungen vortragen könnte, wenn ich mich auch damit beladen wollte.«

Es kommt aber ja in solchen speculativen Dingen nicht auf die Majora, sondern auf die Saniora an, sagte Stilbon.

»Vortrefflich, Herr Oberpriester«, versetzte der Nomophylax. »Das ist ein Wort! Die Saniora! die Saniora haben ohnstreitig Recht. Die Frage ist also itzt nur, wie wir es anzugreifen haben, daß sie auch Recht behalten. Wir müssen auf ein schleuniges Mittel denken, die Vollstreckung des Ratsschlusses zu suspendieren.

Ich will Sr. Gnaden, dem Archon, augenblicklich mein Buch von den Altertümern des Latonentempels schicken. Er muß es noch nicht gelesen haben. Denn in dem Kapitel von den Fröschen ist alles, was über diesen Gegenstand zu sagen ist, ins Klare gesetzt.«

Der Archon hat in seinem Leben kein Buch gelesen, Herr Oberpriester, (sagte einer von den Ratsherren lachend,) als das abderitische Intelligenzblatt; dies Mittel wird nicht anschlagen, dafür bin ich Ihnen gut!

Desto schlimmer, erwiderte Stilbon. In was für Zeiten leben wir, wenn das wahr ist? Wenn das Oberhaupt des Staats ein solches Beispiel gibt – Doch, ich kann unmöglich glauben, daß es schon so weit mit Abdera gekommen sei.

»Sie sind auch gar zu unschuldig, Herr Oberpriester, sagte der Nomophylax. Aber lassen wir das auf sich beruhen! Es stünde noch gut genug, wenn das der größte Fehler des Archons wäre.«

»Ich sehe nur ein Mittel in der Sache, sprach itzt einer von den Priestern, Namens Pamphagus; das hochpreisliche Collegium der Zehnmänner ist über den Senat – folglich –«

Um Vergebung, fiel ihm ein Ratsherr ins Wort, nicht über den Senat, sondern nur –

»Sie haben mich nicht ausreden lassen, sagte der Priester etwas hitzig. Die Zehnmänner sind nicht über den Senat, in Justiz- Staats- und Policeisachen. Aber da alle Sachen, wobei der Latonentempel betroffen ist, vor die Zehnmänner gehören, und von ihrer Entscheidung nicht weiter appelliert werden kann: so ist klar, daß –«

Die Zehnmänner nicht über den Senat sind; fiel jener ein; denn der Senat behängt sich mit Latonensachen gar nicht, und kann also nie mit den Zehnmännern in Collision kommen.

»Desto besser für den Senat, sagte der Priester. Aber, wenn sich denn ja einmal der Senat beigehen ließe, über einen Gegenstand, der dem Dienst der Latona wenigstens sehr nahe verwandt ist, erkennen zu wollen, wie dermalen wirklich der Fall ist: so sehe ich kein ander Mittel, als die Zehnmänner zusammenberufen zu lassen.«

Das kann nur der Archon, wandte Hypsiboas ein, und natürlicherweise wird er sich dessen weigern.

»Er kann sich nicht weigern, wenn er von dem Collegio der Priester darum angegangen wird«, sagte Pamphagus.

Herr College, ich bin nicht Ihrer Meinung, fiel der Oberpriester ein. Es wäre wider die Würde der Zehnmänner, und sogar wider die Ordnung, wenn wir in vorliegendem Falle auf ihre Zusammenberufung dringen wollten. Die Zehnmänner können und müssen sich versammeln, wenn die Religion wirklich verletzt worden ist. Wo ist aber hier die Verletzung? Der Senat hat einen absurden Schluß gefaßt, das ist alles. Es ist schlimm, aber nicht schlimm genug; Sie müßten denn erweisen können, daß die Zehnmänner darum da seien, den Senat zu syndicieren, wenn er ungereimte Schlüsse macht.

Der Priester Pamphagus biß die Lippen zusammen, drehte sich nach dem Sitze des Nomophylax, und murmelte ihm etwas ins linke Ohr.

Stilbon, ohne darauf Acht zu geben, fuhr fort: ich will stehenden Fußes selbst zum Archon gehen. Ich will ihm mein Buch von den Altertümern des Latonentempels bringen. Er soll das Kapitel von den Fröschen lesen! Es ist unmöglich, daß er nicht sogleich von der Ungereimtheit des Ratsschlusses überzeugt werde.

»So gehen Sie dann und versuchen Sie Ihr Heil«, sagte der Nomophylax. Der Oberpriester ging unverzüglich.

Was das für ein Kopf ist! sagte der Priester Pamphagus, wie er weggegangen war.

Er ist ein sehr gelehrter Mann, versetzte der Ratsherr Bucephalus; aber –

Ein gelehrter Mann? (sagte jener.) Was nennen Sie gelehrt? Gelehrt in lauter Dingen, die kein Mensch zu wissen verlangt – –

Davon können Ew. Ehrwürden besser urteilen als unser einer, erwiderte der Ratsherr; ich verstehe nichts davon; aber es ist mir doch immer unbegreiflich vor gekommen, daß ein so gelehrter Mann in Geschäftssachen so einfältig sein kann wie ein kleines Kind.

Es ist unglücklich für den Latonentempel, sagte ein andrer Priester –

Und für den ganzen Staat, setzte ein dritter hinzu.

Das weiß ich eben nicht, sprach der Nomophylax mit einem spitzfündigen Naserümpfen; wir wollen aber bei der Sache bleiben. Die Herren scheinen mir sämtlich der Meinung zu sein, daß die Zehnmänner zusammenberufen werden müßten – –

Um so mehr, sagte einer der Ratsherren – weil wir gewiß sind, die Majora gegen den Archon zu machen.

Wenn wir uns nicht besser helfen können, fuhr der Nomophylax fort, so bin ichs zufrieden. Aber sollten wir in einer Sache, wobei Latona und ihre Priesterschaft auf unsrer Seite sind, uns nicht noch besser helfen können? Machen wir nicht beinahe die Hälfte des Rats aus? Wir sind bloß mit sechs Stimmen majorisiert worden; und wenn wir fest zusammenhalten – –

Das wollen wir, schrien die Ratsherren aus voller Kehle.

»Ich habe einen Gedanken, meine Herren; aber ich muß ihn reifer werden lassen. Erkiesen Sie zwei oder drei aus Ihrem Mittel, mit denen ich mich diesen Abend auf meinem Gartenhause näher von der Sache besprechen könne. Es wird sich inzwischen zeigen, wie weit es der Oberpriester mit dem Archon Onokradias gebracht haben wird.«

Ich wette meinen Kopf gegen eine Melone, sagte der Priester Charox, er wird aus arg ärger machen.

Desto besser, sagte der Nomophylax.

Fünftes Kapitel
Was zwischen dem Oberpriester und dem Archon vorgefallen – eines der lehrreichsten Kapitel in dieser ganzen Geschichte

Während daß dies in dem Vorsaal des Oberpriesters verhandelt wurde, hatte sich dieser in eigner Person zum Archon erhoben, und über eine Sache, woran dem Archon viel gelegen sei, Audienz verlangt.

O, das wird ganz gewiß die Frösche betreffen, sagte der Ratsherr Meidias, der eben allein bei dem Archon war, und ihm berichtet hatte, daß man den Nomophylax mit seinem ganzen Anhang nach dem Latonentempel gehen gesehen habe.

Daß doch der Henker – verzeih mirs Latona! alle Frösche hätte, rief Onokradias ungeduldig; da wird mir der sauertöpfische Pfaffe die Ohren so voll Warums und Darums schwatzen, daß ich am Ende nicht wissen werde, wo mir der Kopfsteht! Helfen Sie mir, ich bitte Sie, von dem gespenstmäßigen alten Kerl!

Meidias lachte über die Verlogenheit des Archons. Hören Sie ihm immer an, sagte er; aber halten Sie fest über Ihrem Ansehen, und an dem Grundsatze, daß Not kein Gesetz hat. Wir können uns doch wahrlich nicht von Fröschen auffressen lassen; und wenn's so fortgehen sollte wie bisher, so möchte uns Latona eben sowohl allzumal in Frösche verwandeln. Es wäre immer noch das Glücklichste, was uns widerfahren könnte, wenn uns nicht bald auf andre Weise geholfen wird. Allenfalls kann's auch nicht schaden, wenn Ew. Gnaden dem Priester zu verstehen geben, daß Jason auch einen Tempel zu Abdera hat, und daß Götter nur in so fern Götter sind als sie Gutes tun.

Schön, schön, sagte der Archon. Wenn ich nur alles so behalten könnte, wie Sie mir's da gesagt haben! Aber ich will mich schon zusammennehmen. Laßt den Priester nur anrücken! Gehn Sie indessen in mein Cabinet, Meidias. Sie werden eine feine Anzahl kleiner Stücke vom Parrhasius darin finden, die man nicht überall sieht – Aber sagen Sie meiner Frau nichts davon! Sie verstehen mich doch?

Meidias schlich sich in das Cabinet; der Archon stellte sich in Positur, und Stilbon wurde vorgelassen.

»Gnädiger Herr Archon, sagte er, ich komme Ew. Gnaden einen guten Rat zu geben, weil ich eine große Meinung von Dero Weisheit hege, und gerne Unheil verhüten möchte.«

Ich danke Ihnen für beides, Herr Oberpriester! Ein guter Rat findet, wie Sie wissen, eine gute Statt. Was haben Sie anzubringen?

»Der Senat, fuhr Stilbon fort, hat sich, wie ich höre, in Sachen, die Frösche der Latona betreffend, eines übereilten Schlusses schuldig gemacht«

Herr Oberpriester! – –

»Ich sage nicht, daß sie es aus bösem Willen getan. Die Menschen sündigen bloß, weil sie unwissend sind. Hier bringe ich Ew. Gnaden ein Buch, woraus Sie sich belehren können, was es mit unsern Fröschen für eine Bewandtnis hat. Es hat mir viele Mühe und Nachtwachen gekostet. Sie können daraus lernen, daß die Akademie, die von gestern her ist, kein Recht haben kann über Frösche zu erkennen, die so alt sind, als die Gottheit der Latona. Die Frösche zu Abdera sind, wie wir alle wissen sollten, ganz ein ander Ding als die Frösche anderer Orte in der Welt. Sie gehören der Latona an. Sie sind niemals aussterbende Zeugen und lebendige Documente ihrer Gottheit. Es ist Unsinn, zu sagen, daß ihrer zu viel sein könnten, und ein Sacrilegium, von Mitteln zu reden, wodurch ihre Anzahl vermindert werden soll.«

Ein Sacrilegium, Herr Oberpriester?

»Ich verdiente nicht Oberpriester zu sein, wenn ich zu solchen Dingen schweigen wollte. Denn wenn wir einmal zugelassen hätten, daß die Anzahl der Latonenfrösche vermindert werden dürfe: so möchten unsre noch schlimmern Nachkommen wohl gar so weit verfallen, sie gänzlich ausrotten zu wollen. Wie gesagt, in diesem Buche werden Ew. Gnaden alles finden, was von der Sache zu glauben ist. Sorgen Sie dafür, daß Abschriften davon gemacht, und jedes Haus mit einem Exemplar versehen werde. Ist dies geschehen, dann wird das Sicherste sein, gar nicht mehr über die Sache zu raisonnieren. Die Akademie mag sonst Gutachten stellen worüber sie immer will. Die ganze Natur liegt vor ihr offen. Sie kann reden vom Elephanten bis zur Blattlaus, vom Adler bis zur Wassermotte, vom Walfisch bis zur Schmerle, und von der Zeder bis zum Lykopodion; aber von den Fröschen soll sie schweigen!«

Herr Oberpriester, sagte der Archon, die Götter sollen mich bewahren, daß ich mir jemals einfallen lasse zu untersuchen, was es mit ihren Fröschen für eine Bewandtnis hat. Ich bin Archon, um alles in Abdera zu lassen wie ich es gefunden habe. Indessen liegt am Tage, daß wir uns vor lauter Fröschen nicht mehr rühren können; und diesem Unwesen muß gesteuert werden. Denn schlimmer darfs nicht mit uns werden, das sehen Sie selbst. Unsre Vorältern begnügten sich, den geheiligten Teich zu unterhalten, und wer seinen eignen Froschgraben haben wollte, dem stund's frei. Dabei hätte man's lassen sollen. Da es aber nun einmal so weit mit uns gekommen ist, daß wir nächstens in Gefahr sind, lebendig oder tot von Fröschen gegessen zu werden: so werden uns Ew. Ehrwürden doch wohl nicht zumuten wollen, daß wirs darauf ankommen lassen sollen? Denn wenn einer von Fröschen gegessen würde, so möcht's ihm wohl ein schlechter Trost sein, zu denken, daß es keine gemeine Frösche seien. Kurz und gut, Herr Oberpriester! die Akademie soll ihr Gutachten stellen, weil ihr's vom Senat aufgetragen worden ist, und – mit aller Achtung, die ich Ew. Ehrwürden schuldig bin, ich werde Ihr Buch nicht lesen; und es soll mir ein für allemal ausgemacht werden, ob die Frösche um der Abderiten willen, oder die Abderiten um der Frösche willen da sind. Denn sobald die Republik durch die Frösche in Gefahr gesetzt wird, sehen Sie, so wird eine Staatssache daraus, und da haben die Priester der Latona nichts drein zu reden, wie Sie wissen. Denn Not hat kein Gesetz, und – mit einem Wort Herr Oberpriester, wir wollen uns nicht von Ihren Fröschen essen lassen. Sollten Sie aber wider Verhoffen darauf bestehen: so täte mirs leid, wenn ich Ihnen sagen müßte, daß der Latonentempel nicht der einzige in Abdera ist, und das goldne Vließ, dessen Verwahrung die Götter meiner Familie anvertraut haben, könnte vielleicht eine bisher noch unerkannte Tugend äußern, und Abdera auf einmal von – aller Not befreien. Mehr will ich nicht sagen. Aber merken Sie sich das, Herr Oberpriester! Der Krug geht so lange zum Wasser, bis er bricht.

Der gute Oberpriester wußte nicht, ob er wache oder träume, da er den Archon, den er immer für einen wohldenkenden und exemplarischen Regenten gehalten hatte, eine solche Sprache führen hörte. Er stund eine Weile da, ohne ein Wort hervorbringen zu können; nicht weil er nichts zu sagen wußte, sondern weil er soviel zu sagen hatte, daß er nicht wußte, wo er anfangen sollte. Das hätte ich nimmermehr für möglich gehalten, fing er endlich an, daß ich die Zeit erleben sollte, wo der Oberpriester der Latona aus dem Munde eines Archons hören müßte, was ich gehört habe!

Dem Archon fing bei diesen Worten an unheimlich zu werden. Denn, weil er selbst nicht mehr so eigentlich wußte, was er dem Oberpriester gesagt hatte, so wurde ihm bange, daß er mehr gesagt haben möchte, als sich geziemte. Er sah mit einiger Verlegenheit nach der Kabinettüre, als ob er seinen geheimen Rat Meidias gerne zu Hülfe gerufen hätte. Da er sich aber diesmal allein helfen mußte, so zupfte er sich wechselsweise bald an der Nase, bald am Bart, hustete, räusperte sich, und erwiderte endlich dem Oberpriester mit aller Würde, die er sich in der Eile geben konnte: Ich weiß nicht wie ich das nehmen soll, was Sie mir da sagten. Aber das weiß ich, wenn Sie was gehört zu haben glauben, das Sie nicht hätten hören sollen, so müssen Sie mich ganz unrecht verstanden haben. Sie sind ein sehr gelehrter Mann, und ich trage alle mögliche Achtung für Ihre Person und Ihr Amt –

Sie wollen also mein Buch lesen? fragte Stilbon.

