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Auszüge aus dem Buch:

Geschichte der Abderiten

von Christoph Martin Wieland (1733-1813)

Eine Geschichte über menschliche Schwächen und welch schweres Leben diejenigen wenigen Personen erdulden, die davon frei sind. 1774-1780 erschienen, zeitlos gültig.



Die Abderiten. Eine sehr wahrscheinliche Geschichte von Herrn Hofrath Wieland ist ein satirischer Roman von Christoph Martin Wieland, der in der Zeitschrift Der Teutsche Merkur in den Jahren 1774–1780 in Fortsetzungen erschienen ist. Darin verspottet Wieland die Einfalt seiner kleinstädtischen Zeitgenossen deutscher Freier Reichsstädte.

Die oft (auch von Zeitgenossen Wielands) geäußerte Meinung, er beschreibe Verhältnisse seiner Heimatstadt Biberach an der Riß, greift viel zu kurz. Inhaltlich handelt es sich weitgehend um die von antiken Komödiendichtern und Satirikern kolportierten Geschichten aus Abdera, das im klassischen Hellas als „Schilda“ verrufen war. Möglicherweise hatte Wieland einige Charaktere aus Biberach vor seinem geistigen Auge, aber die hätte man zweifellos in jedem anderen Städtchen finden können: Wieland stellt eine gleichsam „kosmopolitische“ Abderitheit, Narrheit dar, die zu allen Zeiten an allen Orten unter Menschen zu finden ist.

Hervorzuheben ist die massenpsychologische Dimension seines Romans, die den soziologischen und psychologischen Erkenntnissen seiner Zeit weit voraus ist.

Der Roman erschien im von Wieland herausgegebenen Teutschen Merkur (1774–1780) und hat viele „Nachahmer“ inspiriert, u. a. August von Kotzebue, Friedrich Dürrenmatt, Richard Strauss, Peter Ustinov.

Abderit ist eine Bezeichnung für einen Einfaltspinsel, einen Schildbürger, also einen naiven, dummen Menschen. Hergeleitet wird der Begriff von der antiken Stadt Abdera, die zwar die Heimat so bedeutender Männer wie Demokrit und Protagoras war, aber dennoch bei den Hellenen in den Ruf Schildas kam.


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Vorbericht

INHALT

I. Erstes Buch oder Demokritus unter den Abderiten
    Kapitel:
  1. Vorläufige Nachrichten vom Ursprung der Stadt Abdera und dem Charakter ihrer Einwohner
  2. Demokritus von Abdera - Ob und wie viel seine Vaterstadt berechtigt war, sich etwas auf ihn einzubilden?
  3. Was Demokritus für ein Mann war - Seine Reisen - Er kommt nach Abdera zurück - Was er mitbringt, und wie er aufgenommen wird - Ein Examen, das sie mit ihm vornehmen, welches zugleich eine Probe einer abderitischen Conversation ist
  4. Das Examen wird fortgesetzt, und verwandelt sich in eine Disputation über die Schönheit, wobei dem Demokritus sehr warm gemacht wird
  5. Unerwartete Auflösung des Knotens, mit einigen neuen Beispielen von abderitischem Witz
  6. Eine Gelegenheit für den Leser, um sein Gehirn aus der schaukelnden Bewegung des vorigen Kapitels wieder in Ruhe zu setzen
  7. Patriotismus der Abderiten - Ihre Vorneigung für Athen als ihre Mutterstadt - Ein paar Proben von ihrem Atticismus, und von der unangenehmen Aufrichtigkeit des weisen Demokritus
  8. Vorläufige Nachricht von dem abderitischen Schauspielwesen - Demokritus wird genötigt, seine Meinung davon zu sagen
  9. Gute Gemütsart der Abderiten, und wie sie sich an dem Philosophen Demokritus wegen seiner Unhöflichkeit zu rächen wissen - Eine seiner Strafpredigten zur Probe - Die Abderiten machen ein Gesetz gegen alle Reisen, wodurch ein abderitisches Mutterkind hätte klüger werden können - Merkwürdige Art, wie de Nomophylax Gryllus eine aus diesem Gesetz entstandene Schwierigkeit auflöst
  10. Demokritus zieht sich aufs Land zurück, und wird von den Abderiten fleißig besucht - Allerlei Raritäten, und eine Unterredung vom Schlaraffenlande der Sittenlehrer
  11. Etwas von den abderitischen Philosophen, und wie Demokritus das Unglück hat, sich mit ein paar wohlgemeinten Worten in sehr schlimmen Credit zu setzen
  12. Demokritus zieht sich weiter von Abdera zurück - Wie er sich in seiner Einsamkeit beschäftigt - Er könnt bei den Abderiten in den Verdacht, daß er Zauberkünste treibe - Ein Experiment, das er bei dieser Gelegenheit mit den abderitischen Damen macht, und wie es abgelaufen
  13. Demokritus soll die Abderitinnen die Sprache der Vögel lehren - Im Vorbeigehen eine Probe, wie sie ihre Töchter bildeten



II. Zweites Buch oder Hippokrates in Abdera

    Kapitel:
  1. Eine Abschweifung über den Charakter und die Philosophie des Demokritus welche wir den Leser nicht zu überschlagen bitten
  2. Demokritus wird eines schweren Verbrechens beschuldiget, und von einem seiner Verwandten damit entschuldiget, daß er seines Verstandes nicht recht mächtig sei - Wie er das Ungewitter, welches ihm der Priester Strobylus zubereiten wollte, noch zu rechter Zeit ableitet – ein Arcanum, dessen Wirkung selten ausbleibt, wenn es recht appliciert wird
  3. Eine kleine Abschweifung in die Regierungszeit Schah Bahams des Weisen - Charakter des Ratsherrn Thrasyllus
  4. Kurze, doch hinlängliche, Nachrichten von den abderitischen Sykophanten - Ein Fragment aus der Rede, worin Thrasyllus um die Bevogtung seines Vettern ansuchte
  5. Die Sache wird auf ein medicinisches Gutachten ausgestellt - Der Senat läßt ein Schreiben an den Hippokrates abgehen - Der Arzt kommt in Abdera an, erscheint vor Rat, wird vom Ratsherrn Thrasyllus zu einem Gastgebot gebeten, und hat – Langeweile - Ein Beispiel, daß ein Beutel voll Dariken nicht bei allen Leuten anschlägt
  6. Hippokrates legt einen Besuch beim Demokritus ab - Geheimnachrichten von dem uralten Orden der Kosmopoliten
  7. Hippokrates erteilt den Abderiten seinen gutächtlichen Rat - Große und gefährliche Bewegungen, die darüber im Senat entstehen, und wie, zum Glück für das abderitische Gemeinwesen, der Stundenweiser alles auf einmal wieder in Ordnung bringt



III. Drittes Buch oder Euripides unter den Abderiten

    Kapitel:
  1. Die Abderiten machen sich fertig, in die Komödie zu gehen
  2. Nähere Nachrichten von dem abderitischen Nationaltheater - Geschmack der Abderiten - Charakter des Nomophylax Gryllus
  3. Beiträge zur abderitischen Litterargeschichte - Nachrichten von ihren ersten theatralischen Dichtern, Hyperbolus, Paraspasmus, Antiphilus und Thlaps
  4. Merkwürdiges Beispiel von der guten Staatswirtschaft der Abderiten - Beschluß der Digression über ihr Theaterwesen
  5. Die Andromede des Euripides wird aufgeführt - Großer Succeß des Nomophylax, und was die Sängerin Eukolpis dazu beigetragen - Ein paar Anmerkungen über die übrigen Schauspieler, die Chöre und die Decoration
  6. Sonderbares Nachspiel, das die Abderiten mit einem unbekannten Fremden spielten, und dessen höchst unvermutete Entwicklung
  7. Wie Euripides nach Abdera gekommen, nebst einigen Geheimnachrichten von dem Hofe zu Pella
  8. Wie sich Euripides mit den Abderiten benimmt - Sie machen einen Anschlag auf ihn, wobei sich ihre politische Betriebsamkeit in einem starken Lichte zeigt, und der ihnen um so gewisser gelingen muß, weil alle Schwierigkeiten, so sie dabei sehen, bloß eingebildet sind
  9. Euripides besieht die Stadt, wird mit dem Priester Strobylus bekannt, und vernimmt von ihm die Geschichte der Latonenfrösche - Merkwürdiges Gespräch, welches bei dieser Gelegenheit zwischen Demokritus, dem Priester und dem Dichter vorfällt
  10. Der Senat zu Abdera gibt dem Euripides, ohne daß er darum angesucht hätte Erlaubnis, eines seiner Stücke auf dem abderitischen Theater aufzuführen Kunstgriff; wodurch sich die abderitische Kanzlei in solchen Fällen zu helfen pflegte - Schlaues Betragen des Nomophylax - Merkwürdige Art der Abderiten, einem, der ihnen im Wege stund, allen Vorschub zu tun
  11. Die Andromeda des Euripides wird endlich, trotz aller Hindernisse, von seiner eignen Truppe aufgeführt - Außerordentliche Empfindsamkeit der Abderiten, mit einer Digression, welche unter die lehrreichsten in diesem ganzen Werke gehört, und daher auch von gar keinem Nutzen sein wird
  12. Wie ganz Abdera vor Bewunderung und Entzücken über die Andromeda des Euripides zu Narren wurde - Philosophischkritischer Versuch über diese seltsame Art von Phrenesie, welche bei den Alten insgemein die abderische Krankheit genannt wird – den Geschichtschreibern ergebenst zugeeignet

Christoph Martin Wieland
Geschichte der Abderiten

Vorbericht

Diejenigen, denen etwan daran gelegen sein möchte, sich der Wahrheit der bei dieser Geschichte zum Grunde liegenden Tatsachen und charakteristischen Züge zu vergewissern, können wofern sie nicht Lust haben, solche in den Quellen selbst, nämlich in den Werken eines Herodots, Diogenes Laertius, Athenäus, Aelians, Plutarchs, Lucians, Paläphatus, Cicero, Horaz, Petrons, Juvenals, Valerius, Gellius, Solinus, u.a. aufzusuchen – sich aus den Artikeln Abdera und Demokritus in dem Baylischen Wörterbuche überzeugen, daß diese Abderiten nicht unter die wahren Geschichten im Geschmacke der lucianischen gehören. Sowohl die Abderiten, als ihr gelehrter Mitbürger Demokritus, erscheinen hier in ihrem wahren Lichte; und wiewohl der Verfasser, bei Ausfüllung der Lücken, Aufklärung der dunkeln Stellen, Hebung der wirklichen und Vereinigung der scheinbaren Widersprüche, die man in den vorbemeldten Schriftstellern findet, nach unbekannten Nachrichten gearbeitet zu haben scheint: so werden doch scharfsinnige Leser gewahr werden, daß er in allem diesem einem Gewährsmanne gefolget ist, dessen Ansehen alle Aeliane und Athenäen zu Boden wiegt, und gegen dessen einzelne Stimme das Zeugnis einer ganzen Welt, und die Entscheidung aller Amphictyonen, Areopagiten, Decemvirn, Centumvirn und Ducentumvirn, auch Doctoren, Magistern und Baccalauren, samt und sonders ohne Wirkung ist, nämlich der Natur selbst.

Sollte man dieses kleine Werk als einen, wiewohl geringen, Beitrag zur Geschichte des menschlichen Verstandes ansehen wollen: so läßt sichs der Verfasser sehr wohl gefallen; glaubt aber, daß es auch unter diesem so vornehm klingenden Titel weder mehr noch weniger sei, als was alle Geschichtbücher sein müssen, wenn sie nicht sogar unter die schöne Melusine herabsinken, und mit dem schalsten aller Märchen, der Dame D'Aunoy in Eine Rubrik geworfen werden wollen.



Erstes Buch
oder
Demokritus unter den Abderiten

Erstes Kapitel
Vorläufige Nachrichten vom Ursprung der Stadt Abdera und dem Charakter ihrer Einwohner

Das Altertum der Stadt Abdera in Thracien, verliert sich in der fabelhaften Heldenzeit. Auch kann es uns sehr gleichgültig sein, ob sie ihren Namen von Abdera, einer Schwester des berüchtigten Diomedes, Königs der bistonischen Thracier f01), – der ein so großer Liebhaber von Pferden war und deren so viel hielt, daß er und sein Land endlich von seinen Pferden aufgefressen wurde f02), – oder von Abderus, einem Stallmeister dieses Königs, oder von einem andern Abderus, der ein Liebling des Herkules gewesen sein soll, empfangen habe.

Abdera war, einige Jahrhundert nach ihrer ersten Gründung, vor Alter wieder zusammengefallen: als Timesius von Klazomene, um die Zeit der ein und dreißigsten Olympiade, unternahm, sie wieder aufzubauen. Die wilden Thracier, welche keine Städte in ihrer Nachbarschaft aufkommen lassen wollten, ließen ihm nicht Zeit, die Früchte seiner Arbeit zu genießen f03). Sie trieben ihn wieder fort, und Abdera blieb unbewohnt und unvollendet, bis, ungefähr um das Ende der Olympiade 59, die Einwohner der ionischen Stadt Teos – weil sie keine Lust hatten, sich dem Eroberer Cyrus zu unterwerfen – zu Schiffe gingen, nach Thracien segelten, und, da sie in einer der fruchtbarsten Gegenden desselben dieses Abdera schon gebauet fanden, sich dessen als einer verlassenen und niemanden zugehörigen Sache bemächtigten, auch sich darinnen gegen die thracischen Barbaren so gut behaupteten, daß sie und ihre Nachkommen von nun an Abderiten hießen, und einen kleinen Freistaat ausmachten, der (wie die meisten griechischen Städte) ein zweideutig Mittelding von Demokratie und Aristokratie war, und regieret wurde, – wie kleine Republiken von je her regieret worden sind.

»Wozu (rufen unsre Leser) diese nichtsbedeutende Deduction des Ursprungs und der Schicksale des Städtchens Abdera in Thracien? Was kümmert uns Abdera? Was liegt uns daran, zu wissen, oder nicht zu wissen, wann, wie, wo, warum, von wem, und zu was Ende eine Stadt, welche längst nicht mehr in der Welt ist, erbaut worden sein mag?«

Geduld! günstige Leser! Geduld, bis wir, eh ich weiter fort erzähle, über unsre Bedingungen einig sind. Verhüte der Himmel, daß man euch zumuten sollte, die Abderiten zu lesen, wenn ihr gerade was nötigeres zu tun, oder was besseres zu lesen habt! –

»Ich muß auf eine Predigt studieren. – Ich habe Kranke zu besuchen. – Ich hab' ein Gutachten, einen Bescheid, eine Leuterung, einen untertänigsten Bericht zu machen. – Ich muß recensieren. – Mir fehlen noch sechzehn Bogen an den vier Alphabeten, die ich meinem Verleger binnen acht Tagen liefern muß. – Ich hab' ein Joch Ochsen gekauft. – Ich hab' ein Weib genommen. –« In Gottes Namen! Studiert, besucht, referiert, recensiert, übersetzt, kauft und freiet! – Beschäftigte Leser sind selten gute Leser. Bald gefällt ihnen alles, bald nichts; bald verstehn sie uns halb, bald gar nicht, bald (was das schlimmste ist) unrecht. Wer mit Vergnügen, mit Nutzen lesen will, muß gerade sonst nichts anders zu tun noch zu denken haben. Und wenn ihr euch in diesem Falle befindet: warum solltet ihr nicht zwo oder drei Minuten daran wenden wollen, etwas zu wissen, was einem Salmasius, einem Barnes, einem Bayle, – und, um aufrichtig zu sein, mir selbst (weil mir nicht zu rechter Zeit einfiel, den Artikel Abdera im Bayle nachzuschlagen,) eben so viele Stunden gekostet hat? Würdet ihr mir doch geduldig zugehöret haben, wenn ich euch die Historie vom König in Böhmenland der sieben Schlösser hatte, oder die Geschichte der drei Calender zu erzählen, angefangen hätte.

Die Abderiten also, hätten (dem zufolge, was bereits von ihnen gemeldet worden ist,) ein so feines, lebhaftes, witziges und kluges Völkchen sein sollen, als jemals eines unter der Sonne gelebt hat. –

»Und warum dies?«

Diese Frage wird uns vermutlich nicht von den Gelehrten unter unsern Lesern gemacht. Aber, wer wollte auch Bücher schreiben, wenn alle Leser so gelehrt wären, als der Autor? Die Frage warum dies ist allemal eine sehr vernünftige Frage. Sie verdient, wo die Rede von menschlichen Dingen ist, allemal eine Antwort; und wehe dem, der verlegen, oder beschämt, oder ungehalten wird, wenn er sich auf warum dies vernehmen lassen soll. Wir unsers Orts würden die Antwort ungefodert gegeben haben, wenn die Leser nicht so hastig gewesen wären. Hier ist sie!

Teos war eine atheniensische Colonie, von den zwölfen oder dreizehn eine, welche unter Anführung des Neleus, Kodrus Sohns, in Ionien gepflanzt wurden.

Die Athenienser waren von je her ein muntres und geistreiches Volk, und sind es noch, wie man sagt. Athenienser, nach Ionien versetzt, gewannen unter dem schönen Himmel, der dieses von der Natur verzärtelte Land umfließt, wie Burgunderreben durch Verpflanzung aufs Vorgebirge. Vor allen andern Völkern des Erdbodens waren die ionischen Griechen die Günstlinge der Musen. Homerus selbst war, der größten Wahrscheinlichkeit nach, ein Ionier. Die erotischen Gesänge, die milesischen Fabeln (die Vorbilder unsrer Novellen und Romanen,) erkennen Ionien für ihr Vaterland. Der Horaz der Griechen Alcäus, die glühende Sappho, Anakreon, der Sänger – Aspasia, die Lehrerin – Apelles, der Maler – der Grazien, waren aus Ionien; Anakreon war sogar ein geborner Tejer. Dieser letzte mochte etwa ein Jüngling von achtzehn Jahren sein, (wenn anders Barnes recht gerechnet hat,) als seine Mitbürger nach Abdera zogen. Er zog mit ihnen; und zum Beweise, daß er seine den Liebesgöttern geweihte Leier nicht zurückgelassen, sang er dort das Lied an ein thracisches Mädchen, (in Barnesens Ausgabe das ein und sechzigste,) worin ein gewisser wilder thracischer Ton mit der ionischen Grazie, die seinen Liedern eigen ist, auf eine ganz besondere Art absticht.

Wer sollte nun nicht denken, die Tejer – in ihrem ersten Ursprung Athenienser – so lange Zeit in Ionien einheimisch – Mitbürger eines Anakreons – sollten auch in Thracien den Charakter eines geistreichen Volkes behauptet haben? Allein (was auch die Ursache davon gewesen sein mag,) das Gegenteil ist außer Zweifel. Kaum wurden die Tejer zu Abderiten, so schlugen sie aus der Art. Nicht daß sie ihre vormalige Lebhaftigkeit ganz verloren, und sich in Schöpse verwandelt hätten, wie Juvenal sie beschuldigt f06). Ihre Lebhaftigkeit nahm nur eine wunderliche Wendung; und ihre Einbildung gewann einen so großen Vorsprung über ihre Vernunft, daß es dieser niemals wieder möglich war, sie einzuholen. Es mangelte den Abderiten nie an Einfällen; aber selten paßten ihre Einfälle auf die Gelegenheit, wo sie angebracht wurden; oder kamen erst, wenn die Gelegenheit vorbei war. Sie sprachen viel, aber immer ohne sich einen Augenblick zu bedenken, was sie sagen wollten, oder wie sie es sagen wollten. Die natürliche Folge hievon war, daß sie selten den Mund auftaten, ohne etwas albernes zu sagen. Zum Unglück erstreckte sich diese schlimme Gewohnheit auch auf ihre Handlungen; denn gemeiniglich schlossen sie den Käfig erst, wenn der Vogel entflogen war. Dies zog ihnen den Vorwurf der Unbesonnenheit zu, aber die Erfahrung bewies, daß es ihnen nicht besser ging, wenn sie sich besannen. Machten sie (welches ziemlich oft begegnete,) irgend einen sehr dummen Streich, so kam es immer daher, weil sie es gar zu gut machen wollten; und wenn sie in den Angelegenheiten ihres gemeinen Wesens recht lange und ernstliche Beratschlagungen hielten, so konnte man sicher darauf rechnen, daß sie unter allen möglichen Entschließungen die schlechteste ergreifen würden.

Sie wurden endlich zum Sprichwort unter den Griechen. Ein abderitischer Einfall, ein Abderitenstückchen war bei diesen ungefähr, was bei uns ein Schildbürger- oder bei den Helvetiern ein Lalleburgerstreich ist; und die guten Abderiten ermangelten nicht, die Spötter und Lacher reichlich mit sinnreichen Zügen dieser Art zu versehen. Für itzt mögen davon nur ein paar Beispiele zur Probe dienen. Einsmals fiel ihnen ein, daß eine Stadt wie Abdera billig auch einen schönen Brunnen haben müsse. Er sollte in die Mitte ihres großen Marktplatzes gesetzt werden, und zu Bestreitung der Kosten wurde eine neue Auflage gemacht. Sie ließen einen berühmten Bildhauer von Athen kommen, um eine Gruppe von Statuen zu verfertigen, welche den Gott des Meeres auf einem von vier Seepferden gezogenen Wagen, mit Nymphen, Tritonen und Delphinen umgeben, vorstellte. Die Seepferde und Delphinen sollten eine Menge Wassers aus ihren Nasen hervorspritzen. Aber wie alles fertig stund, fand sich, daß kaum Wasser genug da war, um die Nase eines einzigen Delphins zu befeuchten; und als man das Werk spielen ließ, sah es nicht anders aus, als ob alle diese Seepferde und Delphinen den Schnuppen hätten. Um nicht ausgelacht zu werden, ließen sie also die ganze Gruppe in den Tempel des Neptunus bringen; und so oft man sie einem Fremden wies, bedauerte der Küster sehr ernsthaft im Namen der löblichen Stadt Abdera, daß ein so herrliches Kunstwerk aus Kargheit der Natur unbrauchbar bleiben müsse. Ein andermal erhandelten sie eine sehr schöne Venus von Elfenbein, die man unter die Meisterstücke des Praxiteles zählte. Sie war ungefähr fünf Fuß hoch, und sollte auf einen Altar der Liebesgöttin gestellt werden. Als sie angelangt war, geriet ganz Abdera in Entzücken über die Schönheit ihrer Venus; denn die Abderiten gaben sich für feine Kenner und schwärmerische Liebhaber der Künste aus. Sie ist zu schön, riefen sie einhellig, um auf einem niedrigen Platze zu stehen. Ein Meisterstück, das der Stadt so viel Ehre macht, und so viel Geld gekostet hat, kann nicht zu hoch aufgestellt werden; sie muß das Erste sein, was den Fremden beim Eintritt in Abdera in die Augen fällt. Diesem glücklichen Gedanken zufolge stellten sie das kleine niedliche Bild auf einen Obelisk von achtzig Fuß; und wiewohl es nun unmöglich war zu erkennen, ob es eine Venus oder Austernymphe vorstellen sollte, so nötigten sie doch alle Fremden, zu gestehen, daß man nichts vollkommners sehen könne.

Uns dünkt, diese Beispiele beweisen schon hinlänglich, daß man den Abderiten kein Unrecht tat, wenn man sie für warme Köpfe hielt. Aber wir zweifeln, ob sich ein Zug denken läßt, der ihren Charakter stärker zeichnen könnte, als dieser: daß sie (nach dem Zeugnis des Justinus) die Frösche in und um ihre Stadt dergestalt über Land nehmen ließen, daß sie selbst endlich genötiget wurden, ihren quäkenden Mitbürgern Platz zu machen, und, bis zu Austrag der Sache, sich unter dem Schutze des Königs Kassander an einen dritten Ort zu begeben. Dies Unglück befiel die Abderiten nicht ungewarnt. Ein weiser Mann, der sich unter ihnen befand, sagte ihnen lange zuvor, daß es endlich so kommen würde. Der Fehler lag in der Tat bloß an den Mitteln, wodurch sie dem Übel steuern wollten; wiewohl sie nie dazu gebracht werden konnten, dies einzusehen. Was ihnen gleichwohl die Augen hätte öffnen sollen, war, daß sie kaum etliche Monate von Abdera weggezogen waren, als eine Menge von Kranichen aus der Gegend von Geranien ankamen, und ihnen alle ihre Frösche so rein wegputzten, daß eine Meile rings um Abdera nicht einer übrig blieb, der dem wiederkommenden Frühling Βρεκεκεκ κοαξ κοαξ entgegen gesungen hätte.

Zweites Kapitel
Demokritus von Abdera
Ob und wie viel seine Vaterstadt berechtigt war, sich etwas auf ihn einzubilden?

Keine Luft ist so dicke, kein Volk so dumm, kein Ort so unberühmt, daß nicht zuweilen ein großer Mann daraus hervorgehen sollte, sagt Juvenal. Pindarus und Epaminondas wurden in Böotien geboren, Aristoteles zu Stagira, Cicero zu Arpinum, Virgil im Dörfchen Andes bei Mantua, Albertus Magnus zu Lauingen, Martin Luther zu Eisleben, Sixtus V. im Dorfe Montalto in der Mark Ancona, und einer der besten Könige, die jemals gewesen sind, zu Pau in Bearn. Was Wunder, wenn auch Abdera, zufälliger Weise, die Ehre hatte, daß der größte Naturforscher des Altertums, Demokritus, in ihren Mauern das Leben empfing!

Ich sehe nicht, wie ein Ort sich eines solchen Umstandes bedienen kann, um Ansprüche an den Ruhm eines großen Mannes zu machen. Wer geboren werden soll, muß irgendwo geboren werden; das übrige nimmt die Natur auf sich; und ich zweifle sehr, ob, außer dem Lykurgus, ein Gesetzgeber gewesen, der seine Fürsorge bis auf den Homunculus ausgedehnt, und alle mögliche Vorkehrungen getroffen hätte, damit dem Staat wohl organisierte, schöne, und seelenvolle Kinder geliefert würden. Wir müssen gestehen, in dieser Rücksicht hatte Sparta einiges Recht, sich mit den Vorzügen seiner Bürger Ehre zu machen. Aber in Abdera (wie beinahe in der ganzen Welt) ließ man den Zufall und den Genius walten,

– natale comes qui temperat astrum,

und wenn ein Protagoras f08) oder Demokritus aus ihrem Mittel entsprang, so war die gute Stadt Abdera gewiß eben so unschuldig daran, als Lykurgus und seine Gesetze, wenn in Sparta ein Dummkopf oder eine Memme geboren wurde.

Diese Nachlässigkeit, wiewohl sie eine dem Staat äußerst angelegene Sache betrifft, möchte noch immer hingehen. Die Natur, wenn man sie nur ungestört arbeiten läßt, macht meistens alle weitere Fürsorge für das Geraten ihrer Werke überflüssig. Aber wiewohl sie selten vergißt, ihr Lieblingswerk mit allen den Fähigkeiten auszurüsten, aus welchen ein vollkommner Mensch gebildet werden könnte: so ist doch eben diese Ausbildung das, was sie der Kunst überläßt; und es bleibt also jedem Staate noch Gelegenheit genug übrig, sich ein Recht an die Vorzüge und Verdienste seiner Mitbürger zu erwerben. Allein auch hierin ließen die Abderiten sehr viel an ihrer Klugheit zu vermissen übrig; und man hätte schwerlich einen Ort finden können, wo für die Bildung des innern Gefühls, des Verstandes und des Herzens der künftigen Bürger weniger gesorgt worden wäre.

Die Bildung des Geschmacks, d.i. eines feinen, richtigen und gelehrten Gefühls alles Schönen, ist die beste Grundlage zu jener berühmten sokratischen Kalokagathie oder innerlichen Schönheit und Güte der Seele, welche den liebenswürdigen, edelmütigen, wohltätigen und glücklichen Menschen macht. Und nichts ist geschickter, dieses richtige Gefühl des Schönen in uns zu bilden als – wenn alles, was wir von der Kindheit an sehen und hören, schön ist. In einer Stadt, wo die Künste der Musen in der größten Vollkommenheit getrieben werden, in einer schön gebauten und mit Meisterstücken der bildenden Künste angefüllten Stadt, in einem Athen, geboren zu sein, ist daher allerdings kein geringer Vorteil; und wenn die Athenienser zu Platons und Menanders Zeiten mehr Geschmack hatten als tausend andere Völker, so hatten sie es unstreitig ihrem Vaterlande zu danken.

Abdera führte in einem griechischen Sprüchworte (über dessen Verstand die Gelehrten, nach ihrer Gewohnheit, nicht einig sind,) den Beinamen, womit Florenz unter den italiänischen Städten prangt – die Schöne. Wir haben schon bemerkt, daß die Abderiten Enthusiasten der schönen Künste waren; und in der Tat, zur Zeit ihres größten Flors, das ist, eben damals, da sie auf einige Zeit den Fröschen Platz machen mußten, war ihre Stadt voll prächtiger Gebäude, reich an Malereien und Bildsäulen, mit einem schönen Theater und Musiksaal (Ωδειον) versehen, kurz, ein kleines Athen – bloß den Geschmack ausgenommen. Denn zum Unglück erstreckte sich die wunderliche Laune, von welcher wir oben gesprochen haben, auch auf ihre Begriffe vom Schönen und Anständigen. Latona, die Schutzgöttin ihrer Stadt, hatte den schlechtesten Tempel; Jason, der Anführer der Argonauten, hingegen (dessen goldenes Vließ sie zu besitzen vorgaben,) den prächtigsten. Ihr Rathaus sah wie ein Magazin aus, und unmittelbar vor dem Saale, wo die Angelegenheiten des Staats erwogen wurden, hatten alle Kräuter-, Obst- und Eierweiber von Abdera ihre Niederlage. Hingegen ruhte das Gymnasium, worin sich ihre Jugend im Ringen und Fechten übte, auf einer dreifachen Säulenreihe. Der Fechtsaal war mit lauter Schildereien von Beratschlagungen und mit Statuen in ruhigen oder tiefsinnigen Stellungen ausgeziert f09). Dafür aber stellte das Rathaus den Vätern des Vaterlandes eine desto reizendre Augenweide dar. Denn wohin sie in dem Saal ihrer gewöhnlichen Sitzungen die Augen warfen, glänzten ihnen schöne nackende Kämpfer, oder badende Dianen und schlafende Bacchanten entgegen; und Venus mit ihrem Buhler, im Netze Vulcans allen Einwohnern des Olympus zur Schau ausgestellt, (ein großes Stück, welches dem Sitz des Archons gegenüber hing,)wurde den Fremden mit einem Triumphe gezeigt, der den ernsten Phocion selbst genötiget hätte, zum erstenmal in seinem Leben zu lachen. Der König Lysimachus (sagten sie,) habe ihnen sechs Städte und ein Gebiet von vielen Meilen dafür angeboten; aber sie hätten sich nicht entschließen können, ein so herrliches Stück hinzugeben, zumal da es – gerade die Höhe und Breite habe, um eine ganze Seite der Ratsstube eizunehmen; und über dies habe einer ihrer Kunstrichter in einem weitläuftigen, mit großer Gelehrsamkeit angefüllten Werke die Beziehung des allegorischen Sinnes dieser Schilderei auf den Platz, wo sie stehe, sehr scharfsinnig dargetan.

Wir würden nicht fertig werden, wenn wir alle Unschicklichkeiten, wovon diese wundervolle Republik wimmelte, berühren wollten. Aber noch eine können wir nicht vorbeigehen, weil sie einen wesentlichen Zug ihrer Verfassung betrifft, und keinen geringen Einfluß auf den Charakter der Abderiten hatte. In den ältesten Zeiten der Stadt war, vermutlich einem orphischen Institut zufolge, der Nomophylax, oder Beschirmer der Gesetze, (eine der obersten Magistratspersonen,) zugleich Vorsänger bei den gottesdienstlichen Chören, und Oberaufseher über das Musikwesen. Dies hatte damals seinen guten Grund. Allein mit der Länge der Zeit ändern sich die Gründe der Gesetze; diese werden alsdann durch buchstäbliche Erfüllung lächerlich, und müssen also nach den veränderten Umständen umgegossen werden. Aber eine solche Betrachtung kam nicht in abderitische Köpfe. Es hatte sich öfters zugetragen, daß ein Nomophylax erwählt wurde, der zwar die Gesetze ganz leidlich beschirmte, aber entweder schlecht sang, oder gar nichts von der Musik verstund. Was hatten die Abderiten zu tun? Nach häufigen Beratschlagungen machten sie endlich die Verordnung: Der beste Sänger aus Abdera sollte hinfür allezeit auch Nomophylax sein; und dabei blieb es, so lang Abdera stund. Daß der Nomophylax und der Vorsänger zwo verschiedene Personen sein könnten, war in zwanzig öffentlichen Beratschlagungen keiner Seele eingefallen.

Es ist leicht zu erachten, daß die Musik, bei so bewandten Sachen, zu Abdera in großer Achtung stehen mußte. Alles in dieser Stadt war musikalisch; alles sang, flötete und leierte. Ihre Sittenlehre und Politik, ihre Theologie und Kosmologie, war auf musikalische Grundsätze gebaut; ja, ihre Ärzte heilten sogar die Krankheiten durch Tonarten und Melodien. So weit scheint ihnen, was die Speculation betrifft, das Ansehen der größten Weisen des Altertums, eines Orpheus, Pythagoras und Plato, zu statten zu kommen. Aber in der Ausübung entfernten sie sich desto weiter von der Strenge dieser Philosophen. Plato verweiset alle sanften und weichlichen Tonarten aus seiner Republik; die Musik soll seinen Bürgern weder Freude noch Traurigkeit einflößen; er verbannet mit den ionischen und lydischen Harmonien f10) alle Trink- und Liebeslieder; ja die Instrumente selbst scheinen ihm so wenig gleichgültig, daß er vielmehr die vielsaitigen, und die lydische Flöte, als gefährliche Werkzeuge der Üppigkeit ausmustert, und seinen Bürgern nur die Leier und die Cithar, so wie den Hirten und dem Landvolke nur die Rohrpfeife gestattet. So strenge philosophierten die Abderiten nicht. Keine Tonart, kein Instrument war bei ihnen ausgeschlossen, und – einem sehr wahren, aber sehr oft von ihnen mißverstandnen Grundsatze zufolge – behaupteten sie: daß man alle ernsthaften Dinge lustig, und alle lustigen ernsthaft behandeln müsse. Die Ausdehnung dieser Maxime auf die Musik brachte bei ihnen die widersinnigsten Wirkungen hervor. Ihre gottesdienstlichen Gesänge klangen wie Gassenlieder; allein dafür konnte man nichts feierlichers hören, als die Melodie ihrer Tänze. Die Musik zu einem Trauerspiel war gemeiniglich komisch; hingegen klangen ihre Kriegslieder so schwermütig, daß sie sich nur für Leute schickten, die an den Galgen gehen. Diese Widersinnigkeit er streckte sich über alle Gegenstände des Geschmacks. Ein Leierspieler wurde in Abdera nur dann für vortrefflich gehalten, wenn er die Saiten so zu rühren wußte, daß man eine Flöte zu hören glaubte; und eine Sängerin, um bewundert zu werden, mußte gurgeln und trillern wie eine Nachtigall. Die Abderiten hatten keinen Begriff davon, daß die Musik nur in so fern Musik ist, als sie das Herz rührt: sie waren wohl zufrieden, wenn nur ihre Ohren gekützelt, oder wenigstens mit nichtssagenden, aber vollen und oft abwechselnden Harmonien gestopft wurden. Mit einem Worte, bei aller ihrer Schwärmerei für die Künste hatten die Abderiten keinen Geschmack; und es ahnete ihnen gar nicht, daß das Schöne aus einem höhern Grunde schön sei, als weil es ihnen so beliebte.

Dieses alles ungeachtet, konnte Natur, Zufall und gutes Glück mit zusammengesetzten Kräften wohl einmal so viel zuwege bringen, daß ein geborner Abderite Menschenverstand bekam. Aber wenigstens muß man gestehen, wenn sich so etwas begab, so hatte Abdera nichts dabei geholfen. Denn ein Abderit war ordentlicher Weise nur in so fern klug, als er kein Abderit war; – ein Umstand, der uns ohne Mühe begreifen läßt, warum die Abderiten von demjenigen unter ihren Mitbürgern, der ihnen in den Augen der Welt am meisten Ehre machte, immer am wenigsten hielten. Dies war keine ihrer gewöhnlichen Widersinnigkeiten. Sie hatten eine Ursache dazu, die so natürlich ist, daß es unbillig wäre, sie ihnen zum Vorwurf zu machen.

Diese Ursache war nicht (wie einige sich einbilden), weil sie z.E. den Naturforscher Demokritus – lange zuvor, eh er ein großer Mann war – mit dem Kreisel spielen, oder auf einem Grasplatze Burzelbäume machen gesehen hatten. –

Auch nicht: weil sie aus Neid oder Eifersucht nicht leiden konnten, daß einer aus ihrem Mittel klüger sein sollte als sie. Denn – bei der untrüglichen Aufschrift der Pforte des delphischen Tempels! – dies zu denken hatte kein einziger Abderit Weisheit genug, oder er würde von dem Augenblick an kein Abderit mehr gewesen sein.

Der wahre Grund, meine Freunde, warum die Abderiten aus ihrem Mitbürger Demokritus nicht viel machten, war dieser: weil sie ihn für – keinen weisen Mann hielten.

»Warum das nicht?«

Weil sie nicht konnten.

»Und warum konnten sie nicht?«

Weil sie sich alsdann selbst für Dummköpfe hätten halten müssen. Und dies zu tun waren sie gleichwohl nicht widersinnisch genug.

Auch hätten sie eben so leicht auf dem Kopfe tanzen, oder den Mond mit den Zähnen fassen, oder den Zirkel quadrieren können, als einen Menschen, der in Allem ihr Gegenfüßler war, für einen weisen Mann zu halten. Dies folgt aus einer Eigenschaft der menschlichen Natur, die schon zu Adams Zeiten bemerkt worden sein muß, und gleichwohl, da Helvetius daraus folgerte – was daraus folgt, vielen ganz neu vorkam; die seit dieser Zeit niemanden mehr neu ist, und dennoch im Leben alle Augenblicke Vergessen wird.

Drittes Kapitel
Was Demokritus für ein Mann war
Seine Reisen
Er kommt nach Abdera zurück
Was er mitbringt, und wie er aufgenommen wird
Ein Examen, das sie mit ihm vornehmen, welches zugleich eine Probe einer abderitischen Conversation ist

Demokritus – ich denke nicht, daß es Sie gereuen wird, den Mann näher kennen zu lernen –

Demokritus war ungefähr zwanzig Jahre alt, als er seinen Vater, einen der reichsten Bürger von Abdera, erbte. Anstatt nun darauf zu denken, wie er seinen Reichtum erhalten oder vermehren, oder auf die angenehmste oder lächerlichste Art durchbringen wollte, entschloß sich der junge Mensch, solchen zum Mittel – der Vervollkommnung seiner Seele zu machen.

»Aber was sagten die Abderiten zum Entschlusse des jungen Demokritus?«

Die guten Leute hatten sich nie träumen lassen, daß die Seele ein anderes Interesse habe, als der Magen, der Bauch und die übrigen integranten Teile des sichtbaren Menschen. Also mag ihnen freilich diese Grille ihres Landsmannes wunderlich genug vorgekommen sein. Allein, dies war nun gerade was er sich am wenigsten anfechten ließ. Er ging seinen Weg fort, und brachte viele Jahre mit gelehrten Reisen durch alle festen Länder und Inseln zu, die man damals bereisen konnte. Denn wer zu seiner Zeit weise werden wollte, mußte mit eignen Augen sehen. Es gab noch keine Buchdruckereien, keine Journale, Bibliotheken, Magazine, Encyklopädien, Realwörterbücher, und wie alle die Werkzeuge heißen, mit deren Hülfe man itzt, ohne zu wissen wie, ein Philosoph, ein Kunstrichter, ein Autor, ein Alleswisser wird. Damals war die Weisheit so teuer, und noch teurer als – die schöne Lais. Nicht jedermann konnte nach Korinth reisen. Die Anzahl der Weisen war sehr klein; aber die es waren, waren es auch desto mehr.

Demokritus reisete nicht bloß um der Menschen Sitten und Verfassungen zu beschauen, wie Ulysses; nicht bloß um Priester und Geisterseher aufzusuchen, wie Plato; oder um Tempel, Statuen, Gemälde und Altertümer zu begucken, wie Pausanias; oder um Pflanzen und Tiere abzuzeichnen und unter Classen zu bringen, wie Doctor Solander: sondern er reisete, um Natur und Kunst in allen ihren Wirkungen und Ursachen, den Menschen in seiner Nacktheit und in allen seinen Einkleidungen und Verkleidungen, roh und bearbeitet, bemalt und unbemalt, ganz und verstümmelt, und die übrigen Dinge in allen ihren Beziehungen auf den Menschen, kennen zu lernen. Die Raupen in Aethiopien (sagte Demokritus,) sind freilich nur – Raupen. Was ist eine Raupe, um das erste, angelegenste, einzige Studium eines Menschen zu sein, Aber, da wir nun einmal in Aethiopien sind, so sehen wir uns immer, nebenher, auch nach den äthiopischen Raupen um. Es gibt eine Raupe im Lande der Seren, welche Millionen Menschen kleidet und nährt: wer weiß ob es nicht auch am Niger nützliche Raupen gibt?

Mit dieser Art zu denken hatte sich Demokritus auf seinen Reisen einen Schatz von Wissenschaft gesammelt, der in seinen Augen alles Gold in den Schatzkammern des Königs von Indien und alle Perlen an den Hälsen und Armen seiner Weiber wert war. Er kannte von der Zeder Libanons bis zum Schimmel eines arkadischen Käses eine Menge von Bäumen, Stauden, Kräutern, Gräsern und Moosen; nicht etwan bloß nach ihrer Gestalt, und nach ihren Namen, Geschlechtern und Arten: er kannte auch ihre Eigenschaften, Kräfte und Tugenden. Aber, was er tausendmal höher schätzte als alle seine übrigen Kenntnisse, er hatte allenthalben, wo er es der Mühe wert fand sich aufzuhalten, die Weisesten und die Besten kennen gelernt. Es hatte sich bald gezeigt, daß er ihres Geschlechtes war. Sie waren also seine Freunde geworden, hatten sich ihm mitgeteilt, und ihm dadurch die Mühe erspart, eignen Fleißes, Jahre lang, und vielleicht doch vergebens, zu suchen, was sie mit Aufwand und Mühe oder auch wohl nur glücklicher Weise schon gefunden hatten. Bereichert mit allen diesen Schätzen des Geistes und Herzens kam Demokritus, nach einer Reise von zwanzig Jahren, zu den Abderiten zurück, die seiner beinahe vergessen hatten. Er war ein feiner stattlicher Mann; höflich und abgeschliffen, wie ein Mann, der mit mancherlei Arten von Erdensöhnen umzugehen gelernt hat, zu sein pflegt; ziemlich braungelb von Farbe; kam von den Enden der Welt, und hatte ein ausgestopftes Krokodil, einen lebendigen Affen, und viele andere sonderbare Sachen mitgebracht. Die Abderiten sprachen etliche Tage von nichts anderm, als von ihrem Mitbürger Demokritus, der wieder gekommen war und Affen und Krokodile mitgebracht hatte. Allein in kurzer Zeit zeigte sichs, daß sie sich in ihrer Meinung von einem so weit gereiseten Manne sehr verrechnet hatten.

Demokritus war von den wackern Männern, denen er indessen die Besorgung seiner Güter anvertrauet hatte, um die Hälfte betrogen worden, und gleichwohl unterschrieb er ihre Rechnungen ohne Widerrede. Natürlicher Weise mußte dies der guten Meinung von seinem Verstande den ersten Stoß geben. Die Advocaten und Richter wenigstens, die sich zu einem einträglichen Processe Hoffnung gemacht hatten, merkten mit einem bedeutenden Achselzucken an, daß es bedenklich sein würde, einem Manne, der seinem eigenen Hause so schlecht vorstehe, das gemeine Wesen anzuvertrauen. Indessen zweifelten die Abderiten nicht, daß er sich nun unter die Mitwerber um ihre vornehmsten Ehrenämter stellen würde. Sie berechneten schon, wie hoch sie ihm ihre Stimme verkaufen wollten; gaben ihm eine Tochter, Enkelin, Schwester, Nichte, Base, Schwägerin zur Ehe; überschlugen die Vorteile, die sie zur Erhaltung dieser oder jener Absicht von seinem Ansehen ziehen wollten, wenn er einmal Archon oder Priester der Latona sein würde, u.s.w. Aber Demokritus erklärte sich, daß er weder ein Ratsherr von Abdera, noch der Ehgemahl eine Abderitin sein wollte, und vereitelte dadurch abermal alle ihre Anschläge. Nun hoffte man wenigstens durch seinen Umgang in etwas entschädiget zu werden. Ein Mann, welcher Affen, Krokodile und zahme Drachen von seinen Reisen mitgebracht hatte, mußte eine ungeheure Menge Wunderdinge zu erzählen haben. Man erwartete, daß er von zwölfellenlangen Riesen und von sechsdaumenhohen Zwergen, von Menschen mit Hund- und Eselsköpfen, von Meerfrauen mit grünen Haaren, von weißen Negern, und blauen Centauren sprechen würde. Aber Demokritus log so wenig, und in der Tat weniger, als ob er nie über den thracischen Bosporus gekommen wäre.

Man fragte ihn, ob er im Lande der Garamanten keine Leute ohne Kopf angetroffen habe, welche die Augen, die Nase und den Mund auf der Brust trügen; und ein abderitischer Gelehrter (der, ohne jemals aus den Mauern seiner Stadt gekommen zu sein, sich die Miene gab, als ob kein Winkel des Erdbodens wäre, den er nicht durchkrochen hätte,) bewies ihm in großer Gesellschaft, daß er entweder nie in Aethiopien gewesen sei, oder dort notwendig mit den Agriophagen, deren König nur ein Auge über der Nase hat, mit den Sambern, die allezeit einen Hund zu ihrem König erwählen, und mit den Artabatiten, die auf allen Vieren gehen, Bekanntschaft gemacht haben müsse f11). Und wofern Sie bis in den äußersten Teil des abendländischen Aethiopien eingedrungen sind, fuhr der gelehrte Mann fort, so bin ich gewiß, daß Sie ein Volk ohne Nasen angetroffen haben, und ein anderes, wo die Leute einen so kleinen Mund führen, daß sie ihre Suppe durch Strohhalmen einzuschlürfen genötiget sind f12).

Demokritus beteuerte beim Kastor und Pollux, daß er sich nicht erinnere, diese Ehre gehabt zu haben.

Wenigstens, sagte jener, haben Sie in Indien Menschen angetroffen, die nur ein einziges Bein auf die Welt bringen, aber dem ungeachtet wegen der außerordentlichen Breite ihres Fußes so geschwind auf dem Boden fortrutschen, daß man ihnen zu Pferde kaum nachkommen kann f13). Und was sagten Sie dazu, wie Sie an der Quelle des Ganges ein Volk antrafen, das ohne alle andre Nahrung vom bloßen Geruche wilder Äpfel lebt f14)?

O erzählen Sie uns doch, riefen die schönen Abderitinnen, erzählen Sie doch, Herr Demokritus! Was müßten Sie uns nicht erzählen können, wenn Sie nur wollten!

Demokritus schwur vergebens, daß er von allen diesen Wundermenschen in Aethiopien und Indien nichts gesehen noch gehört habe.

Aber was haben Sie denn gesehen, fragte ein runder dicker Mann, der zwar weder einäugig war wie die Agriophagen, noch eine Hundsschnauze hatte wie die Cymolgen, noch die Augen auf den Schultern trug wie die Omophthalmen, noch vom bloßen Geruche lebte wie die Paradiesvögel, aber doch gewiß nicht mehr Gehirn in seinem großen Schädel trug, als ein mexicanischer Colibri, ohne darum weniger ein Ratsherr von Abdera zu sein – Aber was haben Sie denn gesehen, sagte Wanst, Sie, der zwanzig Jahre in der Welt herum gefahren sind, wenn Sie nichts von allem dem gesehen haben, was man in fernen Landen wunderbares sehen kann?

Wunderbares? versetzte Demokritus lächelnd. Ich hatte so viel mit Betrachtung des Natürlichen zu tun, daß ich fürs Wunderbare keine Zeit übrig behielt.

Nun das gesteh ich, erwiderte Wanst; das verlohnt sich auch der Mühe, alle Meere zu durchfahren, und über alle Berge zu steigen, um nichts zu sehen, als was man zu Hause eben so gut sehen konnte!

Demokritus zankte sich nicht gerne mit den Leuten um ihre Meinungen, am allerwenigsten mit Abderiten; und gleichwohl wollt' er auch nicht, daß es aussehen sollte, als ob er gar nichts sagen könne. Er suchte unter den schönen Abderitinnen, die in der Gesellschaft waren, eine aus, an die er das richten könnte, was er sagen wollte; und fand eine mit zwei großen junonischen Augen, die ihn, trotz seiner physiognomischen Kenntnisse, verführten, ihrer Eigentümerin etwas mehr Verstand oder Empfindung zuzutrauen als den übrigen. Was wollten Sie, sagte er zu ihr, daß ich, zum Exempel, mit einer Dame, die die Augen auf der Stirne oder am Ellebogen trüge, hätte anfangen sollen? Oder was würde mirs nun helfen, wenn ich noch so gelehrt in der Kunst wäre, das Herz einer – Menschenfresserin zu rühren? Ich habe mich immer zu wohl befunden, mich der sanften Gewalt von zwei schönen Augen, die an ihrem natürlichen Platze stehen, zu überlassen, um jemals eine Versuchung zu bekommen, das große Stierauge auf der Stirn einer Cyklopin zärtlich zu sehen.

Die Schöne mit den großen Augen, zweifelhaft, was sie aus dieser Anrede machen sollte, guckte dem Mann, der so sprach, mit stummer Verwunderung in den Mund, lächelte ihm ihre schönen Zähne vor, und sah sich zur rechten und linken Seite um, als ob sie den Verstand seiner Rede suchen wollte.

Die übrigen Abderitinnen hatten zwar eben so wenig davon begriffen; weil sie aber aus dem Umstande, daß er sich gerade an die Großäugige gewendet hatte, schlossen, er habe ihr etwas Schönes gesagt: so sahen sie einander jede mit einer eignen Grimasse an. Diese rümpfte eine kleine Stumpfnase, jene zog den Mund in die Länge, eine dritte spitzte den ihrigen, der ohnehin groß genug war, eine vierte riß ein paar kleine Augen auf, eine fünfte brüstete sich mit zurückgezogenem Kopfe, u.s.w. Demokritus sah es, erinnerte sich, daß er in Abdera war, und schwieg.

Viertes Kapitel
Das Examen wird fortgesetzt, und verwandelt sich in eine Disputation über die Schönheit, wobei dem Demokritus sehr warm gemacht wird

Schweigen – ist zuweilen eine Kunst; aber doch nie eine so große, als uns gewisse Leute glauben machen wollen, die dann am klügsten sind, wenn sie schweigen.

Wenn ein weiser Mann sieht, daß er es mit Kindern zu tun hat, warum sollt' er sich zu weise dünken, nach ihrer Art mit ihnen zu reden?

Ich bin zwar (sagte Demokritus zu seiner neugierigen Gesellschaft) aufrichtig genug gewesen, zu gestehen, daß ich von allem, was man will, daß ich gesehen haben sollte, nichts gesehen habe; aber bilden Sie sich darum nicht ein, daß mir auf so vielen Reisen zu Wasser und zu Lande nichts aufgestoßen sei, das Ihre Neubegierde befriedigen könnte. Glauben Sie mir, es sind Dinge darunter, die Ihnen vielleicht noch wunderbarer vorkommen würden, als diejenigen, wovon die Rede war.

Bei diesen Worten rückten die schönen Abderitinnen näher und spitzten Mund und Ohren. Das ist doch ein Wort von einem gereisten Manne, rief der kurze dicke Ratsherr. Des Gelehrten Stirne entrunzelte sich durch die Hoffnung, daß er etwas zu tadeln und zu verbessern bekommen würde, Demokritus möchte auch sagen was er wollte.

Ich befand mich einst in einem Lande, fing Demokritus an, wo es mir so wohl gefiel, daß ich in den ersten drei oder vier Tagen, die ich darinnen zubrachte, unsterblich zu sein wünschte, um ewig darin zu leben.

»Ich bin nie aus Abdera gekommen, sagte der Ratsmann; aber ich dachte immer, daß es keinen Ort in der Welt gäbe, wo es mir besser gefallen könnte, als in Abdera. Auch geht es mir gerade, wie Ihnen mit dem Lande wo es Ihnen so wohl gefiel; ich wollte mit Freuden auf die ganze übrige Welt Verzicht tun, wenn ich nur ewig in Abdera leben könnte! Aber warum gefiel es Ihnen nur drei Tage lang so wohl in dem Lande?«

Sie werden es gleich hören. Stellen Sie sich ein unermeßliches Land vor, dem die angenehmste Abwechslung von Bergen, Tälern, Wäldern, Hügeln und Auen unter der Herrschaft eines ewigen Frühlings und Herbstes, allenthalben wohin man sieht, das Ansehen des herrlichsten Lustgartens gibt: alles angebaut und bewässert, alles blühend und fruchtbar; allenthalben ein ewiges Grün, und immer frische Schatten und Wälder von den schönsten Fruchtbäumen, Datteln, Feigen, Zitronen, Granaten, die ohne Pflege, wie in Thracien die Eicheln, wachsen; Haine von Myrten und Schasmin; Amors und Cytheräens Lieblingsblume nicht auf Hecken, wie bei uns, sondern in dichten Büscheln auf großen Bäumen wachsend, und vollaufgeblüht wie die Busen meiner schönen Mitbürgerinnen –

(Dies hatte Demokritus nicht gut gemacht; und es kann künftigen Erzählern zur Warnung dienen, daß man sich vorher wohl in seiner Gesellschaft umsehen muß, ehe man Complimente dieser Art wagt, so verbindlich sie auch an sich selbst klingen mögen. Die Schönen hielten die Hände vor die Augen und erröteten. Denn zum Unglück war unter den Anwesenden keine, die dem schmeichelhaften Gleichnis Ehre gemacht hätte; wiewohl sie nicht ermangelten sich aufzublähen so gut sie konnten.)

– und diese reizenden Haine, fuhr er fort, vom lieblichen Gesang unzähliger Arten von Vögeln belebt, und mit tausend bunten Papageien erfüllt, deren Farben im Sonnenglanz die Augen blenden. Welch ein Land! Ich begriff nicht, warum die Göttin der Liebe Cythere zu ihrem Wohnsitz erwählt hätte, da ein Land wie dieses in der Welt war. Wo hätten die Grazien angenehmer tanzen können, als am Rande von Bächen und Quellen, wo, zwischen kurzem dichtem Gras vom lebhaftesten Grün, Lilien und Hyacinthen, und zehen Tausenden noch schönern Blumen, die in unsrer Sprache ohne Namen sind, freiwillig hervorblühn, und die Luft mit wollüstigen Wohlgerüchen erfüllen?

Die schönen Abderitinnen hatten, wie leicht zu erachten, die Einbildungskraft nicht weniger lebhaft als die Abderiten; und das Gemälde, das ihnen Demokritus, ohne dabei an Arges zu denken, vorstellte, war mehr, als ihre kleinen Seelchen aushalten konnten. Einige seufzten laut vor Behäglichkeit; andere sahen aus, als ob sie die wollüstigen Gerüche, die in ihrer Phantasie düfteten, mit Mund und Nase einschlürfen wollten; die schöne Juno sank mit dem Kopf auf ein Polster des Kanapees zurück, schloß ihre großen Augen halb, und befand sich unvermerkt am blumichten Rand einer dieser schönen Quellen, von Rosen und Zitronenbäumen umschattet, aus deren Zweigen Wolken von ambrosischen Düften auf sie herab wallten. In einer sanften Betäubung von süßen Empfindungen begann sie eben einzuschlummern: als sie einen Jüngling, schön wie Bacchus und dringend wie Amor, zu ihren Füßen liegen sah. Sie richtete sich auf, ihn desto besser betrachten zu können, und sah ihm so schön, so zärtlich, daß die Worte, womit sie seine Verwegenheit bestrafen wollte, auf ihren Lippen erstarben. Kaum hatte sie –

Und wie meinen Sie (fuhr Demokritus fort) nennt sich dies zauberische Land, von dessen Schönheiten alles, was ich davon sagen könnte, Ihnen kaum den Schatten eines Begriffs geben würde? Es ist eben dieses Aethiopien, welches mein gelehrter Freund hier mit Ungeheuern von Menschen bevölkert, die eines so schönen Vaterlandes ganz unwürdig sind. Aber eine Sache, die er mir für wahr nachsagen kann, ist: daß es im ganzen Aethiopien und Libyen, wiewohl diese Namen eine Menge verschiedener Völker umfassen, keinen Menschen gibt, der seine Nase nicht eben da trüge wo wir, nicht eben so viel Augen und Ohren hätte als wir, und kurz –

Ein großer Seufzer von derjenigen Art, wodurch sich ein von Schmerz oder Vergnügen gepreßtes Herz Luft zu machen sucht, hob in diesem Augenblicke den Busen der schönen Abderitin, welche, während daß Demokritus in seiner Rede fortfuhr, in dem Traumgesichte, worin wir sie zu belauschen Bedenken trugen, (wie es scheint,) auf einen Umstand gekommen war, an welchem ihr Herz auf die eine oder andre Art sehr lebhaft Anteil nahm. Da die übrigen Anwesenden nicht wissen konnten, daß die gute Dame einige hundert Meilen weit von Abdera unter einem äthiopischen Rosenbaum, in einem Meer der süßesten Wohlgerüche schwamm, tausend neue Vögel das Glück der Liebe singen hörte, tausend bunte Papageien vor ihren Augen herum flattern sah, und, zum Überfluß, einen Jüngling mit gelben Locken und Korallenlippen zu ihren Füßen liegen hatte, – so war es natürlich, daß man den besagten Seufzer mit einem allgemeinen Erstaunen empfing. Man begriff nichts davon, daß die letzten Worte Demokrits die Ursache einer solchen Wirkung gewesen sein könnten. Was fehlt Ihnen, Lysandra? riefen die Abderitinnen aus Einem Munde, indem sie sich sehr besorgt um sie stellten. Die schöne Lysandra, die in diesem Augenblicke wieder gewahr wurde, wo sie war, errötete, und versicherte, daß es nichts sei. Demokritus, der nun zu merken anfing was es war, stund ihnen gut dafür, daß ein paar Züge frische Luft alles wieder gut machen würden; aber in seinem Herzen beschloß er, künftig seine Gemälde nur mit Einer Farbe zu malen, wie die Maler in Thracien. Gerechte Götter! dacht er, was für eine Einbildungskraft diese Abderitinnen haben!

Nun meine schönen Neugierigen, fuhr Demokritus fort, was meinen Sie, von welcher Farbe die Einwohner eines so schönen Landes sind?

»Von welcher Farbe? – Warum sollten sie eine andre Farbe haben als die übrigen Menschen? Sagten Sie uns nicht, daß sie die Nase mitten im Gesichte trügen, und in allem Menschen wären wie wir Griechen?«

Menschen, ohne Zweifel; aber sollten sie darum weniger Menschen sein, wenn sie schwarz oder olivenfarb wären?

»Was meinen Sie damit?«

Ich meine, daß die schönsten unter den äthiopischen Nationen (nämlich diejenigen, die nach unserm Maßstabe die schönsten, das ist, uns die ähnlichsten sind,) durchaus olivenfarb wie die Aegyptier, und diejenigen, welche tiefer im festen Lande und in den mittäglichsten Gegenden wohnen, vom Kopf bis zur Fußsohle so schwarz und noch ein wenig schwärzer sind als die Raben zu Abdera.

»Was Sie sagen! – Und erschrecken die Leute nicht vor einander, wenn sie sich ansehen?«

Erschrecken: Warum dies? Sie gefallen sich sehr mit ihrer Rabenschwärze, und finden, daß nichts schöner sein kann.

»O das ist lustig! – riefen die Abderitinnen! – Schwarz am ganzen Leibe, als ob sie mit Pech überzogen wären, sich von Schönheit träumen zu lassen! Was das für ein dummes Volk sein muß! Haben sie denn keine Maler, die ihnen den Apollo, den Bacchus, die Göttin der Liebe, und die Grazien malen könnten? Oder könnten sie nicht schon vom Homer lernen daß Juno weiße Arme, Thetis Silberfüße, und Aurora Rosenfinger hat?«

Ach, erwiderte Demokritus, die guten Leute haben keinen Homer; oder wenn sie einen haben, so dürfen wir uns darauf verlassen, daß seine Juno kohlschwarze Arme hat. Von Malern habe ich in Aethiopien nichts gehört. Aber ich sah ein Mädchen, dessen Schönheit unter seinen Landesleuten beinahe eben so viel Unheil anrichtete, als die Tochter der Leda unter den Griechen und Trojanern; und diese africanische Helena war schwärzer als Ebenholz.

»O beschreiben Sie uns doch dies Ungeheuer von Schönheit« – riefen die Abderitinnen, die, aus dem natürlichsten Grunde von der Welt, an dieser Unterredung unendlich viel Vergnügen fanden.

Sie werden Mühe haben sich einen Begriff davon zu machen. Stellen Sie sich das völlige Gegenteil des griechischen Ideals der Schönheit vor: die Größe einer Grazie, und die Dicke einer Ceres; schwarze Haare, aber nicht in langen wallenden Locken um die Schultern fließend, sondern kurz und von Natur kraus wie Schafwolle. Die Stirne breit und stark gewölbt; die Nase kurz aufgestülpt, und in der Mitte des Knorpels flach gedrückt; die Wangen rund wie die Backen eines Trompeters, der Mund groß – (Philinna lächelte, um zu zeigen, wie klein der ihrige sei.)

Die Lippen sehr dick und aufgeworfen, und zwo Reihen von Zähnen wie Perlenschnuren –

(Die Schönen lachten insgesamt, wiewohl sie keine andre Ursache dazu haben konnten, als ihre eignen Zähne zu weisen: denn was war sonst hier zu lachen?)

»Aber ihre Augen?« fragte Lysandra. –

O was die betrifft, die waren so klein und so wasserfarbig, daß ich lange nicht von mir erhalten konnte, sie schön zu finden – »Demokritus ist für Homers Kuhaugen, wie es scheint«, sagte Myris, indem sie einen höhnischen Seitenblick auf die Schöne mit den großen Augen warf.

In der Tat, (versetzte Demokritus, mit einer Miene, woraus ein Tauber geschlossen hätte, daß er ihr die größte Schmeichelei sage,) schöne Augen müßten sehr groß sein, wenn ich sie zu groß finden sollte; und häßliche können, deucht mich, nie zu klein sein.

Die schöne Lysandra warf einen triumphierenden Blick auf ihre Schwestern, und schüttete dann eine ganze Glorie von Zufriedenheit aus ihren großen Augen auf den glücklichen Demokrit herab.

»Darf man wissen, was Sie unter schönen Augen verstehen?« fragte die kleine Myris, indem sich ihre Nase merklich spitzte.

Ein Blick der schönen Lysandra schien ihm zu sagen: Sie werden nicht verlegen sein, die Antwort auf diese Frage zu finden.

Ich verstehe darunter Augen, in denen sich eine schöne Seele malt, sagte Demokritus.

Lysandra sah albern aus, wie eine Person, der man etwas unerwartetes gesagt hat, und die keine Antwort darauf finden kann. Eine schöne Seele! – dachten die Abderitinnen alle zugleich – Was für wunderliche Dinge der Mann aus fernen Landen mitgebracht hat! Eine schöne Seele! Dies ist noch über seine Affen und Papageien!

»Aber mit allen diesen Subtilitäten, sagte der dicke Ratsherr, kommen wir von der Hauptsache ab. Mir deucht, die Rede war von der schönen Helena aus Aethiopien, und ich möchte doch wohl hören, was die ehrlichen Leute so schönes an ihr finden konnten?«

Alles, antwortete Demokritus.

»So müssen sie gar keinen Begriff von Schönheit haben«, sagte der Gelehrte.

Um Vergebung, erwiderte der Erzähler; weil diese äthiopische Helena der Gegenstand aller Wünsche war, so läßt sich sicher schließen, daß sie der Idee von Schönheit glich, die Jeder in seiner Einbildung fand.

»Sie sind aus der Schule des Parmenides?« sagte der Gelehrte, indem er sich in eine streitbare Positur setzte f16).

Ich bin nichts – als ich selbst, welches sehr wenig ist; erwiderte Demokritus halb erschrocken. Wenn Sie dem Wort Idee gram sind, so erlauben Sie mir, mich anders auszudrücken. Die schöne Gulleru – so nannte man die Schwarze, von der wir reden –

Gulleru? riefen die Abderitinnen, indem sie in ein Gelächter ausbrachen, das kein Ende nehmen wollte; Gulleru! welch ein Name! – Und wie ging es mit Ihrer schönen Gulleru? fragte die spitznasige Myris mit einem Blick und in einem Tone, der noch dreimal spitziger als ihre Nase war.

Wenn Sie mir jemals die Ehre erweisen, mich zu besuchen, antwortete der Philosoph mit der ungezwungensten Höflichkeit, so sollen Sie erfahren, wie es mit der schönen Gulleru gegangen ist. Itzt muß ich diesem Herrn mein Versprechen halten. Die Gestalt der schönen Gulleru also –

(Der schönen Gulleru, wiederholten die Abderitinnen und lachten von neuem; aber ohne daß Demokritus sich diesmal unterbrechen ließ.)

– flößte zu ihrem Unglück den Jünglingen ihres Landes die stärkste Leidenschaft ein. Dies scheint zu beweisen, daß man sie schön gefunden habe; und ohne Zweifel lag der Grund, weswegen man sie schön fand, in allem dem, warum man sie nicht für häßlich hielt. Diese Aethiopier fanden also einen Unterschied zwischen dem was ihnen schön und was ihnen nicht schön vorkam; und wenn zehn verschiedene Aethiopier in ihrem Urteil von dieser Helena übereinstimmten, so kam es vermutlich daher, weil sie einerlei Begriff von Schönheit und Häßlichkeit hatten.

»Dies folgt nicht; (sagte der abderitische Gelehrte;) konnte nicht unter zehn jeder etwas anderes an ihr liebenswürdig finden?«

Der Fall ist nicht unmöglich; aber er beweist nichts gegen mich. Gesetzt, der eine hätte ihre kleinen Augen, ein anderer ihre schwellenden Lippen, ein dritter ihre großen Ohren bewundernswürdig würdig gefunden: so setzt auch dies immer eine Vergleichung zwischen ihr und andern äthiopischen Schönen voraus. Die übrigen hatten Augen, Ohren und Lippen, so wohl wie Gulleru. Wenn man also die ihrigen schöner fand, so mußte man ein gewisses Modell der Schönheit haben, mit welchem man z. E. ihre Augen und andre Augen verglich; und dies ist alles, was ich mit meinem Ideal sagen wollte.

»Indessen (erwiderte der Gelehrte,) werden Sie doch nicht behaupten wollen, daß diese Gulleru schlechterdings die schönste unter allen schwarzen Mädchen vor ihr, neben ihr, und nach ihr gewesen sei? ich meine, die Schönste in Vergleichung mit dem Modelle, wovon Sie sagten.«

Ich wüßte nicht, warum ich dies behaupten sollte, versetzte Demokritus.

»Es konnte also eine geben, die z. E. noch kleinere Augen, noch dickere Lippen, noch größere Ohren hatte?«

Möglicher Weise, so viel ich weiß.

»Und in Absicht dieser letztern gilt ohne Zweifel die nämliche Voraussetzung, und so ins Unendliche. Die Aethiopier hatten also kein Modell der Schönheit; man müßte denn sagen, daß sich unendlich kleine Augen, unendlich dicke Lippen, unendlich große Ohren denken lassen?«

Wie subtil die abderitischen Gelehrten sind! dachte Demokritus. Wenn ich eingestund, sagte er, daß es ein schwarzes Mädchen geben könne, welche kleinere Augen oder dickere Lippen hätte als Gulleru, so sagte ich damit noch nicht, daß dieses schwarze Mädchen den Aethiopiern darum schöner hätte vorkommen müssen als Gulleru. Das Schöne hat notwendig ein bestimmtes Maß, und was über solches ausschweift, entfernt sich eben so davon, wie das, was unter ihm bleibt. Wer wird daraus, daß die Griechen in der Größe der Augen und in der Kleinheit des Mundes ein Stück der vollkommenen Schönheit setzen, den Schluß ziehen: eine Frau, deren Augapfel einen Daumen im Durchschnitt hielten, oder deren Mund so klein wäre, daß man Mühe hätte, einen Strohhalm hineinzubringen, müßte von den Griechen für desto schöner gehalten werden?

Der Abderite war geschlagen, wie man sieht; und er fühlte es. Aber ein abderitischer Gelehrter hätte sich eher erdrosseln lassen, als so was einzugestehen. Waren nicht Philinnen und Lysandren, und ein kurzer dicker Ratsherr da, an deren Meinung von seinem Verstand ihm gelegen war? Und wie wenig kostete es ihm, Abderiten und Abderitinnen auf seine Seite zu bringen? – In der Tat wußte er nicht sogleich, was er sagen sollte. Aber in fester Zuversicht, daß ihm wohl noch was einfallen werde, antwortete er indessen durch ein höhnisches Lächeln; welches zugleich andeutete, daß er die Gründe seines Gegners verachte, und daß er im Begriff sei, den entscheidenden Streich zu führen. »Ists möglich, rief er endlich in einem Ton, als ob dies die Antwort auf die letzte Rede des Demokritus sei f17), können Sie die Liebe zum Paradoxen so weit treiben, im Angesicht dieser Schönen zu behaupten, daß ein Geschöpf, wie Sie uns diese Gulleru beschrieben haben, eine Venus sei?«

Sie haben vergessen, versetzte Demokrit sehr gelassen, daß die Rede nicht von mir und diesen Schönen, sondern von Aethiopiern war. Ich behauptete nichts; ich erzählte nur was ich gesehen hatte. Ich beschrieb Ihnen eine Schönheit nach äthiopischem Geschmack. Es ist nicht meine Schuld, wenn die griechische Häßlichkeit in Aethiopien Schönheit ist. Auch seh ich nicht, was mich berechtigen könnte, zwischen den Griechen und Aethiopiern zu entscheiden. Ich vermute, es könnte sein, daß beide Recht hätten.

Ein lautes Gelächter, dergleichen man aufschlägt, wenn jemand etwas unbegreiflich Ungereimtes gesagt hat, wieherte dem Philosophen aus allen anwesenden Hälsen entgegen.

»Laß hören, laß doch hören, rief der dicke Ratsherr, indem er seinen Wanst mit beiden Händen hielt, was unser Landsmann sagen kann, um zu beweisen, daß beide Recht haben! Ich höre für mein Leben gerne so was behaupten. Wofür hätte man auch sonst euch gelehrte Herren? – Die Erde ist rund; der Schnee ist schwarz; der Mond ist zehnmal so groß als der ganze Peloponnesus; Achilles kann keine Schnecke im Laufen einholen – Nicht wahr, Herr Antistrepsiades? – Nicht wahr, Herr Demokritus? – Sie sehen, daß ich auch ein wenig in Ihren Mysterien eingeweiht bin. Ha, Ha, Ha!«

Die sämtlichen Abderiten und Abderitinnen erleichterten sympathetischer Weise ihre Lungen abermals, und Herr Antistrepsiades, der einen Anschlag auf die Abendmahlzeit des jovialischen Ratsherrn gemacht hatte, unterstützte gefällig das allgemeine Gelächter mit lautem Händeklatschen.

Fünftes Kapitel
Unerwartete Auflösung des Knotens, mit einigen neuen Beispielen von abderitischem Witz

Demokritus war in der Laune, sich mit seinen Abderiten und den Abderiten mit sich Kurzweile zu machen. Zu weise, ihnen irgend eine von ihren National- oder Individualunarten übel zu nehmen, konnt' er es sehr wohl leiden, daß sie ihn für einen überklugen Mann ansahen, der seinen abderitischen Mutterwitz auf seiner langen Wanderschaft verdünstet hatte, und nun zu nichts gut wäre, als ihnen mit seinen Einfällen und Grillen etwas zu lachen zu geben. Er fuhr also, nachdem sich das Gelächter über den witzigen Einfall des dicken Ratsherrn endlich gelegt hatte, mit seinem gewöhnlichen Phlegma fort, wo ihn der kleine jovialische Mann unterbrochen hatte. Sagte ich nicht, wenn die griechische Häßlichkeit in Aethiopien Schönheit sei, so könnte wohl sein, daß beide Teile Recht hätten?

»Ja, ja, das sagten Sie, und ein Mann steht für sein Wort.«

Wenn ich es gesagt habe, so muß ich's wohl behaupten; das versteht sich, Herr Antistrepsiades?

»Wenn Sie können.«

Bin ich etwan nicht auch ein Abderit? Und zudem brauch ich hier nur die Hälfte meines Satzes zu beweisen, um das Ganze bewiesen zu haben: denn daß die Griechen Recht haben, darf nicht erst bewiesen werden; dies ist eine Sache, die in allen griechische Köpfen schon längst ausgemacht ist. Aber daß die Aethiopier auch Recht haben, da liegt die Schwierigkeit! Wenn ich mit Sophismen fechten, oder mich begnügen wollte, meine Gegner stumm zu machen, ohne sie zu überzeugen; so würd' ich, als Anwalt der äthiopischen Venus, die ganze Streitfrage dem innern Gefühl zu entscheiden überlassen. Warum, würd' ich sagen, nennen die Menschen diese oder jene Figur, diese oder jene Farbe, schön? Weil sie ihnen gefällt. Gut; aber warum gefällt sie ihnen? Weil sie ihnen angenehm ist. Und warum ist sie ihnen angenehm? – O mein Herr, würde ich sagen, Sie müssen endlich aufhören zu fragen, oder – ich höre auf zu antworten. Ein Ding ist uns angenehm, weil es – einen Eindruck auf uns macht, der uns angenehm ist. Ich fordre alle Ihre Grübler heraus, einen bessern Grund anzugeben. Nun würd' es lächerlich sein, einem Menschen abstreiten zu wollen, daß ihm angenehm sei, was ihm angenehm ist; oder ihm zu beweisen, er habe Unrecht, sich wohlgefallen zu lassen, was einen gefallenden Eindruck auf ihn macht. Wenn also die Figur einer Gulleru seinen Augen wohl tut, so gefällt sie ihm, und wenn sie ihm gefällt, so nennt er sie schön, oder es müßte nur kein solches Wort in seiner Sprache sein.

»Und wenn – und wenn ein Wahnwitziger Pferdäpfel für Pfirschen äße?« sagte Antistrepsiades.

»Pferdäpfel für Pfirschen! – gut gesagt, bei meiner Ehre! gut gesagt, rief der Ratsherr. Knacken Sie das auf, Herr Demokritus?« –

»Fi, Fi, doch, Demokritus, lispelte die schöne Myris, indem sie die Hand vor die Nase hielt; wer wird auch von Pferdäpfeln reden? Schonen Sie wenigstens unsrer Nasen!«

Jedermann sieht, daß sich die schöne Myris mit diesem Verweise an den witzigen Antistrepsiades hätte wenden sollen, der die Pferdäpfel zuerst aufgetragen hatte, und an den Ratsherrn, der dem Demokritus gar zumutete sie aufzuknacken. Aber es war nun einmal darauf abgesehen, den Demokritus lächerlich zu machen; der Instinct vertrat bei den sämtlichen Anwesenden hierin die Stelle einer Verabredung, und Myris konnte diese schöne Gelegenheit zu einem Stich, der die Lacher auf ihre Seite brachte, unmöglich entwischen lassen. Denn gerade der Umstand, daß Demokrit, der ohnehin an den Pferdäpfeln des Antistrepsiades genug zu schlucken hatte, noch obendrein einen Verweis deswegen erhielt, kam den Abderiten und Abderitinnen so lustig vor, daß sie alle zugleich zu lachen anfingen, und sich völlig so gebärdeten, als ob der Philosoph nun aufs Haupt geschlagen sei und gar nicht wieder aufstehen könne.

Zu viel ist zu viel. Der gute Demokritus hatte zwar in zwanzig Jahren viel erwandert: aber seitdem er aus Abdera gegangen war, war ihm kein zwotes Abdera aufgestoßen; und nun, da er wieder drin war, zweifelte er zuweilen auf einen oder zween Augenblicke, ob er irgendwo sei? Wie war es möglich, mit solchen Leuten fertig zu werden?

»Nun, Vetter? – sagte der Ratsherr, kannst du die Pferdäpfel des Antistrepsiades nicht hinunter kriegen? Ha, ha, ha!«

Dieser Einfall war zu abderitisch, um die Zärtlichkeit der sämtlichen gebogenen, stumpfen, viereckigen und spitzigen Nasen in der Gesellschaft nicht zu überwältigen.

Die Damen kicherten ein zirpendes Hi, hi, hi, in das dumpfe donnernde Ha, ha, ha, der Mannspersonen.

Sie haben gewonnen, rief Demokritus; und zum Zeichen daß ich mein Gewehr mit guter Art strecke, sollen Sie sehen, ob ich die Ehre verdiene, Ihr Landsmann und Vetter zu sein. Und nun fing er an, mit einer Geschicklichkeit, worin ihm kein Abderite gleich kam, von der untersten Note stufenweise Crescendo, bis zum Unisono mit dem Hi, hi, der schönen Abderitinnen, ein Gelächter aufzuschlagen, dergleichen, so lang Abdera auf thracischem Boden stund, nie erhört worden war.

Anfangs machten die Damen Miene, als ob sie Widerstand tun wollten; aber es war keine Möglichkeit, gegen das verzweifelte Crescendo auszuhalten. Sie wurden endlich davon wie von einem reißenden Strom ergriffen; und da die Gewalt der Ansteckung noch dazu schlug, so kam es bald so weit, daß die Sache ernsthaft wurde. Die Frauenzimmer baten mit weinenden Augen um Barmherzigkeit. Aber Demokritus hatte keine Ohren, und das Gelächter nahm überhand. Endlich ließ er sich, wie es schien, bewegen, ihnen einen Stillstand zu bewilligen; allein in der Tat bloß, damit sie die Peinigung, die er ihnen zugedacht, desto länger aushalten könnten. Denn kaum waren sie wieder ein wenig zu Atem gekommen, so fing er die nämliche Tonleiter, eine Terze höher, noch einmal zu durchlachen an, aber mit so vielen eingemischten Trillern und Rouladen, daß sogar die runzlichten Beisitzer des Höllengerichts, Minos, Aeakus und Rhadamanthus, in ihrem höllenrichterlichen Ornat, aus der Fassung dadurch gekommen wären.

Zum Unglück hatten zwo oder drei von unsern Schönen nicht daran gedacht, ihre Personen gegen alle mögliche Folgen einer so heftigen Leibesübung in Sicherheit zu setzen. Scham und Natur kämpften auf Leben und Tod in den armen Mädchen. Vergebens flehten sie den unerbittlichen Demokritus mit Mund und Augen um Gnade an; vergebens forderten sie ihre vom Lachen gänzlich erschlafften Sehnen zu einer letzten Anstrengung auf. Die tyrannische Natur siegte, und in einem Augenblicke sahe man den Saal, wo sich die Gesellschaft befand, unter **********

Der Schrecken über eine so unversehene Naturerscheinung (die desto wunderbarer war, da das allgemeine Auffahren und Erstaunen der schönen Abderitinnen zu beweisen schien, daß es eine Wirkung ohne Ursache sei,) unterbrach die Lacher auf etliche Augenblicke, um sogleich mit verdoppelter Gewalt wieder loszudrücken. Natürlicher Weise gaben sich die erleichterten Schönen alle Mühe, den besondern Anteil, den sie an dieser Begebenheit hatten, durch Grimassen von Erstaunen und Ekel zu verbergen, und den Verdacht auf ihre schuldlosen Nachbarinnen fallen zu machen, welche durch unzeitige, aber unfreiwillige Schamröte den unverdienten Argwohn mehr als zu viel bestärkten. Der lächerliche Zank, der sich darüber unter ihnen erhub; Demokrit und Antistrepsiades, die sich boshafter Weise ins Mittel schlugen, und durch ironische Trostgründe den Zorn derjenigen, die sich unschuldig wußten, noch mehr aufreizten; und mitten unter ihnen allen der kleine dicke Ratsherr, der unter berstendem Gelächter einmal über das andre ausrief, daß er nicht die Hälfte von Thracien um diesen Abend nehmen wollte; alles dies zusammen machte eine Scene, die des Griffels eines Hogarth würdig gewesen wäre, wenn es damals schon einen Hogarth gegeben hätte.

Wir können nicht sagen, wie lange sie gedaurt haben mag: denn es ist eine von den Tugenden der Abderiten, daß sie nicht aufhören können. Aber Demokritus, bei dem alles seine Zeit hatte, glaubte, daß eine Komödie, die kein Ende nimmt, die langweiligste unter allen Kurzweilen sei. Er packte also alle die schönen Sachen, die er zur Rechtfertigung der äthiopischen Venus hätte sagen können, wofern er es mit vernünftigen Geschöpfen zu tun gehabt hätte, ganz gelassen zusammen, wünschte den Abderiten und Abderitinnen – was sie nicht hatten, und ging nach Hause, nicht ohne Verwunderung über die gute Gesellschaft, die man anzutreffen Gefahr lief, wenn man – einen Ratsherrn von Abdera besuchte.

Sechstes Kapitel
Eine Gelegenheit für den Leser, um sein Gehirn aus der schaukelnden Bewegung des vorigen Kapitels wieder in Ruhe zu setzen

Gute, kunstlose, sanftherzige Gulleru, – sagte Demokritus, da er nach Hause gekommen war, zu einer wohlgepflegten krauslockigen Schwarzen, die ihm mit offnen Armen entgegenwatschelte – komm an meinen Busen, ehrliche Gulleru! Zwar bist du schwarz wie die Göttin der Nacht; dein Haar ist wollicht, und deine Nase platt; deine Augen sind klein, deine Ohren groß, und deine Lippen gleichen einer aufgeborstnen Nelke. Aber dein Herz ist rein und aufrichtig und fröhlich, und fühlt mit der ganzen Natur. Du denkst nie Arges, sagst nie was Albernes, quälst weder andre noch dich selbst, und tust nichts, was du nicht gestehen darfst. Deine Seele ist ohne Falsch, wie dein Gesicht ohne Schminke. Du kennst weder Neid noch Schadenfreude; und nie hat sich deine ehrliche platte Nase gerümpft, um eines deiner Nebengeschöpfe zu höhnen oder in Verlegenheit zu setzen. Unbesorgt, ob du gefällst oder nicht gefällst, lebst du, in deine Unschuld eingehüllt, im Frieden mit dir selbst und der ganzen Natur; immer geschickt Freude zu geben und zu empfangen, und wert, daß das Herz eines Mannes an deinem Busen ruhe! Gute, sanftherzige Gulleru! Ich könnte dir einen andern Namen geben; einen schönen, klangreichen, griechischen Namen auf ane oder ide, arion oder erion: aber dein Name ist schön genug, weil er dein ist; und ich bin nicht Demokritus, oder die Zeit soll noch kommen, wo jedes ehrliche gute Herz dem Namen Gulleru entgegenschlagen soll!

Gulleru begriff nicht allzuwohl, was Demokritus mit dieser empfindsamen Anrede haben wollte; aber sie sah, daß es eine Ergießung seines Herzens war, und so verstund sie gerade so viel davon, als sie vonnöten hatte.

»War diese Gulleru seine Frau?«

Nein.

»Seine Beischläferin?«

Nein.

»Seine Sklavin?«

Nach ihrem Anzug zu schließen nicht.

»Wie war sie denn angezogen?«

So gut, daß sie eine Fille d'honneur der Königin von Saba hätte vorstellen können. Schnüre von großen feinen Perlen zwischen den Locken, und um Hals und Arme; ein Gewand voll schön gebrochner Falten, von dünnem feuerfarbnem Atlaß mit Streifen von welcher Farbe ihr wollt, unter ihrem Busen von einem reichgestickten Gürtel zusammengehalten, den eine Agraffe von Smaragden schloß; und – was weiß ich alles –

»Der Anzug war reich genug.«

Wenigstens können Sie mir glauben, daß, so wie sie war, kein Prinz von Senegal, Angola, Gambia, Congo und Loango sie ungestraft angesehen hätte.

»Aber –«

Ich sehe wohl, daß Sie noch nicht am Ende Ihrer Fragen sind. – Wer war denn diese Gulleru? War es eben die, von welcher vorhin gesprochen wurde? Wie kam Demokritus zu ihr? Auf welchen Fuß lebte sie in seinem Hause? – Ich gesteh' es, dies sind sehr billige Fragen; aber sie zu beantworten, seh' ich vor der Hand keine Möglichkeit. Denken Sie nicht, daß ich hier den Verschwiegnen machen wolle, oder daß ein besonderes Geheimnis unter der Sache stecke. Die Ursache, warum ich sie nicht beantworten kann, ist die aller simpelste von der Welt. Tausend Schriftsteller befinden sich tausendmal in dem nämlichen Falle; nur ist unter Tausend kaum einer aufrichtig genug, in solchen Fällen die wahre Ursache zu bekennen. Soll ich Ihnen die meinige sagen, Sie werden gestehen, daß sie über alle Einwendung ist. Denn, kurz und gut, – ich weiß selbst kein Wort von allem dem, was Sie von mir wissen wollen; und da ich nicht die Geschichte der schönen Gulleru schreibe, so begreifen Sie, daß ich in Absicht auf diese Dame zu nichts verbunden bin. Sollte sich (was ich nicht vorhersehen kann,) etwa in der Folge Gelegenheit finden, von Demokritus oder von ihr selbst etwas näheres zu erkundigen: so verlassen Sie sich darauf, daß Sie alles von Wort zu Wort erfahren sollen.

Siebentes Kapitel
Patriotismus der Abderiten
Ihre Vorneigung für Athen als ihre Mutterstadt
Ein paar Proben von ihrem Atticismus, und von der unangenehmen Aufrichtigkeit des weisen Demokritus

Demokritus hatte noch keinen Monat unter den Abderiten gelebt, als er ihnen, und zuweilen auch sie ihm, schon so unerträglich waren, als Menschen einander sein müssen, die mit ihren Begriffen und Neigungen alle Augenblicke wider einander stoßen.

Die Abderiten hegten von sich selbst und von ihrer Stadt und Republik eine ganz außerordentliche Meinung. Ihre Unwissenheit alles dessen, was außerhalb ihrem Gebiet in der Welt Merkwürdiges sein oder geschehen möchte, war zugleich eine Ursache und eine Frucht dieses lächerlichen Dünkels. Daher kam es denn, durch eine sehr natürliche Folge, daß sie sich gar keine Vorstellung machen konnten, wie etwas recht oder anständig oder gut sein könnte, wenn es anders als zu Abdera war, oder wenn man zu Abdera gar nichts davon wußte. Ein Begriff, der ihren Begriffen widersprach, eine Gewohnheit, die von den ihrigen abging, eine Art zu denken oder etwas ins Auge zu fassen, die ihnen fremde war, hieß ihnen, ohne weitere Untersuchung, ungereimt und belachenswert. Die Natur selbst schrumpfte für sie in den engen Kreis ihrer eigenen Tätigkeit zusammen; und wiewohl sie es nicht so weit trieben, sich, wie die Japaner, einzubilden, außer Abdera wohnten lauter Teufel, Gespenster und Ungeheuer: so sahen sie doch wenigstens den Rest des Erdbodens und seiner Bewohner als einen ihrer Aufmerksamkeit unwürdigen Gegenstand an; und wenn sie zufälliger Weise Gelegenheit bekamen, etwas Fremdes zu sehen oder zu hören, so wußten sie nichts damit zu machen, als sich darüber aufzuhalten, und sich selbst Glück zu wünschen, daß sie nicht wären wie andere Leute. Dies ging so weit, daß sie denjenigen für keinen guten Bürger hielten, der an einem andern Orte bessere Einrichtungen oder Gebräuche wahrgenommen hatte als zu Hause. Wer das Glück haben wollte, ihnen zu gefallen, mußte schlechterdings so reden und tun, als ob die Stadt und Republik Abdera, mit allen ihren zugehörigen Stücken, Eigenschaften und Zufälligkeiten, ganz und gar untadelich, und das Ideal aller Republiken gewesen wäre.

Von dieser Verachtung gegen alles, was nicht abderitisch hieß, war die Stadt Athen allein ausgenommen; aber auch diese vermutlich nur deswegen, weil die Abderiten, als ehmalige Tejer, ihr die Ehre erwiesen, sie für ihre Mutterstadt anzusehen. Sie waren stolz darauf, für das thracische Athen gehalten zu werden; und wiewohl ihnen dieser Name nie anders als spottweise gegeben wurde, so hörten sie doch keine Schmeichelei lieber als diese. Sie bemühten sich, die Athenienser in allen Stücken zu copieren; und copierten sie genau – wie der Affe den Menschen. Wenn sie, um lebhaft und geistreich zu sein, alle Augenblicke ins Possierliche fielen; wichtige Dinge leichtsinnig, und Kindereien ernsthaft behandelten; das Volk oder ihren Rat um jeder Kleinigkeit willen zwanzigmal versammelten, um lange, alberne Reden pro und contra über Sachen zu halten, die ein Mann von alltäglichem Menschenverstand in einer Viertelstunde besser als sie entschieden hätte; wenn sie unaufhörlich mit Projecten von Verschönerung und Vergrößerung schwanger gingen, und, so oft sie etwas unternahmen, immer erst mitten im Werke ausrechneten, daß es über ihre Kräfte gehe; wenn sie ihre halbthracische Sprache mit attischen Redensarten spickten; ohne den mindesten Geschmack eine ungeheure Passion für die Künste affectierten, und immer von Malerei und Statuen und Musik und Rednern und Dichtern schwatzten, ohne jemals einen Maler, Bildhauer, Redner oder Dichter, der des Namens wert war, gehabt zu haben; wenn sie Tempel bauten, die wie Bäder, und Bäder, die wie Tempel aussahen; wenn sie die Geschichte von Vulcans Netze in ihre Ratsstube, und den großen Rat der Griechen über die Zurückgabe de schönen Chryseis in ihre Akademie malen ließen; wenn sie in Lustspiele gingen, wo man sie zu weinen, und in Trauerspiele, wo man sie zu lachen machte; und in zwanzig ähnlichen Dingen glaubten die guten Leute – Athenienser zu sein, und waren – Abderiten.