»Das eben nicht – aber – wenn Sie darauf bestehen – wenn Sie glauben, daß es schlechterdings –«

Man soll das Gute niemand aufdringen, sagte der Priester mit einer Empfindlichkeit, über die er nicht Meister war. Ich will es Ihnen da lassen. Lesen Sie es oder nicht! Desto schlimmer für Sie, wenn Ihnen gleichgültig ist, ob Sie richtig oder unrichtig denken –

Herr Oberpriester, fiel ihm der Archon, der endlich auch warm zu werden anfing, ins Wort, Sie sind ein empfindlicher Mann, wie ich sehe. Ich verdenk' es Ihnen zwar nicht, daß Ihnen die Frösche am Herzen liegen, denn dafür sind Sie Oberpriester. Sie sollten aber auch bedenken, daß ich Archon über Abdera und nicht über einen Froschteich bin. Bleiben Sie in Ihrem Tempel, und regieren Sie dort wie Sie wollen und können; auf dem Rathause lassen Sie uns regieren. Die Akademie soll ihr Gutachten über die Frösche stellen, dafür geb' ich Ihnen mein Wort- und es soll Ihnen communiciert werden, eh der Senat einen Schluß darüber faßt, darauf können Sie sich auch verlassen!

Der Oberpriester verschlang seinen Unwillen über den ganz unerwarteten schlechten Erfolg seines Besuchs so gut er konnte, machte seinen Bückling, und zog sich zurück, mit der Versicherung, daß er vollkommen überzeugt sei, daß der Senat nichts in Sachen weiter verfügen werde, ohne mit den Priestern des Latonentempels vorher einverstanden zu sein. Der Archon versicherte ihm dagegen zurück, daß ihm die Rechte des Latonentempels so heilig seien, als die Rechte des Senats und das Beste der Stadt Abdera; und somit schieden sie, nach Gestalt der Sachen, noch ziemlich höflich von einander.

Der – hat mir warm gemacht, sagte der Archon zum Ratsherrn Meidias, indem er sich mit seinem Schnupftuch die Stirne wischte.

Sie haben sich aber auch tapfer gehalten, versetzte der Ratsherr. Das Pfäffchen wird Gift und Galle kochen; aber seine Blitze sind nur von Bärenlappen. Man braucht nur sich auf seine Distinctionen und Syllogismen nicht einzulassen, so ist er geschlagen, und weiß weder wo aus noch wo ein.

Ja, wenn der Nomophylax nicht hinter ihm stäke, erwiderte der Archon. Ich wollte, daß ich mich nicht so weit herausgelassen hätte. Aber was das auch für eine Zumutung ist, das dicke Buch zu lesen, woran sich der hohläugige alte Kerl blind geschrieben hat! Wer hätte nicht ungeduldig werden sollen?

Sorgen Sie für nichts, Herr Archon! Wir haben die Akademie für uns, und in wenig Tagen sollen auch die Lacher in ganz Abdera auf unsrer Seite sein. Ich will Liedchen und Gassenhauer unter das Volk streuen. Der Balladenmacher Lelex soll mir die Geschichte der lycischen Froschbauern in eine Ballade bringen, über die sich die Leute krank lachen sollen. Man muß die Herren mit ihren Fröschen lächerlich machen. Auf eine feine Art, versteht sich; aber Schlag auf Schlag, Gassenhauer auf Gassenhauer! Sie sollen sehen, wie das Mittel anschlagen wird.

Ich will es herzlich wünschen, sagte der Archon; denn Sie können sich kaum vorstellen, wie mir die verwetterten Frösche diesen Sommer über meinen Garten zugerichtet haben! Ich kann den Jammer gar nicht mehr ansehen – Es fehlt uns nichts, als daß nächstens ein trocknes Jahr käme, und uns noch eine Armee von Feldmäusen und Maulwürfen über den Hals schickte!

Fürs erste wollen wir uns die Frösche vom Leibe schaffen, versetzte Meidias: für die Mäuse, die noch kommen sollen, wirds dann auch Mittel geben!

Aber was, zum Henker, soll ich mit dem dicken Buche machen, das mir der Oberpriester zurückgelassen hat? sagte der Archon – Sie werden mir doch nicht zumuten wollen, daß ichs lesen soll?

Da sei Jason und Medea für, Herr Archon, versetzte Meidias. Geben Sie mir's. Ich will's meinem Vetter Korax bringen, dem ohne Zweifel die Ausfertigung des Gutachtens von der Akademie aufgetragen werden wird. Er wird guten Gebrauch davon machen, dafür bin ich Ihnen Bürge.

Es mag schönes Zeug drin stehen – sagte der Archon.

Wenn's sonst zu nichts zu gebrauchen ist, erwiderte der Ratsherr, so machen wir's zu Pulver, und geben's den Ratten ein, die, nach Ew. Gnaden Weissagung, noch kommen sollen. Es muß ein herrliches Rattenpulver geben!

Sechstes Kapitel
Was der Oberpriester Stilbon tat, als er wieder nach Hause gekommen war

Das erste was der Oberpriester Stilbon tat, als er wieder in seiner Zelle angelangt war, war, daß er sich hinsetzte, und sein Werk von den Altertümern des Latonentempels vor die Hand nahm, in der Absicht, das Kapitel von den Fröschen, welches das größte Kapitel in dem ganzen Buche war, wieder zu durchlesen; und zwar (wie er sich wenigstens schmeichelte) mit aller Unparteilichkeit eines Richters, der kein ander Interesse bei der Sache hat, als die Entdeckung der Wahrheit. Denn so überzeugt er auch von den Resultaten seiner Untersuchungen war, so hielt er doch für billig und nötig, eh er sich weiter einließe, sein ganzes System und die Beweise desselben noch einmal Punct vor Punct zu prüfen; um es, wenn er's auch bei dieser neuen und scharfen Untersuchung wahr befände, desto zuversichtlicher gegen alle Anfechtungen des Witzes und der Modephilosophie seiner Zeit behaupten zu können.

Armer Stilbon! wenn du (wie ich lieber glauben als nicht glauben will) aufrichtig warst, was für ein betrügliches Ding ist es um eines Menschen Vernunft! und was für eine glatte verführerische Schlange ist die große Erzzauberin Eigenliebe!

Stilbon durchlas sein Kapitel von den Fröschen mit aller Unparteilichkeit, deren er fähig war; prüfte jeden Satz, jeden Beweis, jeden Syllogismus mit der Kaltblütigkeit eines Arcesilas, und – fand: »daß man entweder dem allgemeinen Menschensinn entsagen, oder von seinem System überzeugt werden müsse.«

Das kann nicht möglich sein, sagt ihr? – Um Verzeihung, das kann sehr möglich sein; denn es ist geschehen, und geschieht noch immer alle Tage. Nichts ist natürlicher. Der gute Mann liebte sein System wie sein eigen Fleisch und Blut. Er hatte es aus sich selbst gezeugt. Es war ihm statt Weib und Kind, statt aller Güter, Ehren und Freuden der Welt, auf die er bei seinem Eintritt in den Latonentempel Verzicht getan hatte; es war ihm über Alles. Als er sich hinsetzte, es von neuem zu prüfen, war er bereits so vollkommen von der Wahrheit und Schönheit desselben überzeugt, als von seinem eignen Dasein. Es erging ihm also natürlicherweise eben so, als wenn er sich hingesetzt hätte, um mit aller Kaltblütigkeit von der Welt zu untersuchen, ob der Schnee auf dem Gipfel des Hämus weiß oder schwarz sei?

»Daß die milischen Bauren, die der durstenden Latona aus ihrem Teiche zu trinken verwehrten, in Frösche verwandelt worden«, (sagte Stilbon in seinem Buche,) »das ist Tatsache -

Daß eine Anzahl dieser Frösche, auf die Art und Weise, wie die Tradition berichtet, nach Abdera in den Teich des Latonenhains versetzt worden, ist Tatsache.

Beide Facta gründen sich auf das, worauf sich alle historische Wahrheit gründet, auf menschlichen Glauben an menschliches Zeugnis; und so lange Abdera steht, hat sich kein vernünftiger Mensch einfallen lassen, dem allgemeinen Glauben der Abderiten an diese Facta zu widersprechen. Denn wer sie leugnen wollte, müßte ihre Unmöglichkeit beweisen können; und wo ist der Mensch auf Erden, der dies könnte?

Aber, ob die Frösche, die sich zu unsern heutigen Zeiten in dem geheiligten Teiche befinden, eben diejenigen seien, die von Latonen, oder (was auf Eines hinausläuft) von Jupitern auf Latonens Bitte, in Frösche verwandelt worden: darüber sind bisher verschiedene Meinungen gewesen.

Unsre Gelehrten haben größtenteils davor gehalten, daß die Unterhaltung des geheiligten Teichs als bloßes Institut unsrer Vorältern, und die darin aufbewahrten Frösche, als bloße Erinnerungszeichen der Macht unsrer Schutzgöttin, mit gebührender Ehre anzusehen seien.

Das gemeine Volk hingegen hat von diesen Fröschen immer eben so gesprochen und geglaubt, als ob sie die nämlichen wären, an denen das bekannte Wunder geschehen sei.

Und Ich – Stilbon, von Jupiters und Latonens Gnaden, zur Zeit Oberpriester von Abdera, habe nach reiflicher Erwägung der Sache befunden, daß dieser Glaube des Volks sich auf unumstößliche Gründe stützt; und hier ist mein Beweis! –« Der geneigte Leser würde sich wahrscheinlicherweise schlecht erbaut finden, wenn wir ihm diesen Beweis, so weitläuftig als er in besagtem Buch des Oberpriesters Stilbon vorgetragen ist, zu lesen geben wollten; zumal da wir alle von dem Ungrund desselben zum voraus wenigstens eben so vollkommen überzeugt sind, als es der gute Stilbon von dessen Gründlichkeit war. Wir begnügen uns also nur mit zwei Worten zu sagen: daß sich sein ganzes System über die mehrbesagten Frösche um eine heutigs Tages sehr gemeine, damals aber (in Abdera wenigstens) ganz neue, und (nach Stilbons ausdrücklicher Versicherung) von ihm selbst erfundene Hypothese drehte; nämlich um die Lehre: »daß alle Zeugung nichts anders als Entwicklung ursprünglicher Keime sei. –« Stilbon fand diese Entdeckung, als er sie zuerst machte, so schön, und wußte sie mit so vielen dialektischen und moralischen Gründen (denn die Physik war seine Sache nicht) zu unterstützen, daß sie ihm mit jedem Tage wahrscheinlicher vorkam.

Endlich glaubte er sie auf den höchsten Grad der Wahrscheinlichkeit gebracht zu haben. Da nun von dieser zur Gewißheit nur noch ein leichter Sprung zu tun ist: was Wunder, daß ihm eine so sinnreiche, so subtile, so wahrscheinliche Hypothese – eine Hypothese, die er selbst erfunden, mit so vieler Mühe ausgearbeitet, mit allen seinen übrigen Ideen in Verbindung gesetzt, und zur Grundlage eines neuen durchaus raisonnierten Systems über die Latonenfrösche gemacht hatte, – zuletzt eben so gewiß, anschaulich und unzweifelhaft vorkam, als irgend ein Lehrsatz im Euklides?

»Als die milischen Bauren verwandelt wurden, (sagte Stilbon,) führten sie die Keime aller Bauren und Nichtbauren, die von damals an bis auf diesen Tag, und von diesem Tage bis ans Ende der Tage nach dem ordentlichen Lauf der Natur von ihnen entspringen konnten und sollten, in eben soviel ineinandergeschobenen Keimen bei sich; und in dem Augenblick, da besagte milische Bauren zu Fröschen wurden, wurden auch die sämtlichen Menschenkeime, die jeder bei sich führte, in Froschkeime verwandelt. Denn (sagt er) entweder wurden diese Keime vernichtet, oder sie wurden ranificiert, oder sie wurden gelassen wie sie waren. Das erste ist unmöglich, weil aus Etwas eben so wenig Nichts, als aus Nichts Etwas werden kann. Das dritte läßt sich auch nicht denken; denn wären die besagten Keime Menschenkeime geblieben, so müßten die milischen Ανϑρωποβατραχοι oder Menschenfrösche wirkliche Menschen gezeugt haben, welches wider die historische Wahrheit, und an sich selbst in alle Wege ungereimt ist. Es bleibt also nur das zweite übrig, nämlich: sie sind ranificiert, d.i. in Froschkeime verwandelt worden; und man kann also mit vollkommner Richtigkeit sagen: daß die Frösche, die sich auf diesen Tag in dem geheiligten Teiche befinden, und alle übrigen, deren Abstammung von denselben erweislich ist, folglich die sämtlichen Frösche in Abdera, eben diejenigen sind, welche von Latonen in Frösche verwandelt worden; nämlich in so fern sie damals in den froschwerdenden Bauern im Keim vorhanden waren, und zugleich uno eodemque actu mit ihnen verwandelt wurden.«

Dies nun ein für allemal als erwiesene Wahrheit angenommen, schien dem ehrlichen Stilbon nichts sonnenklarer (wie er zu sagen pflegte) als die Folgerungen, die gleichsam von selbst daraus abflossen. »So wie, zum Beispiel, eine vom Strahl getroffne Eiche, als eine Res sacra, als dem Donnerer Zeus angehörig und geheiligt, mit schaudernder Ehrfurcht angesehen wird: eben so müssen, sagte er, die von Latonen oder Jupitern verwandelten Menschenfrösche, nebst allen ihren im Keim mitverwandelten Abkömmlingen bis ins tausendste und zehntausendste Glied, als eine Art wundervoller der Latona angehöriger Mittelwesen angesehen, und also auch als solche behandelt und geehret werden. Sie sind zwar, dem Äußerlichen nach, Frösche wie andre; aber sie sind gleichwohl auch keine Frösche wie andre. Denn, da sie von Geburt und Natur Menschen gewesen waren, und alles was wir von Natur und Geburt sind uns einen unauslöschlichen Charakter gibt: so sind sie nicht sowohl Frösche als Froschmenschen, und also in gewissem Sinne noch immer unsers Geschlechts, unsre Brüder, unsre verunglückten Brüder, zu unsrer Warnung mit dem furchtbaren Stempel der Rache der Götter bezeichnet, aber eben darum unsers zärtlichsten Mitleidens würdig. – Doch nicht nur unsers Mitleidens (setzte Stilbon hinzu), sondern auch unsrer Ehrerbietung; da sie fortdaurende unverletzliche Denkmäler der Macht unsrer Göttin sind, an denen man sich nicht vergreifen kann, ohne sich an ihr selbst zu vergreifen; indem ihre Erhaltung durch so viele Jahrhunderte der redendste Beweis ist, daß sie solche erhalten wissen wolle.«

Der gute Oberpriester – ein Mann, der unsern Lesern so gar verächtlich, wie er ihnen vermutlich ist, nicht vorkommen würde, wenn sie sich recht an seinen Platz zu stellen wüßten hatte den ganzen Abend mit Durchlesung und Überdenkung seines Kapitels über die Frösche zugebracht, und sich in die Bestrebung, sein System mit neuen Gründen zu befestigen, so vertieft, daß ihm gänzlich aus dem Sinne gekommen war, wie er dem Nomophylax versprochen habe, ihm von dem Erfolg seines Besuchs bei dem Archon Nachricht zu geben. Er erinnerte sich dessen nicht eher, als da er um die Dämmerungszeit die Türe seiner Zelle aufgehen hörte, und den Nomophylax in eigner Person vor sich stehen sah.

»Ich habe Ihnen nicht viel tröstliches zu berichten, rief er ihm entgegen; wir sind in schlechtern Händen als ich mir jemals vorgestellt hätte. Der Archon weigerte sich, mein Buch zu lesen, vielleicht weil er überall gar nicht lesen kann.«

Dafür wollt' ich nicht Bürge sein, sagte Hypsiboas.

»Und er sprach in einem Tone, dessen ich mich zu einem Oberhaupte der Republik nimmermehr versehen hätte.«

Was sagte er denn?

»Ich danke dem Himmel, daß ich das Meiste wieder vergessen habe, was er sagte. Genug, er bestand darauf, daß die Akademie ihr Gutachten geben müßte –«

Das soll sie wohl bleiben lassen müssen, fiel der Nomophylax ein; die Gegenfröschler sollen mehr Widerstand finden, als sie sich vermuten waren. Aber, damit man uns nicht beschuldigen könne, daß wir gewalttätig zu Werke gehen, eh wir die gelindern Mittel versucht haben, ist die sämtliche Minorität entschlossen, dem Senat ungesäumt eine schriftliche Vorstellung zu tun, wofern die Latonenpriesterschaft geneigt ist, gemeine Sache mit uns zu machen.

»Von Herzen gerne, sagte Stilbon – ich will die Vorstellung selbst aufsetzen; ich will ihnen dartun«

Vor der Hand, unterbrach ihn der Nomophylax, kann es an einem kurzen Promemoria, welches ich bereits, sub spe rati et grati, aufgesetzt habe, genug sein. Wir müssen eine so gelehrte Feder wie die Ihrige auf den letzten Notfall aufsparen.

Der Oberpriester ließ sich zwar berichten; setzte sich aber vor, noch in dieser Nacht an einem kleinen Tractätchen zu arbeiten, worin er sein System über die Latonenfrösche in ein neues Licht setzen, und auf eine noch feinere Art, als es in seinem Werke von den Altertümern des Latonentempels geschehen war, allen Einwendungen zuvorkommen wollte, welche der Philosoph Korax dagegen machen könnte. Vorgesehene Pfeile schaden desto weniger, sagte er zu sich selbst. Ich will die Sache so klar und deutlich hinlegen, daß auch die Einfältigsten überzeugt werden sollen. Es müßte doch wahrlich nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn die Wahrheit ihre natürliche Macht über den Verstand der Menschen nur gerade in diesem Falle verloren haben sollte!

Siebentes Kapitel
Auszüge aus dem Gutachten der Akademie
Ein Wort über die Absichten, welche Korax dabei gehabt, mit einer Apologie, woran Stilbon und Korax gleichviel Anteil nehmen können

Inzwischen hatte, während aller dieser Bewegungen unter der Minorität des Senats und unter den Latonenpriestern, die Akademie eine Weisung bekommen, ihr Gutachten, »durch was für diensame Mittel der übermäßigen Froschmenge (den Gerechtsamen der Latona unbeschadet) aufs schleunigste gesteuert werden könnte«, binnen sieben Tagen an den Senat abzugeben.

Die Akademie ermangelte nicht, sich den nächstfolgenden Morgen zu versammeln. Da die Gegenfröschler zur Zeit den größten Teil derselben ausmachten: so wurde die Ausfertigung des Gutachtens dem Philosophen Korax aufgetragen; jedoch von Seiten des Präsidenten mit der ausdrücklichen Erinnerung: daß er sich aufs sorgfältigste hüten möchte, die Akademie in keine böse Händel mit der Latonenpriesterschaft zu verwickeln.

Korax versprach, daß er alle seine Weisheit aufbieten wolle, die Wahrheit, wo möglich, auf eine unanstößige Art zu sagen. Denn zum Unmöglichen, setzte er hinzu, ist, wie meine Hochgeehrten Herren wissen, niemand in keinem Falle verbunden.

Darin haben Sie recht, versetzte der Präsident: meine Meinung ging auch bloß dahin, daß Sie sich möglichst in Acht nehmen sollten. Denn der Wahrheit darf die Akademie freilich – so viel möglich – nichts vergeben.

Das ists was ich immer sage, erwiderte Korax.

»In was für eine seltsame Lage doch ein ehrlicher Mann kommen kann, sobald er das Unglück hat, ein Abderit zu sein!« sagte Korax zu sich selbst, da er sich anschickte, das Gutachten der Akademie über die Froschsache zu Papier zu bringen. »In welcher andern Stadt auf dem Erdboden würde man sichs einfallen lassen, einer Akademie der Wissenschaften eine solche Frage Vorzulegen? – Und gleichwohl ists dem Senat noch zum Verdienste anzurechnen, daß er noch so viel Verstand und Mut gehabt hat, die Akademie zu fragen. Es gibt Städte in der Welt, wo man so was nicht auf die Akademie ankommen läßt. Man muß gestehen, daß die Abderiten zuweilen vor lauter Narrheit auf einen guten Einfall stoßen!«

Korax setzte sich also an seinen Schreibtisch, und arbeitete mit so viel Lust und Liebe zum Ding, daß er noch vor Sonnenuntergang mit seinem Gutachten fertig war.

Da wir dem geneigten Leser eine, wo nicht ausführliche, doch hinlängliche Nachricht von dem System des Oberpriesters Stilbon gegeben haben: so erfodert die Unparteilichkeit, welche die erste Pflicht eines Geschichtschreibers ist, daß wir ihnen auch von dem Inhalt dieses akademischen Gutachtens wenigstens so viel mitteilen, als zum Verständnis dieser merkwürdigen Geschichte vonnöten zu sein scheint.

»Der hohe Senat, sagte Korax im Eingang seiner Schrift, setzt in dem der Akademie zugefertigten verehrlichen Ratsschlusse voraus, daß die Froschmenge in Abdera die Volksmenge dermalen in einem unmäßigen und enormen Grade übersteige; und überhebt dadurch die Akademie der unangenehmen Arbeit, erst beweisen zu müssen, was als eine stadt- und weltkundige Tatsache vor jedermanns Augen liegt.

Es gewinnt demnach das Ansehen, als ob die Akademie, bei so bewandter Sache, sich bloß über die Mittel zu erklären hätte, wodurch diesem Unwesen am schleunigsten abgeholfen werden kann.

Allein, da die Frösche in Abdera, vermöge eines uralten und ehrwürdig gewordnen Instituts und Glaubens unsrer Vorältern, Vorrechte erlangt haben, in deren Besitze sie zu stören vielen bedenklich, und manchen wohl gar unerlaubt scheinen mag; und da es, vermöge der Natur der Sache, leicht geschehen könnte, daß die einzigen diensamen Mittel, welche die Akademie in dem gegenwärtigen äußersten Notstande des gemeinen Wesens vorzuschlagen haben möchte, jenen wirklichen oder vermeinten Gerechtsamen der abderitischen Frösche Abbruch zu tun scheinen könnten: so wird es eben so zweckmäßig als unumgänglich sein, eine historisch-pragmatische Beleuchtung der Frage: ›was es mit unsern besagten Fröschen für eine besondere Bewandtnis habe‹, vorauszuschicken.

Die Akademie bittet sich also bei diesem theoretischen Teile ihres untertänigsten und unmaßgeblichen Gutachtens von allen hoch- und wohlansehnlichen Mitgliedern des hohen Senats um so mehr geneigte Aufmerksamkeit aus, als der glückliche Erfolg dieser ganzen der Republik so hoch angelegnen Sache lediglich von Berichtigung der Präliminarfrage abhängt: ob und in wiefern die Frösche zu Abdera als wirkliche Frösche anzusehen seien oder nicht?«

Diese Berichtigung nimmt in dem Gutachten selbst mehr als zwei Drittel des Ganzen ein. Der schlaue Philosoph, wohl eingedenk dessen, was er dem vorsichtigen Präsidenten versprochen, erwähnt der Verwandlung der milischen Bauern nur im Vorbeigehen, und mit aller Ehrerbietung, die man einer alten Volkssage schuldig ist. Er setzt sie, mit Beziehung auf das Buch des Oberpriesters Stilbon von den Altertümern des Latonentempels, als eine Sache voraus, die keinem mehrern Zweifel ausgesetzt ist, als die Verwandlung des Narcissus in eine Blume, des Cyknus in einen Schwan, der Daphne in einen Lorbeerbaum, oder irgend eine andre Verwandlung, die auf einem eben so festen Grunde beruhet. Wenn es auch nicht unzulässig und unanständig wäre, dergleichen uralte Sagen leugnen zu wollen: so wäre es, meint er, unverständig. Denn da es auf der einen Seite unmöglich sei, ihre Glaubwürdigkeit durch historische Zeugnisse umzustoßen, und auf der andern kein Naturforscher in der Welt im Stande sei, ihre absolute Unmöglichkeit zu erweisen: so werde jeder Verständige sich um so lieber enthalten sie zu bezweifeln, als er doch weiter nichts dagegen sagen könnte, als die gemeinen Plattheiten, »es ist unglaublich, es ist wider den Lauf der Natur« und dergleichen Formeln, die auch dem schalsten Kopfe beim ersten Anblick eben so gut einfallen mußten. Er betrachte also die Umgestaltung der milischen Bauern in Frösche als eine auf sich beruhende Sache; behaupte aber, daß ihre Wahrheit bei der vorliegenden Frage vollkommen gleichgültig sei. Denn es werde doch wohl niemand leugnen wollen, daß diese milischen Menschfrösche schon ein paar tausend Jahre wenigstens tot und abgetan seien – und gesetzt auch, daß die abderitischen Frösche ihre Abstammung von denselben genüglich erweisen könnten; so würden sie damit doch weiter nichts erwiesen haben, als daß sie seit undenklichen Zeiten von Vater zu Sohn wahre echtgebrochne Frösche seien. Denn so wie die mehrbesagten milischen Bauern durch ihre Verwandlung, und von dem Augenblick ihrer Einfroschung an, aufgehört hätten, Menschen zu sein, so hätten sie auch, von solchem Augenblick an, nichts anders als ihres gleichen, nämlich leibhafte natürliche Frösche zeugen können. Mit einem Wort, Frösche seien Frösche, und der Umstand, daß ihre ersten Stammväter vor ihrer Verwandlung milische Bauern gewesen, verändre eben so wenig an ihrer gegenwärtigen Froschnatur, als wenig ein von zwei und dreißig Ahnen her geborner Bettler für einen Prinzen angesehen werde, wenn gleich erweislich wäre, daß der erste Bettler seines Stammbaums in gerader Linie von Ninus und Semiramis entsprossen sei. Die Anhänger der entgegenstehenden Meinung schienen dieses auch selbst so gut einzusehen, daß sie, um die vorgebliche höhere Natur der abderitischen Frösche zu begründen, ihre Zuflucht zu einer Hypothese nehmen müßten, deren bloße Darstellung alle Widerlegung überflüssig mache.

Der scharfsinnige Leser (und es versteht sich von selbst, daß ein Werk wie dies keine andre Leser haben kann) wird sogleich ohne unser Erinnern bemerkt haben, daß Korax durch diese Einlenkung auf des Oberpriesters Stilbon System von den Keimen kommen wollte, welches er – ehe er es wagen durfte, mit seinem Vorschlag wegen Verminderung der Frösche hervorzurücken – entweder widerlegen oder lächerlich machen mußte.

Da von diesen zween Wegen der letzte zugleich der bequemste und der Fähigkeit der Hoch- und Wohlweisheiten, mit denen er's zu tun hatte, der angemessenste war: so begnügte sich Korax, das Unbegreifliche dieser Hypothese durch eine komische Berechnung der unendlichen Kleinheit der angeblichen Keime zum Ungereimten zu treiben.

»Wir wollen, sagte er, um die Aufmerksamkeit des hohen Senats nicht ohne Not mit arithmetischen Subtilitäten zu ermüden, annehmen, der Sohn des größten und dicksten von den froschgewordnen Miliern habe sich in seinem Keimstande zu seinem Vater verhalten wie 1 zu 10,000000. Wir wollen es, bloß um der runden Zahl willen, so annehmen; wiewohl ohne große Mühe zu erweisen wäre, daß der größte unter allen Homunculis, als ein Keim, wenigstens noch zehnmal kleiner ist, als ich angegeben habe. Nun steckt, nach des Priester Stilbons Meinung, in diesem Keim, nach gleicher Proportion verkleinert, der Keim des Enkels, im Keim des Enkels der Keim des Urenkels, und so in jedem folgenden Abkömmling bis ins tausendste Glied, immer mit jedem Grad 10 millionenmal kleiner, der Keim des nächstfolgenden; so daß der Keim eines itzt lebenden abderitischen Frosches, gesetzt daß er auch nur im dreißigsten Grade von seinem Stammvater dem milischen Froschmenschen entfernt wäre, damals da er sich als Keim in seinem besagten Stammvater befand, um so viele Millionen, Billionen, Trillionen u.s.w. kleiner als eine Käsemilbe hätte gewesen sein müssen, daß der geschwindeste Schreiber, den der hohe Senat von Abdera in seiner Kanzlei hat, in zweihundert Jahren mit allen den Nullen, die er, um diese Zahl zu bezeichnen, schreiben müßte, kaum fertig werden könnte; und das ganze Gebiet der preiswürdigen Republik (so viel nämlich davon noch nicht in Froschgräben verwandelt ist) schwerlich Raum genug für das Papier oder Pergament hätte, welches diese ungeheure Zahl zu fassen groß genug wäre. Die Akademie überläßt es dem Ermessen des Senats, ob das allerwinzigste aller kleinen Tierchen in der Welt winzig genug sei, sich von einer solchen unaussprechlich winzigen Kleinheit einen Begriff zu machen? und ob man also anders glauben könne, als daß dem ehrwürdigen Oberpriester etwas Menschliches begegnet sein müsse, da er die Hypothese von den Keimen erfunden, um der vorgeblichen Heiligkeit der abderitischen Frösche eine zwar nicht sehr scheinbare, aber wenigstens doch sehr dunkle und unbegreifliche Unterlage zu geben?

Die Akademie hat mit allem Fleiß die Einbildungskraft der erlauchten Väter des Vaterlandes nicht über die Gebühr anstrengen wollen. Wenn man aber bedenkt, wie kurz das natürliche Leben eines Frosches ist, und daß unsre dermaligen Frösche, nach der Voraussetzung, wenigstens im fünfhundertsten Grade von den milischen Bauern abstammen: so verliert sich die Hypothese des sehr ehrwürdigen Oberpriesters in einem solchen Abgrund von Kleinheit, daß es ungereimt, und, die Wahrheit zu sagen, grausam wäre, nur ein Wort weiter davon zu sagen.

Die Natur ist (wie die berühmte Aufschrift zu Sais sagt) alles was ist, was war und was sein wird, und ihren Schleier hat noch kein Sterblicher aufgedeckt. Die Akademie, von dieser großen Wahrheit tiefer als sonst irgend jemand durchdrungen, ist weit entfernt, sich einiger besondern und genauern Einsicht in Geheimnisse, welche unergründlich bleiben sollen, anzumaßen. Sie glaubt, daß es vergebens sei, von der Entstehungsart der organisierten Wesen mehr wissen zu wollen, als was die Sinnen bei einer anhaltenden Aufmerksamkeit davon entdecken. Und wenn sie es ja für erlaubt hält, dem angebornen Triebe des menschlichen Geistes – sich alles begreiflich machen zu wollen – durch Hypothesen nachzuhängen: so findet sie diejenige noch immer die natürlichste, vermöge deren die Keime der organischen Körper durch die geheimen Kräfte der Natur erst alsdann gebildet werden, wenn sie ihrer wirklich vonnöten hat. Dieser Erklärungsart zufolge, ist der Keim eines jeden itztlebenden quakenden Geschöpfes in allen Sümpfen und Froschgräben von Abdera nicht älter als der Moment seiner Zeugung, und hat mit dem individuellen Frosche, der zur Zeit des trojanischen Krieges quakte, und von welchem der itztlebende in gerader Linie abstammt, weiter nichts gemein, als daß die Natur beide nach einem gleichförmigen Modell, durch gleichförmige Werkzeuge, und zu gleichförmigen Absichten gebildet hat.«

Der Philosoph Korax, nachdem er ein langes und breites zu Befestigung dieser Meinung vorgebracht, zieht endlich die Folgerung daraus: daß die abderitischen Frösche eben so natürliche, gemeine und alltägliche Frösche seien als alle übrige Frösche in der Welt; und daß also die sonderbaren Vorrechte, deren sie sich in Abdera zu erfreuen hätten, sich nicht auf irgend eine Vorzüglichkeit ihrer Natur und vorgebliche Verwandtschaft mit der menschlichen, sondern bloß auf einen populären Glauben gründeten, welchen man, zu größtem Nachteil des gemeinen Wesens, allzulange unbestimmt und in einem Dunkel gelassen habe, unter dessen Begünstigung die Einbildungskraft der einen und der Eigennutz der andern freien Spielraum gehabt habe, mit diesen Fröschen eine Art von Unfug zu treiben, wovon man außerhalb Aegypten schwerlich ein ähnliches Beispiel in der Welt finden werde.