Wie erhaben der Schwung in diesem kleinen Gedicht ist, das Physignatus auf meine Wachtel gemacht hat! sagte eine Abderitin. Desto schlimmer! sagte Demokritus.

Sehen Sie, sprach der erste Archon von Abdera, die Fassade von diesem Gebäude, welches wir zu unserm Zeughause bestimmet haben? Sie ist von dem besten parischen Marmor. Gestehen Sie, daß Sie nie ein Werk von größerm Geschmack gesehen haben!

Es mag die Republik schönes Geld gekostet haben, antwortete Demokritus.

Was der Republik Ehre macht, kostet nie zu viel, erwiderte der Archon, der in diesem Augenblick den zweiten Perikles in sich fühlte; ich weiß, Sie sind ein Kenner, Demokritus: denn Sie haben immer an allem etwas auszusetzen. Ich bitte Sie, finden Sie mir einen Fehler an dieser Fassade?

Tausend Drachmen für einen Fehler, Herr Demokritus, rief ein junger Herr, der die Ehre hatte, ein Neffe des Archon zu sein, und vor kurzem von Athen zurückgekommen war, wo er sich aus einem abderitischen Bengel für die Hälfte seines Erbgutes zu einem attischen Gecken ausgebildet hatte.

Die Fassade ist schön, sagte Demokritus ganz bescheiden; so schön, daß sie es auch zu Athen oder Korinth oder Syrakus sein würde. Ich sehe, wenn's erlaubt ist, es zu sagen, nur Einen Fehler an diesem prächtigen Gebäude.

»Einen Fehler?« – sprach der Archon, mit einer Miene, die sich nur ein Abderite, der ein Archon war, geben konnte.

Einen Fehler! Einen Fehler! wiederholte der junge Geck, indem er ein lautes Gelächter aufschlug.

»Darf man fragen, Demokritus, wie ihr Fehler heißt?«

Eine Kleinigkeit, versetzte Demokritus; nichts als daß man eine so schöne Fassade – nicht sehen kann.

»Nicht sehen kann? Und wieso?«

Je, beim Anubis! wie wollen Sie daß man sie vor allen den alten übelgebauten Häusern und Scheunen sehen soll, die hier ringsum zwischen die Augen der Leute und Ihre Fassade hingesetzt sind?

»Diese Häuser stunden lange eh Sie und ich geboren wurden«, sagte der Archon.

Dergleichen Dialogen gab es, so lange der Philosoph unter ihnen lebte, alle Tage, Stunden und Augenblicke.

»Wie finden Sie diesen Purpur, Demokritus? Sie sind zu Tyrus gewesen; nicht wahr?«

Ich wohl, Madame, aber dieser Purpur nicht; dies ist Coccinum, das Ihnen die Syrakusaner aus Sardinien bringen und für tyrischen Purpur bezahlen lassen.

»Aber wenigstens werden Sie doch diesen Schleier für indianischen Byssus von der feinsten Art gelten lassen?«

Von der feinsten Art, schöne Atalanta, die man in Memphis und Pelusium verarbeiten läßt.

Nun hatte sich der ehrliche Mann zwo Feindinnen in Einer Minute gemacht. Konnte aber auch was ärgerlicher sein, als eine solche Aufrichtigkeit?

Achtes Kapitel
Vorläufige Nachricht von dem abderitischen Schauspielwesen - Demokritus wird genötigt, seine Meinung davon zu sagen

Die Abderiten wußten sich sehr viel mit ihrem Theater. Ihre Schauspieler waren gemeine Bürger von Abdera, die entweder von ihrem Handwerke nicht leben konnten, oder zu faul waren, eines zu lernen. Sie hatten keinen gelehrten Begriff von der Kunst, aber eine desto größere Meinung von ihrer eignen Geschicklichkeit; und wirklich konnt' es ihnen an Anlage nicht fehlen, da die Abderiten überhaupt geborne Gaukler, Spaßmacher und Pantomimen waren, an denen immer jedes Glied ihres Leibes mitreden half, so wenig auch das, was sie sagten, zu bedeuten haben mochte.

Sie besaßen auch einen eignen Schauspieldichter, Hyperbolus genannt, der, wenn man ihnen glaubte, ihre Schaubühne so weit gebracht hatte, daß sie der atheniensischen wenig nachgab. Er war im Komischen so stark als im Tragischen, und machte überdies die possierlichsten Satyrenspiele f18) von der Welt, worin er seine eignen Tragödien so schnakisch parodierte, daß man sich, wie die Abderiten sagten, dar über bucklicht lachen mußte. Ihrem Urteile nach vereinigte er in seiner Tragödie den hohen Schwung und die mächtige Einbildungskraft des Aeschylus mit der Beredsamkeit und dem Pathos des Euripides, so wie in seinen Lustspielen des Aristophanes Laune und mutwilligen Witz mit dem feinen Geschmack und der Eleganz des Agathon. Die Behendigkeit, womit er seiner Werke entbunden wurde, war das Talent, worauf er sich am meisten zu gute tat. Er lieferte jeden Monat seine Tragödie, mit einem kleinen Possenspielchen zur Zugabe. Meine beste Komödie, sprach er, hat mich nicht mehr als vierzehn Tage gekostet, und gleichwohl spielt sie ihre vier bis fünf Stunden wohlgezählt.

Da sei uns der Himmel gnädig! dachte Demokritus.

Nun drangen die Abderiten immer von allen Seiten in ihn, seine Meinung von ihrem Theater zu sagen; und so ungern er sich mit ihnen über ihren Geschmack in Wortwechsel einließ, so konnt'er doch auch nicht von sich erhalten, ihnen zu schmeicheln, wenn sie ihm sein Urteil mit gesamter Hand abnötigten.

»Wie gefällt Ihnen diese neue Tragödie?«

Das Süjet ist glücklich gewählt. Was müßte der Autor auch sein, der einen solchen Stoff ganz zu Grunde richten sollte?

»Fanden Sie sie nicht sehr rührend?«

Ein Stück könnte in einigen Stellen sehr rührend, und doch ein sehr elendes Stück sein, sagte Demokritus. Ich kenne einen Bildhauer von Sicyon, der die Wut hat, lauter Liebesgöttinnen zu schnitzen.

Diese sehen überhaupt sehr gemeinen Dirnen gleich; aber sie haben alle die schönsten Beine von der Welt. Das ganze Geheimnis von der Sache ist, daß der Mann seine Frau zum Modelle nimmt, die, zum Glücke für seine Venusbilder, wenigstens die Beine schön hat. So kann dem schlechtesten Dichter zuweilen eine rührende Stelle gelingen, wenn es sich gerade zutrifft, daß er verliebt ist, oder einen Freund verloren hat, oder daß ihm sonst ein Zufall zugestoßen ist, der sein Herz in eine Fassung setzt, die es ihm leicht macht, sich an den Platz der Person, die er reden lassen soll, zu stellen.

»Sie finden also die Hekuba unsers Dichters nicht vortrefflich?«

Ich finde, daß der Mann vielleicht sein Bestes getan hat. Aber die vielen, bald dem Aeschylus, bald dem Sophokles, bald dem Euripides, ausgerupften Federn, womit er seine Blöße zu decken sucht, und die ihm vielleicht in den Augen mancher Zuhörer, denen jene Dichter nicht so gegenwärtig sind als mir, Ehre machen, schaden ihm in den meinigen. Eine Krähe, wie sie von Gott erschaffen ist, dünkt mich so noch immer schöner, als wenn sie sich mit Pfauen- und Fasanenfedern ausputzt. Überhaupt fodre ich von dem Verfasser eines Trauerspiels mit gleichem Rechte, daß er mir für meinen Beifall ein vortreffliches Trauerspiel, als von meinem Schuster, daß er mir für mein Geld ein Paar gute Stiefeln liefere; und wiewohl ich gerne gestehe, daß es schwerer ist, ein gutes Trauerspiel als gute Stiefeln zu machen: so bin ich darum nicht weniger berechtiget, von jedem Trauerspiel zu verlangen, daß es alle Eigenschaften habe, die zu einem guten Trauerspiel, als von einem Stiefel, daß er alles habe, was zu einem guten Stiefel gehört.

»Und was gehört denn, Ihrer Meinung nach, zu einem wohlgestiefelten Trauerspiel?« fragte ein junger abderitischer Patricius, herzlich über den guten Einfall lachend, der ihm, wie er glaubte, entfahren war.

Demokritus sprach mit einem kleinen Kreise von Personen, die ihm zuzuhören schienen, und fuhr, ohne auf die Frage des witzigen jungen Herrn Acht zu haben, fort. Die wahren Regeln der Kunstwerke, sprach er, können nie willkürlich sein. Ich fordre nichts von einem Trauerspiele, als was Sophokles von den seinigen fodert; und dies ist weder mehr noch weniger, als die Natur und Absicht der Sache mit sich bringt. Einen einfachen wohldurchgedachten Plan, worin der Dichter alles vorausgesehen, alles vorbereitet, alles natürlich zusammengefügt, alles auf Einen Punkt geführt hat; worin jeder Teil ein unentbehrliches Glied, und das Ganze ein wohlorganisierter, schöner, frei und edel sich bewegender Körper ist! Keine langweilige Exposition, keine Episoden, keine Scenen zum Ausfüllen, keine Reden, deren Ende man mit Ungeduld herbeigähnt, keine Handlungen, die nicht zum Hauptzwecke arbeiten! Interessante, aus der Natur genommene Charaktere, veredelt, aber so, daß man die Menschheit in ihnen nie verkenne; keine übermenschliche Tugenden, keine Ungeheuer von Bosheit! Personen, die immer ihren eigenen Individualbegriffen und Empfindungen gemäß reden und handeln; immer so, daß man fühlt, nach ihrem besondern Charakter, nach allen ihren vorhergehenden und gegenwärtigen Umständen und Bestimmungen, müssen sie im gegebenen Falle so reden, so handeln, oder aufhören zu sein was sie sind. Ich fodre daß der Dichter nicht nur die menschliche Natur kenne, in so ferne sie das Modell aller seiner Nachbildungen ist; ich fodre, daß er auch auf die Zuschauer Rücksicht nehme, und genau wisse, durch welche Wege man sich ihres Herzens Meister macht; daß er jeden starken Schlag, den er auf solches tun will, unvermerkt vorbereite; daß er wisse wenn es genug ist, und, eh er es uns durch einerlei Eindrücke völlig ermüdet, oder einen Affect bis zu dem Grade, wo er peinigend zu werden anfängt, in uns erregt, dem Herzen kleine Ruhepunkte zur Erholung gönne, und die Regungen, die er uns mitteilt, ohne Nachteil der Hauptwirkung, zu vermannichfaltigen wisse. Ich fodre von ihm eine schöne, und ohne Ängstlichkeit mit äußerstem Fleiße polierte Sprache; einen immer warmen kräftigen Ausdruck, einfach und erhaben, ohne jemals zu schwellen noch zu sinken, stark und nervicht, ohne rauh und steif zu werden, glänzend, ohne zu blenden; wahre Heldensprache, die immer der lebende Ausdruck einer großen Seele und unmittelbar vom gegenwärtigen Gefühl eingegeben ist, nie zu viel, nie zu wenig sagt, und, gleich einem dem Körper angegoßnen Gewand, immer den eigentümlichen Geist des Redenden durchscheinen läßt. Ich fodre, daß derjenige, der sich unterwindet, Helden reden zu lassen, selbst eine große Seele habe; und indem er durch die Allgewalt der Begeisterung in seinen Helden verwandelt worden ist, alles, was er ihm in den Mund logt, in seinem eignen Herzen finde. Ich fodre –

»O, Herr Demokritus«, – riefen die Abderiten, die sich nicht länger zu halten wußten – »Sie können, da Sie nun einmal im Fodern sind, alles fodern was Ihnen beliebt. In Abdera läßt man sich mit wenigerm abfinden. Wir sind zufrieden, wenn uns ein Dichter rührt. Der Mann, der uns lachen oder weinen macht, ist in unsern Augen ein göttlicher Mann, mag er es doch anfangen wie er selbst will. Dies ist seine Sache, nicht die unsrige! Hyperbolus gefällt uns, rührt uns, macht uns Spaß; und gesetzt auch, daß er uns mitunter gähnen macht, so bleibt er doch immer ein großer Dichter! Brauchen wir eines weitern Beweises?«

Die Schwarzen an der Goldküste, sagte Demokritus, tanzen mit Entzücken zum Getöse eines armseligen Schaffells und etlicher Bleche, die sie gegen einander schlagen. Gebt ihnen noch ein paar Kuhschellen und eine Sackpfeife dazu, so glauben sie in Elysium zu sein. Wie viel Witz brauchte eure Amme, um euch, da ihr noch Kinder waret, durch ihre Erzählungen zu rühren? Das albernste Märchen, in einem kläglichen Tone hergeleiert, war dazu gut genug. Folgt aber daraus, daß die Musik der Schwarzen vortrefflich, oder ein Ammenmärchen gleich ein herrliches Werk ist?

»Sie sind sehr höflich, Demokritus –«

Um Vergebung! Ich bin so unhöflich, jedes Ding bei seinem Namen zu nennen; und so eigensinnig, daß ich nie gestehen werde, alles sei schön und vortrefflich, was man so zu nennen beliebt.

»Aber das Gefühl eines ganzen Volkes wird doch mehr gelten, als der Eigendünkel eines einzigen?«

Eigendünkel? Das ist es eben, was ich aus den Künsten der Musen verbannt sehen möchte. Unter allen den Foderungen, wovon die Abderiten ihren Günstling Hyperbolus so gütig loszählen, ist keine einzige, die nicht auf die strengste Gerechtigkeit gegründet wäre. Aber das Gefühl eines ganzen Volkes, wenn es kein gelehrtes Gefühl ist, kann und muß in unzähligen Fällen betrüglich sein.

»Wie, zum Henker! (rief ein Abderite, der mit seinem Gefühl sehr wohl zufrieden schien,) Sie werden uns am Ende wohl gar noch unsre fünf Sinne streitig machen?«

Das verhüte der Himmel! antwortete Demokritus. Wenn Sie so bescheiden sind, keine weitere Ansprüche zu machen, als auf fünf Sinne, so wär' es die größte Ungerechtigkeit, Sie im ruhigen Besitze derselben stören zu wollen. Fünf Sinne sind allerdings, zumal wenn man alle fünfe zusammennimmt, vollgültige Richter in allen Dingen, wo es darauf ankömmt, zu entscheiden, was weiß oder schwarz, glatt oder rauh, weich oder hart, dick oder dünn, bitter oder süß ist. Ein Mann, der nie weiter geht, als ihn seine fünf Sinne führen, geht immer sicher; und in der Tat, wenn euer Hyperbolus dafür sorgen wird, daß in seinen Schauspielen jeder Sinn ergötzt und keiner beleidiget werde, so stehe ich ihm für die gute Aufnahme, und wenn sie noch zehnmal schlechter wären als sie sind.

Wäre Demokritus zu Abdera weiter nichts gewesen, als was Diogenes zu Korinth war, so möchte ihm die Freiheit seiner Zunge vielleicht einige Ungelegenheit zugezogen haben. Denn so gerne die Abderiten über wichtige Dinge spaßten, so wenig konnten sie ertragen, wenn man sich über ihre Puppen und Steckenpferde lustig machte. Aber Demokritus war aus dem besten Hause in Abdera, und, was noch mehr zu bedeuten hat, er war reich. Dieser doppelte Umstand machte, daß man ihm nachsah, was man einem Philosophen in zerrißnem Mantel schwerlich zu gut gehalten hätte. »Sie sind auch ein unerträglicher Mensch, Demokritus!« schnarrten die schönen Abderitinnen, und – ertrugen ihn doch.

Der Poet Hyperbolus machte noch am nämlichen Abend ein entsetzliches Sinngedicht auf den Philosophen. Des folgenden Morgens lief es bei allen Putztischen herum; und in der dritten Nacht ward es in allen Gassen von Abdera gesungen. Denn Demokritus hatte eine Melodie dazu gesetzt.

Neuntes Kapitel
Gute Gemütsart der Abderiten, und wie sie sich an dem Philosophen Demokritus wegen seiner Unhöflichkeit zu rächen wissen Eine seiner Strafpredigten zur Probe Die Abderiten machen ein Gesetz gegen alle Reisen, wodurch ein abderitisches Mutterkind hätte klüger werden können Merkwürdige Art, wie de Nomophylax Gryllus eine aus diesem Gesetz entstandene Schwierigkeit auflöst

Es ist ordentlicher Weise eine gefährliche Sache, mehr Verstand zu haben als seine Mitbürger. Sokrates mußt' es mit dem Leben bezahlen; und wenn Aristoteles mit ganzer Haut davon kam, als ihn der Oberpriester Eurymedon zu Athen der Ketzerei anklagte, so kam es bloß daher, weil er sich in Zeiten aus dem Staube machte. Ich will den Atheniensern keine Gelegenheit geben, sagte er, sich zum zweitenmale an der Philosophie zu versündigen f19).

Die Abderiten waren bei allen ihren menschlichen Schwachheiten wenigstens keine sehr bösartigen Leute. Unter ihnen hätte Sokrates so alt werden können als Nestor. Sie hätten ihn für eine wunderliche Art von Narren gehalten, und sich über seine vermeintliche Torheit lustig gemacht; aber die Sache bis zum Giftbecher zu treiben, war nicht in ihrem Charakter. Demokritus ging so scharf mit ihnen zu Werke, daß ein weniger jovialisches Volk die Geduld dabei verloren hätte. Gleichwohl bestund alle Rache, die sie an ihm nahmen, darin, daß sie (unbekümmert mit welchem Grunde) eben so übel von ihm sprachen als er von ihnen, alles tadelten, was er unternahm, alles lächerlich fanden, was er sagte, und von allem, was er ihnen riet, gerade das Gegenteil taten. »Man muß dem Philosophen durch den Sinn fahren, sagten sie; man muß ihm nicht weis machen, daß er alles besser wisse als wir« – und, dieser weisen Maxime zufolge, begingen die guten Leute eine Torheit über die andre, und glaubten, wie viel sie dabei gewonnen hätten, wenn es ihn verdrösse. Zum Unglück verfehlten sie darin ihres Zweckes gänzlich. Denn Demokritus lachte dazu, und wurde, aller ihrer Neckereien wegen, nicht einen Augenblick früher grau. O die Abderiten, die Abderiten! rief er zuweilen; da haben sie sich wieder selbst eine Ohrfeige gegeben, in Hoffnung, daß es mir weh tun werde!

»Aber (sagten die Abderiten) kann man auch mit einem Menschen schlimmer daran sein? Über alles in der Welt ist er andrer Meinung als wir. An allem, was uns gefällt, hat er etwas auszusetzen. Es ist doch sehr unangenehm, sich immer widersprechen zu lassen!«

Aber, wenn ihr nun immer Unrecht habt, antwortete Demokritus. – Und laßt doch einmal sehen, wie es anders sein könnte! Alle eure Begriffe habt ihr eurer Amme zu danken; und über alles denkt ihr noch eben so, wie ihr als Kinder davon dachtet. Eure Körper sind gewachsen, und Eure Seelen liegen noch in der Wiege. Wie viele unter euch haben sich die Mühe gegeben, den Grund zu erforschen, warum sie etwas wahr oder gut oder schön nennen? Gleich den Unmündigen und Säuglingen ist euch alles gut und schön, was eure Sinnen kitzelt, was euch gefällt. Und auf was für kleinfügige, oft gar nicht zur Sache gehörende, Ursachen und Umstände kömmt es an, ob euch etwas gefallen soll oder nicht? Wie verlegen würdet ihr oft sein, wenn ihr sagen solltet, warum ihr dies liebt und jenes hasset? Grillen, Launen, Eigensinn, die Gewohnheit, euch von andern Leuten gängeln zu lassen, mit ihren Augen zu sehen, mit ihren Ohren zu hören, und was sie euch vorgepfiffen haben, nachzupfeifen, – sind die Triebfedern, die bei euch die Stelle der Vernunft ersetzen. Soll ich euch sagen, woran der Fehler liegt? Ihr habt euch einen falschen Begriff von Freiheit in den Kopf gesetzt. Eure Kinder von drei oder vier Jahren haben freilich den nämlichen Begriff davon; aber dies macht ihn nicht richtiger. Wir sind ein freies Volk, sagt ihr; und nun glaubt ihr, die Vernunft habe euch nichts einzureden. »Warum sollten wir nicht denken dürfen, wie es uns beliebt? lieben und hassen wie es uns beliebt? bewundern oder verachten was uns beliebt? Wer hat ein Recht uns zur Rede zu stellen, oder unsern Geschmack und unsre Neigungen vor seinen Richterstuhl zu fordern?« – Nun dann, meine lieben Abderiten, so denkt und faselt, liebt und haßt, bewundert und verachtet, wie, wenn, und was euch beliebt! Begeht Torheiten so oft und so viel euch beliebt! Macht euch lächerlich wie es euch beliebt! Wem liegt am Ende was daran? So lang es nur Kleinigkeiten, Puppen und Steckenpferde betrifft, wär es unbillig, euch im Besitze des Rechtes, eure Puppe und euer Steckenpferd nach Belieben zu putzen und zu reiten, stören zu wollen. Gesetzt auch, eure Puppe wäre häßlich, und das, was ihr euer Steckenpferd nennt, sähe von vorn und von hinten einem Öchslein oder Eselein ähnlich: was tut das? Wenn eure Torheiten euch glücklich und niemand unglücklich machen, was geht es andre Leute an, daß es Torheiten sind? Warum sollte nicht der hochweise Rat von Abdera, in feierlicher Procession, einer hinter dem andern, vom Rathause bis zum Tempel der Latona Burzelbäume machen dürfen, wenn es dem Rat und Volke von Abdera so gefällig wäre? Warum solltet ihr euer bestes Gebäude nicht in einen Winkel, und eure schöne kleine Venus nicht auf einen Obelisk setzen dürfen? Aber, meine lieben Landsleute, nicht alle eure Torheiten sind so unschuldig wie diese; und wenn ich sehe, daß ihr euch durch eure Grillen und Aufwallungen Schaden tut, so müßt' ich euer Freund nicht sein, wenn ich stille dazu schweigen könnte. Zum Exempel, euer Frosch- und Mäusekrieg mit den Lemniern, der unnötigste und unbesonnenste der jemals angefangen wurde, um der albernsten Ursache von der Welt, um einer Tänzerin, willen? – Es fiel in die Augen, daß ihr damals unter dem unmittelbaren Einfluß eures bösen Dämons waret, da ihr ihn beschlosset. Allein, alles half nichts, was man euch dagegen vorstellte. Die Lemnier sollten gezüchtiget werden; und wie ihr Leute von lebhafter Einbildung seid, so schien euch nichts leichters, als euch von der ganzen Insel Meister zu machen. Denn die Schwierigkeiten einer Sache pflegt ihr nie eher in Erwägung zu nehmen, als bis euch eure Nase daran erinnert. Doch dies alles möchte noch hingegangen sein, wenn ihr nur wenigstens die Ausführung eurer Entwürfe einem tüchtigen Mann aufgetragen hättet. Aber den jungen Aphron zum Feldherrn zu machen, ohne daß sich irgend ein möglicher Grund davon erdenken ließ, als weil eure Weiber fanden, daß er in seiner prächtigen neuen Rüstung so schön wie ein Paris sei; und – über dem Vergnügen, einen großen feuerfarbenen Federbusch auf seinem hirnlosen Kopfe nicken zu sehen – zu vergessen, daß es nicht um ein Lustgefechte zu tun war: dies, leugnets nur nicht, dies war ein Abderitenstreich! Und nun, da ihr ihn mit dem Verlust eurer Ehre, eurer Galeeren und eurer besten Mannschaft bezahlt habt, was hilft es euch, daß die Athenienser f20), die ihr euch in ihren Torheiten zum Muster genommen habt, eben so sinnreiche Streiche, und zuweilen mit eben so glücklichem Ausgang zu spielen pflegen?

In diesem Tone sprach Demokritus mit den Abderiten, so oft sie ihm Gelegenheit dazu gaben; aber, wiewohl dies sehr oft geschah, so konnten sie sich doch unmöglich gewöhnen, diesen Ton angenehm zu finden. »So geht es, sagten sie, wenn man naseweisen Jünglingen erlaubt, in der weiten Welt herum zu reisen um sich ihres Vaterlandes schämen zu lernen, und nach zehn oder zwanzig Jahren mit einem Kopfe voll ausländischer Begriffe als Kosmopoliten zurückzukommen, die alles besser wissen als ihre Großväter, und alles anderswo besser gesehen haben als zu Hause. Die alten Aegyptier, die niemand reisen ließen eh' er wenigstens fünfzig Jahre auf dem Rücken hatte, waren weise Leute!«

Und eilends gingen die Abderiten hin, und machten ein Gesetz: daß kein Abderitensohn hinfür weiter als bis an den korinthischen Isthmus, länger als ein Jahr, und anders als unter der Aufsicht eines bejahrten Hofmeisters von altabderitischer Abkunft, Denkart und Sitte, sollte reisen dürfen. »Junge Leute müssen zwar die Welt sehen, sagte das Decret; aber eben darum sollen sie sich an jedem Orte nicht länger aufhalten, als bis sie alles, was mit Augen da zu sehen ist, gesehen haben. Besonders soll der Hofmeister genau bemerken, was für Gasthöfe f21) sie angetroffen, wie sie gegessen, und wie viel sie bezahlen müssen; damit ihre Mitbürger sich in der Folge diese ersprießlichen Geheimnachrichten zu Nutze machen können. Ferner soll, (wie das Decret weiter sagt,) zu Ersparung der Unkosten eines allzu langen Aufenthalts an einem Orte, der Hofmeister dahin sehen, daß der junge Abderite in keine unnötige Bekanntschaften verwickelt werde. Der Wirt oder der Hausknecht, als an dem Orte einheimisch, kann ihm am besten sagen, was da merkwürdiges zu sehen ist, wie die dasigen Gelehrten und Künstler heißen, wo sie wohnen, und um welche Zeit sie zu sprechen sind: dies bemerkt sich der Hofmeister in sein Tagebuch; und dann läßt sich in zween oder drei Tagen, wenn man die Zeit wohl zu Rate hält, vieles in Augenschein nehmen.«

Zum Unglück für dieses weise Decret befanden sich zween abderitische junge Herren von großer Wichtigkeit eben außer Landes, als es abgefaßt, und, nach alter Gewohnheit, dem Volk auf den Hauptplätzen der Stadt vorgesungen wurde. Der eine war der Sohn eines Krämers, der, durch Geiz und niederträchtige Kunstgriffe in seinem Gewerbe, binnen vierzig Jahren ein beträchtliches Vermögen zusammengekratzt, und in Kraft desselben seine Tochter (das häßlichste und dümmste Tierchen von ganz Abdera) kürzlich an einen Neffen des kleinen dicken Ratsherrn, dessen oben rühmliche Erwähnung getan worden, verheiratet hatte. Der andere war der einzige Sohn des Nomophylax, und sollte, um seinem Vater je bälder je lieber in diesem Amte beigeordnet werden zu können, nach Athen reisen, und sich mit dem Musikwesen daselbst genauer bekannt machen; während daß der Erbe des Krämers, der ihn begleiten wollte, mit den Putzmacherinnen und Sträußermädchen allda genauere Bekanntschaft zu machen gesonnen war. Nun hatte das Decret an den besondern Fall, worin sich diese jungen Herren befanden, nicht gedacht. Die Frage war also, was zu tun sei? Ob man auf eine Modification des Gesetzes antragen, oder beim Senat bloß um Dispensation für den vorliegenden Fall ansuchen sollte? – Keines von beiden, sagte der Nomophylax, der eben mit der Composition eines neuen Tanzes auf das Fest der Latona fertig, und außerordentlich mit selbst zufrieden war. Um etwas am Gesetze selbst zu ändern, müßte man das Volk deswegen zusammenberufen; und dies würde unsern Mißgünstigen nur Gelegenheit geben, die Mäuler aufzureißen. Was die Dispensation betrifft, so ist zwar an dem, daß man die Gesetze meistens um der Dispensationen willen macht; und ich zweifle nicht, daß der Senat uns ohne Schwierigkeit zugestehen würde, was jeder, in ähnlichen Fällen, Kraft des Gegenrechtes fodern zu können wünscht. Indessen hat doch jede Befreiung das Ansehen einer erwiesenen Gnade; und wozu haben wir nötig, uns Verbindlichkeiten aufzuhalsen? Das Gesetz ist ein schlafender Löwe, bei dem man, so lang er nicht aufgeweckt wird, so sicher als bei einem Lamme vorbeischleichen kann. Und wer wird die Unverschämtheit oder die Verwegenheit haben, ihn gegen den Sohn des Nomophylax aufzuwecken?

Dieser Beschirmer der Gesetze war, wie wir sehen, ein Mann, der von den Gesetzen und von seinem Amte sehr verfeinerte Begriffe hatte, und sich der Vorteile, die ihm das letztere gab, fertig zu bedienen wußte. Sein Name verdient aufbehalten zu werden. Er nannte sich Gryllus, des Cyniskus Sohn.

Zehntes Kapitel
Demokritus zieht sich aufs Land zurück, und wird von den Abderiten fleißig besucht - Allerlei Raritäten, und eine Unterredung vom Schlaraffenlande der Sittenlehrer

Demokritus hatte sich, da er in sein Vaterland zurückkam, mit dem Gedanken geschmeichelt, daß er demselben, mittelst alles dessen, um was sich sein Verstand und sein Herz indessen gebessert hatte, nützlich werden könnte. Er hatte sich nicht vorgestellt, daß es mit den abderitischen Köpfen so gar übel stünde, als er es nun wirklich befand. Aber da er sich einige Zeit unter ihnen aufgehalten, sah er augenscheinlich, daß es ein eitles Unternehmen gewesen wäre, sie verbessern zu wollen. Alles war bei ihnen so verschoben, daß man nicht wußte, wo man die Verbesserung anfangen sollte. Jeder ihrer Mißbräuche hing an zwanzig andern; es war unmöglich, einen davon abzustellen, ohne den ganzen Staat umzuschaffen. Eine gute Seuche (dacht er) welche das ganze Völkchen – bis auf etliche Dutzend Kinder, die gerade groß genug wären, um der Ammen entbehren zu können – von der Erde vertilgte, wäre das einzige Mittel, das der Stadt Abdera helfen könnte; den Abderiten ist nicht zu helfen!

Er beschloß also, sich mit guter Art von ihnen zurückzuziehen, und ging ein kleines Gut zu bewohnen, das er in der Gegend von Abdera besaß, und mit dessen Benutzung und Verschönerung er die Stunden beschäftigte, die ihm sein Lieblingsstudium, die Erforschung der Naturwirkungen, übrig ließ. Aber zum Unglück für ihn lag dies Landgut zu nah bei Abdera. Denn weil die Lage desselben ungemein schön, und der Weg dahin einer der angenehmsten Spaziergänge war: so sah er sich alle Tage Gottes von einem Schwarm von Abderiten und Abderitinnen, lauter Vettern und Basen, heimgesucht, welche das schöne Wetter und den angenehmen Spaziergang zum Vorwande nahmen, ihn in seiner glücklichen Einsamkeit zu stören.

Wiewohl Demokritus den Abderiten wenigstens eben so wenig gefiel als sie ihm, so war doch die Wirkung davon sehr verschieden. Er floh sie, weil sie ihm Langeweile machten; und sie suchten ihn, weil sie sich die Zeit dadurch vertrieben. Er wußte die seinige anzuwenden; sie hingegen hatten nichts bessers zu tun.

»Wir kommen, Ihnen in Ihrer Einsamkeit die Zeit kürzen zu helfen«, sagten die Abderiten. – Ich pflege in meiner eigenen Gesellschaft sehr kurze Zeit zu haben, sagte Demokritus.

»Aber wie ist es möglich, daß man immer so allein sein kann, rief die schöne Pithöka. Ich würde vor Langerweile vergehen, wenn ich einen einzigen Tag leben sollte, ohne Leute zu sehen.«

Sie versprachen sich; von Leuten gesehen zu werden, meinen Sie, sagte Demokritus.

»Aber woher nehmen sie auch, daß Demokritus Langeweile hat; sein ganzes Haus ist mit Seltenheiten angefüllt. Mit Ihrer Erlaubnis, Demokritus – lassen Sie uns doch alle die schönen Sachen sehen, die Sie auf Ihrer Reise gesammelt haben.«

Nun ging das Leiden des armen Einsiedlers erst recht an. Er hatte in der Tat eine schöne Sammlung von Naturalien aus allen Reichen der Natur; ausgestopfte Tiere, Vögel, Fische, Schmetterlinge, Muscheln, Versteinerungen, Erze, u.s.w. Alles war den Abderiten neu; alles erregte ihr Erstaunen. Der gute Naturforscher wurde in einer Minute mit so viel Fragen übertäubt, daß er, wie die Fama, aus lauter Ohren und Zungen hätte zusammengesetzt sein müssen, um auf alles antworten zu können.

»Erklären Sie uns doch, was dieses ist, wie es heißt? woher es ist, wie es zugeht, warum es so ist!«

Demokritus erklärte so gut er konnte und wußte; aber den Abderiten wurde nichts klärer dadurch; es war ihnen vielmehr, als begriffen sie immer weniger von der Sache je mehr er sie erklärte. Seine Schuld war es nicht!

»Wunderbar! Unbegreiflich! Sehr wunderbar!« – war ihr ewiger Gegenklang. –

So natürlich als etwas in der Welt! erwiderte Demokritus ganz kaltsinnig. –

»Sie sind gar zu bescheiden, Demokritus; oder vermutlich wollen Sie nur, daß man Ihnen desto mehr Complimente über Ihren guten Geschmack und über Ihre großen Reisen machen soll?« –

Setzen Sie sich deswegen in keine Unkosten, meine Herren; ich nehme alles für empfangen an.

»Aber es mag doch eine angenehme Sache sein, so tief in die Welt hinein zu reisen?« – sagte ein Abderit.

»Und ich dächte gerade das Gegenteil, sprach ein anderer. – Nehmen Sie alle die Gefahren und Beschwerlichkeiten, denen man täglich ausgesetzt ist; die schlimmen Straßen, die schlechten Gasthöfe, die Sandbänke, die Schiffbrüche, die wilden Tiere, Krokodile, Einhörner, Greifen und geflügelte Löwen, von denen in der Barbarei alles wimmelt.«

»Und dann, was hat man am Ende davon, (fiel ein Matador von Abdera ein,) wenn man gesehen hat, wie groß die Welt ist? Ich dächte, das Stück, das ich selbst davon besitze, käme mir dann so klein vor, daß ich keine Freude mehr daran haben könnte.«

»Aber rechnen Sie für nichts, so viel Menschen zu sehen?« – erwiderte der Erste.

»Und was sieht man denn da? Menschen! Die konnte man zu Hause sehen. Es ist allenthalben wie bei uns.«

»Ei, hier ist gar ein Vogel ohne Füße«, rief ein junges Frauenzimmer.

»Ohne Füße? – Und der ganze Vogel nur eine einzige Feder! das ist erstaunlich!« – sprach eine andere. »Begreifen Sie das?«

»Ich bitte Sie, Demokritus, erklären Sie uns, wie er gehen kann, da er keine Füße hat?«

»Und wie er mit einer einzigen Feder fliegt?«

»O, was ich am liebsten sehen möchte, sagte eine von den Basen, das wäre ein lebendiger Sphinx! Sie müssen deren wohl viele in Aegypten gefunden haben?«

»Aber ists möglich, ich bitte Sie, daß die Weiber und Töchter der Gymnosophisten in Indien – wie man sagt – Sie verstehen mich doch, was ich fragen will?«

Nicht ich, Frau Salabanda?

»O, Sie verstehen mich gewiß! Sie sind ja in Indien gewesen? Sie haben die Weiber der Gymnosophisten gesehen?«

O ja, und Sie können mir glauben, daß die Weiber der Gymnosophisten weder mehr noch weniger Weiber sind als die Weiber der Abderiten.

»Sie erweisen uns viele Ehre. Aber dies ist nicht, was ich wissen wollte. Ich frage, ob es wahr ist, daß sie – (Hier hielt Frau Salabanda eine Hand vor ihren Busen, und die andere – kurz, sie setzte sich in die Attitüde f22) der mediceischen Venus, um dem Philosophen begreiflich zu machen, was sie wissen wollte.) Nun verstehen Sie mich doch?« sagte sie.

Ja, Madam, die Natur ist nicht karger gegen sie gewesen als gegen andre. Welch eine Frage das ist!

»Sie wollen mich nicht verstehen, Demokritus; ich dächte doch, ich hätte Ihnen deutlich genug gesagt, daß ich wissen möchte, ob es wahr sei, daß sie – weil Sie doch wollen, daß ichs Ihnen unverblümt sage – so nackend gehen, als sie auf die Welt kommen?«

»Nackend! – riefen die Abderitinnen alle auf einmal. Da wären sie ja noch unverschämter als die Mädchen in Sparta! Wer wird auch so was glauben?«

Sie haben Recht, sagte der Naturforscher; die Weiber der Gymnosophisten sind weniger nackend als die Weiber der Griechen in ihrem vollständigsten Anzuge: sie sind vom Kopf bis zu den Füßen in ihre Unschuld und in die öffentliche Ehrbarkeit eingehüllt. f23)

»Wie meinen Sie das?«

Kann ich mich deutlicher erklären?

»Ach, nun versteh ich Sie! Es soll ein Stich sein? Aber Sie scherzen doch wohl nur mit ihrer Ehrbarkeit und Unschuld. Wenn die Weiber der Gymnosophisten nicht haltbarer gekleidet sind, so – müssen sie entweder sehr häßlich, oder ihre Männer sehr frostig sein.«

Keines von beiden. Ihre Weiber sind wohlgebildet, und ihre Kinder gesund und voller Leben; ein unverwerfliches Zeugnis zu Gunsten ihrer Väter, deucht mich!

»Sie sind ein Liebhaber von Paradoxen, Demokritus, sprach der Matador; aber Sie werden mich in Ewigkeit nicht überreden, daß die Sitten eines Volkes desto reiner seien, je nackender die Weiber desselben sind.«

Wenn ich ein so großer Liebhaber von Paradoxen wäre, als man mich beschuldigt, so würd' es mir vielleicht nicht schwer fallen, Sie dessen durch Beispiele und Gründe zu überführen. Aber ich bin dem Gebrauch der Gymnosophistinnen nicht günstig genug, um mich zu seinem Verteidiger aufzuwerfen. Auch war meine Meinung gar nicht, das zu sagen, was mich der scharfsinnige Kratylus sagen läßt. Die Weiber der Gymnosophisten schienen mir nur zu beweisen, daß Gewohnheit und Umstände in Gebräuchen dieser Art alles entscheiden. Die spartanischen Töchter, weil sie kurze Röcke, und die am Indus, weil sie gar keine Röcke tragen, sind darum weder unehrbarer noch größerer Gefahr ausgesetzt, als diejenigen, die ihre Tugend in sieben Schleier einwickeln. Nicht die Gegenstände, sondern unsre Meinungen von denselben sind die Ursache unordentlicher Leidenschaften. Die Gymnosophisten, welche keinen Teil des menschlichen Körpers für unedler halten als den andern, sehen ihre Weiber, wiewohl sie bloß in ihr angebornes Fell gekleidet sind, für eben so gekleidet an, als die Scythen die ihrigen, wenn sie ein Tigerkatzenfell um die Lenden hangen haben.

»Ich wünschte nicht, daß Demokritus mit seiner Philosophie soviel über unsre Weiber vermöchte, daß sie sich solche Dinge in den Kopf setzten«, sagte ein ehrenfester steifer Abderit, der mit Pelzwaren handelte. »Ich auch nicht«, sagte ein Leinwandhändler. Ich wahrlich auch nicht, sagte Demokritus, wiewohl ich weder mit Pelzen noch Leinwand handle.

»Aber eins erlauben Sie mir noch zu fragen, lispelte die Base, die so gerne lebendige Sphinxe gesehen haben möchte. Sie sind in der ganzen Welt herumgekommen; und es soll da viele wunderbare Länder geben, wo alles anders ist als bei uns –«

(Ich glaube kein Wort davon, murmelte der Ratsherr, indem er, wie Homers Jupiter, das ambrosische Haar auf seinem weisheitschwangern Kopfe schüttelte.)

»Sagen Sie mir doch, in welchem unter allen diesen Ländern es ihnen am besten gefallen hat?«

Wo könnt' es Einem besser gefallen, als – zu Abdera?

»O wir wissen schon, daß dies Ihr Ernst nicht ist. Ohne Complimente! antworten Sie der jungen Dame wie Sie denken«, sagte der Ratsherr.

Sie werden über mich lachen, erwiderte der Philosoph: aber weil Sie es verlangen, schöne Klonarion, so will ich Ihnen die reine Wahrheit sagen. Haben Sie nie von einem Lande gehört, wo die Natur so gut ist, neben ihren eigenen Verrichtungen auch noch die Arbeit der Menschen auf sich zu nehmen, von einem Lande, wo ewiger Friede herrscht; wo niemand Knecht und niemand Herr, niemand arm und jedermann reich ist? wo der Durst nach Golde zu keinen Verbrechen zwingt, weil man das Gold zu nichts gebrauchen kann; wo eine Sichel ein eben so unbekanntes Ding ist als ein Schwert; wo der Fleißige nicht für den Müßiggänger arbeiten muß; wo es keine Ärzte gibt, weil niemand krank wird; keine Richter, weil es keine Händel gibt; keine Händel, weil jedermann zufrieden ist; und jedermann zufrieden ist, weil jedermann alles hat, was er nur wünschen kann; – mit einem Worte, von einem Lande, wo alle Menschen so fromm wie die Lämmer, und so glücklich wie die Götter sind? Haben Sie nie von einem solchen Lande?

»Nicht, daß ich mich erinnerte.«

Dies nenn ich ein Land, Klonarion! Da ist es nie zu warm und nie zu kalt, nie zu naß und nie zu trocken; Frühling und Herbst regieren dort nicht wechselsweise, sondern, wie in den Gärten des Alcinous, zugleich in ewiger Eintracht. Berge und Täler, Wälder und Auen sind mit allem angefüllt, was des Menschen Herz gelüsten kann. Aber nicht etwa, daß die Leute sich die Mühe geben müßten, die Hasen zu jagen, die Vögel oder Fische zu fangen, und die Früchte zu pflücken, die sie essen wollen; oder daß sie die Gemächlichkeiten, deren sie genießen, erst mit vielem Ungemach erkaufen müßten. Nein! alles macht sich da von selbst. Die Rebhühner und Schnepfen fliegen einem gespickt und gebraten um den Mund, und bitten demütig, daß man sie essen möchte; Fische von allen Arten schwimmen gekocht in Teichen von allen möglichen Brühen, deren Ufer immer voll Austern, Krebse, Pasteten, Schinken und Ochsenzungen liegen. Hasen und Rehböcke kommen freiwillig herbeigelaufen, streifen sich das Fell über die Ohren, stecken sich an den Bratspieß, und legen sich, wenn sie gar sind, von selbst in die Schüssel. Allenthalben stehen Tische, die sich selbst decken; und weichgepolsterte Ruhebettchen laden allenthalben zum Ausruhen vom – Nichtstun und zu angenehmen Ermüdungen ein. Neben denselben rauschen kleine Bäche von Milch und Honig, von cyprischem Wein, Citronenwasser und andern angenehmen Getränken; und über sie her wölben sich, mit Rosen und Jasmin untermengt, Stauden voller Becher und Gläser, die sich, so oft sie ausgetrunken werden, gleich von selbst wieder anfüllen. Auch gibt es da Bäume, die statt der Früchte kleine Pastetchen, Bratwürste, Mandelkrapfen und Buttersemmeln tragen; andere, die an allen Ästen mit Geigen, Harfen, Cithern, Theorben, Flöten und Waldhörnern behangen sind, welche von sich selbst das angenehmste Concert machen, das man hören kann. Die glücklichen Menschen, nachdem sie den wärmern Teil des Tages verschlafen, und den Abend vertanzt, versungen und verscherzt haben, erfrischen sich dann in kühlen marmornen Bädern, wo sie von unsichtbaren Händen sanft gerieben, mit feinem Byssus, der sich selbst gesponnen und gewebt hat, abgetrocknet, und mit den kostbarsten Essenzen, die aus den Abendwolken wie feuchter Duft heruntertauen, eingebalsamt werden. Dann legen sie sich auf schwellenden Polstern um volle Tafeln her, und essen und trinken und lachen, singen und tändeln und küssen, die ganze Nacht durch, die ein ewiger Vollmond zum sanftern Tage macht; und – was noch das Angenehmste ist –

»O gehen Sie, Herr Demokritus, Sie haben mich zum besten! was Sie mir da erzählen, ist ja das Märchen vom Schlaraffenlande, das ich tausendmal von meiner Amme gehört habe, wie ich noch ein kleines Mädchen war.«

Aber Sie finden doch auch, Klonarion, daß sichs gut in diesem Lande leben müßte?

»Merken Sie denn nicht, daß unter allem diesem eine geheime Bedeutung verborgen liegt? sagte der weise Ratmann; vermutlich eine Satyre auf gewisse Philosophen, welche das höchste Gut in der Wollust suchen.«

Schlecht geraten, Herr Ratsherr! dachte Demokritus.