»Die Altertümer von Abdera (fährt er fort) liegen, ungeachtet alles Lichtes, welches der ehrwürdige und gelehrte Stilbon so reichlich über sie ausgegossen, noch immer – wie die Altertümer aller andern Städte in der Welt – in einem Nebel, dessen Undurchdringlichkeit dem wahrheitsbegierigen Forscher wenig Hoffnung läßt, seine Begierde jemals befriediget zu sehen. Aber, wozu hätten wir denn auch vonnöten, mehr davon zu wissen als wir wirklich wissen? Was es auch mit dem Ursprung des Latonentempels und seines geheiligten Froschgrabens für eine Bewandtnis haben mag, würde etwa, wenn wir diese Bewandtnis wüßten, Latona mehr oder weniger Göttin, ihr Tempel mehr oder weniger Tempel, und ihr Froschgraben mehr oder weniger Froschgraben sein? – Latona soll und muß in ihrem uralten Tempel verehrt, und ihr uralter Froschgraben soll und muß in gebührenden Ehren gehalten werden. Beides ist Institut unsrer ältesten Vorfahren, ehrwürdig durch das graueste Altertum, befestigt durch die Gewohnheit so vieler Jahrhunderte, unterhalten durch den ununterbrochnen fortgepflanzten allgemeinen Glauben unsers Volkes, geheiligt und unverletzlich gemacht durch die Gesetze unsrer Republik, welche die Bewachung und Beschützung desselben dem ansehnlichsten Collegio des Staats anvertraut haben. Aber, wenn Latona, oder Jupiter um Latonens willen, die milischen Bauren in Frösche verwandelt hat: folgt denn daraus, daß alle Frösche der Latona heilig sind, und sich des priesterlichen Vorrechts der persönlichen Unverletzlichkeit anzumaßen haben? Und, wenn unsre wackern Vorfahren für gut befunden haben, zum ewigen Gedächtnis jenes Wunders, im Bezirk des Latonentempels einen kleinen Froschgraben zu unterhalten: folgt denn daraus, daß ganz Abdera in eine Froschlache verwandelt werden muß?

Die Akademie kennt sehr wohl die Achtung, die man gewissen Meinungen und Gefühlen des Volks schuldig ist. Aber dem Aberglauben, in welchen sie immer auszuarten bereit sind, kann doch nur so lange nachgesehen werden, als er die Grenzen der Unschädlichkeit nicht gar zu weit überschreitet. Frösche können in Ehren gehalten werden; aber die Menschen den Fröschen auf zuopfern ist unbillig. Der Zweck, um dessentwillen die Abderiten, unsre Vorfahren, den geheiligten Froschteich einsetzten, hätte freilich auch durch einen einzigen Frosch erreicht werden können. Doch, laß es sein, daß ein ganzer Teich voll gehalten wurde; wenn es nur bei diesem einzigen geblieben wäre! Abdera würde darum nicht weniger blühend, mächtig und glücklich gewesen sein. Bloß der seltsame Wahn, daß man der Frösche und Froschteiche nicht zuviel haben könne, hat uns dahin gebracht, daß uns nun wirklich keine andre Wahl übrig bleibt als, uns entweder dieser überlästigen und allzufruchtbaren Mitbürger ungesäumt zu entladen, oder alle insgesamt mit bloßen Häuptern und Füßen nach dem Latonentempel zu wallen, und mit fußfälligem Bitten so lange bei der Göttin anzuhalten, bis sie das alte Wunder an uns erneuert, und auch uns, so viel unsrer sind, in Frösche verwandelt haben wird.

Die Akademie müßte sich sehr gröblich an der Weisheit der Häupter und Väter des Vaterlandes versündigen, wenn sie nur einen Augenblick zweifeln wollte, daß das Mittel, welches sie in einer so verzweifelten Lage vorzuschlagen aufgefodert worden, und das einzige, welches sie vorzuschlagen im Stande ist, nicht mit beiden Händen ergriffen werden sollte. Dieses Mittel hat alle von dem hohen Senat erforderten Eigenschaften; es ist in unsrer Gewalt, es ist zweckmäßig und von unmittelbarer Wirkung; es ist nicht nur mit keinem Aufwand, sondern sogar mit einer namhaften Ersparnis verbunden; und weder Latona noch ihre Priester können, unter den gehörigen Einschränkungen, etwas dagegen einzuwenden haben.«

Und nun rate der geneigte Leser, was für ein Mittel das wohl sein konnte? – Es ist, um ihn nicht lange aufzuhalten, das simpelste Mittel von der Welt. Es ist etwas in Europa von langen Zeiten her bis auf diesen Tag sehr gewöhnliches; eine Sache, worüber in der ganzen Christenheit sich niemand das mindeste Bedenken macht – und wovor gleichwohl, wie diese Stelle des Gutachtens im Senat zu Abdera abgelesen wurde, der Hälfte der Ratsherren die Haare zu Berge stunden. Mit einem Worte, das Mittel, das die Akademie von Abdera vorschlug, um der überzähligen Frösche mit guter Art los zu werden, war – sie zu essen.

Der Verfasser des Gutachtens beteuerte, daß er auf seinen Reisen zu Athen und Megara, zu Korinth, in Arkadien und an hundert andern Orten Froschkeulen essen gesehen und selbst gegessen habe. Er versicherte, daß es eine sehr gesunde nahrhafte und wohlschmeckende Speise sei, man möchte sie nun gebacken oder mariniert, frikassiert oder in kleinen Pastetchen auf die Tafel bringen. Er berechnete, daß auf diese Weise die übermäßige Froschmenge in kurzer Zeit auf eine sehr gemäßigte Zahl gebracht, und dem gemeinen und Mittelmann, bei dermaligen klemmen Zeiten, keine geringe Erleichterung durch diese neue Eßware verschafft werden würde. Und wiewohl der daher entstehende Vorteil sich vermöge der Natur der Sache von Tag zu Tage vermindern müßte: so würde hingegen der Abgang um so reichlicher ersetzt werden, indem man nach und nach einige tausend Froschteiche und Gräben austrocknen und wieder urbar machen könnte; ein Umstand, wodurch wenigstens der vierte Teil des zu Abdera gehörigen Grund und Bodens wieder gewonnen werden und den Einwohnern zu Nutzen gehen würde. Die Akademie (setzt er hinzu) habe die Sache aus allen möglichen Gesichtspuncten betrachtet, und könne nicht absehen, wie von Seiten der Latona oder ihrer Priester die mindeste Einwendung dagegen sollte gemacht werden können. Denn was die Göttin selbst betreffe, so würde sie sich ohne Zweifel durch den bloßen Argwohn, als ob ihr an den Fröschen mehr als an den Abderiten gelegen sei, sehr beleidiget finden. Von den Priestern aber sei zu erwarten, daß sie viel zu gute Bürger und Patrioten seien, um sich einem Vorschlag zu widersetzen, durch welchen dasjenige, was bisher das größte Übel und Drangsal des abderitischen gemeinen Wesens gewesen, bloß durch eine geschickte Wendung in den größten Nutzen desselben verwandelt würde. Da es aber nicht mehr als billig sei, sie, die Priester, um des gemeinen Bestens willen nicht zu beschädigen: so hielte die Akademie ohnmaßgeblich davor, daß ihnen nicht nur die Unverletzlichkeit des uralten Froschgrabens am Latonentempel von neuem zu garantieren, sondern auch die Verordnung zu machen wäre: daß von dem Augenblick an, da die abderitischen Froschkeulen für eine erlaubte Eßware erklärt sein würden, von jedem Schock derselben eine Abgabe von 2 oder 3 Obolen an den Latonentempel bezahlt werden müßte. Eine Abgabe, die, nach einem sehr mäßigen Überschlag, in kurzer Zeit eine Summe von dreißig bis vierzig tausend Drachmen abwerfen, und also den Latonentempel wegen aller andern kleinen Vorteile die durch die neue Einrichtung aufhörten, reichlich schadlos halten würde.

Endlich beschloß der Philosoph Korax sein Gutachten mit diesen merkwürdigen Worten: »Die Akademie glaube durch diesen eben so notgedrungnen als gemeinnützigen Vorschlag ihrer Schuldigkeit genug getan zu haben. Sie sei nun wegen des Erfolgs ganz ruhig, indem sie dabei nicht mehr betroffen sei, als alle übrigen Bürger von Abdera. Aber da sie überzeugt sei, daß nur ganz erklärte Batrachosebisten fähig sein könnten, sich einer so unumgänglichen Reformation entgegen zu setzen: so hoffte sie, die preiswürdigen Väter des Vaterlandes würden nicht zugeben, daß eine so lächerliche Secte die Oberhand gewinnen, und vor den Augen aller Griechen und Barbaren den abderitischen Namen mit einem Schandflecken beschmitzen sollte, den keine Zeit wieder ausbeizen würde.«

Es ist schwer, von den Absichten eines Menschen aus seinen Handlungen zu urteilen, und hart, schlimme Absichten zu argwohnen, bloß weil eine Handlung eben so leicht aus einem bösen als guten Beweggrunde hergeflossen sein konnte; aber einen jeden, dessen Vorstellungsart nicht die unsrige ist, bloß darum für einen schlimmen Mann zu halten, ist dumm. Wiewohl wir also nicht mit Gewißheit sagen können, wie rein die Absichten des Philosophen Korax bei Abfassung dieses Gutachtens gewesen sein mochten: so können wir doch nicht umhin zu glauben, daß der Priester Stilbon in seiner Leidenschaft zu weit gegangen, da er besagten Korax dieses Gutachtens wegen für einen offenbaren Feind der Götter und der Menschen erklärte, und ihn einer augenscheinlichen Absicht alle Religion über den Haufen zu werfen beschuldigte. So überzeugt auch immer der Hohepriester Stilbon von seinem System war: so ist doch, bei der großen und unwillkürlichen Verschiedenheit der Vorstellungsarten unter den armen Sterblichen, nicht unmöglich, daß Korax von der Wahrheit seiner Meinungen eben so aufrichtig überzeugt war; daß er die abderitischen Frösche im Innersten seines Herzens für nichts mehr als bloße natürliche Frösche hielt, und durch seinen Vorschlag seinem Vaterlande wirklich einen wichtigen Dienst zu leisten glaubte. Indessen bescheidet sich Schreiber dieses ganz gerne, daß es für uns Itztlebende, und in Betrachtung, daß die allgemein in Europa angenommenen Grundsätze den Fröschen wenig günstig sind, eine äußerst delicate Sache ist, über diesen Punkt ein vollkommen unparteiisches Urteil zu fällen.

Wie es also auch um die Moralität der Absichten des Philosophen Korax stehen mochte, so viel ist wenigstens gewiß, daß er so wenig ohne Leidenschaften war als der Oberpriester, und daß er sich die Vermehrung seiner Anhänger viel zu eifrig angelegen sein ließ, um nicht den Verdacht zu erwecken, daß die Eitelkeit das Haupt einer Partei zu sein, die Begierde über Stilbon den Sieg davon zu tragen, und der stolze Gedanke in den Annalen von Abdera dereinst Figur zu machen, wenigstens eben so viel zu seiner großen Tätigkeit in dieser Froschsache beigetragen, als seine Tugend. Aber daß er alles, was er getan, aus bloßer Näscherei getan habe, halten wir für eine Verleumdung schwachköpfiger und passionierter Leute, woran es bekanntermaßen bei solchen Gelegenheiten (zumal in kleinen Republiken) nie zu fehlen pflegt.

Korax hatte solche Maßregeln genommen, daß sein Gutachten bei der zweiten Zusammenkunft der Akademie einhellig genehmigt wurde. Denn der Präsident, und drei oder vier Ehrenmitglieder, die sich nicht bloß geben wollten, hatten Tags zuvor eine Reise aufs Land getan.

Achtes Kapitel
Das Gutachten wird bei Rat verlesen, und nach verschiednen heftigen Debatten, einhellig beschlossen, daß es den Latonenpriestern communiciert werden sollte

Das Gutachten wurde in der vorgeschriebenen Zeit dem Archon eingehändigt, und bei der nächsten Sitzung des Senats von dem Stadtschreiber Pyrops, einem erklärten Gegenfröschler, aus voller Kehle, und mit ungewöhnlich scharfer Beobachtung aller Komma's und übrigen Unterscheidungszeichen, abgelesen.

Die Minorität hatte zwar indessen bei dem Archon große Bewegungen gemacht, um ihn dahin zu bringen, die Execution des Ratsschlusses aufzuschieben, und es in einer außerordentlichen Ratsversammlung noch einmal auf die Mehrheit ankommen zu lassen, ob die Sache nicht, mit Vorbeigehung der Akademie, dem Collegio der Zehnmänner übergeben werden sollte. Onokradias hatte auch diesen Antrag auf Bedenkzeit angenommen, aber ungeachtet des täglichen Anhaltens der Gegenpartei seine Antwort um so mehr aufgeschoben, da er versichert worden war, daß das Gutachten bis zum nächsten gewöhnlichen Ratstage fertig sein sollte.

Der Nomophylax Hypsiboas und seine Anhänger fanden sich also nicht wenig beleidigt, da, nachdem die gewöhnlichen Geschäfte abgetan waren, der Archon ein großes Heft unter seinem Mantel hervorzog, und dem Senat berichtete, daß es das Gutachten sei, welches, vermöge des letzten Ratsschlusses, der Akademie in der bekannten leidigen Froschsache aufgetragen worden. Sie stunden alle auf einmal mit Ungestüm auf, beschuldigten den Archon, daß er hinterlistig zu Werke gegangen, und erklärten sich, daß sie die Verlesung des Gutachtens nimmermehr zugeben würden.

Onokradias, der unter andern kleinen Naturfehlern auch diesen hatte, immer hitzig zu sein wo er kalt, und kalt wo er hitzig sein sollte, war im Begriff, eine sehr hitzige Antwort zu geben, wenn ihn der Ratsherr Meidias nicht gebeten hätte, ruhig zu sein, und die Herren schreien zu lassen. Wenn sie alles gesagt haben werden, flüsterte er ihm zu, so werden sie nichts mehr zu sagen haben, und dann müssen sie wohl von selbst aufhören.

Dies war auch was geschah. Die Herren lärmten, krähten und fochten mit den Händen, bis sie es müde waren; und da sie endlich merkten, daß ihnen niemand zuhörte, setzten sie sich brummend wieder hin, wischten den Schweiß von der Stirne und das Gutachten wurde verlesen.

Wir kennen die Art der Abderiten, so schnell wie man die Hand umdreht vom Tragischen zum Komischen überzugehen, und über der kleinsten Gelegenheit zum Lachen die ernsthafte Seite eines Dinges gänzlich aus den Augen zu verlieren. Kaum war der dritte Teil des Gutachtens gelesen, so zeigte sich schon die Wirkung dieser jovialischen Laune sogar bei denjenigen, die kurz zuvor so laut dagegen geschrieen hatten. Das nenn ich doch beweisen, sagte einer der Ratsherren zu seinem Nachbar, während daß Pyrops innhielt, um nach damaliger Gewohnheit eine Prise Nieswurz zu nehmen. Man muß gestehen, sagte ein andrer, das Ding ist meisterhaft geschrieben. Ich will gerne sehen, sagte ein dritter, was man gegen den Beweis, daß Frösche am Ende doch nur Frösche sind, wird einwenden können. Ich habe schon lange so was gemerkt, sagte ein vierter mit einer schlauen Miene, aber es ist doch angenehm, wenn man sieht, daß gelehrte Leute mit uns einer Meinung sind.

Nur weiter, Herr Stadtschreiber, sagte Meidias, denn das Beste muß noch erst kommen.

Pyrops las fort. Die Ratsherren lachten daß sie die Bäuche halten mußten über die Berechnung der Kleinheit der Keime des Priesters Stilbon; wurden aber auf einmal wieder ernsthaft, da die traurige Alternative vorkam, und sie sich vorstellten, was für ein Jammer das wäre, wenn sie in Corpore, den regierenden Archon an der Spitze, nach dem Latonentempel ziehen und sichs noch zur besondern Gnade anrechnen lassen müßten, in Frösche verwandelt zu werden. Sie reckten die dicken Hälse und schnappten nach Odem, bei dem bloßen Gedanken, wie ihnen bei einer solchen Katastrophe zu Mute sein würde, und waren von Herzen geneigt, jedes Mittel gut zu heißen, wodurch ein solches Unglück verhütet werden könnte.

Aber wie das Geheimnis nun heraus war; wie sie hörten, daß die Akademie kein ander Mittel vorzuschlagen hätte, als die Frösche, deren sie einen Augenblick zuvor um jeden Preis los zu werden gewünscht hatten, zu essen – – welche Zunge vermöchte das Gemisch von Erstaunen, Entsetzen, und Verdruß über fehlgeschlagene Erwartung zu beschreiben, das sich auf einmal in den verzerrten Gesichtern der alten Ratsherren malte, welche beinahe die Hälfte des Senats ausmachten? Die Leute sahen nicht anders aus, als ob man ihnen zugemutet hätte, ihre eignen leiblichen Kinder in kleine Pastetchen hacken zu lassen. Auf einmal von der unbegreiflichen Macht des Vorurteils überwältigt, fuhren sie alle mit Entsetzen auf und erklärten: daß sie nichts weiter hören wollten, und daß sie sich einer solchen Gottlosigkeit zu der Akademie nimmermehr versehen hätten.

Sie hören aber ja, daß es nur gemeine natürliche Frösche sind die wir essen sollen, rief der Ratsherr Meidias. Essen wir doch Pfauen und Tauben und Gänse, ungeachtet jene der Juno und Venus, und diese dem Priapus selbst heilig sind. Bekömmt uns denn etwa das Rindfleisch schlechter, weil die Prinzessin Io in eine Kuh verwandelt worden? Oder machen wir uns das mindeste Bedenken, alle Arten von Fischen zu essen, ungeachtet sie unter dem Schutze aller Wassergötter stehen?

Aber die Rede ist weder von Gänsen noch Fischen, sondern von Fröschen, schrieen die alten Ratsherren und Zunftmeister; das ist ganz was anders. Gerechte Götter! die Frösche der Latona zu essen! Wie kann ein Mensch von gesundem Kopfe sich so etwas nur zu Sinne kommen lassen?

So fassen Sie sich doch, meine Herren, schrie ihnen der Ratsherr Stentor entgegen; Sie werden doch nicht solche Batrachosebisten sein wollen.

Lieber Batrachosebisten als Batrachophagen, rief der Nomophylax, der diesen glücklichen Augenblick nicht entwischen lassen wollte, sich zum Haupt einer Partei aufzuwerfen, auf deren Schultern er sich in kurzem zum Archontat erhoben zu sehen hoffte.

Lieber alles in der Welt als Batrachophagen, schrieen die Ratsherren von der Minorität, und ein Paar graubärtige Zunftmeister, die sich zu ihnen schlugen.

»Meine Herren, sagte der Archon Onokradias, indem er mit einiger Hitze von seinem elfenbeinernen Stuhl auffuhr, da die Batrachosebisten so laut zu schreien anfingen, daß ihm um sein Gehör bange wurde; ein Vorschlag der Akademie ist noch kein Ratsschluß. Setzen Sie sich und hören Sie Vernunft an, wenn Sie können! Ich will nicht hoffen, daß hier jemand ist, der sich einbildet, daß mir so viel daran gelegen sei, Frösche zu essen. Auch werd' ich noch wohl Rat zu schaffen wissen, daß sie mich nicht fressen sollen. Aber die Akademie, die aus den gelehrtesten Leuten in Abdera besteht, muß doch wohl wissen was sie sagt –

(Nicht immer, murmelte Meidias zwischen den Zähnen.)

Und da das gemeine Beste allem vorgeht, und nicht billig ist, daß die Frösche den Menschen – daß die Menschen, sage ich, den Fröschen aufgeopfert werden, wie die Akademie sehr wohl erwiesen hat: so ist meine Meinung – daß das Gutachten ohne weiters der ehrwürdigen Latonenpriesterschaft communiciert werde. Können Sie einen bessern Vorschlag tun, so will ich der erste sein, der ihn unterstützen hilft. Denn ich habe für meine Person nichts gegen die Frösche, in so fern sie keinen Schaden tun.«

Da der Antrag des Archons nichts anders war, als worauf beide Parteien ohnehin hatten antragen müssen, so wurde die Communication des Gutachtens zwar einhellig beliebt; aber die Ruhe im Senat wurde dadurch nicht hergestellt; und von dieser Stunde an fand sich die arme Stadt Abdera wieder, unter andern Namen, in Esel und Schatten geteilt.

Neuntes Kapitel
Der Oberpriester Stilbon schreibt ein sehr dickes Buch gegen die Akademie
Es wird von Niemand gelesen; im übrigen aber bleibt vor der Hand alles beim Alten

Jedermann bildete sich ein, daß der Oberpriester über das Gutachten der Akademie Feuer und Flammen sprühen werde, und man war nicht wenig verwundert, da er, dem Anschein nach, so gelassen dabei blieb, als ob ihn die Sache gar nichts anginge.

Was für armselige Köpfe! sagte er den seinigen schüttelnd, indem er das Gutachten mit flüchtigem Blicke überlief; und gleichwohl sollte man denken, sie müßten mein Buch von den Altertümern gelesen haben, worin alles so augenscheinlich dargelegt ist. Es ist unbegreiflich, wie man mit fünf gesunden Sinnen so dumm sein kann. Aber ich will ihnen noch wohl das Verständnis öffnen. Ich will ein Buch schreiben – ein Buch, das mir alle Akademien der Welt widerlegen sollen wenn sie können.

Und Stilbon, der Oberpriester, setzte sich hin und schrieb ein Buch, dreimal so dick als das erste, das der Archon Onokradias nicht lesen wollte; und er bewies darin: daß der Verfasser des Gutachtens keinen Menschenverstand habe; daß er ein Unwissender sei, der nicht einmal gelernt habe, wie nichts groß und nichts klein in der Natur sei; nicht wisse, daß die Materie ins Unendliche geteilt werden könne, und daß die unendliche Kleinheit der Keime (wenn man sie auch noch unendlich kleiner annehme als Korax in seiner ganz lächerlich übertriebnen Berechnung getan habe,) gegen ihre Möglichkeit nicht ein Minimum beweise. Er unterstützte die Gründe seines Systems von den abderitischen Fröschen mit neuen Gründen, und beantwortete mit großer Genauigkeit und Weitläuftigkeit alle mögliche Einwürfe die er sich selbst dagegen machte. Seine Einbildung und seine Galle erhitzte sich unterm Schreiben unvermerkt so sehr, daß er in sehr bittere Sarkasmen gegen seine Gegner ausbrach, sie eines vorsetzlichen und verstockten Hasses gegen die Wahrheit anklagte, und ziemlich deutlich zu verstehen gab, daß solche Menschen in einem wohlpolizierten Staat gar nicht geduldet werden sollten.

Der Senat von Abdera erschrak, da der Archon nach etlichen Monaten (denn eher hatte Stilbon, wiewohl er Tag und Nacht schrieb, nicht mit seinem Buche fertig werden können,) die Gegenschrift des Oberpriesters vor Rat brachte, die so voluminos war, daß er sie, um die Sache kurzweiliger zu machen, durch zween von den breitschultrigsten Sackträgern von Abdera auf einer Trage herein schleppen und auf den großen Ratstisch legen ließ. Die Herren fanden, daß es keine Möglichkeit sei eine so weitläuftige Deduction verlesen zu lassen. Es wurde also durch die Mehrheit der Stimmen beschlossen, das Werk geradenwegs dem Philosophen Korax zuzuschicken, mit dem Auftrag, dasjenige was er etwa dagegen zu erinnern hätte schriftlich und sobald als möglich an den regierenden Archon gelangen zu lassen.

Korax stund eben mitten unter einem Haufen nasenweiser abderitischer Jünglinge in der Vorhalle seines Hauses, als die Sackträger mit ihrer gelehrten Ladung bei ihm anlangten. Als er nun von dem mitkommenden Ratsboten vernommen hatte, warum es zu tun sei, entstund ein so unmäßiges Gelächter unter der gegenwärtigen Versammlung, daß man es über drei oder vier Gassen bis in der Ratsstube hören konnte. Der Priester Stilbon hat einen schlauen Genius, sagte Korax; er hat gerade das unfehlbarste Mittel ergriffen, um nicht widerlegt zu werden. Aber er soll sich doch betrogen finden! Wir wollen ihm zeigen, daß man ein Buch widerlegen kann, ohne es gelesen zu haben.

Wo sollen wir denn abladen, fragten die Sackträger, die schon eine gute Weile mit ihrer Trage dagestanden waren, und von allen den scherzhaften Einfällen der gelehrten Herren nichts verstanden.

In meinem Häuschen ist kein Platz für ein so großes Buch, sagte Korax.

Wissen Sie was, fiel einer von den jungen Philosophen ein: weil das Buch doch geschrieben ist um nicht gelesen zu werden, so stiften Sie es auf die Ratsbibliothek. Dort liegt es sicher, und wird unter dem Schutz einer Kruste von fingerdickem Staub ungelesen und wohlbehalten auf die späte Nachwelt kommen.

Der Einfall ist trefflich, sagte Korax. Gute Freunde, fuhr er fort, sich an die Sackträger wendend, hier sind zwo Drachmen für eure Mühe; tragt eure Ladung auf die Ratsbibliothek, und bekümmert euch weiter um nichts; ich nehme die ganze Sache auf meine Verantwortung.

Stilbon, dem das Schicksal eines Buches, das ihm so viele Zeit und Mühe gekostet hatte, nicht lange verborgen bleiben konnte, wußte vor Erstaunen und Ingrimm weder was er denken noch tun sollte. Große Latona, rief er einmal übers andre aus, in was für Zeiten leben wir! Was ist mit Leuten anzufangen, die nicht hören wollen? – Aber sei es darum! Ich habe das Meinige getan. Wollen sie nicht hören, so mögen sie's bleiben lassen! Ich setze keine Feder mehr an, rühre keinen Finger mehr für ein so undankbares, ungeschliffnes und unverständiges Volk.

So dachte er im ersten Unmut; aber der gute Priester betrog sich selbst durch diese anscheinende Gelassenheit. Seine Eigenliebe war zu sehr beleidigt, um so ruhig zu bleiben. Je mehr er der Sache nachdachte, (und er konnte die ganze Nacht an nichts anders denken,) je stärker fühlte er sich überzeugt, daß ihm nicht erlaubt sei bei einer so lauten Aufforderung für die gute Sache stille zu sitzen.

Der Nomophylax und die übrigen Feinde des Archons Onokradias ermangelten nicht, seinen Eifer durch ihre Aufstiftungen vollends zu entflammen. Man hielt fast täglich Zusammenkünfte, um sich über die Maßregeln zu beratschlagen, welche man zu nehmen hätte, dem einreißenden Strom der Unordnung und Ruchlosigkeit (wie es Stilbon nannte) Einhalt zu tun.

Aber die Zeiten hatten sich wirklich sehr geändert. Stilbon war kein Strobylus. Das Volk kannte ihn wenig, und er hatte keine von den Gaben, wodurch sich sein besagter Vorgänger mit unendlichmal weniger Gelehrsamkeit so wichtig in Abdera gemacht hatte. Beinahe alle junge Leute beiderlei Geschlechts waren von den Grundsätzen des Philosophen Korax angesteckt. Der größere Teil der Ratsherren und angesehenen Bürger neigte sich ohne Grundsätze auf die Seite wo es am meisten zu lachen gab. Und sogar unter dem gemeinen Volke hatten die Gassenlieder, womit einige Versifexe von Koraxens Anhang die Stadt angefüllt hatten, so gute Wirkung getan, daß man sich vor der Hand wenig Hoffnung machen konnte, den Pöbel so leicht als ehmals in Aufruhr zu setzen. Aber was noch das allerschlimmste war, man hatte Ursache zu glauben, daß es unter den Priestern selbst einen und den andern gebe, der ingeheim mit den Gegenfröschlern in Verbindung stehe. Es war in der Tat mehr als bloßer Argwohn, daß der Priester Pamphagus mit einem Anschlag schwanger gehe, sich die gegenwärtigen Umstände zu Nutze zu machen, und den ehrlichen Stilbon von einer Stelle zu verdrängen, welcher er (wie Pamphagus unter der Hand zu verstehen gab) wegen seiner gänzlichen Unerfahrenheit in Geschäften in einer so bedenklichen Krisis auf keine Weise gewachsen sei.

Bei allem dem machten gleichwohl die Batrachosebisten eine ansehnliche Partei aus, und Hypsiboas hatte Geschicklichkeit genug, sie immer in einer Bewegung zu erhalten, welche mehr als einmal gefährliche Ausbrüche hätte nehmen können, wenn die Gegenpartei zufrieden mit ihren erhaltenen Siegen und ungeneigt das Übergewicht in dessen Besitz sie war in Gefahr zu setzen – nicht so untätig geblieben, und alles was zu ungewöhnlichen Bewegungen hätte Anlaß geben können, sorgfältig vermieden hätte. Denn, wiewohl sie sich des Namens der Batrachophagen eben nicht zu weigern schienen, und die Frösche der Latona den gewöhnlichsten Stoff zu lustigen Einfällen in ihren Gesellschaften hergaben: so ließen sie es doch, nach echter abderitischer Weise, dabei bewenden, und die Frösche blieben trotz dem Gutachten der Akademie und den Scherzen des Philosophen Korax noch immer ungestört und ungegessen im Besitz der Stadt und Landschaft von Abdera.

Zehntes Kapitel
Seltsame Entwicklung des ganzen abderitischen tragikomischen Possenspiels

Aller Wahrscheinlichkeit nach würden die Frösche der Latona dieser Sicherheit noch lange genossen haben, wenn nicht unglücklicherweise im nächsten Sommer eine unendliche Menge Mäuse und Ratten von allen Farben auf einmal die Felder der unglücklichen Republik überschwemmt, und dadurch die ganze unschuldige und ungefähre Weissagung des Archons Onokradias auf eine unvermutete Art in Erfüllung gebracht hätten.

Von Fröschen und Mäusen zugleich aufgegessen zu werden, war für die armen Abderiten zuviel auf einmal. Die Sache wurde ernsthaft.

Die Gegenfröschler drangen nun ohne weiters auf die Notwendigkeit, den Vorschlag der Akademie unverzüglich ins Werk zu setzen.

Die Batrachosebisten schrieen: die gelben, grünen, blauen, blutroten, und flohfarben Mäuse, die in wenig Tagen die greulichste Verwüstung auf den abderitischen Feldern angerichtet hatten, seien eine sichtliche Strafe der Gottlosigkeit der Batrachophagen, und augenscheinlich von Latonen unmittelbar abgeschickt, die Stadt, die sich des Schutzes der Göttin unwürdig gemacht, gänzlich zu verderben.

Vergebens bewies die Akademie, daß gelbe, grüne und flohfarbe Mäuse darum nicht mehr Mäuse seien als andre; daß es mit diesen Mäusen und Ratten ganz natürlich zugehe; daß man in den Jahrbüchern aller Völker ähnliche Beispiele finde; und daß es nunmehr, da besagte Mäuse entschlossen schienen, den Abderiten ohnehin nichts anders zu essen übrig zu lassen, um so nötiger sei, sich des Schadens, den beiderlei gemeine Feinde der Republik verursachten, wenigstens an der eßbaren Hälfte derselben, nämlich an den Fröschen, zu erholen.

Vergebens schlug sich der Priester Pamphagus ins Mittel, indem er den Vorschlag tat, die Frösche künftig zu ordentlichen Opfertieren zu machen, und, nachdem der Kopf und die Eingeweide der Göttin geopfert worden, die Keulen als Opferfleisch zu ihren Ehren zu verzehren.