»Ich erinnere mich in den Amphiktyonen des Teleklides eine ähnliche Beschreibung des goldnen Alters gelesen zu haben«, sagte Frau Salabanda f24).

Das Land, das ich der schönen Klonarion beschrieb, sprach der Naturforscher, ist keine Satyre; es ist das Land, in welches von jedem Dutzend unter euch weisen Leuten zwölfe sich im Herzen hineinwünschen und nach Möglichkeit hineinarbeiten, und in welches uns eure abderitischen Sittenlehrer hineindeclamieren wollen; wenn anders ihre Declamationen irgend einen Sinn haben.

»Ich möchte wohl wissen, wie Sie dies verstehen«, sagte der Ratsherr, der (vermög' einer vieljährigen Gewohnheit, nur mit halben Ohren zu hören, und sein Votum im Rat schlummernd von sich zu geben) nicht gerne die Mühe nahm einer Sache lange nachzudenken.

Sie lieben eine starke Beleuchtung, wie ich sehe, Herr Ratsmeister, erwiderte Demokritus. Aber zu viel Licht ist zum Sehen eben so unbequem, als zu wenig. Helldunkel ist, deucht mich, gerade so viel Licht, als man gebraucht, um weder zu viel noch zu wenig zu sehen. Ich setze zum voraus, daß Sie überhaupt sehen können. Denn wenn dies nicht wäre, so begreifen Sie wohl, daß wir beim Licht von zehentausend Sonnen nicht besser sehen würden, als beim Schein eines Feuerwurms.

»Sie sprechen von Feuerwürmern?« – (sagte der Ratsherr, indem er bei dem Worte Feuerwurm aus einer Art von Seelenschlummer erwachte, in welchen er über dem Gaffen nach Salabandas Busen, während daß Demokritus redete, gefallen war.) – »Ich dachte wir sprächen von den Moralisten.«

Von Moralisten oder Feuerwürmern, wie es Ihnen beliebt, versetzte Demokritus. Was ich sagen wollte, um Ihnen die Sache, wovon wir sprachen, deutlich zu machen, war dies: Ein Land, wo ewiger Friede herrscht, und wo alle Menschen in gleichem Grade frei und glücklich sind; wo das Gute nicht mit dem Bösen vermischt ist, Schmerz nicht an Wollust, und Tugend nicht an Untugend grenzt, wo lauter Schönheit, lauter Ordnung, lauter Harmonie ist, – mit einem Wort, ein Land, wie eure Moralisten den ganzen Erdboden haben wollen, ist entweder ein Land, wo die Leute keinen Magen und keinen Unterleib haben, oder es muß schlechterdings das Land sein, das uns Teleklides schildert, aus dessen Amphiktyonen ich (wie die schöne Salabanda sehr wohl bemerkt hat) meine Beschreibung genommen habe. Vollkommene Gleichheit, vollkommene Zufriedenheit mit dem Gegenwärtigen, immerwährende Eintracht – kurz, die saturnischen Zeiten, wo man keine Könige, keine Priester, keine Soldaten, keine Ratsherren, keine Moralisten, keine Schneider, keine Köche, keine Ärzte und keine Scharfrichter braucht, sind nur in dem Lande möglich, wo einem die Rebhühner gebraten in den Mund fliegen, oder (welches ungefähr eben so viel sagen will) wo man keine Bedürfnisse hat. Dies ist, wie mich deucht, so klar, daß es demjenigen, dem es dunkel ist, durch alles Licht im Feuerhimmel nicht klärer gemacht werden könnte. Gleichwohl ärgern sich eure Moralisten darüber, daß die Welt so ist wie sie ist; und wenn der ehrliche Philosoph, der die Ursachen weiß, warum sie nicht anders sein kann, den Ärger dieser Herren lächerlich findet: so begegnen sie ihm, als ob er ein Feind der Götter und der Menschen wäre; welches zwar an sich selbst noch lächerlicher ist, aber zuweilen da, wo die milzsüchtigen Herren den Meister spielen, einen ziemlich tragischen Ausgang nimmt.

»Aber was wollen Sie denn, daß die Moralisten tun sollen?«

Die Natur erst ein wenig kennen lernen, eh sie sich einfallen lassen, es besser zu wissen als sie; verträglich und duldsam gegen die Torheiten und Unarten der Menschen sein, welche die ihrigen dulden müssen; durch Beispiele bessern, statt durch frostiges Gewäsche zu ermüden, oder durch Schmähreden zu erbittern; keine Wirkungen fodern, wovon die Ursachen noch nicht da sind, und nicht verlangen, daß wir die Spitze eines Berges erreicht haben sollen, ehe wir hinauf gestiegen sind.

»So unsinnig wird doch niemand sein?« – sagte der Abderiten einer.

So unsinnig sind neun Zehnteile der Gesetzgeber, Projectmacher, Schulmeister und Weltverbesserer auf dem ganzen Erdenrund alle Tage! – sagte Demokritus.

Die zeitverkürzende Gesellschaft, welche die Laune des Naturforschers unerträglich zu finden anfing, begab sich nun wieder nach Hause; und dahlte unterwegs, beim Glanz des Abendsterns und einer schönen Dämmerung, von Sphinxen, Einhörnern, Gymnosophisten und Schlaraffenländern; und so viel Mannichfaltigkeit auch unter allen den Albernheiten, welche gesagt wurden, herrschte, so stimmten doch alle darin überein: daß Demokritus ein wunderlicher, einbildischer, überkluger, tadelsüchtiger, wiewohl bei allem dem ganz kurzweiliger Sonderling sei.

»Sein Wein ist das Beste, was man bei ihm findet«, sagte der Ratsherr.

Gütiger Anubis! dachte Demokritus, da er wieder allein war: was man nicht mit diesen Abderiten reden muß, um sich – die Zeit von ihnen vertreiben zu lassen!

Elftes Kapitel
Etwas von den abderitischen Philosophen, und wie Demokritus das Unglück hat, sich mit ein paar wohlgemeinten Worten in sehr schlimmen Credit zu setzen

Daß man sich aber gleichwohl nicht einbilde, als ob alle Abderiten, ohne Ausnahme, durch ein Gelübde oder durch ihren Bürgereid verbunden gewesen seien, nicht mehr Verstand zu haben als ihre Großmütter, Ammen und Ratsherren! Abdera, die Nebenbuhlerin von Athen, hatte auch Philosophen, das heißt, sie hatte Philosophen – wie sie Maler und Dichter hatte. Der berühmte Sophist Protagoras war ein Abderit gewesen, und hatte eine Menge von Schülern hinterlassen, die ihrem Meister zwar nicht an Witz und Beredsamkeit gleich kamen, aber ihm dafür auch an Eigendünkel und Albernheit desto überlegener waren.

Diese Herren hatten sich eine bequeme Art von Philosophie zubereitet, vermittelst welcher sie ohne Mühe auf jede Frag' eine Antwort fanden, und von allem, was unter und über der Sonne ist, so geläufig schwatzten, daß – in so ferne sie nur immer Abderiten zu Zuhörern hatten – die guten Zuhörer sich festiglich einbildeten, ihre Philosophen wüßten sehr viel mehr davon als sie selbst; wiewohl im Grunde der Unterschied nicht so groß war daß ein vernünftiger Mann eine Feige darum gegeben hätte. Denn am Ende lief es doch immer darauf hinaus, daß der abderitische Philosoph, etliche lange nichtsbedeutende Wörter abgerechnet, gerade so viel von der Sache wußte, als derjenige unter allen Abderiten, der – am wenigsten davon zu wissen glaubte.

Die Philosophen, vermutlich weil sie es für zu klein hielten, in den Detail der Natur herabzusteigen, gaben sich mit lauter Aufgaben ab, die außerhalb der Grenzen des menschlichen Verstandes liegen. Bis in diese Region, dachten sie, folgt uns niemand, als – wer unsers Gleichen ist; und was wir auch den Abderiten davon vorsagen, so sind wir wenigstens gewiß, daß uns niemand Lügen strafen kann.

Zum Exempel, eine ihrer Lieblingsmaterien war die Frage:

»Wie, warum, und woraus die Welt entstanden sei?«

»Sie ging aus einem Ei hervor, sagte Einer; der Aether war das Weiße, das Chaos der Dotter, und die Nacht brütete es aus f25)

»Sie ist aus Feuer und Wasser entstanden«, sagte ein Andrer.

»Sie ist gar nicht entstanden, sprach der Dritte. Alles war immer so wie es ist, und wird immer so bleiben wie es war.«

Diese Meinung fand in Abdera wegen ihrer Bequemlichkeit vielen Beifall. Sie erklärt alles, sagten sie, ohne daß man nötig hat, sich erst lange den Kopf zu zerbrechen. Es ist immer so gewesen, war die gewöhnliche Antwort eines Abderiten, wenn man ihn nach der Ursache oder dem Ursprung einer Sache fragte; und wer sich daran nicht ersättigen wollte, wurde für einen stumpfen Kopf angesehen.

»Was ihr Welt nennt, sagte der Vierte, ist eigentlich eine ewige Reihe von Welten, die, wie die Häute einer Zwiebel, über einander liegen, und sich nach und nach ablösen.«

Sehr deutlich gegeben, riefen die Abderiten, sehr deutlich! Sie glaubten den Philosophen verstanden zu haben, weil sie sehr gut wußten, was eine Zwiebel war.

»Schimäre! sprach der Fünfte. Es gibt freilich unzählige Welten; aber sie entstehen aus der ungefähren Bewegung unteilbarer Sonnenstäubchen, und es ist viel Glück, wenn, nach zehntausendmal tausend übelgeratenen, endlich eine herauskömmt, die noch so leidlich vernünftig aussieht wie die unsrige.«

»Atomen geb' ich zu, sprach der Sechste; aber keine Bewegung von Ungefähr und ohne Richtung. Die Atomen sind nichts, oder sie haben bestimmte Kräfte und Eigenschaften, und, je nachdem sie einan der ähnlich oder unähnlich sind, ziehen sie einander an, oder stoßen sich zurücke. Daher machte der weise Empedokles (der Mann, der, um die wahre Beschaffenheit des Aetna zu erkundigen, sich weislich mitten in den Crater desselben hineingestürzt haben soll,) Haß und Liebe zu den ersten Ursachen aller Zusammensetzungen; und Empedokles hat Recht.«

»Um Vergebung, meine Herren, ihr habt alle Unrecht, sprach der Philosoph Sisamis. In Ewigkeit wird weder aus euerm mystischen Ei, noch aus euerm Bündnis zwischen Feuer und Wasser, noch aus euern Atomen, noch aus euern Homöomerien, eine Welt herauskommen, wenn ihr keinen Geist zu Hülfe nehmt. Die Welt ist, wie jedes andre Tier, eine Zusammensetzung von Materie und Geist. Der Geist ist es, der dem Stoffe Form gibt; beide sind von Ewigkeit her vereinigt; und, so wie einzelne Körper aufgelöst werden, sobald der Geist, der ihre Teile zusammenhielt, sich zurückzieht, so würde, wenn der allgemeine Weltgeist aufhören könnte das Ganze zu umfassen und zu beleben, Himmel und Erde im nämlichen Augenblick in einen einzigen, ungeheuren, gestaltlosen, finstern und toten Klumpen zusammenfallen.«

Davor wolle Jupiter und Latona sein! riefen die Abderiten, nicht ohne sich zu entsetzen, wie sie den Mann eine so fürchterliche Drohung ausstoßen hörten. Es hat keine Gefahr, sagte der Priester Strobylus; so lange wir die Frösche der Latona in unsern Mauern haben, soll es der Weltgeist des Sisamis wohl bleiben lassen, solchen Unfug in der Welt anzurichten.

»Meine Freunde, sprach der Achte, der Weltgeist des weisen Sisamis ist mit den Atomen, Homöomerien, Zwiebeln und Eiern meiner Collegen von gleichem Schlage. Einen Demiurg müssen wir annehmen, wenn wir eine Welt haben wollen: denn ein Gebäude setzt einen Baumeister oder wenigstens einen Zimmermeister voraus; und nichts macht sich von sich selbst, wie wir alle wissen.«

Aber man spricht doch alle Tage: Dies wird von sich selbst kommen, von sich selbst gehen – sagten die Abderiten.

»Man spricht wohl so, antwortete der Philosoph: allein, wo habt ihr jemals gesehen, daß es wirklich so erfolgt wäre? Ich habe freilich unsre Archonten wohl tausendmal sagen hören: es wird sich schon geben; es wird schon kommen! dies oder jenes wird sich schon machen! Aber wir hatten gut warten! Es gab sich nicht, kam nicht, und machte sich nicht.«

Nur allzuwahr, was die Werke unsrer Archonten betrifft; (sagte ein alter Schuhflicker, der für einen Mann von Einsicht beim Volke galt, und große Hoffnung hatte, bei der nächsten Wahl Zunftmeister zu werden;) aber mit den Werken der Natur, wie die Welt ist, mag es doch wohl anders bewandt sein. Warum sollte die Welt nicht eben so gut aus dem Chaos hervorwachsen können, wie ein Pilz aus der Erde wächst?

»Meister Pfrieme, versetzte der Philosoph, zum Zunftmeister soll er meine und aller meiner Vettern Stimme haben; aber keine Einwürfe gegen mein System, wenn ich bitten darf! Die Pilze wachsen freilich von selbst aus der Erde hervor, weil – weil – weil sie Pilze sind; aber eine Welt wächst nicht von selbst, weil sie kein Pilz ist; versteht Er mich nun, Meister Pfrieme?«

Alle Anwesende lachten von Herzen, daß Meister Pfrieme so abgeführt war. »Die Welt ist kein Pilz; dies ist klar wie Taglicht, riefen die Abderiten; da ist nichts einzuwenden, Meister Pfrieme!« –

Verzweifelt! murmelte der künftige Zunftmeister; aber so geht es, wenn man sich mit den Herren abgibt, welche beweisen können, daß der Schnee weiß ist.

»Schwarz ist, wolltet ihr sagen, Nachbar.«

Ich weiß, was ich gesagt habe, und was ich sagen wollte, antwortete Meister Pfrieme; und ich wünsche nur, daß die Republik –

»Vergeß' Er die vierzehn Stimmen nicht, die ich Ihm verschaffe, Meister Pfrieme!« rief der Philosoph. –

Wohl, wohl! alles wohl! Aber Demiurg – das klingt mir bald so wie Demagog; und ich will weder Demagogen noch Demiurgen haben; ich bin für die Freiheit, und wer ein guter Abderite ist, der schwinge seinen Hut und folge mir!

Und hiemit ging Meister Pfrieme davon, (denn der Leser merkt von selbst, daß alles dies in einer Halle von Abdera gesprochen wurde;) und einige müßige Tölpel, die ihn allerwegen zu begleiten pflegten, folgten ihm.

Aber der Philosoph, ohne zu tun als ob er es gewahr werde, fuhr fort: »Ohne einen Baumeister, einen Demiurgen, oder wie ihr ihn nennen wollt, läßt sich vernünftiger Weise keine Welt bauen. Aber, merket wohl, es kam auf den Demiurg an, ob er bauen wollte; und laßt sehen wie er es anfing. Stellt euch die Materie als einen ungeheuren Klumpen von vollkommen dichtem Krystall vor f26); und den Demiurg, wie er mit einem großen Hammer von Diamant diesen Klumpen auf einen Schlag in so viele unendlich kleine Stückchen zerschmettert, daß sie durch den leeren Raum viele Millionen Cubicmeilen herumstieben. Natürlicher Weise brachen sich diese unendlich kleine Stückchen Krystall auf verschiedene Art; und indem sie, mit der ganzen Heftigkeit der Bewegung, die ihnen der Schlag mit dem diamantenen Hammer gab, auf tausendfache Art wider einander fuhren, und sich unter einander auf allen Seiten stießen, schlugen und rieben, so entstund daraus notwendig eine unzählige Menge Körperchen von allerlei regelmäßigen und unregelmäßigen Figuren: dreieckige, viereckige, achteckige, vieleckige, und runde. Aus den runden wurde Wasser und Luft, welche nichts anders als verdünntes Wasser ist; aus den dreieckigen Feuer; aus den übrigen die Erde, und aus diesen vier Elementen setzt die Natur, wie ihr wißt, alle Körper in der Welt zusammen.«

Das ist wunderbar, sehr wunderbar! aber es begreift sich doch, sagten die Abderiten. Ein Klumpen Krystall, ein diamantner Hammer, und ein Demiurg, der den Krystall so meisterhaft in Stücken schlägt, daß aus den Splittern, ohne seine weitere Bemühung, eine Welt entsteht! In der Tat die scharfsinnigste Hypothese, die man sehen kann, und gleichwohl so simpel, daß man dächte, man hätte sie alle Augenblicke selbst erfinden können!

»Ich erkläre mittelst dieser so simpeln Voraussetzung alle möglichen Wirkungen der Natur«, sagte der Philosoph mit selbst zufriednem Lächeln.

»Nicht ein Wespennest, rief ein Neunter, Dämonax genannt, der den Behauptungen seiner Mitbrüder bisher mit stillschweigender Verachtung zugehöret hatte. Es gehören andre Kräfte und Anstalten dazu, ein so großes, so schönes, so wundervolles Werk, als dieses Weltgebäude ist, zu Stande zu bringen. Nur ein höchstvollkommner Verstand konnte den Plan davon erfinden; wiewohl ich gerne gestehe, daß zur Ausführung geringere Werk- meister hinlänglich waren. Er überließ sie verschiedenen Klassen der subalternen Götter, wies einer jeden Klasse ihren besondern Kreis an, in welchem sie arbeitet, und begnügte sich, die allgemeine Aufsicht über das Ganze zu führen. Es ist lächerlich, den Ursprung der Weltkörper, des Erdbodens, der Pflanzen, der Tiere, und alles dessen, was in Luft und Wasser ist, aus Atomen oder Sympathien oder ungefährer Bewegung, oder einem einzigen Hammerschlag erklären zu wollen. Geister sind es, welche in den Elementen herrschen, die Sphären des Himmels drehen, die organischen Körper bilden, das Frühlingsgewand der Natur mit Blumen sticken, und die Früchte des Herbstes in ihren Schoß ausgießen. Kann etwas faßlicher und angenehmer sein als diese Theorie? Sie erklärt alles; sie leitet jede Wirkung aus einer ihr angemessenen Ursache ab; und durch sie begreift man die, in jedem andern System unerklärbare, Kunst der Natur eben so leicht, als man begreift, wie Zeuxis oder Parrhasius mit ein wenig gefärbter Erde eine bezaubernde Landschaft oder ein Bad der Diana erschaffen kann.«

Was für eine schöne Sache es um die Philosophie ist! sagten die Abderiten. Alles, was man daran aussetzen möchte, ist, daß einem unter so viel feinen Theorien die Wahl sauer wird.

Indessen machte doch der Pythagoräer, der alles durch Geister bewerkstelligte, das meiste Glück. Die Poeten, die Maler, und alle übrigen Schutzverwandten der Musen, mit dem sämtlichen Frauenzimmer von Abdera an ihrer Spitze, erklärten sich für- die Geister; doch unter der Bedingung, daß es ihnen erlaubt sein müsse, sie in so angenehme Gestalten, als jedem gefällig sei, einzukleiden.

Ich bin nie ein besonderer Freund der Philosophie gewesen, (sagte der Priester Strobylus,) und aus Ursache: aber wenn die Abderiten ihr Grübeln über das Wie und Warum der Dinge nun einmal nicht lassen können, so habe ich gegen die Physik des Dämonax noch immer am wenigsten einzuwenden; unter den gehörigen Einschränkungen verträgt sie sich noch so ziemlich. –

»O sie verträgt sich mit allem in der Welt, sagte Dämonax; dies ist eben die Schönheit davon!«

Soll ich euch meine Meinung sagen? sprach Demokritus. Wenn es euch etwan wirklich darum zu tun sein sollte, die Beschaffenheit der Dinge, die euch umgeben, kennen zu lernen, so deucht mich, ihr nehmt einen ungeheuren Umweg. Die Welt ist sehr groß; und von dem Standort, woraus wir in sie hineingucken, nach ihren vornehmsten Provinzen und Hauptstädten ist es so weit, – daß ich nicht wohl begreife, wie sich einer von uns einfallen lassen kann, die Charte eines Landes aufzunehmen, wovon ihm (sein angebornes Dörfchen ausgenommen) alles übrige, und sogar die Grenzen unbekannt sind. Ich dächte, ehe wir Kosmogonien und Kosmologien träumten, setzten wir uns hin und beobachteten, zum Exempel, den Ursprung einer Spinnewebe; und dies so lange, bis wir so viel davon herausgebracht hätten, als fünf Menschensinne, mit Verstand angestrengt, daran entdecken können. Ihr werdet zu tun finden, das könnt ihr mir auf mein Wort glauben. Aber dafür werdet ihr auch erfahren, daß euch diese einzige Spinnewebe mehr Aufschluß über das große System der Natur, und würdigere Begriffe von seinem Urheber geben wird, als alle die feinen Weltsysteme, die ihr zwischen Wachen und Schlaf aus eurem eignen Gehirne herausgesponnen habt.

Demokritus meinte dies im ganzen Ernst; aber die Philosophen von Abdera glaubten, daß er ihrer spotten wolle. Er versteht nichts von der Pneumatik, sagte der eine. Von der Physik noch weniger, sagte der andere. Er ist ein Zweifler – er glaubt keine Grundtriebe – keinen Weltgeist – keinen Demiurg – keinen Gott! – sagte der dritte, vierte, fünfte, sechste und siebente. Man sollte solche Leute gar nicht im gemeinen Wesen dulden, sagte der Priester Strobylus.

Zwölftes Kapitel
Demokritus zieht sich weiter von Abdera zurück - Wie er sich in seiner Einsamkeit beschäftigt - Er könnt bei den Abderiten in den Verdacht, daß er Zauberkünste treibe - Ein Experiment, das er bei dieser Gelegenheit mit den abderitischen Damen macht, und wie es abgelaufen

Bei dem allen war Demokritus ein Menschenfreund in der echtesten Bedeutung des Worts. Denn er meinte es gut mit der Menschheit, und freute sich über nichts so sehr, als wenn er irgend etwas Böses verhüten, oder etwas Gutes tun, veranlassen oder befördern konnte. Und wiewohl er glaubte, daß der Charakter eines Weltbürgers Verhältnisse in sich schließe, denen, im Collisionsfall, alle andere weichen müßten: so hielt er sich doch darum nicht weniger verbunden, als ein Bürger von Abdera, an dem Zustande seines Vaterlandes Anteil zu nehmen, und so viel er könnte, zu dessen Verbesserung beizutragen. Allein, da man nur in so fern Gutes tun kann, als das Subject dessen fähig ist: so fand er sein Vermögen durch die unzähligen Hindernisse, die ihm die Abderiten entgegensetzten, in so enge Grenzen eingeschlossen, daß er Ursache zu haben glaubte, sich als eine der entbehrlichsten Personen in dieser kleinen Republik anzusehen. Was sie am nötigsten haben, dacht' er, und das Beste was ich an ihnen tun könnte, wäre, sie klug zu machen. Aber die Abderiten sind freie Leute. Wenn sie nun nicht klug sein wollen: wer kann sie nötigen?

Da er also bei so bewandten Umständen wenig oder nichts für die Abderiten als Abderiten tun konnte, glaubte er hinlänglich gerechtfertigt zu sein, wenn er wenigstens seine eigene Person in Sicherheit zu bringen suchte, und einen so großen Teil als immer möglich von derjenigen Zeit rettete, die er der Erfüllung seiner weltbürgerlichen Pflichten schuldig zu sein vermeinte.

Weil nun seine bisherige Freistätte entweder nicht weit genug von Abdera entfernt war, oder wegen ihrer Lage und anderer Bequemlichkeiten so viel Reiz für die Abderiten hatte, daß er, ungeachtet seines Aufenthalts auf dem Lande, sich doch immer mitten unter ihnen befand: so zog er sich noch etliche Stunden weiter in einen Wald, der zu seinem Gute gehörte, zurück, und bauete sich in die wildeste Gegend desselben ein kleines Haus, wo er die meiste Zeit – in der einsamen Ruhe, die das eigene Element des Philosophen und des Dichters ist, – dem Erforschen der Natur und der Betrachtung oblag.

Einige neuere Gelehrte – ob Abderiten oder nicht, wollen wir hier unentschieden lassen – haben sich von den Beschäftigungen dieses griechischen Bacons in seiner Einsamkeit wunderliche, wiewohl auf ihrer Seite sehr natürliche Begriffe gemacht. »Er arbeitete am Stein der Weisen, sagt Borrichius, und er fand ihn, und machte Gold.« Zum Beweis davon, beruft er sich darauf, daß Demokritus ein Buch von Steinen und Metallen geschrieben habe. Die Abderiten, seine Zeitgenossen und Mitbürger, gingen noch weiter; und ihre Vermutungen – die in abderitischen Köpfen gar bald zur Gewißheit wurden – gründeten sich auf eben so gute Schlüsse, als jener des Borrichius. Demokritus war von persischen Magis erzogen worden f27); er war zwanzig Jahre in den Morgenländern herumgereist; hatte mit ägyptischen Priestern, Chaldäern, Brachmanen und Gymnosophisten Umgang gepflogen, und war in allen ihren Mysterien initiert; hatte tausend Arcana von seinen Reisen mit sich gebracht, und wußte zehntausend Dinge, wovon niemals etwas in eines Abderiten Sinn gekommen war. – Machte dies alles zusammengenommen nicht den vollständigsten Beweis, daß er ein ausgelernter Meister in der Magie und allen davon abhängenden Künsten sein mußte? – Der ehrwürdige Pater Delrio hätte Spanien, Portugall und Algarbien auf die Hälfte eines Beweises, wie dieser ist, verbrennen lassen.

Aber die guten Abderiten hatten noch nähere Beweistümer in Händen, daß ihr gelehrter Landsmann – ein wenig hexen könne. Er sagte Sonnen- und Mondfinsterungen, Mißwachs, Seuchen und andre zukünftige Dinge zuvor. Er hatte einem verbuhlten Mädchen aus der Hand geweissagt, daß sie – zu Falle kommen, und einem Ratsherrn von Abdera, dessen ganzes Leben zwischen Schlafen und Schmausen geteilt war, daß er – an einer Unverdaulichkeit sterben würde; und beides war genau eingetroffen. Überdem hatte man Bücher mit wunderlichen Zeichen in seinem Cabinette gesehen; man hatte ihn bei allerlei, vermutlich magischen Operationen mit Blut von Vögeln und Tieren angetroffen; man hatte ihn verdächtige Kräuter kochen gesehen; und einige junge Leute wollten ihn sogar in später Nacht bei sehr blassem Mondschein zwischen Gräbern sitzend überschlichen haben. »Um ihn zu schrecken, hatten wir uns in die scheußlichsten Larven verkleidet, sagten sie: Hörner, Ziegenfüße, Drachenschwänze, nichts fehlte uns, um leibhafte Feldteufel und Nachtgespenster vorzustellen; wir bliesen sogar Rauch aus Nasen und Ohren, und machten es so arg um ihn herum, daß ein Herkules vor Schrecken hätte zum Weibe werden mögen. Aber Demokritus achtete unser nicht; und, da wir es ihm endlich zu lange machten, sagte er bloß: Nun, wird das Kinderspiel noch lange währen f28)? –«.

Da sieht man augenscheinlich, sagten die Abderiten, daß es nicht recht richtig mit ihm ist; Geister sind nichts Neues für ihn; er muß wohl wissen, wie er mit ihnen steht! – »Er ist ein Zauberer; nichts kann gewisser sein, sagte der Priester Strobylus; wir müssen ein wenig besser Acht auf ihn geben!«

Man muß gestehen, daß Demokritus, entweder aus Unvorsichtigkeit, oder, (welches glaublicher ist,) weil er sich wenig aus der Meinung seiner Landsleute machte, zu diesen und andern bösen Gerüchten einige Gelegenheit gab. Man konnte in der Tat nicht lange unter den Abderiten leben, ohne in Versuchung zu geraten, ihnen etwas aufzuheften. Ihr Vorwitz und ihre Leichtgläubigkeit auf der einen Seite, und die hohe Einbildung, die sie sich von ihrer eignen Scharfsinnigkeit machten, auf der andern, foderten einen gleichsam heraus; und überdies war auch sonst kein Mittel, sich für die Langeweile, die man bei ihnen hatte, zu entschädigen. Demokritus befand sich nicht selten in diesem Falle; und da die Abderiten albern genug waren, alles, was er ihnen ironischer Weise sagte, im buchstäblichen Sinne zu nehmen: so entstunden daher die vielen ungereimten Meinungen und Märchen, die auf seine Rechnung in der Welt herumliefen, und noch viele Jahrhunderte nach seinem Tode von andern Abderiten für bares Geld angenommen, oder wenigstens ihm selbst, unbilliger Weise, zur Last geleget wurden.

Demokritus hatte sich, unter andern, auch mit der Physiognomie abgegeben, und teils aus seinen eigenen Beobachtungen, teils aus dem was ihm andere von den ihrigen mitgeteilt, sich eine Theorie davon gemacht, von deren Gebrauch er (sehr vernünftig, wie uns deucht) urteilte, daß es damit eben so wie mit der Theorie der poetischen oder irgend einer andern Kunst beschaffen sei. Denn so wie noch keiner durch die bloße Wissenschaft der Regeln ein guter Dichter oder Künstler geworden sei und nur derjenige, welchen angebornes Genie, emsiges Studium hartnäckiger Fleiß und lange Übung zum Dichter oder Künstler gemacht, geschickt sei, die Regeln seiner Kunst recht zu verstehen und anzuwenden: so sei auch die Theorie der Kunst, aus dem Äußerlichen des Menschen auf das Innerliche zu schließen, nur für Leute von großer Fertigkeit im Beobachten und Unterscheiden brauchbar, für jeden andern hingegen eine höchst ungewisse und betrügliche Sache; und eben darum müsse sie als eine von den geheimen Wissenschaften oder großen Mysterien der Philosophie immer nur der kleinen Zahl der Epopten f29) vorbehalten bleiben.

Diese Art von der Sache zu denken bewies, daß Demokritus kein Scharlatan war; aber den Abderiten bewies sie bloß, daß er ein Geheimnis aus seiner Wissenschaft mache. Daher ließen sie nicht ab, ihn, so oft sich die Rede davon gab, zu necken und zu plagen, daß er ihnen etwas davon entdecken sollte. Besonders drückte dieser Vorwitz die Abderitinnen. Sie wollten von ihm wissen – an was für äußerlichen Merkmalen ein getreuer Liebhaber zu erkennen sei? ob Milon von Krotona f30) eine sehr große Nase gehabt habe, ob eine blasse Farbe ein notwendiges Zeichen eines Verliebten sei? – und hundert Fragen dieser Art, mit denen sie seine Geduld so sehr ermüdeten, daß er endlich, um ihrer los zu werden, auf den Einfall kam, sie ein wenig zu erschrecken.

Aber das haben Sie sich wohl nicht vorgestellt, sagte Demokritus, daß die Jungferschaft ein unbetrügliches Merkzeichen in den Augen haben könnte?

»In den Augen? riefen die Abderitinnen. O! das ist nicht möglich! Warum just in den Augen?«

Es ist nicht anders, versetzte Demokritus; und was Sie mir gewiß glauben können, ist, daß mir dieses Merkmal schon öfters von den Geheimnissen junger und alter Schönen mehr entdeckt hat, als diese Lust gehabt haben würden, mir von freien Stücken anzuvertrauen f31).

Der zuversichtliche Ton, womit er dies sagte, verursachte einige Entfärbungen; wiewohl die Abderitinnen (die in allen Fällen, wo es auf die gemeine Sicherheit ihres Geschlechtes ankam, einander getreulich beizustehen pflegten,) mit großer Hitze darauf bestunden, daß sein vorgebliches Geheimnis eine Schimäre sei.

Sie nötigen mich durch Ihren Unglauben, daß ich Ihnen noch mehr sagen muß, fuhr der Philosoph fort. Die Natur ist voll solcher Geheimnisse, meine schönen Damen; und wofür sollt' ich auch, wenn es sich der Mühe nicht verlohnte, bis nach Aethiopien und Indien gewandert sein? Die Gymnosophisten, deren Weiber – wie Sie wissen – nackend gehen, haben mir sehr artige Sachen entdeckt.

»Zum Exempel?« – sagten die Abderitinnen.

Unter andern ein Geheimnis, welches ich, wenn ich ein Ehmann wäre, lieber nicht zu wissen wünschen würde.

»Ach, nun haben wir die Ursache, warum sich Demokritus nicht verheiraten will«, rief die schöne Thryallis.

»Als ob wir nicht schon lange wüßten, sagte Salabanda, daß es seine äthiopische Venus ist, die ihn für unsre griechische so unempfindlich macht. – Aber Ihr Geheimnis, Demokritus, wenn man es keuschen Ohren anvertrauen darf.«

Zum Beweise, daß man es darf, will ich es den Ohren aller gegenwärtigen Schönen anvertrauen, antwortete der Naturforscher. Ich weiß ein unfehlbares Mittel, wie man machen kann, daß ein Frauenzimmer, im Schlafe, mit vernehmlicher Stimme alles sagt, was sie auf dem Herzen hat.

»O gehen Sie, riefen die Abderitinnen, Sie wollen uns bange machen; aber – wir lassen uns nicht so leicht erschrecken.«

Wer wird auch an Erschrecken denken, sagte Demokritus, wenn von einem Mittel die Rede ist, wodurch einer jeden ehrlichen Frau Gelegenheit gegeben wird, zu zeigen, daß sie keine Geheimnisse hat, die ihr Mann nicht wissen dürfte?

»Würket Ihr Mittel auch bei Unverheirateten?« fragte eine Abderitin, die weder jung noch reizend genug zu sein schien, um eine solche Frage zu tun.

Es würkt vom zehnten Jahre an bis zum achtzigsten, erwiderte Demokritus, ohne Beziehung auf irgendeinen andern Umstand, worin sich ein Frauenzimmer befinden kann.

Die Sache fing an ernsthaft zu werden. – »Aber Sie scherzen nur, Demokritus,« sprach die Gemahlin eines Thesmotheten, nicht ohne eine geheime Furcht des Gegenteils versichert zu werden.

Wollen Sie die Probe machen, Lysistrata?

»Die Probe? – Warum nicht? – Voraus bedungen, daß nichts Magisches dazu gebraucht wird. Denn mit Hülfe Ihrer Talismane und Geister könnten Sie eine arme Frau sagen machen, was Sie wollten.«

Es haben weder Geister noch Talismane damit zu tun. Alles geht natürlich zu. Das Mittel, das ich gebrauche, ist die simpelste Sache von der Welt.

Die Damen fingen an, bei allen Grimassen von Herzhaftigkeit, wozu sie sich zu zwingen suchten, eine Unruhe zu verraten, die den Philosophen sehr belustigte. »Wenn man nicht wüßte, daß Sie ein Spötter sind, der die ganze Welt zum Besten hat – Aber darf man fragen, worin Ihr Mittel besteht?«

Wie ich Ihnen sagte, die natürlichste Sache von der Welt. Ein ganz kleines unschädliches Ding, einem schlafenden Frauenzimmer aufs Herzgrübchen gelegt, das ist das ganze Geheimnis; aber es tut Wunder, dies können Sie mir glauben. Es macht reden, so lange noch im innersten Winkel des Herzens was zu entdecken ist.

Unter sieben Frauenzimmern, die sich in der Gesellschaft befanden, war nur eine, deren Miene und Gebärde unverändert die nämliche blieb wie vorher. Man wird denken, sie sei alt, oder häßlich, oder gar tugendhaft gewesen; aber nichts von allem diesem! Sie war – taub.

»Wenn Sie wollen, daß wir Ihnen glauben sollen, Demokritus, so nennen Sie Ihr Mittel.«

Ich will es dem Gemahl der schönen Thryallis ins Ohr sagen, sprach der boshafte Naturkündiger.

Der Gemahl der schönen Thryallis war, ohne blind zu sein, so glücklich, als Hagedorn einen Blinden schätzt, dessen Gemahlin schön ist. Er hatte immer gute Gesellschaft, oder wenigstens was man zu Abdera so nannte, in seinem Hause. Der gute Mann glaubte, man finde so viel Vergnügen an seinem Umgang, und an den Versen, die er seinen Besuchen vorzulesen pflegte. In der Tat hatte er das Talent, die schlechten Verse, die er machte, nicht übel zu lesen; und weil er mit vieler Begeisterung las: so ward er nicht gewahr, daß seine Zuhörer, anstatt auf seine Verse Acht zu geben, mit der schönen Thryallis liebäugelten.

Kurz, der Ratsherr Smilax war ein Mann, der eine viel zu gute Meinung von sich selbst hatte, um von der Tugend seiner Gemahlin eine schlimme zu hegen.

Er bedachte sich also keinen Augenblick, dem Geheimnis des Demokritus sein Ohr darzubieten.

Es ist weiter nichts, flüsterte ihm der Philosoph ins Ohr, als die Zunge eines lebendigen Frosches, die man einer schlafenden Dame auf die linke Brust legen muß. Aber Sie müssen sich beim Ausreißen wohl in Acht nehmen, daß nichts von den daranhängenden Teilen mit geht, und der Frosch muß wieder ins Wasser gesetzt werden.

»Das Mittel mag nicht übel sein, sagte Smilax leise; nur Schade daß es ein wenig bedenklich ist! Was würde der Priester Strobylus dazu sagen?«

Sorgen Sie nicht dafür, versetzte Demokritus: ein Frosch ist doch keine Diana, der Priester Strobylus mag sagen was er will. Und zudem geht es dem Frosche ja nicht ans Leben.

»Ich darf es also weiter geben?« fragte Smilax.

Von Herzen gerne! alle Mannspersonen in der Gesellschaft dürfen es wissen; und ein jeder mag es ungescheut allen seinen Bekannten entdecken; nur mit der Bedingung, daß es keiner weder seiner Frau noch seiner Geliebten wieder sage.

Die guten Abderitinnen wußten nicht was sie von der Sache glauben sollten. Unmöglich schien sie ihnen nicht; und was sollte auch Abderiten unmöglich scheinen? – Ihre gegenwärtigen Männer oder Liebhaber waren nicht viel ruhiger; jeder setzte sich heimlich vor, das Mittel ohne Aufschub zu probieren, und jeder (den glücklichen Smilax ausgenommen) besorgte, gelehrter dadurch zu werden als er wünschte.

»Nicht wahr, Männchen – sagte Thryallis zu ihrem Gemahl, indem sie ihn freundlich auf die Backen klopfte, du kennst mich zu gut, um einer solchen Probe nötig zu haben?«

»Der meinige sollte sich so etwas einfallen lassen, sagte Lagiska. Eine Probe setzt Zweifel voraus, und ein Mann, der an der Tugend seiner Frau zweifelt –«

– Ist ein Mann, der Gefahr läuft, seine Zweifel in Gewißheit verwandelt zu sehen, setzte Demokritus hinzu, da er sah, daß sie einhielt. Das wollten Sie doch sagen, schöne Lagiska?

»Sie sind ein Weiberfeind, Demokritus, riefen die Abderitinnen allzumal; aber vergessen Sie nicht, daß wir in Thracien sind, und hüten Sie sich vor dem Schicksal des Orpheus!«

Wiewohl dies im Scherz gesagt wurde, so war doch Ernst dabei. Natürlicher Weise läßt man sich nicht gerne ohne Not schlaflose Nächte machen; eine Absicht, von welcher wir den Philosophen um so weniger frei sprechen können, da er die Folgen seines Einfalles notwendig voraussehen mußte. Wirklich gab diese Sache den sieben Damen so viel zu denken, daß sie die ganze Nacht kein Auge zutaten; und da das vorgebliche Geheimnis des Demokritus den folgenden Tag in ganz Abdera herumlief, so verursachte er dadurch etliche Nächte hinter einander eine allgemeine Schlaflosigkeit.

Indessen brachten die Weiber bei Tage wieder ein, was ihnen bei Nacht abging; und weil verschiedene sich nicht einfallen ließen, daß man ihnen das Arcanum, wenn sie unter Tages schliefen, eben so gut applicieren könne als bei Nacht, und daher ihr Schlafzimmer zu verriegeln vergaßen: so bekamen die Männer unverhofft Gelegenheit, von ihren Froschzungen Gebrauch zu machen. Lysistrata, Thryallis, und einige andere, die am meisten dabei zu wagen hatten, waren die ersten, an denen die Probe, mit demjenigen Erfolg, den man leicht voraussehen kann, gemacht wurde. Aber eben dies stellte in kurzem die Ruhe in Abdera wieder her. Die Männer dieser Damen, nachdem sie das Mittel zwei oder dreimal ohne Erfolg gebraucht hatten, kamen in vollem Sprunge zu unserm Philosophen gelaufen, um sich zu erkundigen, was dies zu bedeuten hätte. So? rief er ihnen entgegen; hat die Froschzunge ihre Wirkung getan? Haben Ihre Weiber gebeichtet? – Kein Wort, keine Sylbe, sagten die Abderiten. Desto besser, rief Demokritus; triumphieren Sie darüber! Wenn eine schlafende Frau mit einer Froschzunge auf dem Herzen nichts sagt, so ist es ein Zeichen, daß sie – nichts zu sagen hat. Ich wünsche Ihnen Glück, meine Herren! Jeder von Ihnen kann sich rühmen, daß er den Phönix der Weiber in seinem Hause besitze.

Wer war glücklicher als unsre Abderiten! Sie liefen so schnell, als sie gekommen waren, wieder zurück, fielen ihren erstaunten Weibern um den Hals, erstickten sie mit Küssen und Umarmungen, und bekannten nun freiwillig, was sie getan hatten, um sich von der Tugend ihrer Hälften (wiewohl wir davon schon gewiß waren, sagten sie) noch gewisser zu machen.

Die guten Weiber wußten nicht, ob sie ihren Sinnen glauben sollten. Aber, wiewohl sie Abderitinnen waren, hatten sie doch Verstand genug, sich auf der Stelle zu fassen, und ihren Männern ein so unzärtliches Mißtrauen, als dasjenige war, dessen sie sich selbst anklagten, nachdrücklich zu verweisen. Einige trieben die Sache bis zu Tränen; aber alle hatten Mühe, die Freude zu verbergen, die ihnen eine so unverhoffte Bestätigung ihrer Tugend verursachte; und wiewohl sie, der Anständigkeit wegen, auf den Demokritus schmälen mußten, so war doch keine, die ihn nicht dafür hätte umarmen mögen, daß er ihnen einen so guten Dienst geleistet hatte. Freilich war dies nicht, was er gewollt hatte. Aber die Folgen dieses einzigen unschuldigen Scherzes mochten ihn lehren, daß man mit Abderiten nicht behutsam genug scherzen kann!

Indessen (wie alle Dinge dieser Welt mehr als eine Seite haben) so fand sich auch, daß aus dem Übel, welches unser Philosoph den Abderiten wider seine Absicht zugefügt hatte, gleichwohl mehr Gutes entsprang, als man vermutlich hätte erwarten können, wenn die Froschzungen gewirkt hätten. Die Männer machten die Weiber durch ihre unbegrenzte Sicherheit, und die Weiber die Männer durch ihre Gefälligkeit und gute Laune glücklich. Nirgends in der Welt sah man zufriednere Ehen als in Abdera. Und bei allem dem waren die Stirnen der Abderiten so glatt, und – die Ohren und Zungen der Abderitinnen so keusch, als die von andern Leuten.

Dreizehntes Kapitel
Demokritus soll die Abderitinnen die Sprache der Vögel lehren - Im Vorbeigehen eine Probe, wie sie ihre Töchter bildeten

Ein andermal geschah es, daß sich Demokritus an einem schönen Frühlingsabend mit einer Gesellschaft in einem von den Lustgärten befand, womit die Abderiten die Gegend um ihre Stadt verschönert hatten.

»Wirklich verschönert?« – Dies nun eben nicht: denn woher hätten die Abderiten nehmen sollen, daß die Natur schöner ist als die Kunst, und daß zwischen künsteln und verschönern ein Unterschied ist? – Doch davon soll nun die Rede nicht sein.

Die Gesellschaft lag auf weichen mit Blumen bestreuten Rasen, unter einer hohen Laube, im Kreise herum. In den Zweigen eines benachbarten Baums sang eine Nachtigall. Eine junge Abderitin von vierzehn Jahren schien etwas dabei zu empfinden, wovon die übrigen nichts empfanden. Demokritus ward es gewahr. Das Mädchen hatte eine sanfte Gesichtsbildung und Seele in den Augen. Schade für dich, daß du eine Abderitin bist! dacht' er. Was sollte dir in Abdera eine empfindsame Seele? Sie würde dich nur unglücklich machen. Doch es hat keine Gefahr! Was die Erziehung deiner Mutter und Großmutter an dir unverdorben gelassen hat, werden die Söhnchen unsrer Archonten und Prytanen, und, was diese verschonen, wird das Beispiel deiner Freundinnen zu Grunde richten. In weniger als vier Jahren wirst du ein Abderitin sein wie die andern; und wenn du erst erfährst, daß eine Froschzunge auf dem Herzgrübchen nichts zu bedeuten hat –

Was denken Sie, schöne Nannion? sagte Demokritus zu dem Mädchen.

»Ich denke, daß ich mich dort unter die Bäume setzen möchte, um dieser Nachtigall recht ungestört zuhören zu können.«

Das alberne Ding! sagte die Mutter des Mädchens. Hast du noch keine Nachtigall gehört?

»Nannion hat Recht, sagte die schöne Thryallis; ich selbst höre für mein Leben gern den Nachtigallen zu. Sie singen mit einem solchen Feuer, und es ist etwas so wollüstiges in ihren Modulationen, daß ich schon oft gewünscht habe, zu verstehen, was sie damit sagen wollen. Ich bin gewiß, man würde die schönsten Dinge von der Welt hören. Aber Sie, Demokritus, der alles weiß, sollten Sie nicht auch die Sprache der Nachtigallen verstehen?«

Warum nicht, antwortete der Philosoph mit seinem gewöhnlichen Phlegma; und die Sprache aller übrigen Vögel dazu!

»Im Ernste?«

Sie wissen ja, daß ich immer im Ernste rede.

»O das ist allerliebst! Geschwinde, übersetzen Sie uns was aus der Sprache der Nachtigallen! Wie hieß das, was diese dort sang, als Nannion so davon gerührt wurde?«

Das läßt sich nicht so leicht ins Griechische übersetzen als Sie denken, schöne Thryallis. Es gibt keine Redensarten in unsrer Sprache, die dazu zärtlich und feurig genug wären.

»Aber wie können Sie denn die Sprache der Vögel verstehen, wenn Sie nicht auf Griechisch wiedersagen können, was Sie gehört haben?«

Die Vögel können auch kein Griechisch, und verstehen einander doch?

»Aber Sie sind kein Vogel, wiewohl Sie ein loser Mann sind, der uns immer zum Besten hat.«

Daß man in Abdera doch so gerne Arges von seinem Nächsten denkt! Indessen verdient Ihre Antwort, daß ich mich näher erkläre. Die Vögel verstehen einander durch eine gewisse Sympathie, welche ordentlicher Weise nur unter gleichartigen Geschöpfen statt hat. Jeder Ton einer singenden Nachtigall ist der lebende Ausdruck einer Empfindung, und erregt in der zuhörenden unmittelbar den Unisono dieser Empfindung. Sie verstehet also, vermittelst ihres eignen innern Gefühls, was ihr jene sagen wollte; und gerade auf die nämliche Weise versteh ich sie auch.

»Aber wie machen Sie denn das?« – fragten etliche Abderitinnen.

Die Frage war, nachdem Demokritus sich bereits so deutlich erklärt hatte, gar zu abderitisch, als daß er sie ihnen so ungenossen hätte hingehen lassen können. Er besann sich einen Augenblick.

»Ich verstehe den Demokritus«, sagte die kleine Nannion leise.

»Du verstehst ihn, du naseweises Ding ? – schnarrte sie die Mutter an. – Nun laß hören, Puppe, was verstehst du denn davon?«

»Ich kann es nicht zu Worte bringen; aber ich empfind' es, deucht mich«, erwiderte Nannion.

»Sie ist, wie Sie hören, noch ein Kind, sagte die Mutter; wiewohl sie so schnell aufgeschossen ist, daß viele Leute sie für meine jüngere Schwester angesehen haben. Aber halten wir uns nicht mit dem Geplapper eines läppischen Mädchens auf, das noch nicht weiß was es sagt!«

Nannion hat Empfindung, sagte Demokritus. Sie findet den Schlüssel zur allgemeinen Sprache der Natur in ihrem Herzen, und vielleicht versteht sie mehr davon als –

»O mein Herr, ich bitte Sie, machen Sie mir die kleine Närrin nicht noch einbildischer; sie ist ohne dies naseweis und schnippisch genug –«

Bravo, dachte Demokritus; nur so fortgefahren! Auf diesem Wege möchte noch Hoffnung für den Kopf und das Herz der kleinen Nannion sein.

»Bleiben wir bei der Sache! (fuhr die Abderitin fort, die, ohne jemals recht gewußt zu haben, wie und warum, die unerkannte Ehre hatte, Nannions Mutter zu sein.) Sie wollten uns ja erklären, wie es zuginge, daß Sie die Sprache der Vögel verstehen?«

Wir sind den Abderitinnen die Gerechtigkeit schuldig, nicht zu bergen, daß sie alles, was Demokritus von seiner Kenntnis der Vögelsprache gesagt hatte, für bloße Prahlerei hielten. Aber dies hinderte nicht, daß die Fortsetzung dieses Gesprächs nicht etwas sehr unterhaltendes für sie gehabt hätte: denn sie hörten von nichts lieber reden, als von Dingen, die sie nicht glaubten und doch glaubten; als da ist, von Sphinxen, Meermännern, Sibyllen, Kobolten, Popanzen, Gespenstern, und allem, was in diese Rubrik gehört; und die Sprache der Vögel gehörte auch dahin, dachten sie.

Es ist ein Geheimnis, sagte Demokritus, das ich von dem Oberpriester zu Memphis lernte, da ich mich in den ägyptischen Mysterien initieren ließ. Er war ein langer hagerer Mann, hatte einen sehr langen Namen, und einen noch längern eisgrauen Bart, der ihm bis an den Gürtel reichte. Sie würden ihn für einen Mann aus der andern Welt gehalten haben, so feierlich und geheimnisvoll sah er in seiner spitzigen Mütze und in seinem schleppenden Mantel aus.

Die Aufmerksamkeit der Abderiten nahm merklich zu. Nannion, die sich ein wenig weiter zurückgesetzt hatte, lauschte mit dem linken Ohr der Nachtigall entgegen; aber von Zeit zu Zeit schoß sie einen dankvollen Seitenblick auf den Philosophen, welchen dieser, so oft die Mutter auf ihren Busen sah oder ihren Hund küßte, mit aufmunterndem Lächeln beantwortete.

Das ganze Geheimnis, fuhr er fort, besteht darin: Man schneidet, unter einer gewissen Constellation, sieben verschiedenen Vögeln, deren Namen ich nicht entdecken darf, die Hälse ab, läßt ihr Blut in eine kleine Grube, die zu dem Ende in die Erde gemacht wird, zusammenfließen, bedeckt die Grube mit Lorbeerzweigen, und – geht seines Weges. Nach Verfluß von ein und zwanzig Tagen kömmt man wieder, deckt die Grube auf, und findet einen kleinen Drachen von seltsamer Gestalt, der aus der Fäulnis des vermischten Blutes entstanden ist – f32)

»Einen Drachen!« – riefen die Abderitinnen mit allen Merkmalen des Erstaunens.

Einen Drachen, wiewohl nicht viel größer als eine gewöhnliche Fledermaus. Diesen Drachen nehmen sie, schneiden ihn in kleine Stücke, und essen ihn mit etwas Essig, Öl und Pfeffer, ohne das Mindeste davon übrig zu lassen; gehen darauf zu Bette, decken sich wohl zu, und schlafen ein und zwanzig Stunden in einem Stücke fort. Darauf erwachen sie wieder, kleiden sich an, gehen in ihren Garten, oder in ein Wäldchen, und erstaunen nicht wenig, indem sie sich augenblicklich auf allen Seiten von Vögeln umgeben und gegrüßt finden, deren Sprache und Gesang sie so gut verstehen, als ob sie alle Tage ihres Lebens nichts als Elstern, Gänschen und Truthühner f33) gewesen wären.

Demokritus erzählte den Abderitinnen alles dies mit einer so gelassenen Ernstaftigkeit, daß sie sich um so weniger entbrechen konnten, ihm Glauben beizumessen, da er, ihrer Meinung nach, die Sache unmöglich mit so vielen Umständen hätte erzählen können, wenn sie nicht wahr gewesen wäre. Indessen wußten sie itzt doch gerade nur so viel davon, als nötig war, um desto ungeduldiger zu werden, alles zu wissen –

»Aber, fragten sie, was für Vögel sind es denn, die man dazu braucht? Ist der Sperling, der Finke, die Nachtigall, die Elster, die Wachtel, der Rabe, der Kibitz, die Nachteule, u.s.f. auch darunter? Wie sieht der Drache aus? Hat er Flügel? Wie viele hat er deren? Ist er gelb, oder grün, oder blau, oder rosenfarb? Speit er Feuer? Beißt oder sticht er nicht, wenn man ihn anrühren will? Ist er gut zu essen? Wie schmeckt er? Wie verdaut er sich? Was trinkt man dazu?« – Alle diese Fragen, womit der gute Naturforscher von allen Seiten bestürmt wurde, machten ihm so warm, daß er sich endlich am kürzesten aus dem Handel zu ziehen glaubte, wenn er ihnen gestünde, er habe die ganze Historie nur zum Scherz ersonnen.

»O dies sollen Sie uns nicht weis machen! – riefen die Abderitinnen: Sie wollen nur nicht, daß wir hinter Ihre Geheimnisse kommen. Aber wir werden Ihnen keine Ruhe lassen; verlassen Sie sich darauf! Wir wollen den Drachen sehen, betasten, beriechen, kosten, und mit Haut und Knochen aufessen, oder – Sie sollen uns sagen, warum nicht!«



zweites Buch
oder
Hippokrates in Abdera

Erstes Kapitel
Eine Abschweifung über den Charakter und die Philosophie des Demokritus welche wir den Leser nicht zu überschlagen bitten

Wir wissen nicht, wie Demokritus es angefangen, um sich die neugierigen Weiber vom Halse zu schaffen. Genug, daß uns diese Beispiele begreiflich machen, wie ein bloßer zufälliger Einfall Gelegenheit habe geben können, den unschuldigen Naturforscher in den Ruf zu bringen, als ob er Abderite genug gewesen wäre, alle die Märchen, die er seinen albernen Landesleuten aufheftete, selbst zu glauben. Diejenigen, die ihm dies zum Vorwurf nachgesagt haben, berufen sich auf seine Schriften. Aber schon lange vor den Zeiten des Vitruvius und Plinius wurden eine Menge unechter Büchlein mit vielbedeutenden Titeln unter seinem Namen herumgetragen. Man weiß, wie gewöhnlich diese Art von Betrug den müßigen Gräculis der spätern Zeiten war. Die Namen Hermes Trismegistus, Zoroaster, Orpheus, Pytagoras, Demokritus, waren ehrwürdig genug, um die armseligsten Geburten schaler Köpfe verkäuflich zu machen; insonderheit nachdem die alexandrische Philosophenschule die Magie in eine Art von allgemeiner Achtung, und die Gelehrten in den Geschmack gebracht hatte, sich bei den Ungelehrten das Ansehen zu geben, als ob sie gewaltige Wundermänner wären, die den Schlüssel zur Geisterwelt gefunden hätten, und für die nun in der ganzen Natur nichts geheimes sei. Die Abderiten hatten den Demokritus in den Ruf der Zauberei gebracht, weil sie nicht begreifen konnten, wie man, ohne ein Hexenmeister zu sein, so viel wissen könne, als sie – nicht wußten; und spätere Betrüger fabricierten Zauberbücher in seinem Namen, um sich jenen Ruf bei den Dummköpfen ihrer Zeit zu Nutzen zu machen.

Überhaupt waren die Griechen große Liebhaber davon, mit ihren Philosophen den Narren zu treiben. Die Athenienser lachten herzlich, als ihnen der witzige Possenreißer Aristophanes weis machte, Sokrates halte die Wolken für Göttinnen, messe aus, wie viele Flohfüße hoch ein Floh springen könne f34), lasse sich, wenn er meditieren wolle, in einem Korbe aufhängen, damit die anziehende Kraft der Erde seine Gedanken nicht einsauge, u.s.f und es dünkte sie überaus kurzweilig, den Mann, der ihnen immer die Wahrheit und also oft unangenehme Dinge sagte, wenigstens auf dem Schauplatze platte Pedantereien sagen zu hören. Und wie mußte sich nicht Diogenes (der unter den Nachahmern des Sokrates noch am meisten die Miene seines Originals hatte,) von diesem Volke, das so gerne lachte, mißhandeln lassen, Sogar der begeisterte Plato und der tiefsinnige Aristoteles blieben nicht von Anklagen frei, wodurch man sie zu dem großen Haufen der alltäglichen Menschen herabzusetzen suchte. Was Wunder also, daß es dem Manne nicht besser erging, der so verwegen war, mitten unter Abderiten Verstand zu haben?

Demokritus lachte zuweilen, wie wir alle, und würde vielleicht, wenn er zu Korinth, oder Smyrna, oder Syrakus, oder an irgend einem andern Orte der Welt gelebt hätte, nicht mehr gelacht haben, als jeder andre Biedermann, der sich, aus Gründen oder von Temperaments wegen, aufgelegter fühlt, die Torheiten der Menschen zu belachen als zu beweinen. Aber er lebte unter Abderiten. Es war nun einmal die Art dieser guten Leute, immer etwas zu tun, worüber man entweder lachen, oder weinen, oder ungehalten werden mußte; und Demokritus lachte, wo ein Phocion die Stirne gerunzelt, ein Cato gepoltert, und ein Swift zugepeitscht hätte. Bei einem ziemlich langen Aufenthalt in Abdera konnte ihm also die Miene der Ironie wohl eigentümlich werden; aber daß er im buchstäblichen Verstande immer aus vollem Halse gelacht habe, wie ihm ein Dichter, der die Sachen gern übertreibt, nachsagt f35), dies hätte wenigstens niemand in Prosa sagen sollen.

Doch diese Nachrede möchte immer hingehen, zumal da ein so gepriesener Philosoph wie Seneca unsern Freund Demokritus über diesen Punkt rechtfertigt, und sogar nachahmenswürdig findet. »Wir müssen uns dahin bestreben, sagt Seneca f36), daß uns die Torheiten und Gebrechen des großen Haufens samt und sonders nicht hassenswürdig, sondern lächerlich vorkommen; und wir werden besser tun, wenn wir uns hierin den Demokritus als den Heraklitus zum Muster nehmen. Dieser pflegte, so oft er unter die Leute ging, zu weinen; jener, zu lachen: dieser sah in allem unserm Tun eitel Not und Elend; jener eitel Tand und Kinderspiel. Nun ist es aber freundlicher, das menschliche Leben anzulachen als es anzugrinsen; und man kann sagen, daß sich derjenige um das Menschengeschlecht verdienter macht, der es belacht, als der es bejammert. Denn jener läßt uns doch noch immer ein wenig Hoffnung übrig; dieser hingegen weint alberner Weise über Dinge, die er bessern zu können verzweifelt. Auch zeigt derjenige eine größere Seele, der, wenn er einen Blick über das Ganze wirft, sich nicht des Lachens – als jener, der sich der Tränen nicht enthalten kann; denn er gibt dadurch zu erkennen, daß alles, was andern groß und wichtig genug scheint, um sie in die heftigsten Leidenschaften zu setzen, in sei nen Augen so klein ist, daß es nur den leichtesten und kaltblütigsten unter allen Affecten in ihm erregen kann.« f37)

Im Vorbeigehen deucht mich, die Entscheidung des Sophisten Seneca habe Verstand; wiewohl er vielleicht besser getan hätte, seine Gründe weder so weit herzuholen, noch in so gekünstelte Antithesen einzuschrauben. Doch, wie gesagt, der bloße Umstand, daß Demokritus unter Abderiten lebte, und über Abderiten lachte, macht den Vorwurf, von welchem die Rede ist, so übertrieben er auch sein mag, zum erträglichsten unter allem, was unserm Weisen aufgebürdet worden. Läßt doch Homer die Götter selbst über einen weit weniger lächerlichen Gegenstand über den hinkenden Vulcan, der aus der gutherzigen Absicht, Friede unter den Olympiern zu stiften, den Mundschenken macht – in ein unauslöschliches Gelächter ausbrechen! Aber das Vorgeben, daß Demokritus sich selbst freiwillig des Gesichts beraubt habe, und die Ursachen, warum er es getan haben soll, dies setzt auf Seiten derjenigen, bei denen es Eingang finden konnte, eine Neigung voraus, die wenigstens ihrem Kopfe wenig Ehre macht.

Und was für eine Neigung mag denn das sein, – Ich will es euch sagen, lieben Freunde, und gebe der günstige Himmel, daß es nicht gänzlich in den Wind gesagt sein möge!

Es ist die armselige Neigung, jeden Dummkopf, jeden hämischen Buben für einen unverwerflichen Zeugen gelten zu lassen, sobald er einem großen Manne irgend eine überschwengliche Ungereimtheit nachsagt, welche auch der alltäglichste Mensch bei fünf gesunden Sinnen zu begehen unfähig wäre.

Ich möchte nicht gerne glauben, daß diese Neigung so allgemein sei, als die Verkleinerer der menschlichen Natur behaupten. Aber dies wenigstens lehrt die Erfahrung: daß die kleinen Anekdoten, die man von großen Geistern auf Unkosten ihrer Vernunft circulieren zu lassen pflegt, sehr leicht bei den Meisten Eingang finden. Doch vielleicht ist dieser Hang im Grunde nicht sträflicher als das Vergnügen, womit die Sternseher Flecken in der Sonne entdeckt haben? Vielleicht ist es bloß das Unerwartete und Unbegreifliche, was die Entdeckung solcher Flecken so angenehm macht? Außerdem findet sich auch nicht selten, daß die armen Leute, indem sie einem großen Manne Widersinnigkeiten andichten, ihm (nach ihrer Art zu denken) noch viel Ehre zu erweisen glauben; und dies mag wohl, was die freiwillige Blindheit unsers Philosophen betrifft, der Fall bei mehr als einem abderitischen Gehirne gewesen sein.

»Demokritus beraubte sich des Gesichtes, sagt man, damit er desto tiefer denken könnte. Was ist hierin so unglaubliches: Haben wir nicht Beispiele freiwilliger Verstümmelungen von ähnlicher Art. Combabus – Origenes –«

Gut! – Combabus und Origenes warfen einen Teil ihrer selbst von sich, und zwar einen Teil, den wohl die meisten, im Fall der Not, mit allen ihren Augen, und wenn sie deren soviel als Argus hätten, erkaufen würden. Allein sie hatten auch einen großen Beweggrund dazu. Was gibt der Mensch nicht um sein Leben? Und was tut oder leidet man nicht, der Günstling eines Fürsten zu bleiben, oder gar eine Pagode zu werden? – Demokritus hingegen konnte keinen Beweggrund von dieser Stärke haben. Es möchte noch hingehen, wenn er ein Metaphysiker oder ein Poet gewesen wäre. Dies sind Leute, die zu ihrem Geschäfte des Gesichts entbehren können. Sie arbeiten am meisten mit der Einbildungskraft, und diese gewinnt sogar durch die Blindheit.

Aber wenn hat man jemals gehört, daß ein Beobachter der Natur, ein Zergliederer, ein Sternseher, sich die Augen ausgestochen hätte, um desto besser zu beobachten, zu zergliedern, und nach den Sternen zu sehen?

Die Ungereimtheit ist so handgreiflich, daß Tertullianus die angebliche Tat unsers Philosophen aus einer andern Ursache ableitet, die ihm aber zum wenigsten eben so ungereimt hätte vorkommen müssen, wenn er ein besserer Raisonneur gewesen wäre, oder nicht gerade vonnöten gehabt hätte, die Philosophen, die er zu Boden legen wollte, in Strohmänner zu verwandeln. »Er beraubte sich der Augen, sagt Tertullian f40), weil er kein Weib ansehen konnte, ohne ihrer zu begehren.« – Ein feiner Grund für einen griechischen Philosophen aus dem Jahrhundert des Perikles! Demokritus, der sich gewiß nicht einfallen ließ, weiser sein zu wollen als Solon, Anaxagoras, Sokrates, hatte auch vonnöten, zu einem solchen Mittel seine Zuflucht zu nehmen! Wahr ists, der Rat des letztern f41) (der Demokriten gewiß nichts unbekanntes war, weil er Verstand genug hatte, sich ihn selbst zu geben) verfängt wenig gegen die Gewalt der Liebe; und einem Philosophen, der sein ganzes Leben dem Erforschen der Wahrheit widmen wollte, war allerdings sehr viel daran gelegen, sich vor einer so tyrannischen Leidenschaft zu hüten. Allein von dieser hatte auch Demokritus, wenigstens in Abdera, nichts zu besorgen. Die Abderitinnen waren zwar schön; aber die gütige Natur hatte ihnen die Dummheit zum Gegengift ihrer körperlichen Reizungen gegeben. Eine Abderitin war nur schön bis sie – den Mund auftat, oder bis man sie in ihrem Hauskleide sah. Leidenschaften von drei Tagen waren das Äußerste, was sie einem ehrlichen Manne, der kein Abderite war, einflößen konnte; und eine Liebe von drei Tagen ist einem Demokritus am Philosophieren so wenig hinderlich, daß wir vielmehr allen Naturforschern, Zergliederern, Meßkünstlern und Sternsehern demütig raten wollten, sich dieses Mittels, als eines vortrefflichen Recepts gegen Milzbeschwerungen, öfters zu bedienen, wenn recht zu vermuten wäre, daß diese Herren zu weise sind, eines Rates vonnöten zu haben. Ob Demokritus selbst die Kraft dieses Mittels, zufälliger Weise, bei einer oder der andern von den abderitischen Schönen, die wir bereits kennen gelernt, versucht haben möchte, können wir aus Mangel authentischer Nachrichten weder bejahen noch verneinen. Aber daß er, um gar nicht, oder nicht zu stark, von so unschädlichen Geschöpfen eingenommen zu werden, und weil er auf allen Fall sicher war, daß sie ihm die Augen nicht auskratzen würden – schwach genug gewesen sei, sich solche selbst auszukratzen: dies mag Tertullianus glauben so lang es ihm beliebt; wir zweifeln sehr, daß es jemand mitglauben wird.

Aber alle diese Ungereimtheiten werden unerheblich, wenn wir sie mit demjenigen vergleichen, was ein sonst in seiner Art sehr verdienter Sammler von Materialien zur Geschichte des menschlichen Verstandes f42) die Philosophie des Demokritus nennt. Es würde schwer sein, von einem Haufen einzelner Trümmer, Steine und zerbrochener Säulen, die man als vorgebliche Überbleibsel des großen Tempels zu Olympia aus unzähligen Orten zusammengebracht hätte, mit Gewißheit zu sagen, daß es wirklich Trümmer dieses Tempels seien. Aber was würde man von einem Manne denken, der – wenn er diese Trümmer, so gut es ihm in der Eile möglich gewesen wäre, auf einander gelegt, und mit etwas Leim und Stroh zusammengeflickt hätte – ein so armseliges Stückwerk, ohne Plan, ohne Fundament, ohne Größe, ohne Symmetrie und Schönheit, für den Tempel zu Olympia ausgeben wollte?

Überhaupt ist es gar nicht wahrscheinlich, daß Demokritus ein System gemacht habe. Ein Mann, der sein Leben mit Reisen, Beobachtungen und Versuchen zubringt, lebt selten lange genug, um die Resultate dessen, was er gesehen und erfahren, in ein kunstmäßiges Lehrgebäude zusammenzufügen. Und in dieser Rücksicht könnte wohl auch Demokritus, wiewohl er über ein Jahrhundert gelebt haben soll, noch immer zu früh vom Tod überrascht worden sein. Aber daß ein solcher Mann, mit dem durchdringenden Verstande und mit dem brennenden Durste nach Wahrheit, den ihm das Altertum einhellig zuschreibt, fällig gewesen sei, handgreiflichen Unsinn zu behaupten, ist noch etwas weniger als unwahrscheinlich. »Demokritus (sagt man uns) erklärte das Dasein der Welt lediglich aus den Atomen, dem leeren Raum, und der Notwendigkeit oder dem Schicksal. Er fragte die Natur achtzig Jahre lang, und sie sagte ihm kein Wort von ihrem Urheber, von seinem Plan, von seinem Endzweck, Er schrieb den Atomen allen einerlei Art von Bewegung zu, und wurde nicht gewahr f43), daß aus Elementen, die sich in parallelen Linien bewegen, in Ewigkeit keine Körper entstehen können, Er leugnete, daß die Verbindung der Atomen nach dem Gesetze der Ähnlichkeit geschehe; er erklärte alles in der Welt aus einer unendlich schnellen, aber blinden Bewegung: und behauptete gleichwohl, daß die Welt ein Ganzes sei?« u.s.f. Diesen und andern ähnlichen Unsinn setzt man auf seine Rechnung; citiert den Stobäus, Sextus, Censorinus; und bekümmert sich wenig darum, ob es unter die möglichen Dinge gehöre, daß ein Mann von Verstande (wofür man gleichwohl den Demokritus ausgibt,) so gar erbärmlich raisonnieren könnte. Freilich sind große Geister von der Möglichkeit sich zu irren, oder unrichtige Folgerungen zu ziehen, eben so wenig frei als die kleinen; wiewohl man gestehen muß, daß sie unendlichmal seltener in diese Fehler fallen, als es die Lilliputter gerne hätten; aber es gibt Albernheiten, die nur ein Dummkopf zu denken oder zu sagen fähig ist, so wie es Untaten gibt, die nur ein Schurke begehen kann. Die besten Menschen haben ihre Anomalien, und die Weisesten leiden zuweilen eine vorübergehende Verfinsterung; aber dies hindert nicht, daß man nicht mit hinlänglicher Sicherheit von einem verständigen Manne sollte behaupten können: daß er gewöhnlich, und besonders in solchen Gelegenheiten, wo auch die Dummsten allen den ihrigen zusammenraffen, wie ein Mann von Verstande verfahren werde.

Diese Maxime könnte uns, wenn sie gehörig angewendet würde, im Leben manches rasche Urteil, manche von wichtigen Folgen begleitete Verwechslung des Scheins mit der Wahrheit ersparen helfen. Aber den Abderiten half sie nichts. Denn zum Anwenden einer Maxime wird gerade das Ding erfordert – das sie nicht hatten. Die guten Leute behalfen sich mit einer ganz andern Logik als vernünftige Menschen; und in ihren Köpfen waren Begriffe associiert, die, wenn es keine Abderiten gäbe, sonst in aller Ewigkeit nie zusammenkommen würden. Demokritus untersuchte die Natur der Dinge, und bemerkte die Ursachen gewisser Naturbegebenheiten ein wenig früher als die Abderiten, – also war er ein Zauberer. Er dachte über alles anders als sie, lebte nach andern Grundsätzen, brachte seine Zeit auf eine ihnen unbegreifliche Art mit sich selbst zu, – also war es nicht recht richtig in seinem Kopfe; der Mann hatte sich überstudiert; und man besorgte, daß es einen unglücklichen Ausgang mit ihm nehmen werde.

Zweites Kapitel
Demokritus wird eines schweren Verbrechens beschuldiget, und von einem seiner Verwandten damit entschuldiget, daß er seines Verstandes nicht recht mächtig sei
Wie er das Ungewitter, welches ihm der Priester Strobylus zubereiten wollte, noch zu rechter Zeit ableitet – ein Arcanum, dessen Wirkung selten ausbleibt, wenn es recht appliciert wird

Was hört man vom Demokritus? – sagten die Abderiten unter einander. – »Schon sechs ganzer Wochen will niemand nichts von ihm gesehen haben – Man kann seiner nie habhaft werden; oder wenn man ihn endlich trifft, so sitzt er in tiefen Gedanken, und ihr seid eine halbe Stunde vor ihm gestanden, habt mit ihm gesprochen, und seid wieder weggegangen, ohne daß er es gewahr worden ist. Bald wühlt er in den Eingeweiden von Hunden und Katzen herum; bald kocht er Kräuter, oder steht mit einem großen Blasebalg in der Hand vor einem Zauberofen, und macht Gold, oder noch was ärgers. Bei Tage klettert er wie ein Gems die steilsten Klippen des Hämus hinan, um – Kräuter zu suchen, als ob es deren nicht genug in der Nähe gäbe; und bei Nacht, wo sogar die unvernünftigen Geschöpfe der Ruhe pflegen, wickelt er sich in einen scythischen Pelz und guckt, beim Castor! durch ein Blaserohr nach den Sternen.«

»Ha, ha, ha! Man könnte sichs nicht närrischer träumen lassen! Ha, ha, ha!« (lachte der kurze dicke Ratsherr.)

»Es ist, bei allem dem, Schade um den Mann, sagte der Archon von Abdera; man muß gleichwohl gestehen, daß er viel weiß.«

»Aber was hat die Republik davon?« – versetzte ein Ratsherr, der sich mit Projecten, Verbesserungsvorschlägen, und Deductionen veralteter Ansprüche eine hübsche runde Summe von der Republik verdient hatte, und in Kraft dessen immer aus vollen Backen von seinen Verdiensten um das abderitische Wesen prahlte, wiewohl das abderitische Wesen sich durch alle seine Projecte, Deductionen und Verbesserungen nicht um hundert Drachmen besser befand.

»Es ist wahr, sprach ein andrer; mit seiner Wissenschaft läuft es auf lauter Spielwerk hinaus; nichts gründliches! In minimis maximus!«

»Und dann sein unerträglicher Stolz! – Seine Widersprechungssucht! – Sein ewiges Vernünfteln, und Tadeln, und Spötteln!«

»Und sein schlimmer Geschmack!«

»Von der Musik wenigstens versteht er nicht den Guguck«, sagte der Nomophylax.

»Vom Theater noch weniger«, rief Hyperbolus.

»Und von der hohen Ode gar nichts«, sagte Physignathus.

»Er ist ein Scharlatan, ein Windbeutel –«

»Und ein Freigeist obendrein, schrie der Priester Strobylus; ein ausgemachter Freigeist, ein Mensch der nichts glaubt, dem nichts heilig ist. Man kann ihm beweisen, daß er einer Menge von Fröschen die Zungen bei lebendigem Leibe ausgerissen hat.«

»Man spricht stark davon, daß er deren etliche sogar lebendig zergliedert habe«, sagte jemand.

»Ists möglich? rief Strobylus mit allen Merkmalen des äußersten Entsetzens; sollte dies bewiesen werden können? Gerechte Latona! Wozu diese verfluchte Philosophie einen Menschen nicht bringen kann! Aber, sollt' es wirklich bewiesen werden können?«

»Ich geb' es wie ich es empfangen habe«, erwiderte jener.

»Es muß untersucht werden, schrie Strobylus, hochpreislicher Herr Archon! – Wohlweise Herren! – ich fodre Sie hiermit im Namen der Latona auf! die Sache muß untersucht werden?«

»Wozu eine Untersuchung? sagte Thrasyllus, einer von den Häuptern der Republik, ein naher Anverwandter und vermutlicher Erbe des Philosophen. Die Sache hat ihre Richtigkeit. Aber sie beweiset weiter nichts, als was ich leider! schon seit geraumer Zeit an meinem armen Vetter wahrgenommen habe, daß es mit seinem Verstande nicht so gut steht, als zu wünschen wäre. Demokritus ist kein schlimmer Mann; er ist kein Verächter der Götter; aber er hat Stunden, wo er nicht bei sich selber ist. Wenn er einen Frosch zergliedert hat, so wollt' ich für ihn schwören, daß er den Frosch für eine Katze ansah.«

»Desto schlimmer!« sagte Strobylus.

»In der Tat, desto schlimmer – für seinen Kopf, und für sein Hauswesen! – fuhr Thrasyllus fort. Der arme Mann ist in einem Zustande, wobei wir nicht länger gleichgültig bleiben können. Die Familie wird sich genötiget sehen, die Republik um Hülfe anzurufen. Er ist in keinerlei Betrachtung fähig, sein Vermögen selbst zu verwalten. Er wird bevogtet werden müssen.«

»Wenn dies ist –« sagte der Archon mit einer bedenklichen Miene – und hielt inne.

»Ich werde die Ehre haben, Ihre Herrlichkeit näher von der Sache zu unterrichten«, versetzte der Ratsherr Thrasyllus.

»Wie, Demokritus sollte nicht bei Verstande sein? rief einer aus den Anwesenden. Meine Herren von Abdera, bedenken Sie wohl was Sie tun! Sie sind in Gefahr, dem ganzen Griechenland ein großes Lachen zuzubereiten. Ich will meine Ohren verloren haben, wenn Sie einen verständigern Mann diesseits und jenseits des Hebrus finden, als diesen nämlichen Demokritus. Nehmen Sie sich in Acht, meine Herren! die Sache ist kitzlicher als Sie vielleicht denken.«

Unsre Leser erstaunen – aber wir wollen Ihnen sogleich aus dem Wunder helfen. Derjenige, der dies sagte, war kein Abderit. Er war ein Fremder aus Syrakus, und (was die Ratsherren von Abdera im Respect erhielt,) ein naher Verwandter des ältern Dionysius, der sich vor kurzem zum Fürsten dieser Republik aufgeworfen hatte.

»Sie können versichert sein, antwortete der Archon dem Syrakusaner, daß wir nicht weiter in der Sache gehen werden, als wir Grund finden.«

»Ich nehme zu viel Anteil an der Ehre, welche der erlauchte Syrakusaner meinem Vetter durch seine gute Meinung erweist, sagte Thrasyllus, als daß ich nicht wünschen sollte, sie bestätigen zu können. Es ist wahr, Demokritus hat seine hellen Augenblicke; und in einem solchen wird ihn der Prinz gesprochen haben. Aber leider! es sind nur Augenblicke-«

»So müssen die Augenblicke in Abdera sehr lang sein«, fiel der Syrakusaner ein.

»Hoch- und Wohlweise Herren, sagte der Priester Strobylus; die Umstände mögen beschaffen sein wie sie wollen, bedenken Sie, daß die Rede von einem lebendig zergliederten Frosche ist! Die Sache ist wichtig, und ich dringe auf Untersuchung. Denn dafür sei Latona und Apollo, daß ich fürchten sollte –«

»Beruhigen Sie sich, Herr Oberpriester, fiel ihm der Archon ins Wort – der (unter uns gesagt) selbst ein wenig im Verdachte stund, von den Fröschen der Latona nicht so gesund zu denken, wie man in Abdera davon denken mußte – Auf die erste Anregung, welche von Seiten der Vorsteher des geheiligten Teiches beim Senat gemacht werden wird, sollen die Frösche alle gebührende Genugtuung erhalten!«

Der Syrakusaner ließ den Demokritus unverzüglich von allem benachrichtigen, was in dieser Gesellschaft gesprochen worden war.

Laß den fettesten jungen Pfauen f44) im Hühnerhofe würgen, und an den Bratspieß stecken, sagte Demokritus zu seiner Haushälterin, und benachrichtige mich wenn er gar ist.

Des nämlichen Abends, als sich Strobylus zu Tische setzte, ward der gebratne Pfau in einer silbernen Schüssel, als ein Geschenk des Demokritus, aufgetragen. Als man ihn öffnete, siehe, da war er mit hundert goldnen Dariken f45) gefüllt. Es muß doch nicht so gar übel mit dem Verstande des Mannes stehen, dachte Strobylus.

Das Mittel wirkte unverzüglich, was es wirken sollte. Der Oberpriester ließ sich den Pfauen herrlich schmecken, trank grichischen Wein dazu, strich die hundert Dariken in seinen Beutel, und dankte der Latona für die Genugtuung, die sie ihren Fröschen verschafft hatte.

»Wir haben alle unsre Fehler, sagte Strobylus des folgenden Tages in einer großen Gesellschaft. Demokritus ist zwar ein Philosoph; aber ich finde doch, daß er es so übel nicht meint, als ihn seine Feinde beschuldigen. Die Welt ist schlimm; man hat wunderliche Dinge von ihm erzählt; aber ich denke gern das Beste von jedermann. Ich hoffe, sein Herz ist besser als sein Kopf! Es soll nicht gar zu richtig in dem letztern sein; und ich glaub es selbst. Einem Menschen in solchen Umständen muß man viel zu gut halten. Ich bin gewiß, daß er der feinste Mann in ganz Abdera wäre, wenn ihm die Philosophie den Verstand nicht verdorben hätte!«

Strobylus fing durch diese Rede zwo Fliegen mit einer Klappe. Er entledigte sich seiner Verbindlichkeit gegen unsern Philosophen, da er von ihm als von einem guten Manne sprach; und machte sich ein Verdienst um den Ratsherrn Thrasyllus, indem er es auf Unkosten seines Verstandes tat. Woraus zu ersehen ist, daß der Priester Strobylus, bei aller seiner Einfalt, oder Dummheit, (wenn man es so nennen will,) ein schlauer Gast war.

Drittes Kapitel
Eine kleine Abschweifung in die Regierungszeit Schah Bahams des Weisen
Charakter des Ratsherrn Thrasyllus

Es gibt eine Art von Menschen, die man viele Jahre lang kennen und beobachten kann, ohne mit sich selbst einig zu werden, ob man sie in die Classe der schwachen oder der bösen Leute setzen soll. Kaum haben sie einen Streich gemacht, dessen kein Mensch von einiger Überlegung fähig zu sein scheint, so überraschen sie uns durch eine so wohl ausgedachte Bosheit, daß wir, mit allem guten Willen von ihrem Herzen das Beste zu denken, uns in der Unmöglichkeit befinden, die Schuld auf ihren Kopf zu legen. Gestern nahmen wir es für ausgemacht an, daß Herr Quidam so schwach von Verstande sei, daß es Sünde wäre, ihm seine Ungereimtheiten zu Verbrechen zu machen; heute überführt uns der Augenschein, daß der Mann zu übeltätig ist, um ein bloßer Dummkopf zu sein; wir sehen keinen Ausweg, ihn von der Schuld eines bösen Willens frei zu sprechen. Aber kaum haben wir hierüber unsre Partei genommen: so sagt oder tut er etwas, das uns wieder in unsre vorige Hypothese zurückwirft, oder wenigstens in eine der unangenehmsten Seelenlagen, in die Verlegenheit setzt, nicht zu wissen, was wir von dem Manne denken, oder – wenn unser Unstern will, daß wir mit ihm zu tun haben müssen – was wir mit ihm anfangen wollen.

Die geheime Geschichte von Agra sagt, daß der berühmte Schah-Baham sich einsmals mit einem seiner Omrahs in diesem Falle befunden habe. Der Omrah wurde beschuldigt, daß er Ungerechtigkeit ausgeübt habe.

So soll er gehangen werden, sagte Schah-Baham.

»Aber, Sire, (sagte man,) der arme Kurli ist ein so schwacher Kopf, daß noch die Frage ist, ob er den Unterschied zwischen Recht und Link deutlich genug einsieht, um zu wissen, wenn er eine Ungerechtigkeit begeht oder nicht.«

Wenn dies ist, (sagte Schah-Baham,) so schickt ihn ins Narrenhospital!

»Gleichwohl, Sire, da er Verstands genug hat, einem Wagen mit Heu auszuweichen, und bei einem Pfeiler, an dem er sich den Kopf zerschnellen könnte, vorbeizugehen, weil er wohl merkt, daß der Pfeiler nicht bei ihm vorbeigehen würde –«

Merkt er das? rief der Sultan; beim Barte des Propheten! so sagt mir nichts weiter. Morgen soll man sehen, ob Justiz in Agra ist.

»Indessen gibt es Leute, die Eur. Majestät versichern werden, daß der Omrah – seine Dummheit aus genommen, die ihm zuweilen boshaft macht – der ehrlichste Mann von der Welt ist.«

»Um Vergebung! (fiel ein andrer von den Anwesenden Höflingen ein,) gerade das Gegenteil! Kurli hat alles, was noch gut an ihm ist, seiner Dummheit zu danken. Er würde zehnmal schlimmer sein als er ist, wenn er Verstand genug hätte, um zu wissen wie ers anfangen soll.«

Wißt ihr auch, meine Freunde, daß in allem, was ihr mir da sagt, kein Menschenverstand ist? versetzte Schah-Baham. Vergleicht euch mit euch selbst, wenn ich bitten darf! Kurli, spricht dieser, ist ein böser Mann, weil er dumm ist – Nein, spricht jener, er ist dumm weil er boshaft ist – Gefehlt, spricht der dritte; er würde ein schlimmer Mann sein, wenn er nicht so dumm wäre –

Wie wollt ihr, daß unser einer aus diesem Galimathias klug werde? Da entscheide mir einmal jemand, was ich mit ihm anfangen soll! Denn entweder ist er zu boshaft fürs Narrenspital, oder zu dumm für den Galgen.

»Dies ist es eben, sagte die Sultanin Darejan. Kurli ist zu dumm, um sehr boshaft zu sein; und doch würde Kurli noch weniger boshaft sein als er ist, wenn er weniger dumm wäre.«

Der Henker hole den rätselhaften Kerl! rief Schah-Baham. Da sitzen wir und zerbrechen uns die Köpfe, um ausfindig zu machen, ob er ein Esel oder ein Schurke sei; und am Ende werdet ihr sehen, daß er Beides ist. – Alles wohl überlegt, wißt ihr was ich tun will, Ich will ihn laufen lassen! Seine Bosheit und seine Dummheit werden einander schon die Waage halten. Er wird, in so fern er nur kein Omrah ist, weder durch diese noch jene großen Schaden tun. Die Welt ist weit; laß ihn laufen, Itimaddulet! aber vorher soll er kommen, und sich bei der Sultanin bedanken! Nur noch vor drei Minuten wollt ich ihm keine Feige um seinen Hals gegeben haben!

Man hat lange nicht ausfindig machen können, warum Schah-Baham den Beinamen des Weisen in den Geschichtbüchern von Hindostan führt. Aber nach dieser Entscheidung kann es keine Frage mehr sein. Alle sieben Weisen aus Griechenland hätten den Knoten nicht besser auflösen können, als ihn Schah-Baham zerhieb.

Der Ratsherr Thrasyllus hatte das Unglück, einer von diesen (zum Glück der Welt) nicht so gar gewöhnlichen Menschen zu sein, in deren Kopf und Herzen Dummheit und Bosheit, nach dem Ausdruck des Sultans, einander die Waage halten. Seine Anschläge auf das Vermögen des Demokritus waren nicht von gestern her. Er hatte darauf gezählt, daß sein Verwandter, nach einer so langen Abwesenheit, gar nicht wiederkommen würde und auf diese Voraussetzung hatte er sich die Mühe gegeben, einen Plan zu machen, den die Wiederkunft des Philosophen auf eine sehr unangenehme Art vereitelte. Thrasyllus, dessen Einbildung schon daran gewöhnt war, das Erbgut des Demokritus für einen Teil seines eignen Vermögens anzusehen, konnte sich nun nicht so leicht gewöhnen, anders zu denken. Er betrachtete also den Demokritus als einen Räuber, der ihm das Seinige vorenthielt. Aber unglücklicher Weise hatte dieser, der Räuber – die Gesetze auf seiner Seite.

Der arme Thrasyllus durchsuchte alle Winkel in seinem Kopfe, ein Mittel gegen diesen ungünstigen Umstand zu finden; und suchte lange vergebens. Endlich glaubte er in der Lebensart des Philosophen einen Grund, auf den er bauen könnte, gefunden zu haben. Die Abderiten waren schon vorbereitet, dachte Thrasyllus; denn daß Demokritus ein Narr sei, war zu Abdera eine ausgemachte Sache. Es kam also nur noch darauf an, dem großen Rat legaliter darzutun, daß seine Narrheit von derjenigen Art sei, welche den damit Behafteten unfähig macht, sein eigner Herr zu sein. Dies hatte nun einige Schwierigkeiten. Mit seinem eignen Verstande würde Thrasyllus schwerlich durchgekommen sein! Aber in solchen Fällen finden seines gleichen für ihr Geld immer einen Spitzbuben, der ihnen seinen Kopf leiht; und dann ist es so viel, als ob sie selbst einen hätten.

Viertes Kapitel
Kurze, doch hinlängliche, Nachrichten von den abderitischen Sykophanten
Ein Fragment aus der Rede, worin Thrasyllus um die Bevogtung seines Vettern ansuchte

Es gab damals zu Abdera eine Art von Leuten, die sich von der Kunst nährten, schlimme Händel so zurechte zu machen, daß sie wie gut aussahen. Sie gebrauchten dazu nur zween Hauptkunstgriffe: entweder sie verfälschten das Factum, oder sie verdrehten das Gesetz. Weil diese Lebensart sehr einträglich war, so legten sich nach und nach eine so große Menge von müßigen Leuten darauf, daß die Pfuscher zuletzt die Meister verdrangen. Die Profession verlor dadurch von ihrem Ansehen. Man nannte diejenigen, die sich damit abgaben, Sykophanten, weil die meisten so arme Schelme waren, daß sie für eine Feige alles sagten was man wollte.

Indessen, da die Sykophanten wenigstens den zwanzigsten Teil der Einwohner von Abdera ausmachten, und die Leute gleichwohl nicht bloß von Feigen leben konnten: so reichten die gewöhnlichen Gelegenheiten, wobei die Rechtshändel zu entstehen pflegen, nicht mehr zu. Die Vorfahren der Sykophanten hatten gewartet, bis man sie um ihren Beistand ansprach. Aber bei dieser Methode hätten die neuern Sykophanten hungern oder graben müssen! Denn zu betteln war in Abdera nicht erlaubt; welches (im Vorbeigehen zu sagen) das einzige war, was die Fremden an der abderitischen Polizei zu loben fanden. Nun waren die Sykophanten zum Graben zu faul; folglich blieb den meisten kein ander Mittel übrig, als – die Händel, die sie führen wollten, selbst zu machen.

Weil die Abderiten Leute von sehr hitziger Gemütsart und von geringer Besonnenheit waren, so fehlt' es dazu nie an Gelegenheit. Jede Kleinigkeit gab also einen Handel; jeder Abderite hatte seinen Sykophanten; und so wurde wieder eine Art von Gleichgewicht hergestellt, wodurch sich die Profession um so mehr in Ansehen erhielt, weil die Nacheiferung große Talente entwickelte.