Das Volk, bestürzt über eine Landplage, die es sich nicht anders als unter dem Bilde eines Strafgerichts der erzürnten Götter denken konnte, und von den Häuptern der Froschpartei empört, lief in Rotten vor das Rathaus, und drohte, kein Gebein von den Herren übrig zu lassen, wenn sie nicht auf der Stelle ein Mittel fänden die Stadt vom Verderben zu erretten.

Guter Rat war noch nie so teuer auf dem Ratshause zu Abdera gewesen als jetzt. Die Ratsherren schwitzten Angstschweiß. Sie schlugen vor ihre Stirne; aber es hallte hohl zurück. Je mehr sie sich besannen, je weniger konnten sie finden was zu tun wäre.

Das Volk wollte sich nicht abweisen lassen, und schwur, Fröschlern und Gegenfröschlern die Hälse zu brechen, wenn sie nicht Rat schafften.

Endlich fuhr der Archon Onokradias auf einmal wie begeistert von seinem Stuhl auf. – Folgen Sie mir, sagte er zu den Ratsherren, und ging mit großen Schritten auf die marmorne Tribüne hinaus, die zu öffentlichen Anreden an das Volk bestimmt war. Seine Augen funkelten von einem ungewöhnlichen Glanz; er schien eines Haupts länger als sonst, und seine ganze Gestalt hatte etwas Majestätischers als man jemals an einem Abderiten gesehen hatte. Die Ratsherren folgten ihm stillschweigend und erwartungsvoll.

»Höret mich, ihr Männer von Abdera, sagte Onokradias mit einer Stimme die nicht die seinige war; Jason, mein großer Stammvater, ist vom Sitz der Götter herabgestiegen, und gibt mir in diesem Augenblick das Mittel ein, wodurch wir uns alle retten können. Gehet, jeder nach seinem Hause, packet alle eure Gerätschaften und Habseligkeiten zusammen, und morgen bei Sonnenaufgang stellet euch mit Weibern und Kindern, Pferden und Eseln, Rindern und Schafen, kurz mit Sack und Pack, vor dem Jasonstempel ein. Von da wollen wir mit dem goldnen Vließe, dem heiligen Palladium der Abderiten an unsrer Spitze, ausziehen, diesen von den Göttern verachteten Mauren den Rücken wenden, und in den weiten Ebnen des fruchtbaren Macedoniens einen andern Wohnort suchen, bis der Zorn der Götter sich gelegt haben, und uns oder unsern Kindern wieder vergönnt sein wird, unter glücklichen Vorbedeutungen in die schöne Abdera zurückzukehren. Die verderblichen Mäuse, wenn sie nichts mehr zu zehren finden, werden sich unter einander selbst auffressen, und was die Frösche betrifft – denen mag Latona gnädig sein! – Geht, meine Kinder, und macht euch fertig. Morgen, mit Aufgang der Sonne, werden alle unsre Drangsale ein Ende haben.«

Das ganze Volk jauchzte dem begeisterten Archon Beifall zu, und in einem Augenblick atmete wieder nur Eine Seele in allen Abderiten. Ihre leichtbewegliche Einbildungskraft stund auf einmal in voller Flamme. Neue Aussichten, neue Scenen von Glück und Freuden tanzten vor ihrer Stirne. Die weiten Ebnen des glücklichen Macedoniens lagen wie fruchtbare Paradiese vor ihren Augen ausgebreitet. Sie atmeten schon die mildern Lüfte, und sehnten sich mit unbeschreiblicher Ungeduld aus dem dicken froschsumpfichten Dunstkreise ihrer ekelhaften Vaterstadt heraus. Alles eilte, sich zu einem Auszug zu rüsten, von welchem wenige Augenblicke zuvor kein Mensch sich hatte träumen lassen.

Am folgenden Morgen war das ganze Volk von Abdera reisefertig. Alles was sie von ihren Habseligkeiten nicht mitnehmen konnten, ließen sie ohne Bedauren in ihren Häusern, so ungeduldig waren sie an einen Ort zu ziehen, wo sie weder von Fröschen noch Mäusen mehr geplagt werden würden.

Am vierten Morgen ihrer Auswanderung begegnete ihnen der König Kassander. Man hörte das Getöse ihres Zugs von weitem, und der Staub, den sie erregten, verfinsterte das Tageslicht. Kassander befahl den Seinigen Halt zu machen, und schickte jemand aus sich zu erkundigen was es wäre.

Sire, sagte der zurückkommende Abgeschickte, es sind die Abderiten, die vor Fröschen und Mäusen nicht mehr in Abdera zu bleiben wußten, und einen andern Wohnplatz suchen.

Wenn's dies ist, so sind's gewiß die Abderiten, sagte Kassander.

Indem erschien Onokradias an der Spitze einer Deputation von Ratsmännern und Bürgern, dem König ihr Anliegen vorzutragen.

Die Sache kam Kassandern und seinen Höflingen so lustig vor, daß sie sich, mit aller ihrer Höflichkeit, nicht enthalten konnten, den Abderiten überlaut ins Gesicht zu lachen; und die Abderiten, wie sie den ganzen Hof lachen sahen, hielten es für ihre Schuldigkeit mitzulachen.

Kassander versprach ihnen seinen Schutz, und wies ihnen einen Ort an den Grenzen von Macedonien an, wo sie sich so lange aufhalten könnten, bis sie Mittel gefunden haben würden, mit den Fröschen und Ratten ihres Vaterlandes einen billigen Vergleich zu treffen.

Von dieser Zeit an weiß man wenig mehr als nichts von den Abderiten und ihren Begebenheiten. Doch ist so viel gewiß, daß sie einige Jahre nach dieser seltsamen Auswanderung (deren historische Gewißheit durch das Zeugnis des vom Justinus in einen Auszug gebrachten Geschichtschreibers Trogus Pompejus L. XV, C. 2. außer allen Zweifel gesetzt wird) wieder nach Abdera zurück gezogen. Allem Vermuten nach müssen sie die Ratten in ihren Köpfen, die sonst immer mehr Spuk darin gemacht als alle Ratten und Frösche in ihrer Stadt und Landschaft, in Macedonien zurückgelassen haben. Denn von dieser Epoche an sagt die Geschichte weiter nichts von ihnen, als daß sie, unter dem Schutze der macedonischen Könige und der Römer, verschiedene Jahrhunderte durch ein stilles und geruhiges Leben geführt; und, da sie weder witziger noch dummer gewesen als andre Municipalen ihres Gleichens, den Geschichtschreibern keine Gelegenheit gegeben weder Böses noch Gutes von ihnen zu sagen.

Um übrigens unsern geneigten Lesern eine vollkommne Probe unsrer Aufrichtigkeit zu geben, wollen wir ihnen unverhalten lassen, daß – wofern der ältere Plinius und sein aufgestellter Gewährsmann Varro hierin Glauben verdienten, Abdera nicht die einzige Stadt in der Welt gewesen wäre, die von so unansehnlichen Feinden, als Frösche und Mäuse sind, ihren natürlichen Einwohnern abgejagt worden. Denn Varro soll nicht nur einer Stadt in Spanien erwähnen, die von Kaninchen, und einer andern, die von Maulwürfen zerstört worden, sondern auch einer Stadt in Gallien, deren Einwohner, wie die Abderiten, den Fröschen hätten Platz machen müssen. Allein, da Plinius weder die Stadt, welcher dies Unglück begegnet sein soll, mit Namen nennt, noch ausdrücklich sagt, aus welchem von den unzähligen Werken des gelehrten Varro er diese Anekdote genommen habe: so glauben wir der Ehrerbietung, die man diesem großen Manne schuldig ist, nicht zu nahe zu treten, wenn wir vermuten, daß sein Gedächtnis (auf dessen Treue er sich nicht selten zu viel verließ) ihm für Thracien Gallien untergeschoben habe; und daß die Stadt, von welcher beim Varro die Rede war, keine andre gewesen, als unser Abdera selbst.

Und hiemit sei dann der Gipfel auf das Denkmal gesetzt, welches wir dieser einst so berühmten und nun schon so viele Jahrhunderte lang wieder vergeßnen Republik zu errichten ohne Zweifel von einem für ihren Ruhm sorgenden Dämon angetrieben worden: nicht ohne Hoffnung, daß es, ungeachtet es aus so leichten Materialien als die seltsamen Launen und jovialischen Narrheiten der Abderiten sind, zusammengesetzt ist, so lange dauren werde, bis unsre Nation den glücklichen Zeitpunkt erreicht haben wird, wo diese Geschichte niemand mehr angehen, niemand mehr unterhalten, niemand mehr verdrießlich und niemand mehr aufgeräumt machen wird; mit einem Wort, wo die Abderiten niemand mehr ähnlich sehen, und also ihre Begebenheiten eben so unverständlich sein werden, als uns Geschichten aus einem andern Planeten sein würden: ein Zeitpunct, der nicht mehr weit entfernt sein kann, wenn die Knaben in der ersten Generation des neunzehnten Jahrhunderts nur um eben so viel weiser sein werden, als die Knaben im letzten Viertel des achtzehnten sich weiser als die Männer des vorgehenden dünken oder wenn alle die Erziehungsbücher, womit wir seit zehn Jahren so reichlich beschenkt worden sind und täglich noch beschenkt werden, nur den zehnten Teil der herrlichen Wirkungen tun, die uns die wohlmeinenden Verfasser hoffen lassen.




Der Schlüssel zur Abderitengeschichte

Als Homers Gedichte unter den Griechen bekannt worden waren, hatte das Volk, das in vielen Dingen mit seinem schlichten Menschenverstand richtiger zu sehen pflegt als die Herren mit bewaffneten Augen, gerade Verstand genug, um zu sehen, daß in diesen großen heroischen Fabeln, ungeachtet des Wunderbaren, Abenteuerlichen und Unglaublichen, womit sie so reichlich durchwebt sind, daß eine Amme Märchen genug um ihr Kind in Schlaf zu singen daraus machen konnte, mehr Weisheit und Unterricht fürs praktische Leben liege, als in einem milesischen Ammenmärchen; und wir sehen aus Horazens Brief an Lollius, und aus dem Gebrauch, welchen Plutarch von Homers Gedichten macht und zu machen lehrt, daß noch viele Jahrhunderte nach Homer die verständigsten Weltleute unter Griechen und Römern der Meinung waren, daß man was recht und nützlich, was unrecht und schädlich sei, und wie viel ein Mann durch Tugend und Weisheit vermöge, so gut und noch besser aus Homers Fabeln lernen könne, als aus den subtilsten oder beredtesten stoischen Sittenlehrern. Man überließ es alten Kindsköpfen (denn die Jungen belehrte man eines Bessern,) an dem bloßen materiellen Teil der Dichtung kleben zu bleiben; verständige Leute fühlten und erkannten den Geist, der in diesem Leibe atmete, und ließen sichs nicht einfallen, scheiden zu wollen, was die Muse untrennbar zusammengefügt hatte, das Wahre unter der Hülle des Wunderbaren, und das Nützliche durch eine Mischungskunst, die nicht allen geoffenbart ist, vereinbart mit dem Schönen und Angenehmen.

Wie es bei allen menschlichen Dingen geht, so ging es auch hier. Nicht zufrieden, in Homers Gedichten warnende oder aufmunternde Beispiele, einen lehrreichen Spiegel des menschlichen Lebens in seinen mancherlei Ständen, Verhältnissen und Scenen zu finden, wollten die Gelehrten späterer Zeiten noch tiefer eindringen, noch mehr sehen, als ihre Vorfahren; und so entdeckte man (denn was entdeckt man nicht, wenn man sichs einmal in den Kopf gesetzt hat, etwas zu entdecken) in dem was nur Beispiel war, Allegorie, in allem, sogar in den bloßen Maschinen und Decorationen des poetischen Schauplatzes, einen mystischen Sinn, und zuletzt in jeder Person, jeder Begebenheit, jedem Gemälde, jeder kleinen Fabel, Gott weiß was für Geheimnisse von hermetischer, orphischer und magischer Philosophie, an die der gute Dichter in der Unschuld seines Herzens gewiß so wenig gedacht hatte, als Virgil, daß man zwölf hundert Jahre nach seinem Tode mit seinen Versen die bösen Geister beschwören würde.

Immittelst wurde es unvermerkt zu einem wesentlichen Requisit eines epischen Gedichts (wie man die größern und heroischen poetischen Fabeln zu nennen pflegte,) daß es außer der natürlichen Sinn und der Moral, die es beim ersten Anblick darbot, noch einen andern geheimen und allegorischen haben müsse – wenigstens gewann diese Grille bei den Italiänern und Spaniern die Oberhand; und es ist mehr als lächerlich, zu sehen, was für eine undankbare Mühe sich die Ausleger oder auch wohl die Dichter selbst geben, um aus einem Amadis und Orlando, aus Trissins befreitem Italien oder Camoens Lusiade, ja sogar aus dem Adone des Marino, alle Arten von metaphysischer, politischer, moralischer, physikalischer und theologischer Allegorien herauszuspinnen. Da es nun nicht die Sache der Leser war, in diese Geheimnisse aus eigner Kraft einzudringen: so mußte man ihnen, wenn sie so herrlicher Schätze nicht verlustigt werden sollten, notwendig einen Schlüssel dazu geben; und dieser Schlüssel war eben die Exposition des allegorischen oder mystischen Sinnes; wiewohl der Dichter, gewöhnlicherweise, erst wen er mit dem ganzen Werk fertig war, daran dachte, was vor versteckte Ähnlichkeiten und Beziehungen sich etwa aus seinen Dichtungen herausholen lassen könnten.

Was bei vielen Dichtern bloße Gefälligkeit gegen eine herrschende Mode war, über welche sie sich nicht hinwegzusetzen wagten, wurde für andre wirklicher Zweck und Hauptwerk. Der berühmte Zodiacus vitae des sogenannten Palingenius, die Argenis des Barcley, die Feenkönigin des Spencer, die neue Atlantis der Dame Manley, die malabarischen Prinzessinnen, das Märchen von der Tonne, die Geschichte von Johann Bull und eine Menge andrer Werke dieser Art, woran besonders das sechzehnte und siebenzehnte Jahrhundert fruchtbar gewesen ist, waren ihrer Natur und Absicht nach allegorisch, und konnten also ohne Schlüssel nicht verstanden werden, wiewohl einige derselben, z.B. Spencers Feenkönigin, und die allegorischen Satyren des D. Swift, so beschaffen sind, daß eine jede verständige und der Sachen kundige Person den Schlüssel dazu ohne fremde Beihülfe in ihrem eignen Kopfe finden kann.

Diese kurze Deduction wird mehr als hinlänglich sein, um denen, die noch nie daran gedacht haben, begreiflich zu machen, wie es zugegangen sei, daß sich unvermerkt eine Art von gemeinem Vorurteil und wahrscheinlicher Meinung in den meisten Köpfen festgesetzt hat, als ob ein jedes Buch, das einem satyrischen Roman ähnlich sieht, mit einem versteckten Sinn begabt sei, und also einen Schlüssel nötig habe. Daher hat auch der Herausgeber der gegenwärtigen Geschichte, wie er gewahr wurde, daß die meisten unter der großen Menge von Lesern, welche sein Werk zu finden die Ehre gehabt hat, sich fest überzeugt hielten, daß noch etwas mehr dahinter stecken müsse, als was die Worte beim ersten Anblick zu besagen scheinen, und also einen Schlüssel zu der Abderitengeschichte, als ein unentbehrliches Bedürfnis zu vollkommner Verständnis eines so interessanten Buches zu erhalten wünschten, sich dieses ihm häufig zu Ohren kommende Verlangen seiner werten Leser keineswegs befremden lassen; sondern er hat es im Gegenteil für eine Aufmerksamkeit die er ihnen schuldig ist gehalten, bei gegenwärtiger neuer und vollständiger Originalausgabe, demselben, so viel an ihm ist, ein Genüge zu tun, und ihnen, als einen Schlüssel oder statt des verlangten Schlüssels (welches im Grunde auf eins hinausläuft) alles mitzuteilen, was zu gründlicher Verständnis und nützlichem Gebrauch dieses zum Vergnügen aller Klugen, und zur Lehre und Züchtigung aller N**n geschriebenen Werkes, dienlich sein kann.