Abdera gewann dadurch den Ruhm, daß die Kunst Facta zu verfälschen und Gesetze zu verdrehen in Athen selbst nicht so hoch gebracht worden sei; und dieser Ruhm wurde in der Folge dem Staat einträglich. Denn wer einen ungewöhnlich schlimmen Handel von einiger Wichtigkeit hatte, verschrieb sich einen abderitischen Sykophanten; und es müßte nicht natürlich zugegangen sein, wenn der Sykophant eher von einem solchen Clienten abgelassen hätte, bis nichts mehr an ihm zu saugen übrig war.

Doch dies war noch nicht der größte Vorteil, den die Abderiten von ihren Sykophanten zogen. Was diese Leute in ihren Augen am vorzüglichsten machte, war – die Bequemlichkeit, eine jede Schelmerei ausführen zu können, ohne sich selbst dabei bemühen zu müssen, oder sich mit der Justiz abzuwerfen. Man brauchte die Sache nur einem Sykophanten zu übergeben, so konnte man, gewöhnlicher Weise, des Ausgangs wegen ruhig sein. Ich sage gewöhnlicher Weise; denn freilich gab es, mitunter, auch Fälle, wo der Sykophant, nachdem er sich erst von seinem Clienten wohl hatte bezahlen lassen, gleichwohl heimlich dem Gegenteil zu seinem Rechte verhalf; aber dies geschah auch niemals, als wenn dieser wenigstens zween Drittel mehr gab als der Client.

Übrigens konnte man nichts erbaulichers sehen als das gute Vernehmen, worin zu Abdera die Sykophanten mit den Magistratspersonen stunden. Die einzigen, die sich übel bei dieser Eintracht befanden, waren – die Clienten. Bei allen andern Unternehmungen, so gefährlich und gewagt sie auch immer sein mögen, bleibt doch wenigstens eine Möglichkeit, mit ganzer Haut davon zu kommen. Aber ein abderitischer Client war immer gewiß, um sein Geld zu kommen, er mochte seinen Handel gewinnen oder verlieren. Nun rechteten die Leute zwar darum weder mehr noch weniger; allein ihre Justiz kam dabei in einen Ruf, gegen welchen nur Abderiten gleichgültig sein konnten. Denn es wurde zu einem Sprüchwort in Griechenland, demjenigen, dem man das Ärgste an den Hals wünschen wollte, einen Proceß in Abdera zu wünschen.

Aber, beinahe hätten wir über den Sykophanten vergessen, daß die Rede von den Absichten des Ratsherrn Thrasyllus auf das Vermögen unsers Philosophen, und von den Mitteln war, wodurch er seinen vorhabenden Raub unter dem Schutze der Gesetze zu begehen versuchen wollte.

Um den geneigten Leser mit keiner langweiligen Umständlichkeit aufzuhalten, begnügen wir uns zu sagen, daß Thrasyllus die Sache seinem Sykophanten auftrug. Es war einer von den geschicktesten in ganz Abdera; ein Mann, der die gemeinen Kunstgriffe seiner Mitbrüder verachtete, und sich viel darauf zu gut tat, daß er, seitdem er sein edles Handwerk trieb, ein paar hundert schlimme Händel gewonnen hatte, ohne jemals eine einzige directe Lüge zu sagen. Er steifte sich auf lauter unleugbare Facta; aber seine Stärke lag in der Zusammensetzung und im Helldunkeln. Demokritus hätte in keine bessern Hände fallen können. Wir bedauren nur, daß wir, weil die Acten des ganzen Processes längst von Mäusen gefressen worden, außer Stande sind, jungen neuangehenden Sykophanten zum Besten, die Rede vollständig mitzuteilen, worin dieser Meister in der Kunst dem großen Rate zu Abdera bewies: daß Demokritus seines Vermögens entsetzt werden müsse. Alles, was von dieser Rede übrig geblieben, ist ein kleines Fragment, welches uns merkwürdig genug scheint, um, zur Probe, wie diese Herren eine Sache zu wenden pflegten, ein paar Blätter in dieser Geschichte einzunehmen.

»Die größten, die gefährlichsten, die unerträglichsten aller Narren (sagte er) sind die raisonnierenden Narren. Ohne weniger Narren zu sein als andre, verbergen sie dem undenkenden Haufen die Zerrüttung ihres Kopfes durch die Fertigkeit ihrer Zunge, und werden für weise gehalten, weil sie zusammenhangender rasen als ihre Mitbrüder im Tollhause. Ein ungelehrter Narr ist verloren, so bald es so weit mit ihm gekommen ist, daß er Unsinn spricht. Bei dem gelehrten Narren hingegen sehen wir gerade das Widerspiel. Sein Glück ist gemacht und sein Ruhm befestiget, so bald er Unsinn zu reden oder zu schreiben anfängt. Denn die meisten, wiewohl sie sich ganz eigentlich bewußt sind, daß sie nichts davon verstehen, sind entweder zu mißtrauisch gegen ihren eigenen Verstand, um gewahr zu werden, daß die Schuld nicht an ihnen liegt; oder zu dumm, um es zu merken, und also zu eitel, um zu gestehen, daß sie nichts verstanden haben. Je mehr also der gelehrte Narr Unsinn spricht, desto lauter schreien die dummen Narren über Wunder; desto emsiger verdrehen sie sich die Köpfe, um Sinn in dem hochtönenden Unsinn zu finden. Jener, gleich einem durch den öffentlichen Beifall angefrischten Luftspringer, tut immer desto verwegnere Sätze, je mehr ihm zugeklatscht wird. Diese klatschen immer stärker, um den gelehrten Gaukler noch größere Wunder tun zu sehen. Und so geschieht es oft, daß der Schwindelgeist eines Einzigen ein ganzes Volk ergreift; und daß, so lange die Mode des Unsinns dauert, dem nämlichen Manne Altäre aufgerichtet werden, den man zu einer andern Zeit, ohne viele Umstände mit ihm zu machen, in einem Hospital versorgt haben würde. Glücklicher Weise für unsere gute Stadt Abdera ist es so weit mit uns noch nicht gekommen. Wir erkennen und bekennen alle aus einem Munde, daß Demokritus ein Sonderling, ein Phantast, ein Grillenfänger ist. Aber wir begnügen uns über ihn zu lachen; und dies ist es eben, worin wir fehlen. Itzt lachen wir über ihn; aber wie lange wird es währen, so werden wir anfangen, etwas Außerordentliches in seiner Narrheit zu finden? Vom Erstaunen zum Bewundern ist nur ein Schritt; und haben wir diesen erst getan – Götter! wer wird uns sagen können, wo wir aufhören werden? – Demokritus ist ein Phantast, sprechen wir itzt und lachen. Aber was für ein Phantast ist Demokritus, ein eingebildeter starker Geist; ein Spötter unsrer uralten Gebräuche und Einrichtungen; ein Müßiggänger, dessen Beschäftigungen dem Staate nicht mehr Nutzen bringen, als wenn er gar nichts täte; ein Mann, der Katzen zergliedert, der die Sprache der Vögel versteht, und den Stein der Weisen sucht; ein Nekromant, ein Schmetterlingsjäger, ein Sterngucker! – Und wir können noch zweifeln, ob er eine dunkle Kammer verdient? Was würde aus Abdera werden, wenn seine Narrheit endlich ansteckend würde? Wollen wir lieber die Folgen eines so großen Übels erwarten, als das einzige Mittel vorkehren, wodurch wir es verhüten könnten? Zu unserm Glücke gehen die Gesetze dieses Mittel an die Hand. Es ist einfach; es ist rechtmäßig; es ist unfehlbar. Ein dunkles Kämmerchen, Hochweise Väter, ein dunkles Kämmerchen! So sind wir auf einmal außer Gefahr, und Demokritus mag rasen so viel ihm beliebt.

Aber, sagen seine Freunde – denn so weit ist es schon mit uns gekommen, daß ein Mann, den wir alle für unsinnig halten, Freunde unter uns hat – Aber, sagen sie, wo sind die Beweise, daß seine Narrheit schon zu jenem Grade gestiegen ist, den die Gesetze zu einem dunkeln Kämmerchen erfodern? – Wahrhaftig! wenn wir, nach allem was wir schon wissen, noch Beweise fodern: so wird er glühende Kohlen für Goldstücke ansehen, oder die Sonne am Mittag mit einer Laterne suchen müssen, wenn wir überzeugt werden sollen. Hat er nicht behauptet, daß die Liebesgöttin in Aethiopien schwarz sei? Hat er unsre Weiber nicht bereden wollen, nackend zu gehen wie die Weiber der Gymnosophisten? Versicherte er nicht neulich in einer großen Gesellschaft, die Sonne stehe still, die Erde überwälze sich dreihundert und fünf und sechzigmal des Jahrs durch den Tierkreis; und die Ursache, warum wir nicht ins Leere hinausfallen, sei, weil mitten in der Erde ein großer Magnet liege, der uns, gleich eben so viel Feilspänen, anziehe, wiewohl wir nicht von Eisen sind? Doch, ich will gerne zugeben, daß dies alles Kleinigkeiten sind. Man kann närrische Dinge reden, und kluge tun. Wollte Latona, daß der Philosoph sich in diesem Falle befände! Aber (mir ist leid, daß ich es sagen muß) seine Handlungen setzen einen so ungewöhnlichen Grad von Wahnwitz voraus, daß alle Niesewurz in der Welt zu wenig sein würde, das Gehirn zu reinigen, worin sie ausgeheckt werden. Um die Geduld des erlauchten Senats nicht zu ermüden, will ich aus unzähligen Beispielen nur zwei anführen, deren Gewißheit gerichtlich erwiesen werden kann, falls sie ihrer Unglaublichkeit wegen in Zweifel gezogen werden sollten.

Vor einiger Zeit wurden unserm Philosophen Feigen vorgesetzt, die, wie es ihm deuchte, einen ganz besondern Honiggeschmack hatten. Die Sache schien ihm von Wichtigkeit zu sein. Er stund vom Tisch auf, ging in den Garten, ließ sich den Baum zeigen, von welchem die Feigen gelesen worden waren, untersuchte den Baum von unten bis oben, ließ ihn bis an die Wurzeln aufgraben, erforschte die Erde, worin er stund, und (wie ich nicht zweifle) auch die Constellation, in der er gepflanzt worden war. Kurz, er zerbrach sich etliche Tage lang den Kopf darüber, wie und welchergestalt die Atomen sich mit einander vergleichen müßten, wenn eine Feige nach Honig schmecken sollte. Er ersann eine Hypothese, verwarf sie wieder; fand eine andre, dann die dritte und vierte; und verwarf alle wieder, weil ihm keine scharfsinnig und gelehrt genug zu sein schien. Die Sache lag ihm so sehr am Herzen, daß er Schlaf und Essenslust darüber verlor. Endlich erbarmte sich seine Köchin über ihn. Herr, sagte die Köchin, wenn Sie nicht so gelehrt wären, so hätte Ihnen wohl längst einfallen müssen, warum die Feigen nach Honig schmeckten. – Und warum denn' fragte Demokritus. Ich legte sie, um sie frischer zu erhalten, in einen Topf, worin Honig gewesen war, sagte die Köchin; dies ist das ganze Geheimnis, und da ist weiter nichts zu untersuchen, dächt' ich – Du bist ein dummes Tier, rief der mondsüchtige Philosoph. Eine feine Erklärung, die du mir da gibst! Für Geschöpfe deines gleichen mag sie vielleicht gut genug sein; aber meinst du, daß wir andern uns mit so einfältigen Erklärungen befriedigen lassen, Gesetzt, die Sache verhielte sich wie du sagst; was geht das mich an? Dein Honigtopf soll mich wahrlich nicht abhalten, nachzuforschen, wie die nämliche Naturbegebenheit auch ohne Honigtopf hätte erfolgen können. Und so fuhr der weise Mann fort, der Vernunft und seiner Köchin zu Trotz, eine Ursache, die nicht tiefer als in einem Honigtopfe lag, in dem unergründlichen Brunnen zu suchen, worin (seinem Vorgehen nach) die Wahrheit verborgen liegt; bis eine andre Grille, die seiner Phantasie in den Wurf kam, ihn zu andern vielleicht noch ungereimteren Nachforschungen verleitete.

Doch, so lächerlich diese Anekdote ist, so ist sie doch nichts gegen die Probe von Klugheit, die er ablegte, als im abgewichenen Jahre die Oliven in Thracien und allen angrenzenden Gegenden mißgeraten waren. Demokritus hatte das Jahr zuvor (ich weiß nicht, ob durch Punctation oder andre magische Künste) herausgebracht: daß die Oliven, die damals sehr wohlfeil waren, im folgenden Jahre gänzlich fehlen würden. Ein solches Vor wissen würde hinlänglich sein, das Glück eines vernünftigen Mannes auf seine ganze Lebenszeit zu machen. Auch hatte es Anfangs das Ansehen, als ob Demokritus diese Gelegenheit nicht entwischen lassen wollte; denn er kaufte alles Öl im ganzen Lande zusammen. Ein Jahr darauf stieg der Preis des Öls, teils des Mißwachses wegen, teils weil aller Vorrat in Demokritus Händen war, viermal so hoch als es ihm gekostet hatte. Nun gehe ich allen Leuten, welche wissen, daß Viere viermal mehr als Eins sind, zu erraten, was der Mann tat? – Können Sie sich vorstellen, daß er unsinnig genug war, seinen Verkäufern ihr Öl um den nämlichen Preis, wie er es von ihnen erhandelt hatte, zurückzugeben? f46) Wir wissen auch, wie weit die Großmut bei einem Menschen, der seiner Sinne mächtig ist, gehen kann. Aber diese Tat lag so weit außer den Grenzen der Glaubwürdigkeit, daß die Leute, die dabei gewannen, selbst die Köpfe schüttelten, und gegen den Verstand des Mannes, der einen Haufen Gold für einen Haufen Nußschalen ansah, Zweifel bekamen, die, zum Unglück für seine Erben, nur zu wohl gegründet waren.«

Fünftes Kapitel
Die Sache wird auf ein medicinisches Gutachten ausgestellt
Der Senat läßt ein Schreiben an den Hippokrates abgehen
Der Arzt kommt in Abdera an, erscheint vor Rat, wird vom Ratsherrn Thrasyllus zu einem Gastgebot gebeten, und hat – Langeweile
Ein Beispiel, daß ein Beutel voll Dariken nicht bei allen Leuten anschlägt

So weit geht das Fragment; und wenn man von einem so kleinen Teile auf das Ganze schließen könnte: so hätte der Sykophant allerdings mehr als einen Korb voll Feigen von dem Ratsherrn Thrasyllus verdient. Seine Schuld war es wenigstens nicht, wenn der hohe Senat von Abdera unsern Philosophen nicht zu einem dunkeln Kämmerchen verurteilte. Aber Thrasyllus hatte Mißgönner im Senate; und Meister Pfrieme, der inzwischen Zunftmeister worden war, behauptete mit großem Eifer: daß es wider die Freiheit von Abdera laufen würde, einen Bürger für wahnwitzig zu erklären, eh' er von einem unparteiischen Arzte so befunden worden sei. »Wohl, rief Thrasyllus, meinetwegen kann man den Hippokrates selbst über die Sache sprechen lassen! Ich bins wohl zufrieden.«

Sagten wir nicht oben, daß die Dummheit des Ratsherrn Thrasyllus seiner Bosheit die Waage gehalten habe? – Es war ein dummer Streich von ihm, sich in einer so mißlichen Sache auf den Hippokrates zu berufen. Aber freilich fiel es ihm auch nicht ein, daß man ihn beim Worte nehmen würde.

Hippokrates, sagte der Archon, ist allerdings der Mann, der uns am besten aus diesem bedenklichen Handel ziehen könnte. Zu gutem Glück befindet er sich eben zu Thasos; vielleicht läßt er sich bewegen, zu uns herüber zu kommen, wenn wir ihn im Namen der Republik einladen lassen.

Thrasyllus entfärbte sich ein wenig, da er hörte, daß man Ernst aus der Sache machen wollte. Aber die Mehrheit der Stimmen fiel dem Archon bei. Man schickte unverzüglich einen Deputierten mit einem Einladungsschreiben f47) an den Arzt ab, und brachte den Rest der Session damit zu, sich über die Ehrenbezeugungen zu beratschlagen, womit man ihn empfangen wollte.

»Dies war doch so abderitisch nicht« – werden die Ärzte denken, die sich vielleicht unter unsern Lesern befinden. Aber wo sagten wir denn, daß die Abderiten gar nichts getan hätten, was auch einem vernünftigen Volke anständig sein würde? Indessen lag doch der wahre Grund, warum sie dem Hippokrates so viel Ehre erweisen wollten, keinesweges in der Hochachtung, die sie für ihn empfanden; sondern lediglich in der Eitelkeit, für Leute gehalten zu werden, die einen großen Mann zu schätzen wüßten. Und überdies, merkten wir nicht schon bei einer andern Gelegenheit an, daß sie von je her außerordentliche Liebhaber von Feierlichkeiten gewesen?

Die Abgeordneten hatten Befehl, dem Hippokrates nichts weiter zu sagen, als daß der Senat von Abdera seiner Gegenwart und seines Ausspruchs in einer sehr wichtigen Angelegenheit vonnöten habe; und Hippokrates konnte sich, mit aller seiner Philosophie, nicht einbilden, was für eine wichtige Sache dies sein könnte. Denn wozu (dacht' er) haben sie nötig, ein Geheimnis daraus zu machen? Der Senat von Abdera kann doch schwerlich in Corpore mit einer Krankheit befallen sein, die man nicht gerne kund werden läßt?

Indessen entschloß er sich um so williger zu dieser Reise, weil er schon lange gewünscht hatte, unsern Philosophen persönlich kennen zu lernen. Aber wie groß war sein Erstaunen, da ihm nachdem er mit großem Gepränge eingeholt, und vor den versammelten Rat geführt worden war, – von dem regierenden Archon in einer wohlgesetzten Rede zu wissen gemacht wurde: »daß man ihn bloß darum nach Abdera berufen habe, um die Wahnsinnigkeit ihres Mitbürgers Demokritus zu untersuchen, und gutächtlich zu berichten, ob ihm noch geholfen werden könne, oder ob es nicht schon so weit mit ihm gekommen sei, daß man ihn ohne Bedenken für bürgerlich tot erklären könne?« –

Dies muß ein andrer Demokritus sein, dachte der Arzt Anfangs. Aber die Herren von Abdera ließen ihn nicht lange in Zweifel. Gut, gut, sprach er bei sich selbst: bin ich nicht in Abdera? Wie man auch so was vergessen kann!

Hippokrates ließ ihnen nichts von seinem Erstaunen merken. Er begnügte sich, den Senat und das Volk von Abdera zu loben, daß sie eine so große Empfindung von dem Wert eines Mitbürgers, wie Demokritus, hätten, um seine Gesundheit als eine Sache, woran dem gemeinen Wesen gelegen sei, anzusehen. »Wahnwitz (sagte er mit großer Ernsthaftigkeit) ist ein Punkt, worin die größten Geister und die größten Schöpse zuweilen zusammentreffen. Wir wollen sehen!«

Thrasyllus lud den Arzt zur Tafel ein, und hatte die Höflichkeit, ihm die feinsten Herren und die schönsten Frauen in der Stadt zur Gesellschaft zu gehen. Aber Hippokrates, der ein kurzes Gesicht und keine Lorgnette f48) hatte, wurde nicht gewahr, daß die Damen schön waren; und so kam es denn (ohne Schuld der guten Geschöpfe, die sich, zum Überfluß, in die Wette herausgeputzt hatten), daß sie nicht völlig den Eindruck auf ihn machten, den sie sich sonst versprechen konnten. Es war wirklich Schade, daß er nicht besser sah. Für einen Mann von Verstande ist der Anblick einer schönen Frau allemal etwas sehr unterhaltendes. Und wofern die schöne Frau etwas dummes sagt, (welches den schönen Frauen zuweilen so gut begegnen soll als den häßlichen,) macht es einen merklichen Unterschied, ob man sie nur hört, oder ob man sie zugleich sieht. Denn im letzten Falle ist man immer geneigt, alles, was sie sagen kann, vernünftig, oder artig, oder wenigstens erträglich zu finden. Da die Abderitinnen diesen Vorteil bei dem kurzsichtigen Fremden verloren; da er genötiget war, von ihrer Schönheit durch den Eindruck, den sie auf seine Ohren machten, zu urteilen: so war freilich nichts natürlicher, als daß der Begriff, den er dadurch von ihnen bekam, demjenigen ziemlich ähnlich war, den sich ein Tauber mittelst eines Paars gesunder Augen von einem Concerte machen würde. –

»Wer ist die Dame, die itzt mit dem witzigen Herrn sprach?« fragte er den Thrasyllus leise. – Man nannte ihm die Gemahlin eines Matadors der Republik. – Er betrachtete sie nun mit neuer Aufmerksamkeit. Verzweifelt! (dacht er bei sich selbst,) daß ich mir die verwünschte Austerfrau nicht aus dem Kopfe bringen kann, die ich neulich vor meinem Hause zu Larissa mit einem molossischen Eseltreiber scherzen hörte.

Thrasyllus hatte geheime Absichten auf unsern Aeskulap. Seine Tafel war gut, sein Wein verführerisch, und zum Überfluß ließ er milesische Tänzerinnen kommen. Aber Hippokrates aß wenig, trank Wasser, und hatte in Aspasiens Hause zu Athen weit schönere Tänzerinnen gesehen. Es wollte alles nichts verfangen. Dem weisen Manne begegnete etwas, das ihm vielleicht in vielen Jahren nicht begegnet war: er hatte Langeweile, und es schien ihm nicht der Mühe wert, es den Abderiten zu verbergen.

Die Abderitinnen bemerkten also, ohne großen Aufwand von Beobachtungskraft, was er ihnen deutlich genug sehen ließ; und natürlicher Weise waren die Glossen, so sie darüber machten, nicht zu seinem Vorteil. Er soll sehr gelehrt sein, flisterten sie einander zu. Schade, daß er nicht mehr Welt hat! – Was ich gewiß weiß, ist dies, daß mir der Einfall nie kommen wird, ihm zu Liebe krank zu werden, sagte die schöne Thryallis.

Thrasyllus machte inzwischen Betrachtungen von einer andern Art. So ein großer Mann dieser Hippokrates sein mag, dacht' er, so muß er doch seine schwache Seite haben. Aus den Ehrenbezeugungen, womit ihn der Senat überhäufte, schien er sich nicht viel zu machen. Das Vergnügen liebt er auch nicht. Aber ich wette, daß ihm ein Beutel voll neuer funkelnder Dariken diese sauertöpfische Miene vertreiben soll!

So bald die Tafel aufgehoben war, schritt Thrasyllus zum Werke. Er nahm den Arzt auf die Seite, und bemühte sich (unter Bezeugung des großen Anteils, den er an dem unglücklichen Zustande seines Verwandten nehme,) ihn zu überzeugen: daß die Zerrüttung seines Gehirns eine so kundbare und ausgemachte Sache sei, daß nichts, als die Pflicht, allen Formalitäten der Gesetze genug zu tun, den Senat bewogen habe, eine Tatsache, woran niemand zweifle, noch zum Überfluß durch den Ausspruch eines auswärtigen Arztes bestätigen zu lassen. »Da man Sie aber gleich wohl in die Mühe gesetzt hat, eine Reise zu uns zu tun, die Sie vermutlich ohne diese Veranlassung nicht unternommen haben würden: so ist nichts billiger, als daß derjenige, den die Sache am nächsten angeht, Sie wegen des Verlustes, den Sie durch Verabsäumung Ihrer Geschäfte dabei erleiden, in etwas schadlos halte. Nehmen Sie diese Kleinigkeit als ein Unterpfand einer Dankbarkeit an, von welcher ich Ihnen stärkere Beweise zu geben hoffe –«

Ein ziemlich runder Beutel, den Thrasyllus bei diesen Worten dem Arzt in die Hand drückte, brachte diesen aus der Zerstreuung zurück, womit er die Rede des Ratsherrn angehört hatte. »Was wollen Sie, daß ich mit diesem Beutel machen soll?« fragte Hippokrates mit einem Phlegma, welches den Abderiten völlig aus der Fassung setzte – »Sie wollten ihn vermutlich ihrem Haushofmeister geben. Sind Ihnen solche Zerstreuungen gewöhnlich, Wenn dies wäre, so wollt' ich Ihnen raten, Ihrem Arzte davon zu sagen – Aber Sie erinnerten mich vorhin an die Ursach, warum ich hier bin. Ich danke Ihnen dafür. Mein Aufenthalt kann nur sehr kurz sein; und ich darf den Besuch nicht länger aufschieben, den ich, wie Sie wissen, dem Demokritus schuldig bin.« Mit diesen Worten machte der Aeskulap seine Verbeugung, und verschwand.

Der Ratmann hatte in seinem Leben nie so dumm ausgesehen als in diesem Augenblick. – Wie hätte sich aber auch ein abderitischer Ratsherr einfallen lassen sollen, daß ihm so etwas begegnen könnte? Dies sind doch keine Zufälle, auf die man sich gefaßt hält!

Sechstes Kapitel
Hippokrates legt einen Besuch beim Demokritus ab
Geheimnachrichten von dem uralten Orden der Kosmopoliten

Hippokrates traf, wie die Geschichte sagt, unsern Naturforscher bei der Zergliederung verschiedener Tiere an, deren innerlichen Bau und animalische Oekonomie er untersuchen wollte, um vielleicht auf die Ursachen gewisser Verschiedenheiten in ihren Eigenschaften und Neigungen zu kommen. Diese Beschäftigung bot ihnen reichen Stoff zu einer Unterredung an, welche den Demokritus nicht lang über die Person des Fremden ungewiß ließ. Ihr gegenseitiges Vergnügen über eine so unvermutete Zusammenkunft war der Größe ihres beiderseitigen Wertes gleich, aber auf Demokrits Seite um so viel lebhafter, je länger er in seiner Abgeschiedenheit von der Welt des Umgangs mit einem Wesen seiner Art hatte entbehren müssen.

Es gibt eine Art von Sterblichen, deren schon von den Alten hier und da unter dem Namen der Kosmopoliten Erwähnung getan wird, und die – ohne Verabredung, ohne Ordenszeichen, ohne Loge zu halten, und ohne durch Eidschwüre gefesselt zu sein – eine Art von Brüderschaft ausmachen, welche fester zusammenhängt als irgend ein anderer Orden in der Welt. Zween Kosmopoliten kommen, der eine von Osten, der andere von Westen, sehen einander zum erstenmale, und sind Freunde – nicht vermöge einer geheimen Sympathie, die vielleicht nur in Romanen zu finden ist; – nicht, weil beschworne Pflichten sie dazu verbinden – sondern, weil sie Kosmopoliten sind. In jedem andern Orden gibt es auch falsche oder wenigstens unwürdige Brüder; in dem Orden der Kosmopoliten ist dies eine Unmöglichkeit, und dies ist, deucht uns, kein geringer Vorzug der Kosmopoliten vor allen andern Gesellschaften, Gemeinheiten, Innungen, Orden und Brüderschaften in der Welt. Denn wo ist eine von allen diesen, welche sich rühmen könnte, daß sich niemals kein Ehrsüchtiger, kein Neidischer, kein Geiziger, kein Wucherer, kein Verleumder, kein Prahler, kein Heuchler, kein Zweizüngiger, kein heimlicher Ankläger, kein Undankbarer, kein Kuppler, kein Schmeichler, kein Schmarotzer, kein Sklave, kein Mensch ohne Kopf oder ohne Herz, kein Pedant, kein Mückensäuger kein Verfolger, kein falscher Prophet, kein Heuchler, kein Gaukler, kein Plusmacher und kein Hofnarr in ihrem Mittel befunden habe? Die Kosmopoliten sind die einzigen, die sich dessen rühmen können. Ihre Gesellschaft hat nicht vonnöten, durch geheimnisvolle Ceremonien und abschreckende Gebräuche, wie ehmals die ägyptischen Priester, die Unreinen von sich auszuschließen. Diese schließen sich selbst aus; und man kann eben so wenig ein Kosmopolit scheinen, wenn man es nicht ist, als man sich ohne Talent für einen guten Sänger oder Geiger ausgeben kann. Der Betrug würde an den Tag kommen, so bald man sich hören lassen müßte. Die Art, wie die Kosmopoliten denken, ihre Grundsätze, ihre Gesinnungen, ihre Sprache, ihr Phlegma, ihre Wärme, sogar ihre Launen, Schwachheiten und Fehler, lassen sich unmöglich nachmachen, weil sie für alle, die nicht zu ihrem Orden gehören, ein wahres Geheimnis sind. Nicht ein Geheimnis, das von der Verschwiegenheit der Mitglieder, oder von ihrer Vorsichtigkeit, nicht behorcht zu werden, abhängt sondern ein Geheimnis, auf welches die Natur selbst ihren Schieier gedeckt hat. Denn die Kosmopoliten könnten es ohne Bedenken bei Trompetenschall durch die ganze Welt auskündigen lassen; sie dürften sicher darauf rechnen, daß außer ihnen selbst kein Mensch etwas davon begreifen würde. Bei dieser Bewandtnis der Sache ist nichts natürlicher, als das innige Einverständnis, und das gegenseitige Zutrauen, das sich unter zween Kosmopoliten sogleich in der ersten Stunde ihrer Bekanntschaft festsetzt. Pylades und Orestes waren, nach einer zwanzigjährigen Dauer ihrer durch alle Arten von Prüfungen und Opfern bewährten Freundschaft, nicht mehr Freunde, als es jene von dem Augenblick an, da sie einander erkennen, sind. Ihre Freundschaft hat nicht vonnöten, durch die Zeit zur Reife gebracht zu werden; sie bedarf keiner Prüfungen; sie gründet sich auf das notwendigste aller Naturgesetze, auf die Notwendigkeit, uns selbst in demjenigen zu lieben, der uns am ähnlichsten ist.

Man würde etwas, wo nicht unmögliches, doch gewiß ungereimtes, von uns verlangen, wenn man erwartete, daß wir uns über das Geheimnis der Kosmopoliten deutlicher herauslassen sollten. Denn es gehört (wie wir deutlich genug zu vernehmen gegeben haben,) zur Natur der Sache, daß alles, was man davon sagen kann, ein Rätsel ist, wozu nur die Glieder dieses Ordens den Schlüssel haben. Das einzige, was wir noch hinzusetzen können, ist, daß ihre Anzahl zu allen Zeiten sehr klein gewesen, und daß sie, ungeachtet der Unsichtbarkeit ihrer Gesellschaft, einen Einfluß in die Dinge dieser Welt haben, dessen Wirkungen desto gewisser und dauerhafter sind, weil sie kein Geräusch machen, und meistens durch Mittel erzielt werden, deren scheinbare Direction die Augen der Menge irre macht. Wem dies ein neues Rätsel ist – den ersuchen wir lieber fortzulesen, als sich mit einer Sache, die ihn so wenig angeht, ohne Not den Kopf zu zerbrechen.

Demokritus und Hippokrates gehörten beide zu dieser wunderbaren und seltnen Art von Menschen. Sie waren also schon lange, wiewohl unbekannter Weise, die vertrautesten Freunde gewesen; und ihre Zusammenkunft glich viel mehr dem Wiedersehen nach einer langen Trennung, als einer neuangehenden Verbindung. Ihre Gespräche, nach welchen der Leser vielleicht begierig ist, waren vermutlich interessant genug, um der Mitteilung wert zu sein. Aber sie würden uns zu weit von den Abderiten entfernen, die der eigentliche Gegenstand dieser Geschichte sind. Alles, was wir davon zu sagen haben, ist: daß unsre Kosmopoliten den ganzen Abend und den größten Teil der Nacht in einer Unterredung zubrachten, wobei ihnen die Zeit sehr kurz wurde, und daß sie ihrer Gegenfüßler, der Abderiten, und ihres Senats, und der Ursache, warum sie den Hippokrates hatten kommen lassen, so gänzlich darüber vergaßen, als ob niemals so ein Ort und solche Leute in der Welt gewesen wären.

Erst des folgenden Morgens, da sie, nach einem leichten Schlaf von wenigen Stunden, wieder zusammenkamen, um auf einer an die Gärten des Demokritus grenzenden Anhöhe der Morgenluft zu genießen, erinnerte der Anblick der unter ihnen im Sonnenglanz liegenden Stadt den Hippokrates, daß er in Abdera Geschäfte habe. »Kannst du wohl erraten, sagte er zu seinem Freunde, zu welchem Ende mich die Abderiten eingeladen haben?« –

Die Abderiten haben dich eingeladen, rief Demokritus. Ich hörte doch, diese Zeit her, von keiner Seuche, die unter ihnen wüte! Es ist zwar eine gewisse Erbkrankheit, mit der sie alle samt und sonders, bis auf sehr wenige, von alten Zeiten her behaftet sind; aber –

»Getroffen, getroffen, guter Demokritus! dies ist die Sache!« Du scherzest, erwiderte Demokritus; die Abderiten sollten zum Gefühl, wo es ihnen fehlte, gekommen sein? Ich kenne sie zu gut. Darin liegt eben ihre Krankheit, daß sie dies nicht fühlen.

»Indessen, sagte der Andre, ist nichts gewisser, als daß ich itzt nicht in Abdera wäre, wenn die Abderiten nicht von dem nämlichen Übel, wovon du sprichst, geplagt würden. Die armen Leute!«

Ach! nun versteh ich dich, versetzte der Philosoph – Deine Berufung konnte eine Wirkung ihrer Krankheit sein, ohne daß sie es wußten. Laß doch sehen! – Ha! da haben wirs. Ich wette alles in der Welt, sie haben dich kommen lassen, um dem ehrlichen Demokritus so viel Aderlässe und Niesewurz zu verordnen, als er vonnöten haben möchte, um ihres gleichen zu werden! Nicht wahr? –

»Du kennst deine Leute vortrefflich, wie ich sehe, Demokritus; und in der Tat, man muß so an ihre Narrheit gewöhnt sein wie du, um so kaltblütig davon zu sprechen.«

Als ob es nicht allenthalben Abderiten gäbe, sagte der Philosoph. –

»Aber Abderiten in diesem Grade! Vergib mir, wenn ich von deinem Vaterlande nicht mit so viel Nachsicht urteilen kann als du. Indessen versichre dich, sie sollen mich nicht umsonst zu sich berufen haben!«

Siebentes Kapitel
Hippokrates erteilt den Abderiten seinen gutächtlichen Rat
Große und gefährliche Bewegungen, die darüber im Senat entstehen, und wie, zum Glück für das abderitische Gemeinwesen, der Stundenweiser alles auf einmal wieder in Ordnung bringt

Die Zeit kam heran, wo der Aeskulap dem Senat von Abdera seinen Bericht erstatten sollte. Er kam, trat mitten unter die versammelten Väter, und sprach mit einer Wohlredenheit, die alle Anwesenden in Erstaunen setzte: »Friede sei mit Abdera! Edle, Veste, Fürsichtige und Weise, liebe Herren und Abderiten! Gestern lobte ich Sie wegen Ihrer Fürsorge für das Gehirn Ihres Mitbürgers Demokritus; und heute rate ich Ihnen wohlmeinend, diese Fürsorge auf Ihre ganze Stadt und Republik zu erstrecken. Gesund an Leib und Seele zu sein, ist das höchste Gut, das Sie sich selbst, Ihren Kindern und Ihren Bürgern verschaffen können; und dies wirklich zu tun, ist die erste Ihrer obrigkeitlichen Pflichten. So kurz mein Aufenthalt unter Ihnen ist, so ist er doch schon lang genug, um mich zu überzeugen, daß sich die Abderiten nicht so wohl befinden, als es zu wünschen wäre. Ich bin zwar zu Cos geboren, und wohne bald zu Athen, bald zu Larissa, bald anderswo; itzt zu Abdera, morgen vielleicht auf dem Wege nach Byzanz. Aber ich bin weder ein Coer noch ein Athenienser, weder ein Larisser noch Abderite; ich bin ein Arzt. So lange es Kranke auf dem Erdhoden gibt, ist meine Pflicht, so viel Gesunde zu machen als ich kann. Die gefährlichsten Kranken sind die, die nicht wissen, daß sie krank sind; und dies ist, wie ich finde, der Fall der Abderiten. Das Übel liegt für meine Kunst zu tief; aber was ich tun kann, um die Heilung vorzubereiten, ist dies! Senden Sie mit dem ersten guten Winde sechs große Schiffe nach Anticyra. Meinethalben können sie, mit welcherlei Waren es den Abderiten beliebt, dahin befrachtet werden; aber zu Anticyra lassen Sie alle sechs Schiffe so viel Niesewurz laden, als sie tragen können, ohne zu sinken. Man kann zwar auch Niesewurz aus Galatien haben, die etwas wohlfeiler ist; aber die von Anticyra ist die beste. Wenn die Schiffe angekommen sein werden: so lassen Sie das gesamte Volk auf Ihrem großen Markte versammeln; stellen Sie, mit ihrer ganzen Priesterschaft an der Spitze, einen feierlichen Umgang zu allen Tempeln in Abdera an, und bitten Sie die Götter, daß sie dem Senat und dem Volke zu Abdera geben möchten, was dem Senat und dem Volke zu Abdera fehlt. Sodann kehren Sie auf den Markt zurück, und teilen den sämtlichen Vorrat von Niesewurz, auf gemeiner Stadt Unkosten, unter alle Bürger aus; auf jeden Kopf sieben Pfund; nicht zu vergessen, daß den Ratsherren, welche (außerdem was sie für sich selbst gebrauchen) noch für so viele andre Verstand haben müssen, eine doppelte Portion gereicht werde! Die Portionen sind stark, ich gesteh es; aber eingewurzelte Übel sind hartnäckig, und können nur durch anhaltenden Gebrauch der Armei geheilt werden. Wenn Sie nun dieses Vorbereitungsmittel, nach der Vorschrift, die ich Ihnen geben will, durch die erforderliche Zeit gebraucht haben werden: dann überlasse ich Sie einem andern Arzte. Denn, wie ich sagte, die Krankheit der Abderiten liegt zu tief für meine Kunst. Ich kenne funfzig Meilen rings um Abdera nur einen einzigen Mann, der Ihnen von Grund aus helfen könnte, wenn Sie sich geduldig und folgsam in seine Cur begeben wollten. Der Mann nennt sich Demokritus, des Damasippus Sohn. Stoßen Sie sich nicht an dem Umstande, daß er zu Abdera geboren ist; er ist darum kein Abderit, dies können Sie mir auf mein Wort glauben; oder wenn Sie mir nicht glauben wollen, so fragen Sie den Apollo zu Delphi. Es ist ein gutherziger Mann, der sich ein Vergnügen daraus machen wird, Ihnen seine Dienste zu leisten. Und hiermit, meine Herren und Bürger von Abdera, empfehle ich Sie und Ihre Stadt den Göttern. Verachten Sie meinen Rat nicht, weil ich ihn umsonst gebe; es ist der beste, den ich jemals einem Kranken, der sich für gesund hielt, gegeben habe!«

Als Hippokrates dies gesagt hatte, machte er dem Senat eine höfliche Verbeugung, und ging seines Weges.

Niemals – sagt der Geschichtschreiber Hekatäus, ein desto glaubwürdigerer Zeuge, weil er selbst ein Abderite war f49) – niemals hat man zweihundert Menschen, alle zugleich, in einer so sonderbaren Attitüde gesehen, als diejenige des Senats von Abdera in diesem Augenblicke war; es müßten nur die zweihundert Phönicier sein, welche Perseus, durch den Anblick des Kopfs der Medusa, auf einmal in eben so viele Statuen verwandelte, als ihm ihr Anführer Phineus seine Geliebte und teuer erworbene Andromeda mit Gewalt wieder abjagen wollte f50). In der Tat hatten sie alle mögliche Ursachen von der Welt, auf etliche Minuten versteinert zu werden. Beschreiben zu wollen, was in ihren Seelen vorging, würde vergebliche Mühe sein. Nichts ging in ihnen vor; ihre Seelen waren so versteinert als ihre Leiber. Mit dummem sprachlosen Erstaunen sahen sie alle nach der Türe, durch welche der Aeskulap sich zurückgezogen hatte; und auf jedem Gesichte drückte sich zugleich die angestrengte Bemühung und das gänzliche Unvermögen aus, etwas von dieser Begebenheit zu begreifen. Endlich schienen sie nach und nach, einige früher, einige später, wieder zu sich selbst zu kommen. Sie sahen einander mit großen Augen an; funfzig Mäuler öffneten sich zugleich zu der nämlichen Frage, und fielen wieder zu, weil sie sich aufgetan hatten, eh sie wußten was sie fragen wollten. Zum Henker, meine Herren, rief endlich der Zunftmeister Pfrieme, ich glaube gar, der Quacksalber hat uns mit seiner doppelten Portion Niesewurz zum Narren! – Ich versah mir gleich vom Anfang nichts gutes zu ihm, sagte Thrasyllus. – Meiner Frau wollt' er gestern gar nicht einleuchten, sprach der Ratsherr Smilax. – Ich dachte gleich es würde übel ablaufen, wie er von den sechs Schiffen sprach, die wir nach Anticyra senden sollten, sagte ein Anderer. – Und die verdammte Ernsthaftigkeit, womit er uns alles das vordeclamierte, rief ein Dritter; ich gestehe, daß ich mir gar nicht einbilden konnte, wo es hinaus laufen würde. – Ha, ha, ha, ein lustiger Zufall, so wahr ich ehrlich bin, sagte der kleine dicke Ratsherr, indem er sich vor Lachen den Bauch hielt: gestehen wir, daß wir fein abgeführt sind! Ein verzweifelter Streich! Das hätt' uns nicht begegnen sollen! Ha, ha, ha! – Aber wer konnte sich auch zu einem solchen Manne so etwas versehen? rief der Nomophylax. – Ganz gewiß ist er auch einer von euern Philosophen, sagte Meister Pfrieme; der Priester Strobylus hat wahrlich so unrecht nicht; wenn es nicht wider unsre Freiheiten wäre, so wollt' ich der erste sein, der darauf antrüge, daß man alle diese Spitzköpfe zum Lande hinaus jagte.

»Meine Herren, fing itzt der Archon an; die Ehre der Stadt Abdera ist angegriffen, und anstatt daß wir hier sitzen und uns verwundern, oder Glossen machen, sollten wir mit Ernst darauf denken, was uns in einer so kitzlichen Sache zu tun gezieme. Vor allen Dingen sehe man, wo Hippokrates hingekommen ist!«

Ein Ratsdiener, der zu diesem Ende abgeschickt wurde, kam nach einer ziemlichen Weile mit der Nachricht zurück, daß er nirgends mehr anzutreffen sei.

Ein verfluchter Streich, riefen die Ratsherren aus einem Munde; wenn er uns nun entwischt wäre! – Er wird doch kein Hexenmeister sein, sagte der Zunftmeister Pfrieme, indem er nach einem Amulet sah, das er gewöhnlich zu seiner Sicherheit gegen böse Geister und böse Augen bei sich zu tragen pflegte.

Bald darauf wurde berichtet, daß man den fremden Herrn auf seinem Maulesel ganz gelassen hinter dem Tempel der Dioskuren dem Landgute des Demokritus zu traben gesehen habe.

»Was ist nun zu tun, meine Herren?« sagte der Archon.

Ja – Allerdings! – was nun zu tun ist – was nun zu tun ist? – dies ist eben die Frage! riefen die Ratsherren indem sie einander ansahen. Nach einer langen Pause zeigte sich, daß die Herren nicht wußten, was nun zu tun war.

Der Mann steht in großem Ansehen beim Könige von Macedonien, fuhr der Archon fort; er wird im ganzen Griechenlande wie ein zweiter Aeskulap verehrt! Wir könnten uns leicht in böse Händel verwickeln, wenn wir einer, wiewohl gerechten, Empfindlichkeit Gehör geben wollten. Bei allem dem liegt mir die Ehre von Abdera-

Ohne Unterbrechung, Herr Archon! fiel ihm der Zunftmeister Pfrieme ein; die Ehre und Freiheit von Abdera kann niemanden näher am Herzen liegen als mir selbst. Aber, alles wohl überlegt, seh' ich wahrlich nicht, was die Ehre der Stadt mit dieser Begebenheit zu tun haben kann. Dieser Harpokratus oder Hypokritus, wie er sich nennt, ist ein Arzt; und ich habe mein Tage gehört, daß ein Arzt die ganze Welt für ein großes Siechhaus, und alle Menschen für seine Kranken ansieht. Ein jeder spricht und handelt wie ers versteht; und was einer wünscht, das glaubt er gerne. Hypokritus möcht' es, denk' ich, wohl leiden, wenn wir alle krank wären, damit er desto mehr zu heilen hätte. Nun denkt er, wenn ich sie nur erst dahin bringen kann, daß sie meine Arzeneien einnehmen, dann sollen sie mir krank genug werden. Ich heiße nicht Meister Pfrieme, wenn dies nicht das ganze Geheimnis ist.

Mein Seele! getroffen, rief der kleine dicke Ratsherr; weder mehr noch weniger! Der Kerl ist so närrisch nicht! – Ich wette, wenn er kann, so hängt er uns alle mögliche Flüsse und Fieber an den Hals, bloß damit er den Spaß habe, uns für unser Geld wieder gesund zu machen! Ha, ha, ha!