Zu diesem Ende findet er nötig, ihnen vor allen Dingen die Geschichte der Entstehung desselben, unverfälscht und mit den eigen Worten des Verfassers, eines zwar wenig bekannten, aber seit dem Jahr 1753 sehr stark gelesenen Schriftstellers, mitzuteilen.

»Es war (so lautet sein Bericht) – es war ein schöner Herbstabend im Jahr 177*; ich befand mich allein in dem obern Stockwerk meiner Wohnung und sah – denn ich schäme mich nicht zu bekennen, wenn mir etwas menschliches begegnet – vor langer Weile zum Fenster hinaus; denn schon seit vielen Wochen hatte mich mein Genius gänzlich verlassen. Ich konnte weder denken noch lesen. Alles Feuer meines Geistes schien erloschen, alle meine Laune, gleich einem flüchtigen Salze, verduftet. Ich war dumm, aber ach! ohne an den Seligkeiten der Dummheit Teil zu haben, ohne einen einzigen Gran von dieser stolzen Zufriedenheit mit sich selbst, dieser unerschütterlichen Überzeugung, welche gewisse Leute versichert, daß alles, was sie denken, sagen, träumen und im Schlaf reden, wahr, witzig, weise, und in Marmor gegraben zu werden würdig sei – einer Überzeugung, die den echten Sohn der großen Göttin, wie ein Muttermal, kennbar und zum glücklichsten aller Menschen macht. Kurz, ich fühlte meinen Zustand, und er lag schwer auf mir; ich schüttelte mich vergebens; und es war, wie gesagt, so weit mit mir gekommen, daß ich durch ein ziemlich unbequemes kleines Fenster in die Welt hinaus guckte, ohne zu wissen was ich sah, oder etwas zu sehen, das des Wissens wert gewesen wäre. Auf einmal war mir, als höre ich eine Stimme – ob es Wahrheit oder Täuschung war, will ich nicht entscheiden – die mir zurief: setze dich und schreibe die Geschichte der Abderiten! Und plötzlich ward es Licht in meinem Kopfe. Ja, ja, dacht ich, die Abderiten! Was kann natürlicher Sein? Die Geschichte der Abderiten will ich schreiben! Wie war es doch möglich, daß mir ein so natürlicher Einfall nicht schon längst gekommen ist? Und also setzt ich mich und schrieb, und schlug nach, und compilierte, und ordnete zusammen, und schrieb wieder, und es war eine Lust zu sehen, wie mir das Werk von den Händen ging.

Indem ich nun so im besten Schreiben war, (fährt unser Verfasser in seiner treuherzigen Beichte fort,) kam mir in einem Anstoß von Capriccio, oder Laune, oder wie man's sonst nennen will, der Einfall, meiner Phantasie den Zügel schießen zu lassen, und die Sachen so weit zu treiben, als sie gehen könnten. Es betrifft ja nur die Abderiten, dacht ich, und an den Abderiten kann man sich nicht versündigen: sie sind ja doch am Ende weiter nichts als ein Pack Narren; die Albernheiten, die ihnen die Geschichte zur Last legt, sind groß genug, um das Ungereimteste, was du ihnen andichten kannst, zu rechtfertigen. Ich gesteh es also unverhohlen – und wenn's unrecht war, so verzeihe mirs der Himmel! – ich strengte alle Stränge meiner Erfindungskraft bis zum Reißen an, um die Abderiten so närrisch denken, reden und sich betragen zu lassen, als es nur möglich wäre. Es ist ja schon über zweitausend Jahre, daß sie allesamt tot und begraben sind, sagte ich zu mir selbst; es kann weder ihnen noch ihrer Nachkommenschaft schaden; denn auch von die ser ist schon lange kein Gebein mehr übrig. Zu diesem allem kam noch eine andre Vorstellung, die mich durch einen gewissen Schein von Gutherzigkeit einnahm. Je närrischer ich sie mache, dachte ich, je weniger habe ich zu besorgen, daß man die Abderiten für eine Satyre halten, und Anwendungen davon auf Leute machen wird, die ich doch wohl nicht gemeint haben kann, da mir ihr Dasein nicht einmal bekannt ist. Aber ich irrte mich sehr, indem ich so schloß. Der Erfolg bewies, daß ich unschuldigerweise Abbildungen gemacht hatte, da ich nur Phantasie zu malen glaubte.«

Man muß gestehen, dies war einer der schlimmsten Streiche, die einem Autor begegnen können, der keine List in seinem Herzen hat, und, ohne irgend eine Seele ärgern oder betrüben zu wollen, bloß sich selbst und seinem Nebenmenschen die Langeweile zu vertreiben sucht. Gleichwohl war dies was dem Verfasser der Abderiten schon mit den ersten Kapiteln seines Werkleins begegnete. Es ist vielleicht keine Stadt in Deutschland, und so weit die natürlichen Grenzen der deutschen Sprachen gehen (welches, im Vorbeigehen gesagt, eine größere Strecke Landes ist, als irgend eine andre europäische Sprache inne zu haben sich rühmen kann), wo die Abderiten nicht Leser gefunden haben sollten; und wo man sie las, da wollte man die Originale zu den darin vorkommenden Bildern gesehen haben. »In tausend Orten (sagt der Verfasser) wo ich weder selbst jemals gewesen bin, noch die mindeste Bekanntschaft habe, wunderte man sich, woher ich die Abderiten, Abderitinnen und Abderitismen dieser Orte und Enden so genau kenne; und man glaubte, ich müßte schlechterdings einen geheimen Briefwechsel oder einen kleinen Cabinetsteufel haben, der mir Anekdoten zutrüge, die ich mit rechten Dingen nicht hätte erfahren können. Nun wußte ich (fuhr er fort) nichts gewisser, als daß ich weder diesen noch jenen hatte: folglich war klar wie Taglicht, daß das alte Völklein der Abderiten nicht so ausgestorben war, als ich mir eingebildet hatte.«

Diese Entdeckung veranlaßte den Autor, Nachforschungen anzustellen, die er für unnötig gehalten hatte, so lange er bei Verfassung seines Werkes mehr seine eigne Phantasie und Laune als Geschichte und Urkunden zu Rate gezogen hatte. Er durchstöberte manche große und kleine Bücher ohne sonderlichen Erfolg, bis er endlich in der sechsten Dekade des berühmten Hafen Slawkenbergius p. m. 864. folgende Stelle fand, die ihm einigen Aufschluß über diese unerwartete Ereignisse zu geben schien.

»Die gute Stadt Abdera in Thracien (sagt Slawkenbergius am angeführten Orte), ehmals eine große, volkreiche, blühende Handelsstadt, das thracische Athen, die Vaterstadt eines Protagoras und Demokritus, das Paradies der Narren und der Frösche diese gute schöne Stadt Abdera – ist nicht mehr. Vergebens suchen wir sie in den Landcharten und Beschreibungen des heutigen Thraciens; sogar der Ort, wo sie ehmals gestanden, ist unbekannt, oder kann wenigstens nur durch Mutmaßungen angegeben werden. Aber nicht so die Abderiten! diese leben und weben noch immer fort, wiewohl ihr ursprünglicher Wohnsitz längst von der Erde verschwunden ist. Sie sind ein unzerstörbares, unsterbliches Völkchen; ohne irgendwo einen festen Sitz zu haben, findet man sie allenthalben; und wiewohl sie unter allen andern Völkern zerstreut leben, haben sie sich doch bis auf diesen Tag rein und unvermischt erhalten, und bleiben ihrer alten abderitischen Art und Weise so getreu, daß man einen Abderiten, wo man ihn auch antrifft, nur einen Augenblick zu sehen braucht, um eben so gewiß zu sehen und zu hören, daß er ein Abderit ist, als man es zu Frankfurt und Leipzig, Constantinopel und Aleppo einem Juden anmerkt, daß er ein Jude ist. Das Sonderbarste aber, und ein Umstand, worin sie sich von den Israeliten, Beduinen, Armeniern und allen andern unvermischten Völkern wesentlich unterscheiden, ist dieses: daß sie sich ohne mindeste Gefahr ihrer Abderitheit mit allen übrigen Erdbewohnern vermischen, und – ungeachtet sie allenthalben die Sprache des Landes, wo sie wohnen, reden, Staatsverfassung, Religion und Gebräuche mit den Nichtabderiten gemein haben, auch essen und trinken, handeln und wandeln, sich kleiden und putzen, sich frisieren und parfümieren, purgieren und klysterisieren lassen, kurz, alles was zur Notdurft des menschlichen Lebens gehört ungefähr eben so machen wie andre Leute – daß sie, sage ich, nichts destoweniger in allem was sie zu Abderiten macht sich selbst so unveränderlich gleich bleiben, als ob sie von jeher durch eine diamantne Mauer, dreimal so hoch und dick als die Mauern des alten Babylons, von den vernünftigen Geschöpfen auf unserm Planeten abgesondert gewesen wären, alle andre Menschenarten verändern sich durch Verpflanzung, und zwo verschiedne Arten bringen durch Vermischung eine dritte hervor. Aber an den Abderiten, wohin sie auch verpflanzt wurden und soviel sie sich auch mit andern Völkern vermischt haben, hat man nie die geringste wesentliche Veränderung wahrnehmen können. Sie sind immer noch die nämlichen Narren die sie vor zweitausend Jahren zu Abdera waren; und wiewohl man schon längst nicht mehr sagen kann: siehe hie ist Abdera oder da ist Abdera: so ist doch in Europa, Asia, Africa und America, soweit diese große Erdviertel policiert sind, keine Stadt, kein Marktflecken, Dorf noch Dörfchen, wo nicht einige Glieder dieser unsichtbaren Genossenschaft anzutreffen sein sollten.« – So weit besagter Hafen Slawkenbergius.

»Nachdem ich diese Stelle gelesen hatte, fährt unser Verfasser fort, so hatte ich nun auf einmal den Schlüssel zu den vorbesagten Erfahrungen, die mir ersten Anblicks so unerklärbar vorgekommen waren; und so wie der Slawkenbergische Bericht das was mir mit den Abderiten begegnet war, begreiflich machte, so bestätigte dieses hinwieder die Glaubwürdigkeit von jenem. Die Abderiten hatten also einen Samen hinterlassen, der in allen Landen aufgegangen war und sich in eine sehr zahlreiche Nachkommenschaft ausgebreitet hatte; und da man beinahe allenthalben die Charaktere und Begebenheiten der alten Abderiten für Abbildungen und Anekdoten der neuen ansah: so erwies sich dadurch auch die seltsame Eigenschaft der Einförmigkeit und Unveränderlichkeit, welche dieses Volk, nach dem angeführten Zeugnis, von andern Völkern des festen Landes und der Inseln des Meeres unterscheidet. Die Nachrichten, die mir hierüber von allen Orten zukamen, gereichten mir aus einem doppelten Grunde zu großem Troste: erstens, weil ich mich nun auf einmal von allem innerlichen Vorwurf den Abderiten vielleicht zuviel getan zu haben erleichtert fand; und zweitens, weil ich vernahm, daß mein Werk überall, auch von den Abderiten selbst, mit Vergnügen gelesen, und besonders die treffende Ähnlichkeit zwischen den alten und neuen bewundert werde, welche den letztern, als ein augenscheinlicher Beweis der Echtheit ihrer Abstammung, allerdings sehr schmeichelhaft sein mußte. Die Wenigen, welche sich beschwert haben sollen, daß man sie zu ähnlich geschildert habe, kommen in der Tat gegen die Menge derer die zufrieden sind in keine Betrachtung; und auch diese Wenigen täten vielleicht besser, wenn sie die Sache anders nähmen. Denn da sie, wie es scheint, nicht gerne für das angesehen sein wollen was sie sind, und sich deswegen in die Haut irgend eines edlern Tieres gesteckt haben: so erfodert die Klugheit, daß sie ihre Ohren nicht selbst hervorstrecken, um eine Aufmerksamkeit auf sich zu erregen, die nicht zu ihrem Vorteil ausfallen kann.

Auf der andern Seite aber ließ ich mir auch den Umstand, daß ich die Geschichte der alten Abderiten gleichsam unter den Augen der neuern schrieb, zu einem Beweggrund dienen, meine Einbildungskraft, die ich anfangs bloß ihrer Willkür überlassen hatte, kürzer im Zügel zu halten, mich vor allen Karikaturen sorgfältig zu hüten, und den Abderiten in allem was ich von ihnen erzählte, die strengste Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Denn ich sah mich nun als den Geschichtschreiber der Altertümer einer noch fortblühenden Familie an, welche berechtigt wäre, es übel zu vermerken, wenn man ihren Vorfahren irgend etwas ohne Grund und gegen die Wahrheit aufbürdete.«

Die Geschichte der Abderiten kann also mit gutem Grunde als eine der wahresten und zuverlässigsten, und eben darum als ein getreuer Spiegel betrachtet werden, worin die Neuern ihr Antlitz beschauen, und, wenn sie nur ehrlich gegen sich selber sein wollen, genau entdecken können, in wiefern sie ihren Vorfahren ähnlich sind. Es wäre sehr überflüssig, von dem Nutzen, den das Werk in dieser Rücksicht so lange als es noch Abderiten geben wird – und dies wird vermutlich sehr lange sein – stiften kann und muß, viele Worte zu machen. Wir bemerken also nur, daß es beiläufig auch noch den Nutzen haben könnte, die Nachkömmlinge der alten Teutschen unter uns behutsamer zu machen, sich vor allem zu hüten was den Verdacht erwecken könnte, als ob sie entweder aus abderitischen Blute stammten, oder aus übertriebner Bewundrung der abderitischen Art und Kunst und daher entspringender Nachahmungssucht, sich selbst Ähnlichkeiten mit diesem Volke geben wollten, wobei sie aus vielerlei Ursachen wenig zu gewinnen hätten.

Und dies, werte Leser, wäre also der versprochne Schlüssel zu diesem merkwürdigen Originalwerke, mit beigefügter Versicherung, daß nicht das kleinste geheime Schubfach darin ist, welches Sie sich mit diesem Schlüssel nicht sollten aufschließen können; und wofern Ihnen jemand ins Ohr raunen wollte, als ob noch mehr darin verborgen sei, so können Sie sicherlich glauben, daß er entweder nicht weiß was er sagt, oder nichts Gutes im Schilde führt.

– – SAPIENTIA PRIMA EST STULTITIA CARUISSE –



Fußnoten

01) Solin. Polyhist. c. X.

02) Paläphatus in seinem Buche von Unglaublichen Dingen erklärt auf diese Weise die Fabel, daß dieser Fürst seine Pferde mit Menschenfleisch gefüttert habe, und ihnen endlich selbst vom Herkules zur Speise vorgeworfen worden sei.

03) Herodot. I. 43.

06) Juvenal. Satyr. X. v. 50.

08) Ein berühmter Sophiste von Abdera (etwas älter als Demokritus), welchen Cicero dem Hippias, Prodikus, Gorgias, und also den größten Männern seiner Profession an die Seite setzt.

09) Was hier von den Abderiten gesagt wird, erzählen andere alte Schriftsteller von der Stadt Alabandus. S. Coel. Rhodog. Lect. Ant. L. XXVI. Cap. 25.

10) Plato de Republ. L. III. Tom. opp. II. p. 398.

11) Plin. Naturgesch. B. IV.

12) Solin. C. XXX. auch Plinius, Mela, und andere Alte und Neuere, welche uns alle die Wundermenschen, von denen hier die Rede ist, für wirkliche Geschöpfe Gottes zu gehen kein Bedenken tragen.

13) Solinus aus dem Ktesias.

14) Ebenderselbe.

16) Parmenides von Elea wird für den Erfinder der Lehre von den Ideen oder wesentlichen Urbildern gehalten, welche Plato in sein System aufgenommen, und sich so eigen gemacht hat, daß man sie gewöhnlich nach seinem Namen zu nennen pflegt.

17) Ein sehr gewöhnlicher Griff der abderitischen Gelehrten und Kunstrichter.

18) Griechische Possenspiele, die mit der Opera buffa der Welschen einige Ähnlichkeit hatten, und wovon uns der Cyklops des Euripides, das einzige übrig gebliebene Stück dieser Art, einen Begriff gibt.

19) Aelian. Var. Hist. III. 36.

20) Die Athenienser hatten zu ihrem Kriege mit Megara keinen bessern Grund (wenn man dem Aristophanes glauben dürfte,) als daß etliche junge Herren von Megara, um die Entführung einer megarischen Courtisane zu rächen, ein paar junge Dirnen von der nämlichen Profession aus Aspasiens Pflanzschule entführt hatten. Aspasia vermochte alles über den Perikles, Perikles alles in Athen, und so wurde den Megarern der Krieg angekündigt. Plutarch im Leben des Perikles.

2) 21 Ob diese Stelle, der Gasthöfe wegen, für unecht und eingeschoben zu halten sei, überläßt man dem Urteile derjenigen, welche die Rem cauponariam Veterum gründlich untersucht haben.

22 Ein fremdes Wort! Ich bitte es den Puristen ab. Aber weder Lage, noch Stellung, noch Gebärde drückt das aus was Attitüde; und so oft es uns an unentbehrlichen einheimischen Worten gebricht, werden wir wohl genötiget bleiben, fremde zu borgen. Und von wem können wir solchenfalls schicklicher borgen als von derjenigen lebenden Sprache, welche die polierteste und allgemeinste ist? So machten es die alten Römer mit der griechischen; und warum sollten deutsche Schriftsteller, mit gleicher Bescheidenheit, nicht tun dürfen, was sogar Cicero, dem seine Muttersprache so viel zu danken hatte, für erlaubt hielt?

23 Die öffentliche Ehrbarkeit diente ihnen statt eines Schleiers, sagt, ich weiß nicht welcher Alter, von den spartanischen Töchtern.

24 Frau Salabanda hat Recht. Lange vor dem Hammel der Madame Dannoy machte Lucian in seiner wahren Geschichte, und lange vor Lucian machten die griechischen Komödiendichter, Metagenes, Pherckrates, Teleklides, Krates und Kratinus, Beschreibungen vom Schlaraffenlande und vom Schlaraffenleben, worin sie sich in die Wette beeiferten, der ausschweifendsten Einbildungskraft eines neuern Märchenmachers nichts übrig zu lassen. Die kühnsten Züge im Gemälde, welches Demokritus davon macht, sind aus den Fragmenten genommen, die uns Athenäus im sechsten Buche seines Gastmahls der Sophisten davon aufbehalten hat.

25 Um denjenigen Lesern, welche weder den Diogenes Laertius, noch des Deslandes, oder Bruckers kritische Geschichte der Philosophie, noch die Compendien des Herrn Formey oder D. Büschings, gelesen haben, irrige Vermutungen zu ersparen, erinnert der Verfasser, daß alle hier vorkommende Hypothesen sich eines sehr ehrwürdigen Altertums, und zum Teil einer Menge Verfechter und Anhänger rühmen können. Die Meinung unsers Demokritus ist die einzige, welche, vermutlich bloß weil sie die vernünftigste ist, keine Secte gemacht hat.

26 Dieser Philosoph war also ein Cartesianer vor dem Cartesius.

27 Xerxes, der bei seinem Kriegszuge gegen die Griechen einige Tage zu Abdera bei dem Vater des Demokritus sein Hauptquartier gehabt, hatte den damals noch sehr jungen Demokritus lieb gewonnen, und zu dessen besserer Erziehung ein paar von den Magis, die er bei sich hatte, zurückgelassen. Diogen. Laert

28 S. Lucian im Philopseudes.

29 Epopten hießen diejenigen, welche nach ausgestandner Prüfung zum Anschauen der großen Mysterien zu Eleusis zugelassen wurden. S. Warburtont's Divine Legation Vol. I. p. 155 der 4ten Ausgabe.

30 Ein Mann, von dessen wunderbarer Leibesstärke und Gefräßigkeit die fabelhaften Graeculi erstaunliche Dinge zu erzählen wissen; z.E. daß er einen wohlgemästeten Ochsen dreihundert Schritte weit auf den Schultern getragen, und, nachdem er ihn mit einem einzigen Faustschlag tot gemacht, in einem Tage aufgegessen habe.

31 Eine der Hälfte des menschlichen Geschlechts verhaßte Sagacität – nennt dies Joh. Chrysostomus Magnenus, in seinem Leben des Demokritus.

32 Plinius, der in seiner Natur- und Kunstgeschichte Wahres und Falsches ohn Unterschied zusammengetragen hat, erzählt, im Capit. 49 seines zehnten Buchs, in ganzem Ernst: Demokritus habe in einer seiner Schriften gewisse Vögel benennet, aus deren vermischtem Blut eine Schlange entstehe, welche die Eigenschaft habe, daß derjenige, der sie esse, (ob mit Essig und Öl? sagt er nicht) von Stund an alles verstehe, was die Vögel miteinander reden. Wegen dieser und anderer ähnlicher Albernheiten, wovon (wie er sagt) die Schriften des Demokritus wimmeln, liest er ihm an einem andern Orte seines Werkes den Text sehr schulmeisterhaft. Aber Gellius (Noct. Atticar. L. X. Cap. 12.) verteidigt unsern Philosophen mit besserm Grund, als Plinius ihn verurteilt. Was konnte Demokritus dafür, daß die Abderiten dumm genug waren, alles, was er im Ernste sagte, für Ironie, und alles, was er scherzweise sagte, für Ernst zu nehmen? Oder wie konnt' er verhindern, daß nicht lange nach seinem Tode abderitische Köpfe tausend Albernheiten, an die er nie gedacht hatte, unter seinem Namen und Ansehen an andre Abderiten verkauften? Was für klägliches Zeug ließ ihn nicht erst im Jahr 1646 Magnenus in seinem Democritus redivivus sagen? Und was müssen nicht die Leute in der andern Welt von sich sagen lassen?

33 Dies ist wohl ein Irrtum des Übersetzers. Denn wer weiß nicht, daß die Truthühner dem Aristoteles selbst unbekannt waren, und unbekannt sein mußten, weil sie erst aus Westindien zu uns und in die übrigen Teile unsrer Halbkugel gekommen sind? S. Buffon Histoire naturelle des Oiseaux, T. 3. p. 187 u. f.

34 Nichts ist möglicher, als daß Sokrates wirklich einmal etwas gesagt haben konnte, das zu dieser Türlipinade Anlaß gegeben. Er durfte nur in einer Gesellschaft, wo die Rede von Größe und Kleinheit war, den Irrtum angemerkt haben, den man gewöhnlich begeht, da man von Groß und Klein als von wesentlichen Eigenschaften spricht, und nicht bedenkt, daß es bloß auf den Maßstab ankommt, ob etwas groß oder klein sein soll. Er konnte nach seiner scherzhaften Art gesagt haben: man habe Unrecht, den Sprung eines Flohs nach der attischen Elle zu messen; man müsse, um die Schnellkraft des Flohs mit derjenigen eines Luftspringers zu vergleichen, nicht den menschlichen Fuß, sondern den Flohfuß zum Maß nehmen, wenn man anders den Flöhen Gerechtigkeit widerfahren lassen wolle – und dergleichen. Nun brauchte nur ein Abderite in der Gesellschaft zu sein, so können wir sicher darauf rechnen, daß er es als eine große Ungereimtheit, die dem Philosophen entfahren sei, nach seiner eignen Art wieder erzählt haben werde; und wenn gleich Aristophanes klug genug war, zu begreifen, daß Sokrates etwas kluges gesagt hatte, so war es doch für einen Mann von seiner Profession und zu seiner Absicht, den Philosophen lächerlich zu machen, schon genug, daß man diesem Einfall eine Wendung geben konnte, wodurch er geschickt wurde, die Zwerchfelle der Athenienser, welche (den Geschmack und den Witz abgerechnet) ziemlich Abderiten waren, einen Augenblick zu erschüttern.

35 Perpetuo risu pulmonem agitare solebat Democritus. – Juvenal. Sat. X. 33.

36 De Tranquill. animi c. 15.

37 Bei allem dem erklärt sich doch Seneca bald darauf, daß es noch besser und einem weisen Manne anständiger sei, die herrschenden Sitten und Fehler der Menschen sanft und gleichmütig zu ertragen, als darüber zu lachen oder zu weinen. Mich dünkt, er hätte mit wenig Mühe finden können, daß es – noch was bessers gibt als dies Bessere. Warum immer lachen, immer weinen, immer zürnen, oder immer gleichgültig sein? Es gibt Torheiten, welche belachenswert sind; es gibt andere, die ernsthaft genug sind, um dem Menschenfreund Seufzer auszupressen; andre, die einen Heiligen zum Unwillen reizen könnten; endlich noch andre, die man der menschlichen Schwachheit zu gut halten soll. Ein weiser und guter Mann (nisi pituita molesta est, wie Horaz weislich ausbedingt,) lacht oder lächelt, bedaurt oder beweint, entschuldigt oder verzeiht, je nach dem es Personen und Sachen, Ort und Zeit mit sich bringen. Denn lachen und weinen, lieben und hassen, züchtigen und loslassen, hat seine Zeit, sagt Salomo, welcher älter, klüger und besser war als Seneca mit allen seinen Antithesen.

40 Apolog. C. 46.

41 Memorab. Socrat. Lib. 1. Cap. 3. Num. 14.

42 Brucker; vom Magnenus, der den Demokritus nach seiner eignen Phantasie raisonnieren und deraisonnieren läßt, nichts zu sagen!

43 Bruck. Histor. Crit. Philos. T. 1. p. 1190.

44 Hier scheint sich eine Unrichtigkeit in den Text eingeschlichen zu haben. Der Pfau war vor Alexanders Eroberung des persischen Reiches ein unbekannter Vogel in Griechenland. Und da er nachmals aus Asien nach Europa überging, war er anfangs so selten, daß man ihn zu Athen um Geld sehen ließ. Jedoch wurde er in kurzer Zeit (nach dem Ausdruck des Komödienschreibers Antiphanes) so gemein als die Wachteln. In der üppigen Epoche von Rom wurde deren eine unendliche Menge daselbst erzogen, und der Pfau machte ein vorzügliches Gerichte auf den römischen Tafeln aus. Woher der Herr von Büffon genommen hat, daß die Griechen keine Pfauen gegessen, weiß ich nicht; das Gegenteil hätte ihm eine Stelle aus dem Poeten Alexis beim Athenäus beweisen können. Indessen wäre doch, wenn es vor Alexandern keine Pfauen in Europa gegeben hätte, gewiß, daß Demokritus dem Priester Strobylus keinen gebratnen Pfauen hätte schicken können; man müßte denn voraussetzen, daß dieser Naturforscher unter andern Seltenheiten auch Pfauen aus Indien mitgebracht hätte. Und warum sollte man dies nicht voraussetzen können? Im Notfall könnten uns auch die alten samischen Münzen, auf denen man neben der Juno einen Pfau abgebildet sieht, aus der Schwierigkeit helfen – wenn es der Mühe wert wäre.

45 Eine persische Goldmünze, die von Cyaxares 11, oder Darius aus Medien, nach der Eroberung Babylons zuerst soll geschlagen worden sein.

46 Wie ungleich sich doch das nämliche Factum erzählen läßt. Von eben dieser Tat, die unser Sykophant für den vollständigsten Beweis eines verrückten Gehirnes hält, spricht Plinius als von einer höchst edeln und der Philosophie Ehre machenden Handlung. Demokritus war viel zu gutherzig, um sich auf Unkosten andrer, die nicht so viel entbehren konnten wie er, bereichern zu wollen. Ihre ängstliche Unruhe und Verzweiflung, einen so großen Gewinnst verfehlt zu haben, rührte ihn; er gab ihnen ihr Öl, oder das daraus gelöste Geld zurück, und begnügte sich, den Abderiten gezeigt zu haben, daß es nur von ihm abhange, Reichtümer zu erwerben, wenn er es für der Mühe wert hielte. In diesem Lichte sieht Plinius die Sache an; und in der Tat muß man ein Abderite, ein Sykophant, und ein Schurke zugleich sein, um so wie unser Sykophant davon zu sprechen.

47 Es befindet sich noch etwas unter dieser Rubrik in den Ausgaben der Werke des Hippokrates. Es ist aber ohne allen Zweifel untergeschoben, und die Arbeit irgend eines schalen Gräculus späterer Zeiten; so wie die ganze Erzählung von der Zusammenkunft dieses Arztes mit dem Demokritus in einem der unechten Briefe, die den Namen des erstern führen.

48 Denen, welche sich etwan hierüber verwundern möchten, dienet zur Nachricht, daß die Lorgnetten damals noch nicht erfunden waren.

49 Zum Unglück sind alle seine Werke verloren gegangen. V. Recherches sur Hecatée de Milet, Tom. IX. des Mém. de Litterat.

50 Ovid. Metamorph. L. V, v. 218.

52 Es nannte sich Eugamia, oder die vierfache Braut. Eugamia war von ihrem Vater an einen, von der Mutter an den andern, und von einer Tante, an deren Erbschaft ihr gelegen war, an den dritten Mann versprochen worden. Am Ende kam heraus, daß das voreilige Mädchen sich selbst in aller Stille bereits an einen vierten verschenkt hatte.

55 Ein Ausdruck, der vor kurzem von einem französischen Schriftsteller bei einer solchen Gelegenheit gebraucht worden ist, daß er nun für unwiederbringlich ruiniert angesehen werden kann, und allein noch in einem Possenspiel auszustehen ist.

58 Es ist bekannt, daß dieses häßliche Laster dem Euripides, wiewohl unverdienter Weise, Schuld gegeben wurde.

59 Der Ratsherr war einer von den Fürsorgern des geheiligten Froschgrabens, welches in Abdera eine sehr ansehnliche Stelle war. Man nannte sie die Batrachotrophen, welches zu deutsch sehr füglich durch Froschpfleger gegeben werden kann.

62 Der Apostel Paul bedient sich des von diesem Worte abgeleiteten Beiworts, da er die Athenienser, ironischer oder wenigstens zweideutiger Weise, wegen ihrer unbegrenzten Religiosität zu loben scheint. Apost. Gesch. XVII. 22. Man könnte es Götterfurcht oder Dämonenfurcht übersetzen.

63 Es versteht sich von selbst, daß der Dichter das Seinige getan haben muß, um die Illusion zu bewirken und zu unterhalten; denn sonst hat er freilich kein Recht, von uns zu verlangen, daß wir, ihm zu gefallen, tun sollen, als ob wir sähen, was er uns nicht zeigt, fühlten, was er uns nicht fühlen macht, u.s.w.

64 Aufrichtig zu reden, dieser Vers ist der einzige rührende in dem ganzen Fragment der Rede des Perseus, das zufälliger Weise noch vorhanden ist, wie unsre des Griechischen kundige Leser selbst urteilen mögen – denn so lauten die Worte:

Αλλ' ω τυραννε Θεων τε κανϑρωπων, Ερως,

Η μη διδασκε τα κακα φαινεϑαι καλα,

Η τοι ερωσιν, ών συ δημιουργος ει,

Μοχϑουσι μαχϑους ευτυχως συνεκπονει, κ. τ. λ.

65 Wir wissen wohl daß dies nicht à la grecque gesprochen ist; aber die Dame Struthion ist wie Frau Damon in unsern Komödien: und was liegt dem Leser daran, wie die Zahnärztin mit ihrem eigenen Namen geheißen haben mag



Quelle: Christoph Martin Wieland: Werke. Band 2, München 1964 ff.. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20005912512 Lizenz: Gemeinfrei ----- ENDE -----

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Erstellt am 21.01.2013 - Letzte Änderung am 25.01.2013.