»Aber vierzehn Pfund Niesewurz auf jeden Ratsherrn! rief einer von den Ältesten, dessen Gehirn, nach seiner Miene zu urteilen, schon völlig ausgetrocknet sein mochte. Bei allen Fröschen der Latona, dies ist zu arg! Man muß beinahe auf den Argwohn kommen, daß etwas mehr dahinter steckt!«

Vierzehn Pfund Niesewurz auf jeden Ratsherrn! wiederholte Meister Pfrieme, und lachte aus vollem Halse-

Und für jeden Zunftmeister, setzte Smilax mit einem bedeutenden Ton hinzu.

Das bitt ich mir aus, rief Meister Pfrieme; er sagte kein Wort von Zunftmeistern.

Aber das versteht sich doch wohl von selbst, versetzte jener; Ratsherren und Zunftmeister, Zunftmeister und Ratsherren; ich sehe nicht, warum die Herren Zunftmeister hierin was besonders haben sollten.

Wie, was? rief Meister Pfrieme mit großem Eifer; ihr seht nicht, was die Zunftmeister vor den Ratsherren besonders haben? – Meine Herren, Sie haben es gehört! – Herr Stadtschreiber, ich bitt' es zum Protocoll zu nehmen.

Die Zunftmeister stunden alle mit großem Gebrumme von ihren Sitzen auf.

»Sagt' ich nicht, rief der alte hypochondrische Ratsmeister, daß etwas mehr hinter der Sache stecke? Ein geheimer Anschlag gegen die Aristokratie – Aber die Herren haben sich ein wenig zu früh verraten.«

Gegen die Aristokratie? schrie Pfrieme mit verdoppelter Stimme; gegen welche Aristokratie? Zum Henker, Herr Ratsmeister, seit wenn ist Abdera eine Aristokratie? Sind wir Zunftmeister etwan nur an die Wand hingemalt? Stellen wir nicht das Volk vor? Haben wir nicht seine Rechte und Freiheiten zu vertreten? Herr Stadtschreiber, zum Protocoll, daß ich gegen alles Widrige protestiere, und dem löblichen Zunftmeistertum sowohl als gemeiner Stadt Abdera-

Protestiert! protestiert! schrien die Zunftmeister alle zusammen.

Reprotestiert! reprotestiert! schrien die Ratsherren.

Der Lerm nahm überhand. »Meine Herren, rief der regierende Archon, so laut er konnte, was für ein Schwindel hat Sie überfallen? Ich bitte, bedenken Sie, wer Sie sind, und wo Sie sind! Was werden die Eierweiber und Obsthändlerinnen da unten von uns denken, wenn sie uns wie die Zahnbrecher schreien hören?«

Aber die Stimme der Weisheit verlor sich ungehört in dem betäubenden Getöse. Niemand hörte sein eigen Wort.

Zu gutem Glücke war es seit undenklichen Zeiten in Abdera gebräuchlich, auf den Punct zwölf Uhr durch die ganze Stadt zu, Mittag zu essen; und, vermöge der Ratsordnung mußte, so wie eine Stunde abgelaufen war, eine Art von Herold vor die Ratsstube treten, und die Stunde ausrufen.

Gnädige Herren, rief der Herold mit der Stimme des homerischen Stentors, die zwölfte Stunde ist vorbei!

»Stille; der Stundenrufer!« – Was rief er? – »Zwölfe, meine Herren, zwölfe vorbei!« – Schon zwölfe? – Schon vorbei? So ist es hohe Zeit!

Der größte Teil der gnädigen Herren war zu Gaste gebeten. Das glückliche Wort Zwölfe versetzte sie also auf einmal in eine Reihe angenehmer Vorstellungen, die mit dem Gegenstand ihres Zankes nicht in der mindesten Verbindung stunden. Schneller als die Figuren in einem Guckkasten sich verwandeln, stund eine große Tafel, mit einer Menge niedlicher Schüsseln bedeckt, vor ihrer Stirne, ihre Nasen weideten sich zum voraus an Düften von bester Vorbedeutung, ihre Ohren hörten das Geklapper der Teller, ihre Zunge kostete schon die leckerhaften Brühen, in deren Erfindung die abderitischen Köche mit einander wetteiferten: kurz, das unwesentliche Gastmahl beschäftigte alle Kräfte ihrer Seelen; und auf einmal war die Ruhe des abderitischen Staats wieder hergestellt.

»Wo werden Sie heute speisen?« – Bei Polyphonten – »Dahin bin ich auch geladen.« – Ich erfreue mich über die Ehre Ihrer Gesellschaft – »Sehr viel Ehre für mich!« – Was werden wir diesen Abend für eine Komödie haben? – »Die Andromeda des Euripides.« – Also ein Trauerspiel! – »O! mein Lieblingsstück! – Und eine Musik! Unter uns, der Nomophylax hat etliche Chöre selbst gesetzt; Sie werden Wunder hören!«

Unter so sanften Gesprächen erhuben sich die Väter von Abdera, in eilfertigem, aber friedsamen Gewimmel, vom Rathause; zu großer Verwunderung der Eierweiber und Obsthändlerinnen, welche kurz zuvor die Wände der Ratsstube von echtem thracischem Geschrei widerhallen gehört hatten.

Alles dies hatte man dir zu danken, wohltätiger Stundenrufer! Ohne deine glückliche Dazwischenkunft würde wahrscheinlicher Weise der Zank der Ratsherren und Zunftmeister, gleich dem Zorn des Achilles (so lächerlich auch seine Veranlassung war), in ein Feuer ausgebrochen sein, welches die schrecklichste Zerrüttung, wo nicht gar den Umsturz der Republik Abdera hätte verursachen können. – Wenn jemals ein Abderit mit einer öffentlichen Ehrensäule belohnt zu werden verdient hatte, so war es gewiß dieser Stundenrufer! Zwar muß man gestehen, der große Dienst, den er in diesem Augenblicke seiner Vaterstadt leistete, verliert seine ganze Verdienstlichkeit durch den einzigen Umstand, daß er nur zufälliger Weise nützlich wurde. Denn der ehrliche Mann dachte, da er zur gesetzten Zeit maschinenmäßig Zwölfe rief, an nichts weniger als an die unabsehbaren Übel, die er dadurch von dem gemeinen Wesen abwendete. Aber dagegen muß man auch bedenken, daß seit undenklichen Zeiten kein Abderite sich auf andre Weise um sein Vaterland verdient gemacht hatte. Wenn es sich daher zutrug, daß sie etwas verrichteten, das durch irgend einen glücklichen Zufall der Stadt nützlich wurde, so dankten sie den Göttern dafür; denn sie fühlten wohl, daß sie als bloße Werkzeuge oder gelegentliche Ursachen mitgewirkt hatten. Indessen ließen sie sich doch das Verdienst des Zufalls so gut bezahlen, als ob es ihr eigenes gewesen wäre; oder richtiger zu reden: eben weil sie sich keines eignen Verdiensts dabei bewußt waren, ließen sie sich das Gute, was der Zufall unter ihrem Namen tat, auf eben den Fuß bezahlen, wie ein Mauleseltreiber den täglichen Verdienst seines Esels einzieht.

Es versteht sich, daß die Rede hier bloß von Archonten, Ratsherren und Zunftmeistern ist. Denn der ehrliche Stundenrufer mochte sich Verdienste um die Republik machen so viel oder so wenig er wollte; er bekam seine sechs Pfennige des Tags in guter abderitischer Münze, und – Gott befohlen!



Drittes Buch
oder
Euripides unter den Abderiten

Erstes Kapitel
Die Abderiten machen sich fertig, in die Komödie zu gehen

Es war bei den Ratsherren von Abdera eine alte hergebrachte Gewohnheit und Sitte, die bei dem Rat verhandelten Materien unmittelbar darauf bei Tische (es sei nun daß sie Gesellschaft hatten, oder mit ihrer Familie allein speiseten) zu recapitulieren und zu einer reichen Quelle entweder von witzigen Einfällen und spaßhaften Anmerkungen, oder von patriotischen Stoßseufzern, Klagen, Wünschen, Träumen, Aussichten u.d.gl. zu machen; zumal wenn etwa in dem abgefaßten Ratsschluß die Verschwiegenheit ausdrücklich empfohlen worden war. Aber diesesmal wiewohl das Abenteuer der Abderiten mit dem Fürsten der Ärzte sonderbar genug war, um einen Platz in den Jahrbüchern ihrer Republik zu verdienen – wurde an allen Tafeln, wo ein Ratsherr oder Zunftmeister obenan saß, des Hippokrates und Demokritus eben so wenig gedacht, als ob gar keine Männer dieses Namens in der Welt gewesen wären. In diesem Stücke hatten die Abderiten einen ganz besondern Public-Spirit, und ein feineres Gefühl, als man ihnen in Betracht ihres gewöhnlichen Eigendünkels hätte zutrauen sollen. In der Tat konnte ihre Geschichte mit dem Hippokrates, man hätte sie wenden und colorieren mögen wie man gewollt hätte, auf keine Art, die ihnen Ehre machte, erzählt werden. Das Sicherste war also, die Sache auf sich beruhen zu lassen, und zu schweigen.

Die heutige Komödie machte also diesmal, wie gewöhnlich, den Hauptgegenstand der Unterhaltung aus. Denn seitdem sich die Abderiten, nach dem Beispiel ihres großen Musters, der Athenienser, mit einem eignen Theater versehen hatten, wurde in Gesellschaften, so bald die übrigen Gemeinplätze – Wetter, Putz, Stadtneuigkeiten und Scandala – erschöpft waren, unfehlbar entweder von der Komödie, die gestern gespielt worden, oder von der Komödie, die heute gespielt werden sollte, gesprochen – und die Herren von Abdera wußten sich, besonders gegen Fremde, nicht wenig damit, daß sie ihren Mitbürgern und Mitbürgerinnen eine so schöne Gelegenheit zu Verfeinerung ihres Witzes und Geschmacks, einen so unerschöpflichen Stoff zu unschuldigen Gesprächen in Gesellschaften, und besonders dem schönen Geschlecht ein so herrliches Mittel gegen die Leib und Seele verderbliche Langeweile verschafft hätten.

Wir sagen es nicht um zu tadeln, sondern zum verdienten Lob der Abderiten, daß sie ihr Komödienwesen für wichtig genug hielten, die Aufsicht darüber einem besondern Ratsausschuß zu übergeben, dessen Vorsitzer immer der zeitige Nomophylax, folglich einer der obersten Väter des Vaterlandes, war. Dies war unstreitig sehr löblich. Alles, was man mit Recht an dieser Einrichtung aussetzen konnte, war, daß es darum nicht um ein Haar besser mit ihrem Komödienwesen stund. Gleichwohl war dies nicht mehr, als wessen man sich zu Abdera versehen haben wird. Weil nun die Wahl der Stücke von dieser Ratsdeputation abhing, und die Erfindung der Komödienzettel unter die ansehnliche Menge von Erfindungen gehört, die den Vorzug der Neuern vor den Alten außer allen fernern Widerspruch setzen: so wußte das Publicum – ausgenommen wenn ein neues abderitisches Originalstück aufs Theater gebracht wurde – selten vorher, was gespielt werden würde. Denn wiewohl die Herren von der Deputation eben kein Geheimnis aus der Sache machten: so mußte sie doch, ehe sie publik wurde, durch so manchen schiefen Mund, und durch so viele dicke Ohren gehen, daß fast immer ein Quid pro quo herauskam, und die Zuhörer, wenn sie zum Exempel die Antigone des Sophokles erwarteten, die Erigone des Physignathus für lieb und gut nehmen mußten – woran sie es dann auch selten oder nie ermangeln ließen.

Was werden sie uns heute für ein Stück geben, war also itzt die allgemeine Frage in Abdera – eine Frage, die an sich selbst die unschuldigste Frage von der Welt war, aber durch einen einzigen kleinen Umstand erzabderitisch wurde; nämlich, daß die Antwort schlechterdings von keinem praktischen Nutzen sein konnte. Denn die Leute gingen in die Komödie, es mochte ein altes oder neues, gutes oder schlechtes Stück gespielt werden.

Eigentlich zu reden gab es für die Abderiten gar keine schlechte Stücke; denn sie nahmen alles für gut; und eine natürliche Folge dieser unbegrenzten Gutmütigkeit war, daß es für sie auch keine gute Stücke gab. Schlecht oder gut, was sie amüsierte, war ihnen recht, und alles was wie ein Schauspiel aussah, amüsierte sie. Jedes Stück also, so elend es war, und so elend es gespielt worden sein mochte, endigte sich mit einem Geklatsch, das gar nicht aufhören wollte. Alsdann ertönte auf einmal durchs ganze Parterre ein allgemeines »Wie hat Ihnen das heutige Stück gefallen?« und wurde stracks durch ein eben so allgemeines »Sehr wohl« beantwortet.

So geneigt auch unsre werten Leser sein mögen, sich nicht leicht über etwas zu verwundern, was wir ihnen von den Idiotismen unsers thracischen Athens erzählen können: so ist doch dieser eben erwähnte Zug etwas so ganz besonderes, daß wir besorgen müssen, keinen Glauben zu finden, wofern wir ihnen nicht begreiflich machen, wie es zugegangen, daß die Abderiten mit einer so großen Neigung zu Schauspielen es gleichwohl zu einer so hohen unbeschränkten dramatischen Apathie oder vielmehr Hidypathie bringen konnten, daß ihnen ein elendes Stück nicht nur kein Leiden verursachte, sondern sogar eben – (oder doch beinahe eben) so wohl tat als ein gutes. Man wird uns, wenn wir das Rätsel auflösen sollen, eine kleine Ausschweifung über das ganze abderitische Theaterwesen erlauben müssen. Wir sehen uns aber genötiget, uns von dem günstigen und billig denkenden Leser vorher eine kleine Gnade auszubitten, an deren großmütiger Gewährung ihm selbst am Ende noch mehr gelegen ist als uns. Und dies ist, sich – aller widrigen Eingebungen seines Kakodämons ungeachtet – ja nicht einzubilden, als ob hier, unter verdeckten Namen, die Rede von den Theaterdichtern, den Schauspielern, und dem Parterre seiner lieben Vaterstadt die Rede sei. Wir leugnen zwar nicht, daß die ganze Abderitengeschichte in gewissen Betracht einen doppelten Sinn habe; aber ohne den Schlüssel zu Aufschließung des geheimen Sinnes, den unsere Leser von uns selbst erhalten sollen, würden sie Gefahr laufen, alle Augenblicke falsche Deutungen zu machen. Bis dahin also ersuchen wir Sie

Per genium, dextramque, Deosque Penates,

sich aller unnachbarlichen und unfreundlichen Anwendungen zu enthalten, und alles was folgt, so wie dies ganze Buch, in keiner andern Gemütsverfassung zu lesen, als womit sie irgend eine andre alte oder neue unparteiische Geschichtserzählung lesen würden.

Zweites Kapitel
Nähere Nachrichten von dem abderitischen Nationaltheater
Geschmack der Abderiten
Charakter des Nomophylax Gryllus

Als die Abderiten beschlossen hatten, ein stehendes Theater zu haben, wurde zugleich aus patriotischen Rücksichten festgesetzt, daß es ein Nationaltheater sein sollte. Da nun die Nation, wenigstens dem größten Teile nach, aus Abderiten bestund: so mußte ihr Theater notfolglich ein abderitisches werden. Dies war natürlicherweise die erste und unheilbare Quelle alles Übels.

Der Respect, den die Abderiten für die heilige Stadt der Minerva, als ihre vermeinte Mutter, trugen, brachte es zwar mit sich, daß die Schauspiele der sämtlichen atheniensischen Dichter, nicht weil sie gut waren, (denn das war eben nicht immer der Fall,) sondern weil sie von Athen kamen, in großem Ansehen bei ihnen stunden. Und Anfangs konnte auch, aus Mangel einer genugsamen Anzahl einheimischer Stücke, beinahe nichts anders gegeben werden. Allein eben deswegen hielt man, sowohl zur Ehre der Stadt und Republik Abdera, als mancherlei anderer Vorteile wegen für nötig, eine Komödien- und Tragödienfabrik in ihrem eigenen Mittel anzulegen, und diese neue poetische Manufactur – in welcher abderitischer Witz, abderitische Sentiments, abderitische Sitten und Torheiten als eben so viele rohe Nationalproducte zu eigenem Gebrauch dramatisch verarbeitet werden sollten – wie guten weisen Regenten und Patrioten zusteht, auf alle mögliche Art aufzumuntern. Dies auf Kosten des gemeinen Seckels zu bewerkstelligen, ging aus zwo Ursachen nicht wohl an: erstens, weil nicht viel drin war; und zweitens, weil es damals noch nicht Mode war, die Zuschauer bezahlen zu lassen, sondern das Aerarium die Unkosten des Theaters tragen mußte, und also ohnedies bei diesem neuen Artikel schon genug auszugeben hatte. Denn an eine neue Auflage auf die Bürgerschaft war, vor der Hand, und bis man wußte wie viel Geschmack sie dieser neuen Lustbarkeit abgewinnen würde, nicht zu gedenken. Es blieb also kein ander Mittel, als die abderitischen Dichter auf Unkosten des Geschmacks gemeiner Stadt aufzumuntern; d.i. alle Waren, die sie gratis liefern würden, für gut zu nehmen – nach dem alten Sprüchwort: geschenktem Gaul sieh nicht ins Maul; oder, wie es die Abderiten gaben: wo man umsonst ißt, wird immer gut gekocht. Was Horaz von seiner Zeit in Rom sagt:

Scribimus indocti doctique poemata passim,

galt nun von Abdera im superlativsten Grade. Weil es einem zum Verdienst angerechnet wurde, wenn er ein Schauspiel schrieb, und weil schlechterdings nichts dabei zu wagen war, so machte Tragödien wer Atem genug hatte, ein paar Dutzend zusammengeraffte Gedanken in eben so viel von Bombast strotzende Perioden aufzublasen; und jeder platte Spaßmacher versuchte es, die Zwerchfelle der Abderiten, auf denen er sonst in Gesellschaften oder Weinhäusern getrommelt hatte, itzt auch einmal vom Theater herab zu bearbeiten.

Diese patriotische Nachsicht gegen die Nationalproducte hatte eine natürliche Folge, die das Übel zugleich vermehrte und fortdaurend machte. So ein gedankenleeres, windichtes, aufgeblasenes, ungezogenes, unwissendes, und aller Anstrengung unfähiges Völkchen es auch um die jungen Patricier und Damoiseaux von Abdera war, so ließ sich doch gar bald einer von ihnen, wir wissen nicht ob von seinem Mädchen, oder von seinen Schmarutzern, oder auch von seinem eignen angestammten Dünkel, weis machen, daß es nur an ihm liege, dramatische Epheukränze zu erwerben so gut als ein anderer. Dieser erste Versuch wurde mit einem so glänzenden Erfolg gekrönt, daß Blemmias (ein Neffe des Archon Onolaus), ein Knabe von 17 Jahren, und (was in der Familie der Onolaus nichts ungewöhnliches war,) ein notorisches Ganshaupt, ein unwiderstehliches Jucken in seinen Fingern fühlte auch ein Bocksspiel zu machen, wie man damals das Ding hieß, daß wir itzt ein Trauerspiel zu schelten pflegen. Niemals seit dem Abdera auf thracischem Boden stund, hatte man ein dummeres Nationalproduct gesehen; aber der Verfasser war ein Neffe des Archon, und so konnt' es ihm nicht fehlen. Der Schauplatz war so voll, daß die jungen Herren den schönen Abderitinnen auf dem Schoße sitzen mußten; die gemeinen Leute standen einander auf den Schultern. Man hörte alle fünf Acte in unverwandter dummwartender Stille an; man gähnte, seufzte, wischte die Stirne, rieb die Augen, hatte Langeweile, und hörte zu; und wie nun endlich das langerseufzte Ende kam, wurde so abscheulich geklatscht, daß etliche zartnervichte Muttersöhnchen das Gehör darüber verloren.

Nun war's klar, daß es keine so große Kunst sein müsse, eine Tragödie zu machen, weil sogar der junge Blemmias eine gemacht hatte. Jedermann konnte sich ohne große Unbescheidenheit eben so viel zutrauen. Es wurde ein Familienehrenpunkt, daß jedes gute Haus wenigstens mit einem Sohn, Neffen, Schwager oder Vetter mußte prangen können, der die Nationalschaubühne mit einer Komödie, oder einem Bocksspiel, oder wenigstens mit einem Singspielchen beschenkt hatte. Wie groß dies Verdienst seinem innern Gehalt nach etwa sei, daran dachte niemand; gutes, mittelmäßiges und elendes lief in einer Herde untereinander her. Es bedurfte, um ein schlechtes Stück zu schützen, keiner Kabale. Eine Höflichkeit war der andern wert. Und weil die Herren allerseits Eselsöhrchen hatten: so konnte keinem einfallen, dem andern das Auriculas asini Mida rex habet zuzuflüstern.

Man kann sich leicht vorstellen, daß die Kunst bei dieser Toleranz nicht viel gewonnen haben werde. Aber was kümmerte die Abderiten das Interesse der Kunst? Genug, daß es für die Ruhe ihrer Stadt und das allerseitige Vergnügen der Interessenten zuträglicher war, dergleichen Dinge friedlich und schiedlich abzutun. »Da kann man sehen, pflegte der Archon Onolaus zu sagen, wie viel drauf ankommt, daß man ein Ding beim rechten Ende nimmt. Das Komödienwesen, das zu Athen alle Augenblicke die garstigsten Händel anrichtet, ist zu Abdera ein Band des allgemeinen guten Vernehmens, und der unschuldigste Zeitvertreib von der Welt. Man geht in die Komödie, man amüsiert sich auf die eine oder andere Art, entweder mit Zuhören oder mit seiner Nachbarin, oder mit Träumen und Schlafen, wie es einem jeden beliebt; dann wird geklatscht, jedermann geht zufrieden nach Hause, und gute Nacht!«

Wir sagten vorhin, die Abderiten hätten sich mit ihrem Theater so viel zu tun gemacht, daß sie in Gesellschaften beinahe von nichts als von der Komödie gesprochen: und so verhielt sichs auch wirklich. Aber wenn sie von Theaterstücken und Vorstellung und Schauspielern sprachen, so geschah es nicht, um etwa zu untersuchen, was daran in der Tat beifallswürdig sein möchte oder nicht. Denn, ob sie sich ein Ding gefallen oder nicht gefallen lassen wollten, das hing, ihrer Meinung nach, lediglich von ihrem freien Willen ab; und, wie gesagt, sie hatten nun einmal eine Art von schweigender Abrede mit einander getroffen, ihre einheimische dramatische Manufacturen aufzumuntern. »Man sieht doch recht augenscheinlich (sagten sie), was es auf sich hat, wenn die Künste an einem Orte aufgemuntert werden. Noch vor zwanzig Jahren hatten wir kaum zween oder drei Poeten, von denen, außer etwa an Geburtstagen oder Hochzeiten, kein Mensch Notiz nahm: itzt, seit den zehn bis zwölf Jahren, daß wir ein eignes Theater haben, können wir schon über Stücke, groß und klein in einander gerechnet, aufweisen, die alle auf abderitischem Grund und Boden gewachsen sind.«

Wenn sie also von ihren Schauspielen schwatzten, so war es nur, um einander zu fragen, ob z.E. das gestrige Stück nicht schön gewesen sei' und einander zu antworten, ja es sei sehr schön gewesen – und was die Actrice, welche die Iphigenia oder Andromacha vorgestellt (denn zu Abdera wurden die weiblichen Rollen von wirklichen Frauenzimmern gemacht, und das war eben nicht so abderitisch), für ein schönes neues Kleid angehabt? Und das gab dann Gelegenheit zu tausend kleinen interessanten Anmerkungen, Reden und Gegenreden, über den Putz, die Stimme, den Anstand, den Gang, das Tragen des Kopfs und der Arme, und zwanzig andre Dinge dieser Art, an den Schauspielern und Schauspielerinnen. Mitunter sprach man auch wohl von dem Stücke selbst, sowohl von der Musik als von den Worten (wie sie die Poesie davon nannten), d.i. ein jedes sagte, was ihm am besten oder wenigsten gefallen hätte; man hob die vorzüglich rührenden und erhabnen Stellen aus; tadelte auch wohl hier und da einen Ausdruck, ein allzuniedriges Wort, oder ein Sentiment, das man übertrieben oder anstößig fand. Aber immer endigte sich die Kritik mit dem ewigen abderitischen Refrein: es bleibt doch immer ein schönes Stück – und hat viel Moral in sich, schöne Moral! pflegte der kurze dicke Ratsherr hinzuzusetzen – und immer traf sichs zu, daß die Stücke, die er ihrer schönen Moral wegen selig pries, gerade die elendesten waren.

Man wird vielleicht denken: da die besondern Ursachen, die man zu Abdera gehabt, alle einheimische Stücke ohne Rücksicht auf Verdienst und Würdigkeit aufzumuntern, bei auswärtigen nicht statt gefunden, so hätte doch wenigstens die große Verschiedenheit der atheniensischen Schauspieldichter, und der Abstand eines Astydamas von einem Sophokles etwas dazu beitragen sollen, ihren Geschmack zu bilden, und ihnen den Unterschied zwischen gut und schlecht, vortrefflich und mittelmäßig, besonders den mächtigen Unterschied zwischen natürlichem Beruf und bloßer Prätension und Nachäfferei, zwischen dem muntern, gleichen, aushaltenden Gang des wahren Meisters, und dem Stelzenschritt oder dem Nachkeuchen, Nachhinken und Nachkriechen der Nachahmer – anschaulich zu machen. Aber, fürs erste, ist der Geschmack eine Sache, die sich ohne natürliche Anlage, ohne eine gewisse Feinheit des Seelenorgans, womit man schmecken soll, durch keine Kunst noch Bildung erlangen läßt; und wir haben gleich zu Anfang dieser Geschichte schon bemerkt, daß die Natur den Abderiten diese Anlage ganz versagt zu haben schien. Ihnen schmeckte Alles. Man fand auf ihren Tischen die Meisterstücke des Genies und Witzes mit den Producten der schalsten Köpfe, den Taglöhnerarbeiten der elendesten Pfuscher, unter einander liegen. Man konnte ihnen in solchen Dingen weis machen was man wollte; und es war nichts leichter, als einem Abderiten die erhabenste Ode von Pindar für den ersten Versuch eines Anfängers, und umgekehrt das sinnloseste Geschmier, wenn es nur den Zuschnitt eines Gesangs in Strophen und Antistrophen hatte, für ein Werk von Pindar zu geben. Daher war bei einem jeden neuen Stücke, das ihnen zu Gesicht kam, immer ihre erste Frage: von wem, – und man hatte hundert Beispiele, daß sie gegen das vortrefflichste Werk gleichgültig geblieben waren, bis sie erfahren hatten, daß es einem berühmten Namen zugehöre.

Dazu kam noch der Umstand, daß der Nomophylax Gryllus, Cyniskus Sohn, der an der Errichtung des abderitischen Nationaltheaters den meisten Anteil gehabt hatte, und der Oberaufseher über ihr ganzes Schauspielwesen war, Anspruch machte, ein großer Musikverständiger und der erste Componist seiner Zeit zu sein – ein Anspruch, wogegen die gefälligen Abderiten um so weniger einzuwenden hatten, weil er ein sehr popularer Herr war, und weil seine ganze Compositionskunst in einer kleinen Anzahl melodischer Formen oder Leisten bestund, welche zu allen Arten von Texten passen mußten, und daher nichts leichter war, als seine Melodien zu singen und auswendig zu lernen.

Die Eigenschaft, auf die sich Herr Gryllus am meisten zu gut tat, war seine Behendigkeit im Componieren. »Nun wie gefällt Ihnen meine Iphigenia, Hekuba, Alcestis, oder was es sonsten war, he?« – O, ganz vortrefflich, Herr Nomophylax! – »Gelt! da ist doch ein reiner Satz! fließende Melodie! hä, hä, hä! Und wie lange denken Sie daß ich daran gemacht habe? – Zählen Sie nach! Heute haben wir den 13 ten – – Den vierten Morgens um 5 Uhr Sie wissen ich bin früh – setzt' ich mich an mein Pult und fing an – und gestern punct 10 Uhr Vormittags macht' ich den letzten Strich! – Nun zählen Sie nach, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, – macht, wie Sie sehen, nicht volle 9 Tage, und darunter 2 Ratstage, und zwei oder drei wo ich zu Gaste gebeten war; andre Geschäfte nicht gerechnet – Hm! was sagen Sie? Heißt das nicht fix gearbeitet? Ich sag es eben nicht um mich zu rühmen; aber das getraue ich mir, wenns eine Wette gälte, daß mir kein Componist im ganzen europäischen und asiatischen Griechenland bälder mit einem Stücke fertig werden soll als ich! Es ist nichts! Aber es ist doch so eine eigne Gabe die ich habe, hä, hä, hä!« – Wir hoffen unsre Leser sehen den Mann nun vor sich, und wenn sie einige Anlage zur Musik haben, so muß ihnen sein, sie hätten ihm bereits seine ganze Iphigenia, Hekuba und Alcestis herunterorgeln gehört.

Nun hatte dieser große Mann noch nebenher die kleine Schwachheit, daß er keine Musik gut finden konnte als – seine eigene. Keiner von den besten Componisten zu Athen, Theben, Korinth u.s.w. konnt' es ihm zu Dank machen. Den berühmten Damon selbst, dessen gefällige, geistreiche und immer zum Herzen sprechende Art zu componieren, außerhalb Abdera, alles, was eine Seele hatte, bezauberte, nannte er unter seinen Vertrauten nur den Bänkelsängercomponisten. Bei dieser Art zu denken, und vermöge der unendlichen Leichtigkeit, womit er seinen musikalischen Laich von sich gab, hatte er nun binnen wenig Jahren zu mehr als 60 Stücken von berühmten und unberühmten atheniensischen Schauspieldichtern die Musik gemacht – denn die abderitischen Nationalproducte überließ er meistens seinen Schülern und Nachahmern, und begnügte sich bloß mit der Revision ihrer Arbeit. Freilich fiel seine Wahl, wie man denken kann, nicht immer auf die besten Stücke; die Hälfte wenigstens waren bombastische Carricaturnachahmungen des Aeschylus, oder abgeschmackte Possenspiele, Jahrmarktstücke, die von ihren Verfassern selbst bloß für die Belustigung des untersten Pöbels bestimmt waren. Aber genug, der Nomophylax, ein Haupt der Stadt, hatte sie componiert; sie wurden also unendlich beklatscht und wenn sie denn auch bei der öftern Wiederholung mitunter gähnen und hojahnen machten, daß die Kinnladen hätten auseinander gehen mögen, so versicherte man einander doch beim Herausgehen sehr tröstlich: es sei gar ein schönes Stück und gar eine schöne Musik gewesen!

Und so vereinigte sich denn alles nicht nur gegen die Arten und Stufen des Schönen, sondern gegen den innern unterschied des Vortrefflichen und Schlechten selbst, bei diesen griechenzenden Thraciern, jene mechanische Kaltsinnigkeit hervorzubringen, wodurch sie sich als durch einen festen Nationalcharakterzug von allen übrigen policierten Völkern des Erdhodens auszeichneten; eine Kaltsinnigkeit, die dadurch desto sonderbarer wurde, weil sie ihnen demungeachtet die Fähigkeit ließ, zuweilen von dem wirklich Schönen auf eine gar seltsame Art afficiert zu werden – wie man in kurzem aus einem merkwürdigen Beispiel ersehen soll.

Drittes Kapitel
Beiträge zur abderitischen Litterargeschichte
Nachrichten von ihren ersten theatralischen Dichtern, Hyperbolus, Paraspasmus, Antiphilus und Thlaps

Bei aller dieser anscheinenden Gleichgültigkeit, Toleranz, Apathie, Hidypathie, oder wie man's nehmen will, müssen wir uns die Abderiten gleichwohl nicht als Leute ohne allen Geschmack einbilden. Denn ihre fünf Sinnen hatten sie richtig und vollgezählt; und wiewohl ihnen, unter den angegebnen Umständen, Alles gut genug schmeckte: so deuchte sie doch, dieses oder jenes schmecke ihnen besser als ein andres; und so hatten sie denn ihre Lieblingsstücke und Lieblingsdichter so gut als andre Leute.

Damals, als ihnen der kleine Verdruß mit dem Arzt Hippokrates zustieß, waren unter einer ziemlichen Anzahl von Theaterdichtern, welche Handwerk davon machten – die Freiwilligen nicht gerechnet – vornehmlich zween im Besitz der höchsten Gunst des abderitischen Publicums. Der eine machte Tragödien und eine Art Stücke, die man itzt komische Opern nennt; der andere, Namens Thlaps, eine Art von Mitteldingen, wobei einem weder wohl noch weh geschah, wovon er der erste Erfinder war, und die deswegen nach seinem Namen Thlapsödien genennet wurden.

Der erste war eben der Hyperbolus, dessen schon zu Anfang dieser eben so wahrhaften als wahrscheinlichen Geschichte als des berühmtesten unter den abderitischen Dichtern erwähnt worden ist. Er hatte sich zwar auch in den übrigen Gattungen hervorgetan; die außerordentliche Parteilichkeit seiner Landsleute für ihn hatte ihm in allen den Preis zuerkannt; und eben dieser Vorzug erwarb ihm den hochtrabenden Zunamen Hyperbolus: denn von Haus aus nannte er sich Hegesias. Der Grund, warum dieser Mensch ein so besonderes Glück bei den Abderiten machte, war der natürlichste von der Welt – nämlich eben der, weswegen er und seine Werke an jedem andern Orte der Welt als in Abdera ausgepfiffen worden wären. Er war unter allen ihren Dichtern derjenige, in welchem der eigentliche Geist von Abdera, mit allen seinen Idiotismen und Abweichungen von den schönern Formen, Proportionen und Lineamenten der Menschheit, am leibhaftesten wohnte – derjenige, mit dem alle übrigen am meisten sympathisierten – der immer alles just so machte, wie sie es auch gemacht haben würden – ihnen immer das Wort aus dem Munde nahm – immer das eigentliche Pünktchen traf, wo sie gekützelt sein wollten – mit einem Wort, der Dichter nach ihrem Sinn und Herzen; und das nicht etwa in Kraft eines außerordentlichen Scharfsinns, oder als ob er sich ein besonderes Studium daraus gemacht hätte, sondern lediglich, weil er unter allen seinen Brüdern im Marsyas am meisten – Abderit war. Bei ihm durfte man sich darauf verlassen, daß der Gesichtspunkt, woraus er eine Sache ansah, immer der schiefste war, woraus sie angesehen werden konnte; daß er zwischen zwei Dingen allemal die Ähnlichkeit just fand, wo ihr wesentlichster Unterschied lag; daß er je und allezeit feierlich aussehen würde, wo ein vernünftiger Mensch lacht, und lachen würde, wo es nur einem Abderiten einfallen kann zu lachen, u.s.w. Ein Mann, der des abderitischen Genius so voll war, konnte natürlicher Weise in Abdera alles sein, was er wollte. Auch war er ihr Anakreon, ihr Alcäus, ihr Pindar, ihr Aeschylus, ihr Aristophanes, und seit kurzem arbeitete er an einem großen Nationalheldengedicht in acht und vierzig Gesängen, die Abderiade genannt – zu großer Freude des ganzen abderitischen Volks! »Denn, sagten sie, ein Homer ist das einzige, was uns noch abgeht: und wenn Hyperbolus mit seiner Abderiade fertig sein wird, so haben wir Ilias und Odyssee in einem Stücke beisammen; und dann laß die andern Griechen kommen, und uns noch über die Achseln ansehen, wenn sie das Herz haben! Sie sollen uns dann einen Mann stellen, dem wir nicht einen aus unserm Mittel gegenüber stellen wollen!« –

Indessen war doch die Tragödie das eigentliche Fach des Hyperbolus. Er hatte deren hundert und zwanzig (vermutlich auch groß und klein in einander gerechnet) verfertiget – ein Umstand, der ihm bei einem Volke, das in allen Dingen nur auf Anzahl und körperlichen Umfang sah, allein schon einen außerordentlichen Vorzug geben mußte. Denn von allen seinen Nebenbuhlern hatte es keiner auch nur auf das Drittel dieser Zahl bringen können. Ungeachtet ihn die Abderiten wegen des Bombasts seiner Schreibart ihren Aeschylus zu nennen pflegten, so wußte er sich selbst doch nicht wenig mit seiner Originalität. Man weise mir, sprach er, einen Charakter, einen Gedanken, ein Sentiment, einen Ausdruck, in allen meinen Werken, den ich aus einem andern genommen hätte! – oder aus der Natur, setzte Demokritus hinzu – »O! (rief Hyperbolus) was das betrifft, das kann ich Ihnen zugeben, ohne daß ich viel dabei verliere. Natur! Natur! die Herren klappern immer mit ihrer Natur, und wissen am Ende nicht was sie wollen. Die gemeine Natur – und die meinen Sie doch – gehört in die Komödie, ins Possenspiel, in die Thlapsödie, wenn Sie wollen! Aber die Tragödie muß über die Natur gehen, oder ich gebe nicht eine hohle Nuß darum.« Von den seinigen galt dies im vollesten Maß. So wie seine Personen hatte nie kein Mensch ausgesehen, nie kein Mensch gefühlt, gedacht, gesprochen noch gehandelt. Aber das wollten die Abderiten eben – und daher kam es auch, daß sie unter allen auswärtigen Dichtern am wenigsten aus dem Sophokles machten. »Wenn ich aufrichtig sagen soll, wie ich denke«, sagte einst Hyperbolus in einer vornehmen Gesellschaft, wo über diese Materie auf gut Abderitisch raisonniert wurde – »ich habe nie begreifen können, was an dem Oedipus oder an der Elektra des Sophokles, insonderheit was an seinem Philoktet so außerordentliches sein soll: Für einen Nachfolger eines so erhabnen Dichters wie Aeschylus, fällt er wahrlich gewaltig ab! Nun ja, attische Urbanität, die streit' ich ihm nicht ab! Urbanität so viel Sie wollen! Aber der Feuerstrom, die wetterleuchtenden Gedanken, die Donnerschläge, der hinreißende Wirbelwind – kurz, die Riesenstärke, der Adlersflug, der Löwengrimm, der Sturm und Drang, der den wahren tragischen Dichter macht, wo ist der?« – Das nenn' ich wie ein Meister von der Sache sprechen, sagte einer von der Gesellschaft – O! über solche Dinge verlassen Sie sich auf das Urteil des Hyperbolus (rief ein andrer); wenn er das nicht verstehen sollte! – Er hat 120 Tragödien gemacht, flüsterte eine Abderitin einem Fremden ins Ohr; 's ist der erste Theaterdichter von Abdera!

Indessen hatte es doch unter allen seinen Nebenbuhlern, Schülern und Caudatarien ihrer zweenen geglückt, ihn auf dem tragischen Thron, auf den ihm der allgemeine Beifall hinauf geschwungen, wanken zu machen – Dem einen durch ein Stück, worin der Held gleich in der ersten Scene des ersten Acts seinen Vater ermordet, im zweiten seine leibliche Schwester heiratet, im dritten entdeckt, daß er sie mit seiner Mutter gezeugt hatte, im vierten sich selber Ohren und Nase abschneidet, und im fünften, nachdem er die Mutter vergiftet und die Schwester erdrosselt, von den Furien unter Blitz und Donner in die Hölle geholt wird – Dem andern durch eine Niobe, worin außer einer Menge Ω! Ω! Αι, Αι! Φευ, Φευ, und Ελελελελευ, und einigen Blasphemien, wobei den Zuhörern die Haare zu Berge standen, das ganze Stück in lauter Action und Pantomime gesetzt war. Beide Stücke hatten den erstaunlichsten Effect gemacht. – Nie waren binnen drei Stunden so viele Schnupftücher voll geweint worden, seit ein Abdera in der Welt war. Nein, es ist nicht zum Aushalten, schluchzten die schönen Abderitinnen – Der arme Prinz! wie er heulte! wie er sich herumwälzte! Und die Rede, die er hielt, da er sich die Nase abgeschnitten hatte, rief eine andere und die Furien, die Furien, schrie eine dritte – ich konnte vier Wochen lang kein Auge vor ihnen zutun – Es war schrecklich, ich muß es gestehen, sagte die vierte; aber, o! die Niobe! wie sie mitten unter ihren übereinander hergewälzten Kindern dasteht, sich die Haare ausrauft, sie über die dampfenden Leichen hinstreut, dann sich selbst auf sie hinwirft, sie wieder beleben möchte, dann in Verzweiflung wieder auffährt, die Augen wie feurige Räder im Kopf herumrollt, dann mit ihren eigenen Nägeln sich die Brust aufreißt, und Hände voll Bluts unter entsetzlichen Verwünschungen Himmel wirft – Nein, so was rührendes muß nie gesehen worden sein! Was das für ein Mann sein muß, der Paraspasmus, der Stärke genug hatte, so eine Scene aufs Theater zu bringen! – Nun, was die Stärke anbetrifft, sagte die schöne Salabanda, darauf läßt sich eben nicht immer so sicher schließen. Ich zweifle, ob Paraspasmus alles halten würde, was er zu versprechen scheint; große Prahler, schlechte Fechter. – Man kannte die schöne Salabanda für eine Frau, die so was nicht ohne guten Grund sagte – Dieser einzige Umstand brachte so viel zuwege, daß die Niobe des Paraspasmus bei der zweiten Vorstellung nicht mehr die Hälfte der vorigen Wirkung tat; und der Dichter selbst konnte sich in der Folge nicht wieder von dem Schlag erholen, den ihm Salabanda durch ein einziges Wort in der Einbildungskraft der Abderitinnen gegeben hatte.

Indessen blieb ihm und seinem Freunde Antiphilus doch immer die Ehre, der Tragödie zu Abdera einen neuen Schwung gegeben zu haben, und die Erfinder zwoer neuer Gattungen, der grißgrammischen, und der pantomimischen, zu sein, in welchen den abderitischen Dichtern eine Laufbahn eröffnet wurde, wo es um so viel sichrer war, Lorbeern einzuernten, da im Grunde nichts leichters ist als – Kinder zu erschrecken, und seine Helden vor lauter Affect – gar nichts sagen zu lassen.

Wie aber die menschliche Unbeständigkeit sich auch an dem, was in seiner Neuheit noch so angenehm ist, gar bald ersättiget, so fingen auch die Abderiten bereits an, es überdrüssig zu werden, immer und alle Tage gar schön zu finden, was ihnen in der Tat schon lange gar wenig Vergnügen machte: als ein junger Dichter, Namens Thlaps, auf den Einfall kam, Stücke aufs Theater zu bringen, die weder Komödie noch Tragödie noch Posse, sondern eine Art von lebendigen abderitischen Familiengemälden wären; wo weder Helden noch Narren, sondern gute ehrliche hausgebackne Abderiten auftreten, ihren täglichen Stadt-, Markt-, Haus- und Familiengeschäften nachgehen, und vor einem löblichen Spectatorium gerade so handeln und sprechen sollten, als ob sie auf der Bühne zu Hause wären, und es sonst keine Leute in der Welt gäbe als sie. Man sieht, daß dies ungefähr die nämliche Gattung war, wodurch sich Menander in der Folge so viel Ruhm erwarb. Der Unterschied bestand bloß darin: daß er Athenienser und jener Abderiten auf die Bühne brachte; und daß er Menander, und jener Thlaps war. Allein da dieser Unterschied den Abderiten nichts vorschlug, oder vielmehr gerade zu Thlapsens Vorteil gereichte: so wurde sein erstes Stück f52) in dieser Gattung mit einem Entzücken aufgenommen, wovon man noch kein Beispiel gesehen hatte. Die ehrlichen Abderiten sahen sich selbst zum erstenmal auf der Schaubühne in puris Naturalibus, ohne Carricatur, ohne Stelzen, ohne Löwenhäute, Keulen, Scepter und Diademe, in ihren gewöhnlichen Hauskleidern, ihre gewöhnliche Sprache redend, nach ihrer angebornen eigentümlichen abderitischen Art und Weise leiben und leben, essen und trinken, freien und sich freien lassen, u.s.w. und das war eben was ihnen so viel Vergnügen machte. Es ging ihnen wie einem jungen Mädchen, das sich zum erstenmal in einem Spiegel sehen würde; sie konnten's gar nicht genug kriegen. Die vierfache Braut wurde vierzehnmal hinter einander gespielt, und eine lange Zeit wollten die Abderiten nichts als Thlapsödien sehen. Thlaps, dem es nicht so fix von der Faust ging als dem großen Hyperbolus und dem Nomophylax Gryllus, konnte deren nicht genug fertig kriegen. Aber da er seinen Mitbrüdern einmal den Ton angegeben hatte, so fehlte es ihm nicht an Nachahmern. Alles legte sich auf die neue Gattung; und in weniger als drei Jahren waren alle mögliche Süjets und Titel von Thlapsödien so erschöpft, daß es wirklich ein Jammer war, die Not der armen Dichter zu sehen, wie sie druckten und schwitzten, um aus dem Schwamme, den schon so viele vor ihnen ausgedruckt hatten, noch einen Tropfen trübes Wasser herauszupressen.

Die natürliche Folge davon war, daß unvermerkt alle Dinge wieder ins gehörige Gleichgewicht kamen. Die Abderiten, die, nach ziemlich allgemeiner menschlicher Weise, Anfangs für jede Gattung eine ausschließende Neigung faßten, fanden endlich, daß es nur desto besser sei, wenn sie dem Überdruß durch Abwechslung und Mannigfaltigkeit wehren konnten. Die Tragödien, gemeine, grißgrammische und pantomimische, die Komödien, Operetten und Possenspiele kamen wieder in Umlauf; der Nomophylax componierte die Tragödien des Euripides; und Hyperbolus (zumal da ihn das Project, abderitischer Homer zu werden, im Kopfe stak,) ließ sichs, weil's doch nicht zu ändern war, am Ende gerne gefallen, die höchste Gunst des abderitischen Parterre mit Thlapsen zu teilen; zumal, da dieser durch die Heirat mit der Nichte eines Oberzunftmeisters seit kurzem eine wichtige Person geworden war.

Viertes Kapitel
Merkwürdiges Beispiel von der guten Staatswirtschaft der Abderiten
Beschluß der Digression über ihr Theaterwesen

Ehe wir von dieser Abschweifung zum Verfolg unsrer Geschichte zurückkehren, möchte vonnöten sein, dem geneigten Leser einen kleinen Zweifel zu benehmen, der ihm während vorstehender kurzen Abschattung des abderitischen Schauspielwesens aufgestoßen sein möchte.

Es ist nicht wohl zu begreifen, wird man sagen, wie das Aerarium von Abdera, dessen Einkünfte eben nicht so gar beträchtlich sein konnten, eine so ansehnliche Nebenausgabe, wie ein tägliches Schauspiel mit allen seinen Artikeln ist, in die Länge habe bestreiten können; gesetzt auch, daß die Dichter ohne Sold noch Lohn, aus purem Patriotismus, oder um die bloße Ehre, gedient hätten. Wofern aber dies letztere war, wird man kaum glaublich finden, daß es so manchen Theaterdichter von Profession in Abdera gegeben, und daß der große Hyperbolus, mit allem seinem Patriotismus und Eigennutz, es bis auf dramatische Stücke sollte getrieben haben.

Um nun den günstigen Leser nicht ohne Not aufzuhalten, wollen wir ihm nur gleich unverhohlen gestehen – daß ihre Theaterdichter keineswegs umsonst arbeiteten (denn das große Gesetz: »dem Ochsen, der da drischt, sollst du nicht das Maul verbinden!« ist ein Naturgesetz, dessen allgemeine Verbindlichkeit auch sogar die Abderiten fühlten), und daß, vermöge einer besondern Finanzoperation, das Stadtärarium durch das Theater eigentlich keine neue Ausgabe zu bestreiten hatte, sondern dieser Aufwand größtenteils an andern nötigern und nützlichern Artikeln erspart wurde.

Die Sache verhielt sich so. So bald die Gönner des Theaters sahen, daß die Abderiten Feuer gefaßt, und Schauspiele zum Bedürfnis für sie geworden, ermangelten sie nicht, dem Volk durch die Zunftmeister vorstellen zu lassen: daß das Aerarium einem so großen Zuwachs von Ausgaben ohne neue Einnahmequellen oder Erziehung andrer Ausgaben nicht gewachsen sei. Dies veranlaßte denn, daß eine Commission niedergesetzt wurde, welche, nach mehr als sechzig zahlbaren Sessionen, endlich einen Entwurf einer Einrichtung des gemeinen abderitischen Theaterwesens vor Rat legte, den man so gründlich und wohlausgesonnen befand, daß er stracks in einer allgemeinen Versammlung der Bürgerschaft zu einem Fundamentalgesetz der Stadt Abdera gestempelt wurde.

Wir würden uns ein Vergnügen daraus machen, dieses abderitische Meisterstück auch vor unsre Leser zu legen, wenn wir ihnen Geduld genug zutrauen dürften, es zu lesen. Sollte aber irgend ein gemeines Wesen in oder außer dem heil. röm. Reiche die Mitteilung desselben wünschen: so ist man erbötig, solche auf beschehene Requisition, gegen bloße Erstattung der Schreibauslagen unentgeltlich zu communicieren. Alles, was wir hier davon sagen können, ist: daß, vermöge dieser Einrichtung, sine aggravio Publici hinlängliche Fonds ausgemacht wurden, die Abderiten wöchentlich viermal mit Schauspielen zu tractieren; sowohl Dichter, Schauspieler und Orchester, als die Herren Deputierten und den Nomophylax condigne zu remunerieren; und überdies noch die beiden untersten Classen der Zuschauer bei jeder Vorstellung viritim mit einem Pfennigbrot und zwo trocknen Feigen zu gratificieren. Der einzige Fehler dieser schönen Einrichtung war, daß die Herren von der Commission sich in Berechnung der Einnahme und Ausgabe (wegen deren Richtigkeit man sich auf ihre bekannte Dexterität verließ) um 28000 Drachmen (ungefähr dritthalb tausend Taler unsers Geldes) verrechnet hatten, die das Aerarium mehr bezahlen mußte, als die angewiesenen Fonds betrugen. Das war nun freilich kein ganz gleichgültiger Rechnungsverstoß! Indessen waren die Herren von Abdera gewohnt, so glattweg und bona fide bei ihrem Aerario zu Werke zu gehen, daß etliche Jahre verstrichen, bis man gewahr wurde, woran es liege, daß alle Jahre 2500 Taler in ihrem Stadtseckel zu wenig waren. Wie man es endlich mit vieler Mühe heraus gebracht hatte, fanden die Häupter für nötig, die Sache vor das gesamte Volk zu bringen, und – pro forma auf Einziehung der Schaubühne anzutragen. Allein die Abderiten gebärdeten sich zu diesem Vorschlag, als ob man ihnen Wasser und Feuer nehmen wolle. Kurz, es wurde ein Plebiscitum errichtet, daß die jährlich abgängigen dritthalb Talente aus dem gemeinen Schatz, der im Tempel der Latona niedergelegt war, genommen werden sollten; und derjenige, der sich künftig unterfangen würde, auf Abschaffung der Schaubühne anzutragen, sollte für einen Feind der Stadt Abdera angesehen werden.

Die Abderiten glaubten nun, ihre Sache recht klug gemacht zu haben, und pflegten gegen Fremde sich viel darauf zu gut zu tun, daß ihre Schaubühne jährlich 80 Talente (80,000 Taler) und gleichwohl der Bürgerschaft von Abdera keinen Heller koste. »Es kommt alles auf eine gute Einrichtung an, sagten sie. Aber dafür haben wir auch ein Nationaltheater, wie kein andres in der Welt sein muß!« – Das ist eine große Wahrheit, sagte Demokritus; solche Dichter, solche Schauspieler, solche Musik, und wöchentlich viermal, für 80 Talente! Ich wenigstens habe das an keinem andern Ort in der Welt angetroffen.

Was man ihnen lassen mußte, war, daß ihr Theater für eines der prächtigsten in Griechenland gelten konnte. Freilich hatten sie dem Könige von Macedonien ihr bestes Amt versetzt, um es bauen zu können. Aber da ihnen der König zugestanden, daß der Amtmann, der Amtsschreiber und der Rentmeister allezeit Abderiten bleiben sollten, so konnte ja niemand was dagegen einzuwenden haben.

Wir bittens den Lesern ab, wenn Sie mit dieser allgemeinen Nachricht von dem abderitischen Theaterwesen zu lange aufgehalten worden sind. Es hat nun 6 Uhr geschlagen, und wir versetzen uns also, ohne weiters, in das Amphitheater dieser preiswürdigen Republik, wo die geneigten Leser nach Gefallen, entweder bei dem kleinen dicken Ratsherrn, oder bei dem Priester Strobylus, oder bei dem Schwätzer Antistrepsiades, oder bei irgend einer von den schönen Abderitinnen, mit welchen wir sie in den vorigen Kapiteln bekannt gemacht haben, Platz zu nehmen belieben werden.

Fünftes Kapitel
Die Andromede des Euripides wird aufgeführt
Großer Succeß des Nomophylax, und was die Sängerin Eukolpis dazu beigetragen
Ein paar Anmerkungen über die übrigen Schauspieler, die Chöre und die Decoration

Das Stück, das diesen Abend gespielt wurde, war die Andromede des Euripides: eines von den 60 oder 70 Werken dieses Dichters, wovon nur wenige kleine Späne und Splitter der Vernichtung entronnen sind. Die Abderiten trugen, ohne eben sehr zu wissen warum, große Ehrerbietung für den Namen Euripides und alles was diesen Namen trug. Verschiedne seiner Tragödien, oder Singspiele (wie wir sie eigentlich nennen sollten), waren schon öfters aufgeführt, und allemal sehr schön gefunden worden. Die Andromede, eines der neuesten, wurde itzt zum erstenmal auf die abderitische Schaubühne gebracht. Der Nomophylax hatte die Musik dazu gemacht, und (wie er seinen Freunden ziemlich laut ins Ohr sagte) diesmal sich selbst übertroffen; das heißt, der Mann hatte sich vorgesetzt, alle sein Künste auf einmal zu zeigen, und darüber war ihm der gute Euripides unvermerkt ganz aus den Augen gekommen. Kurz, Herr Gryllus hatte sich selbst componiert; unbekümmert, ob seine Musik den Text, oder der Text seine Musik zu Unsinn mache – welches dann gerade der Punkt war, der auch die Abderiten am wenigsten kümmerte. Genug, sie machte großen Lerm, hatte (wie seine Brüder, Vettern, Schwäger, Clienten und Hausbedienten, als sämtliche Kenner, versicherten) sehr erhabne und rührende Stellen, und wurde mit dem lautsten entschiedensten Beifall aufgenommen. Nicht, als ob nicht sogar in Abdera noch hier und da Leute gesteckt hätten, die – weil sie vielleicht etwas dümmere Ohren auf die Welt gebracht als ihre Mitbürger, oder weil sie anderswo was Bessers gehört haben mochten – einander unter vier Augen gestunden: daß der Nomophylax, mit aller seiner Anmaßung ein Orpheus zu sein, nur ein Leiermann, und das beste seiner Werke eine Rhapsodie ohne Geschmack, und meistens auch ohne Sinn sei. Diese wenigen hatten sich ehmals sogar erkühnt, etwas von dieser ihrer Heterodoxie ins Publicum erschallen zu lassen; aber sie waren jedesmal von den Verehrern der gryllischen Muse so übel empfangen worden, daß sie, um mit heiler Haut davon zu kommen, für gut befanden, sich in Zeiten den Majoribus zu submittieren; und nun waren diese Herren immer die, die bei den elendesten Stellen – am ersten und am lautsten klatschten.

Das Orchester tat diesmal sein Äußerstes, um sich seines Oberhauptes würdig zu zeigen. »Ich hab' ihnen aber auch alle Hände voll zu tun gegeben«, sagte Gryllus, und schien sich viel darauf zu gut zu tun, daß die armen Leute schon im zweiten Act keinen trocknen Faden mehr am Leibe hatten.

Im Vorbeigehen gesagt, das Orchester war eins von den Instituten, worin die Abderiten es mit allen Städten in der Welt aufnahmen. Das erste, was sie einem Fremden davon sagten, war: daß es hundert und zwanzig Köpfe stark sei. »Das Atheniensische, pflegten sie mit bedeutendem Accent hinzuzusetzen, soll nur 8o haben; aber freilich mit 120 Mann läßt sich auch was ausrichten!« – Wirklich fehlte es, unter so vielen, nicht an geschickten Leuten, wenigstens an solchen, aus denen ein Vorsteher wie – in Abdera keiner war noch sein konnte, etwas hätte machen können. Aber was half das ihrem Musikwesen, Es war nun einmal im Götterrate beschlossen, daß im thracischen Athen nichts an seinem Platz, nichts seinem Zweck entsprechend, nichts recht und nichts ganz sein sollte. Weil die Leute wenig für ihre Mühe hatten, so glaubte man auch nicht viel von ihnen fordern zu können; und weil man mit einem Jeden zufrieden war, der sein Bestes tat (wie sie's nannten), so tat niemand sein Bestes. Die geschickten wurden lässig, und wer noch auf halbem Wege war, verlor den Mut und zuletzt auch das Vermögen, weiter zu kommen. Wofür hätten sie sich am Ende auch Mühe um Vollkommenheit gehen sollen, da sie für abderitische Ohren arbeiteten? Freilich hatten die leidigen Fremden auch Ohren; aber sie hatten doch keine Stimme zu geben; fandens auch nicht einmal der Mühe wert, oder waren zu höflich, oder zu politisch, gegen den Geschmack von Abdera Sturm laufen zu wollen. Der Nomophylax, so dumm er war, merkte zwar selbst so gut als ein Andrer, daß es nicht so recht ging wie es sollte. Aber außerdem, daß er keinen Geschmack hatte, oder (welches auf eins hinaus lief) daß ihm nichts schmeckte was er nicht selbst gekocht hatte, und er also immer die rechten Mittel, wodurch es besser werden konnte, verfehlte – war er auch zu träge und zu ungeschmeidig, sich mit andern auf die gehörige Art abzugeben. Vielleicht mocht' er's auch am Ende wohl leiden, daß er, wenn sein Leierwerk (wie wohl zuweilen geschah) sogar den Abderiten nicht recht zu Ohren gehen wollte, die Schuld aufs Orchester schieben, und die Herren und Damen, die ihm Ehren halben ihr Compliment deswegen machten, versichern konnte: daß nicht eine Note, so wie er sie gedacht und geschrieben habe, vorgetragen worden sei. Allein das war doch immer nur eine Feuertüre für den Notfall. Denn aus dem naserümpfenden Ton, worin er von allen andern Orchestern zu sprechen pflegte, und aus den Verdiensten, die er sich um das abderitische beilegte, mußte man schließen, daß er so gut damit zufrieden war, als es – einen patriotischen Nomophylax von Abdera ziemte.

Wie es aber auch mit der Musik dieser Andromeda und ihrer Ausführung beschaffen sein mochte: gewiß ist, daß in langer Zeit kein Stück so allgemein gefallen hatte. Dem Sänger, der den Perseus machte, wurde so gewaltig zugeklatscht, daß er mitten in der schönsten Scene aus dem Tone kam, und in eine Stelle aus dem Cyklops sich verirrete. Andromeda – in der Scene, wo sie, an den Felsen gefesselt, von allen ihren Freunden verlassen, und dem Zorn der Nereiden Preis gegeben, angstvoll das Auftauchen des Ungeheuers erwartet – mußte ihren Monolog dreimal wiederholen. Der Nomophylax konnte seine Freude über einen so glänzenden Succeß nicht bändigen. Er ging von Reihe zu Reihe herum, den Tribut von Lob einzusammeln, der ihm aus allen Lippen entgegenschallte; und mitten unter der Versichrung, daß ihm zu viel Ehre widerfahre, gestand er, daß er selbst mit keinem seiner Spielwerke (wie er seine Opern mit vieler Bescheidenheit zu nennen beliebte) so zufrieden sei, wie mit dieser Andromeda.

Indessen hätt' er doch, um sich selbst und den Abderiten Gerechtigkeit zu erweisen, wenigstens die Hälfte des glücklichen Erfolgs auf Rechnung der Sängerin Eukolpis setzen müssen, die zwar ohnehin schon im Besitz zu gefallen war, aber in der Rolle der Andromeda Gelegenheit fand, sich in einem so vorteilhaften Lichte zu zeigen, daß die jungen und alten Herren von Abdera sich gar nicht satt an ihr – sehen konnten. Denn da war so viel zu sehen, daß an's Hören gar nicht zu denken war. Eukolpis war eine große wohlgedrehte Figur – zwar um ein Namhaftes materieller als man in Athen zu einer Schönheit erfoderte – aber in diesem Stücke waren die Abderiten, wie in vielen andern, ausgemachte Thracier; und ein Mädchen, aus welchem ein Bildhauer in Sicyon zwo gemacht hätte, war nach ihrem angenommenen Ebenmaß ein Wunder von einer Nymphenfigur. Da die Andromeda nur sehr dünne angezogen sein durfte, so hatte Eukolpis, die sich stark bewußt war, worin eigentlich die Kraft ihres Zaubers liege, eine Draperie von rosenfarbnem koischem Zeug erfunden, unter welcher, ohne daß der Wohlstand sich allzu sehr beleidigt finden konnte, von den schönen Formen, die man an ihr bewunderte, wenig oder nichts für die Zuschauer verloren ging. Nun hatte sie gut singen! Die Composition hätte, wo möglich, noch abgeschmackter, und ihr Vortrag noch zehnmal fehlerhafter sein können, immer würde sie ihren Monologen haben wiederholen müssen, weil das doch immer der ehrlichste Vorwand war, sie desto länger mit lüsternen Blicken – betasten zu können. Wahrlich, beim Jupiter, ein herrliches Stück, sagte einer zum andern mit halbgeschloßnen Augen; ein unvergleichliches Stück! Aber finden Sie nicht auch, daß Eukolpis heute wie eine Göttin singt? – »O! über allen Ausdruck! Es ist, beim Anubis! nicht anders als ob Euripides das ganze Stück bloß um ihrentwillen gemacht hätte!« – Der junge Herr, der dies sagte, pflegte immer beim Anubis zu schwören, um zu zeigen, daß er in Aegypten gewesen sei.

Die Damen, wie leicht zu erachten, fanden die neue Andromeda nicht ganz so wundervoll als die Mannsleute. – »Nicht übel! Ganz artig! sagten sie; aber wie kömmts, daß die Rollen diesmal so unglücklich ausgeteilt wurden? Das Stück verlor dadurch. Man hätte die Rollen tauschen und die Mutter der dicken Eukolpis geben sollen! Zu einer Cassiopea hätte sie sich trefflich geschickt.« – Gegen ihren Anzug, Kopfputz u.s.w. war auch viel zu erinnern – Sie war nicht zu ihrem Vorteil aufgesetzt – der Gürtel war zu hoch, und zu stark geschürzt – und besonders fand man die Ziererei ärgerlich, immer ihren Fuß zu zeigen, »auf dessen unproportionierte Kleinheit sie sich ein wenig zu viel einbilde« – sagten die Damen, die aus dem entgegengesetzten Grunde die ihrigen zu verbergen pflegten. Indessen kamen doch Frauen und Herren sämtlich darin überein, daß sie überaus schön singe, und daß nichts niedlichers sein könne, als die Arie, worin sie ihr Schicksal bejammerte. Eukolpis, wiewohl ihr Vortrag wenig taugte, hatte eine gute, klingende biegsame Stimme; aber was sie eigentlich zur Lieblingssängerin der Abderiten gemacht hatte, war die Mühe, die sie sich mit ziemlichem Erfolge gegeben, den Nachtigallen gewisse Läufer und Tonfälle abzulernen, in denen sie sich selbst und ihren Zuhörern so wohl gefiel, daß sie solche überall, zu rechter Zeit und zur Unzeit, einmischte, und immer damit willkommen war. Sie mochte zu tun haben was sie wollte, zu lachen oder zu weinen, zu klagen oder zu zürnen, zu hoffen oder zu fürchten: immer fand sie Gelegenheit, ihre Nachtigallen anzubringen, und war immer gewiß, beklatscht zu werden, wenn sie gleich die besten Stellen damit verdorben hätte.

Von den übrigen Personen, die den Perseus als den ersten Liebhaber, den Agenor, vormaligen Liebhaber der Andromeda, den Vater, die Mutter, und einen Priester des Neptuns vorstellten, finden wir nicht viel mehr zu sagen, als daß man im Einzelnen zwar viel an ihnen auszustellen hatte, im Ganzen aber sehr wohl mit ihnen zufrieden war. Perseus war ein schöngewachsner Mensch, und hatte ein großes Talent für einen – abderitischen Pickelhering. Der vorerwähnte Cyklops, im Satyrenspiele dieses Namens von Euripides, war seine Meisterrolle. Er spielt den Perseus gar schön, sagten die Abderitinnen; nur Schade daß ihm zuweilen unvermerkt der Cyklops dazwischen kommt. Cassiopea, ein kleines zieraffichtes Ding, voller angemaßter Grazien, hatte keinen einzigen natürlichen Ton; aber sie galt alles bei der Gemahlin des zweiten Archon, hatte eine gar drollichte Manier, kleine Liedchen zu singen, und – tat ihr Bestes. Der Priester des Neptuns brüllte einen ungeheuren Matrosenbaß; und Agenor – sang so elend, als einem zweiten Liebhaber zusteht. Er sang zwar auch nicht besser, wenn er den ersten machte; aber weil er sehr gut tanzte, so hatte er eine Art von Privilegium erhalten, desto schlechter singen zu dürfen. Er tanzt sehr schön, war immer die Antwort der Abderiten, wenn jemand anmerkte, daß sein Krächzen unerträglich sei; indessen tanzte Agenor nur selten, und sang hingegen in allen Singspielen und Operetten.

Um die Schönheit dieser Andromeda ganz zu übersehen, muß man sich noch zwei Chöre, einen von Nereiden, und einen von den Gespielinnen der Andromeda, einbilden, beide aus verkleideten Schuljungen bestehend, die sich so ungebärdig dazu anschickten, daß die Abderiten (zu ihrem großen Troste) genug und satt zu lachen bekamen. Besonders tat der Chor der Nereiden, durch die Erfindungen, die der Nomophylax dabei angebracht hatte, die schnurrigste Wirkung von der Welt. Die Nereiden erschienen mit halbem Leib aus dem Wasser hervorragend, mit falschen gelben Haaren, und mit mächtigen falschen Brüsten, die von ferne recht natürlich wie – ausgestopfte Ballons und also sich selbst vollkommen gleich sahen. Die Symphonie, unter welcher diese Meerwunder herangeschwommen kamen, war eine Nachahmung des berühmten Wreckeckeck Koax Koax in den Fröschen des Aristophanes; und, um die Illusion vollkommner zu machen, hatte Herr Gryllus verschiedene Kühhörner angebracht, die von Zeit zu Zeit einfielen, um die auf ihren Schneckenmuscheln blasenden Tritonen nachzuahmen.

Von den Decorationen wollen wir, beliebter Kürze halben, weiter nichts sagen, als daß sie – von den Abderiten sehr schön befunden wurden. Insonderheit bewunderte man einen Sonnenuntergang, den sie vermittelst eines mit langen Schwefelhölzern besteckten Windmühlenrades zuwege brachten; welches einen guten Effect getan hätte, sagten sie, wenn es nur ein wenig schneller umgetrieben worden wäre. Bei der Art, wie Perseus mit seinen Mercurstiefeln aufs Theater angeflogen kam, hätten die Kenner wohl wünschen mögen, daß man die Stricke, in denen er hing, luftfarbig angestrichen hätte, damit sie nicht so gar deutlich in die Augen gefallen wären.

Sechstes Kapitel
Sonderbares Nachspiel, das die Abderiten mit einem unbekannten Fremden spielten, und dessen höchst unvermutete Entwicklung

Sobald das Stück geendigt war, und das betäubende Klatschen ein wenig nachließ, fragte man einander, wie gewöhnlich: Nun, wie hat Ihnen das Stück gefallen? und erhielt überall die gewöhnliche Antwort. Einer von den jungen Herren, der für einen vorzüglichen Kenner passierte, richtete die große Frage auch an einen etwas bejahrten Fremden, der in einer der mittlern Reihen saß, und dem Ansehen nach kein gemeiner Mann zu sein schien. Der Fremde, der sichs vielleicht schon gemerkt hatte, was man zu Abdera auf eine solche Frage antworten mußte, war so ziemlich bald mit seinem Sehr wohl heraus; aber weil seine Miene diesen Beifall etwas verdächtig machte, und sogar eine unfreiwillige, wie wohl ganz schwache Bewegung der Achseln, womit er ihn begleitete, für ein Achselzucken ausgedeutet werden konnte: so ließ ihn der junge abderitische Herr nicht so wohlfeil durch wischen. »Es scheint, sagte er, das Stück hat Ihnen nicht gefallen' Es passiert doch für eine der besten Piecen vom Euripides!«

Das Stück mag nicht übel sein, erwiderte der Fremde. –

»So haben Sie vielleicht an der Musik etwas auszusetzen?« –

An der Musik, – O! was die Musik betrifft, die ist eine Musik wie man sie nur zu Abdera hört. –

»Sie sind sehr höflich! In der Tat, unser Nomophylax ist ein großer Mann in seiner Art.« –

Ganz gewiß! –

»So sind Sie vermutlich mit den Schauspielern nicht zufrieden?« –

Ich bin mit der ganzen Welt zufrieden. –

»Ich dächte doch, die Andromeda hätte ihre Rolle scharmant gemacht?« –

O! sehr scharmant! –

»Sie tut einen großen Effect: nicht wahr?« –

Das werden Sie am besten wissen; ich bin dazu nicht mehr jung genug. –

»Wenigstens werden Sie doch gestehen, daß Perseus ein großer Acteur ist?« –

In der Tat, ein hübscher wohlgewachsner Mensch! –

»Und die Chöre? das waren doch Chöre, die dem Meister Ehre machten? Finden Sie z.E. den Einfall, wie die Nereiden eingeführt worden, nicht ungemein glücklich?«

Der Fremde schien des Abderiten satt zu sein: Ich finde, versetzte er mit einiger Ungeduld, daß die Abderiten glücklich sind, an allen diesen Dingen so viel Freude zu haben.

»Mein Herr, sagte der junge Geelschnabel in einem spöttelnden Tone, gestehen Sie nur, daß das Stück die Ehre und das Glück nicht gehabt hat, Ihren Beifall zu erhalten.«

Was ist Ihnen an meinem Beifall gelegen? Die Majora entscheiden.

»Da haben Sie Recht. Aber ich möchte doch um Wunders willen hören, was Sie denn gegen unsre Musik oder gegen unsre Schauspieler einwenden könnten?«

Könnten? sagte der Fremde etwas schnell, hielt aber gleich wieder an sich – Verzeihen Sie mir, ich mag niemand sein Vergnügen abdisputieren. Das Stück, wie es da gespielt worden, hat zu Abdera allgemein gefallen; was wollen Sie mehr? –

»Nicht so allgemein, da es Ihnen nicht gefallen hat!«

Ich bin ein Fremder-

»Fremd oder nicht, Ihre Gründe möcht' ich hören! Hi, hi, hi! Ihre Gründe, mein Herr, Ihre Gründe! die werden doch wenigstens keine Fremde sein! Hi, hi, hi, hi!«

Dem Fremden fing die Geduld an auszugehen. Junger Herr, sagte er, ich habe für meine Komödie bezahlt; denn ich habe geklatscht wie ein andrer. Lassen Sie's damit gut sein! Ich bin im Begriff wieder abzureisen. Ich habe meine Geschäfte.

»Ei, ei, sagte ein andrer abderitischer junger Mensch, der dem Gespräch zugehört hatte, Sie werden uns ja nicht schon verlassen wollen? Sie scheinen ein großer Kenner zu sein; Sie haben unsre Neugier, unsre Lehrbegierde (er sagte dies mit einem dummnaseweisen Hohnlächeln) gereizt; wir lassen Sie wahrlich nicht gehen, bis Sie uns gesagt haben, was Sie an dem heutigen Singspiel zu tadeln finden. Ich will nichts von den Worten sagen; ich bin kein Kenner; aber die Musik, dächt ich, war doch unvergleichlich?«

Das müßten am Ende doch wohl die Worte entscheiden, wie Sie's nennen, sagte der Fremde.

»Wie meinen Sie das? Ich denke Musik ist Musik, und man braucht nur Ohren zu haben, um zu hören, was schön ist.«

Ich gebe Ihnen zu, wenn Sie wollen, erwiderte jener, daß schöne Stellen in dieser Musik sind; es mag überhaupt eine gelehrte, nach allen Regeln der Kunst zugeschnittene, schulgerechte, artikelmäßige Musik sein: ich habe dagegen nichts; ich sage nur, daß es keine Musik zur Andromeda des Euripides ist!

»Sie meinen, daß die Worte besser ausgedrückt sein sollten?« O! die Worte sind zuweilen nur zu sehr ausgedrückt; aber im Ganzen, meine Herren, im Ganzen ist der Ton des Dichters verfehlt. Der Charakter der Personen, die Wahrheit der Affecten und Empfindungen, das eigene Schickliche der Situationen – das, was die Musik sein kann und sein muß, um Sprache der Natur, Sprache der Leidenschaft zu sein – was sie sein muß, damit der Dichter auf ihr wie in seinem Elemente schwimme, und emporgetragen, nicht ersäuft werde – das alles ist durchaus verfehlt kurz, das Ganze taugt nichts! da haben Sie meine Beichte in drei Worten!

»Das Ganze, schrien die beiden Abderiten, das Ganze taugt nichts? Nun, das ist viel gesagt! Wir möchten wohl hören, wie Sie das beweisen wollten?«

Die Lebhaftigkeit, womit unsre beiden Verfechter ihres vaterländischen Geschmacks dem graubärtigen Fremden zusetzten, hatte bereits verschiedne andre Abderiten herbeigezogen; jedermann wurde aufmerksam auf einen Streit, der die Ehre ihres Nationaltheaters zu betreffen schien. Alles drängte sich hinzu; und der Fremde, wiewohl er ein langer stattlicher Mann war, fand für nötig, sich an einen Pfeiler zurückzuziehen, um wenigstens den Rücken frei zu behalten.

Wie ich das beweisen Wollte? erwiderte er ganz gelassen: ich werde es nicht beweisen! Wem Sie das Stück gelesen, die Aufführung gesehen, die Musik gehört haben, und können noch verlangen, daß ich Ihnen mein Urteil davon beweisen soll: so würd' ich Zeit und Atem verlieren, wenn ich mich weiter mit Ihnen einließe.

»Der Herr ist, wie ich höre, ein wenig schwer zu befriedigen, sagte ein Ratsherr, der sich ins Gespräch mischen wollte, und dem die beiden jungen Abderiten aus Respect Platz machten. Wir haben doch hier in Abdera auch Ohren! Man läßt zwar jedem seine Freiheit; aber gleichwohl –«

»Wie? was? was gibts da? schrie der kurze dicke Ratsherr, der auch herbei gewatschelt kam; hat der Herr da etwas wider das Stück einzuwenden? Das möcht' ich hören! ha, ha, ha! Eins der besten Stücke, mein Treu! die seit langem aufs Theater gekommen sind! Viel Action! Viel – ä – ä – was ich sage! Ein schön Stück! Und schöne Moral!«

Meine Herren, sagte der Fremde, ich habe Geschäfte. Ich kam hieher, um ein wenig auszurasten; ich habe geklatscht, wie's der Landesgebrauch mit sich bringt, und wäre still und friedlich wieder meines Weges gegangen, wenn mich diese jungen Herren hier nicht auf die zudringlichste Art genötigt hätten, ihnen meine Meinung zu sagen.

»Sie haben auch vollkommnes Recht dazu, erwiderte der andre Ratsherr, der im Grunde kein großer Verehrer des Nomophylax war, und aus politischen Ursachen seit einiger Zeit auf Gelegenheit laurte, ihm mit guter Art wehzutun. Sie sind ein Kenner der Musik, wie es scheint, und –«

Ich spreche nach meiner Überzeugung, sagte der Fremde.

Die Abderiten um ihn her wurden immer lauter. Endlich kam Herr Gryllus, der von ferne gehört hatte, daß die Rede von seiner Musik war, in eigner Person dazu. Er hatte eine ganz eigne Art, die Augen zusammenzuziehen, die Nase zu rümpfen, die Achseln zu zucken, zu grinsen und zu meckern, wenn er jemand, mit dem er sich in einen Wortwechsel einließ, seine Verachtung zum Voraus zu empfinden gehen wollte. – »So? sagte er, hat meine Composition nicht das Glück, dem Herrn zu gefallen? Er ist also ein Kenner? Hä, hä, hä! – Versteht ohne Zweifel die Setzkunst, Ha?« –

»Es ist der Nomophylax«, sagte jemand dem Fremden ins Ohr um ihn durch die Entdeckung des hohen Rangs des Mannes, von dessen Werke er so ungünstig geurteilt hatte, auf einmal zu Boden zu schlagen.

Der Fremde machte dem Nomophylax sein Compliment, wie's in Abdera Sitte war, und schwieg.

»Nun, ich möchte doch hören, was der Herr gegen die Composition vorzubringen hätte? Für die Fehler des Orchesters geb' ich kein gut Wort; aber hundert Drachmen für einen Fehler in der Composition! Hä, hä, hä! Nun! Laß hören!«

Ich weiß nicht, was Sie Fehler nennen, sagte der Fremde; meines Bedünkens hat die ganze Musik, wovon die Rede ist, nur einen Fehler.

»Und der ist?« grinste der Nomophylax naserümpfend –

Daß der Sinn und Geist des Dichters durchaus verfehlt ist, antwortete der Fremde.

»So? Nichts weiter? Hä, hä, hä, hä! Ich hätte also den Dichter nicht verstanden? Und das wissen Sie? Denken Sie, daß wir hier nicht auch Griechisch verstehen? Oder haben Sie dem Poeten etwa im Kopfe gesessen? hi, hi, hi!«

Ich weiß was ich sage, versetzte der Fremde; und wenn's denn sein muß, so erbiet ich mich, von Vers zu Vers, durchs ganze Stück, mein Urteil zu Olympia vor dem ganzen Griechenlande zu beweisen.

»Das möchte zu viel Umstände machen«, sagte der politische Ratsherr.

»Es braucht's auch nicht, rief der Nomophylax. Morgen geht ein Schiff nach Athen; ich schreibe an den Euripides, an den Dichter! schicke ihm die ganze Musik! Der Herr wird das Stück doch wohl nicht besser verstehen wollen als der Poet selbst; Sie alle hier unterschreiben sich als Zeugen. Euripides soll selbst den Ausspruch tun!«

Die Mühe können Sie sich ersparen, sagte der Fremde lächelnd; denn, um dem Handel mit einem Wort ein Ende zu machen, der Euripides, an den Sie appellieren – bin ich selbst.

Unter allen möglichen schlimmen Streichen, welche Euripides dem Nomophylax von Abdera hätte spielen können, war unstreitig der schlimmste, daß er – in dem Augenblicke, da man an ihn als an einen Abwesenden appellierte – in eigner Person da stand. Aber wer konnte sich auch eines solchen Streichs vermuten sein, Was zum – Anubis hatte er in Abdera zu tun, Und gerade in dem Augenblick, wo man lieber einen Wolf gesehen hätte, als ihn? Wär er, wie man doch natürlicher Weise glauben mußte, zu Athen gewesen, wo er hin gehörte – nun so wäre alles seinen ordentlichen Weg gegangen. Der Nomophylax hätte seine Composition mit einem hübschen Briefe begleitet, und seinem Namen alle seine Titel und Würden beigefügt. Das hätte doch wirken müssen. Euripides hätte eine urbane attische Antwort gegeben; Gryllus hätte sie im ganzen Abdera lesen lassen: und wer hätte ihm dann den Sieg über den Fremden streitig machen wollen? – Aber daß der Fremde, der naseweise kritische Fremde, der ihm so frisch ins Gesicht gesagt hatte – was in Abdera niemand einem Nomophylax ins Gesicht sagen durfte Euripides selbst war: das war einer von den Zufällen, auf die ein Mann, wie er, sich nicht gefaßt gehalten hatte, und die vermögend wären, jeden andern als – einen Abderiten zu Schanden zu machen.

Der Nomophylax wußte sich zu helfen; indessen betäubte ihn doch der erste Schlag auf einen Augenblick. Euripides! rief er, und prallte drei Schritte zurück; und »Euripides!« riefen im nämlichen Augenblick der politische Ratsherr, der kurze dicke Ratsherr, die beiden jungen Herren, und alle Umstehenden, indem sie ganz erstaunt herum guckten, als ob sie sehen wollten, aus welcher Wolke Euripides so auf einmal mitten unter sie herabgefallen sei.

Der Mensch ist nie ungeneigter zu glauben, als wenn er von einer Begebenheit überrascht wird, an die er nur nicht als eine mögliche Sache gedacht hatte. – Wie? Das sollte Euripides sein? Der nämliche Euripides, von dem die Rede war? der die Andromeda gemacht? an den der Nomophylax zu schreiben drohte? Wie konnte das zugehen?

Der politische Ratsherr war der erste, der sich aus dem allgemeinen Erstaunen erholte. Ein glücklicher Zufall, wahrhaftig, rief er; beim Kastor! ein glücklicher Zufall, Herr Nomophylax! so brauchen sie ihre Musik nicht abschreiben zu lassen, und ersparen einen Brief.

Der Nomophylax fühlte die ganze entscheidende Wichtigkeit des Moments; und wenn der ein großer Mann ist, der in einem solchen entscheidenden Augenblick auf der Stelle die einzige Partei ergreift, die ihn aus der Schwierigkeit ziehen kann: so muß man gestehen, daß Gryllus eine starke Anlage hatte, ein großer Mann zu sein. »Euripides! rief er – Wie? Der Herr sollte so auf einmal Euripides worden sein? Hä, hä, hä! Der Einfall ist gut! Aber wir lassen uns hier in Abdera nicht so leicht Schwarz für Weiß geben.« –

Das wäre lustig, sagte der Fremde, wenn ich mir in Abdera das Recht an meinen Namen streitig machen lassen müßte.

»Verzeihen Sie, mein Herr, fiel der Sykophant des Thrasyllus ein, nicht das Recht an ihren Namen, sondern das Recht, sich für den Euripides auszugeben, auf den der Nomophylax provocierte. Sie können Euripides heißen; ob Sie aber Euripides sind, das ist eine andere Frage.«

Meine Herren, sagte der Fremde, ich will alles sein, was Ihnen beliebt, wenn Sie mich nur gehen lassen wollen. Ich verspreche Ihnen, mit diesem Schritte gehe ich den geradesten Weg, den ich finden werde, zu ihrem Tore hinaus, und der Nomophylax soll mich – componieren, wenn ich in meinem Leben wieder komme!

»Nä, nä, nä, rief der Nomophylax, das geht so hurtig nicht; der Herr hat sich für den Euripides ausgegeben, und nun da er sieht, daß es Ernst gilt, tritt er auf die Hinterbeine – Nä! so haben wir nicht gewettet! Er soll nun beweisen, daß er Euripides ist, oder – so wahr ich Gryllus heiße –«

»Erhitzen Sie sich nicht, Herr College, sagte der politische Ratsherr. Ich bin zwar kein Physiognomiste: aber der Fremde sieht mir doch völlig darnach aus, daß er Euripides sein könnte; und ich wollte unmaßgeblich raten, piano zu gehen.«

»Mich wundert, fing einer von den Umstehenden an, daß man hier so viel Worte verlieren mag, da der ganze Handel in Ja und Nein entschieden sein könnte. Da, oben über dem Portal, steht ja die Büste des Euripides leibhaftig. Es braucht ja nichts weiter als zu sehen, ob der Fremde der Büste gleich sieht?«

»Bravo, bravo, schrie der kleine dicke Ratsherr; das ist doch ein Wort von einem gescheuten Manne! Ha, ha, ha! Die Büste! das ist gar keine Frage, die Büste muß den Ausspruch tun – wiewohl sie nicht reden kann, ha, ha, ha, ha, ha!«

Die umstehenden Abderiten lachten alle aus vollem Halse über den witzigen Einfall des kurzen runden Männchens, und nun lief alles, was Füße hatte, dem Portale zu. Der Fremde ergab sich mit guter Art in sein Schicksal, ließ sich von vorn und hinten betrachten, und Stück vor Stück mit seiner Büste vergleichen, so lange sie wollten. Aber leider! die Vergleichung konnte unmöglich zu seinem Vorteil ausfallen; denn besagte Büste sah jedem andern Menschen oder Tiere ähnlicher als ihm.

»Nun, schrie der Nomophylax triumphierend – was kann der Herr nun zu seinem Vorstand sagen?«

»Ich kann etwas sagen (versetzte der Fremde, den die Komödie nachgerade zu belustigen anfing), woran von Ihnen allen keiner zu denken scheint: wiewohl es eben so wahr ist, als daß Sie Abderiten, und ich Euripides bin.«

»Sagen, sagen! grinste der Nomophylax; man kann freilich viel sagen, hä, hä, hä! Und was kann der Herr sagen?«

Ich sage, daß diese Büste dem Euripides ganz und gar nicht ähnlich sieht.

»Nein, mein Herr, rief der dicke Ratsherr, das müssen Sie nicht sagen! Die Büste ist eine schöne Büste; sie ist von weißem Marmor, wie Sie sehen, Marmor von Paros, straf mich Jupiter! und kostet uns hundert bare Dariken Species, das können Sie mir nachsagen. Es ist ein schönes Stück, von unserm Stadtbildhauer, ein geschickter, berühmter Mann! – nennt sich Moschion – werden von ihm gehört haben, – ein berühmter Mann! Und, wie gesagt, alle Fremden, die noch zu uns gekommen sind, haben die Büste bewundert! Sie ist echt, das können Sie mir nachsagen! Sie sehen ja selbst, es steht mit großen goldnen Buchstaben drunter ΕΥΡΙΠΙΔΗΣ«

Meine Herren, sagte der Fremde, der alle seine angeborne Ernsthaftigkeit zusammennehmen mußte, um nicht auszubersten: darf ich nur eine einzige Frage tun?

»Von Herzen gern«, riefen die Abderiten.

Gesetzt, fuhr jener fort, es entstünde zwischen mir und meiner Büste ein Streit darüber, wer mir am ähnlichsten sehe – wem wollen Sie glauben, der Büste oder mir?

»Das ist eine curiose Frage«, sagte der Abderiten einer, sich hinter den Ohren kratzend – »Eine captiose Frage, beim Jupiter! rief ein andrer; nehmen Sie sich in Acht, was Sie antworten, Hochgeachter Herr Ratsherr!«

Ist der dicke Herr ein Ratsherr dieser berühmten Republik? – fragte der Fremde mit einer Verbeugung – so bitte ich sehr um Verzeihung; ich gestehe, die Büste ist ein schönes glattes Werk, von schönem parischen Marmor – und wenn sie mir nicht ähnlich sieht, so könnt es wohl bloß daher, weil Ihr berühmter Stadtbildhauer die Büste schöner gemacht hat, als die Natur mich. Es ist immer ein Beweis seines guten Willens, und der verdient alle meine Dankbarkeit.

Dieses Compliment tat einen großen Effect; denn die Abderiten hatten's gar zu gerne, wenn man fein höflich mit ihnen sprach. »Es muß doch wohl Euripides selber sein«, murmelte einer dem andern ins Ohr, und der dicke Ratsherr selbst bemerkte, bei nochmaliger Vergleichung der Büste mit dem Fremden, daß die Bärte einander vollkommen ähnlich sähen.

Zu gutem Glücke kam der Archon Onolaus und sein Neffe Onobulus dazu, der den Euripides zu Athen hundertmal gesehen, und öfters gesprochen hatte. Die Freude des jungen Onobulus über eine so unverhoffte Zusammenkunft, und seine positive Bejahung, daß der Fremde wirklich der berühmte Euripides sei, hieb den Knoten auf einmal durch; und die Abderiten versicherten nun einer den andern: sie hätten's ihm gleich beim ersten Blick angesehen.

Der Nomophylax, wie er sah, daß Euripides gegen seine Büste Recht behielt, machte sich seitwärts davon. – Ein verdammter Streich! brummelte er zwischen den Zähnen vor sich her: wozu brauchte er aber auch so hinterm Berge zu halten? Wenn er wußte, daß er Euripides war, warum ließ er sich mir nicht präsentieren? Da hätte alles einen ganz andern Schwung bekommen!

Der Archon Onolaus, der in solchen Fällen gemeiniglich die Honneurs der Stadt Abdera zu machen pflegte, lud den Dichter mit großer Höflichkeit ein, das Gastrecht bei ihm zu nehmen, und bat sich zugleich von dem politischen und dicken Ratsherrn die Ehre auf den Abend aus; welches beide mit vielem Vergnügen annahmen.

»Dacht ich's nicht gleich? (sagte der dicke Ratsherr zu einem der Umstehenden;) der leibhaftige Euripides! Bart, Nase, Stirn, Ohrenläppchen, Augenbraunen, alles auf ein Haar! Man kann nichts gleichers sehen! Wo doch wohl der Nomophylax seine Sinne hatte? Aber, – ja – ja, er mochte wohl ein bißchen – Hm! Sie verstehen mich? – Cantores amant humores – Ha, ha, ha, ha! Basta! Desto besser, daß wir den Euripides bei uns haben! Was ich sage, ein feiner Mann, beim Jupiter! und der uns viel Spaß machen soll! Ha, ha, ha!«

Siebentes Kapitel
Wie Euripides nach Abdera gekommen, nebst einigen Geheimnachrichten von dem Hofe zu Pella

So möglich es an sich selbst war, daß sich Euripides zu Abdera befinden konnte, und eben so gut in dem Augenblick, wo der Nomophylax Gryllus auf ihn provocierte, als in jedem andern und so gewohnt man dergleichen unvermuteter Erscheinungen auf dem Theater ist: so begreifen wir doch wohl, daß es eine andre Bewandtnis hat, wenn sich eine solche Erscheinung im Parterre ereignet; und es ist solchenfalls der Majestät der Geschichte f55) gemäß, den Leser zu verständigen, wie es damit zugegangen. Wir wollen alles, was wir davon wissen, getreulich berichten; und sollte dem scharfsinnigen Leser dem ungeachtet noch einiger Zweifel übrig bleiben: so müßte es nur die allgemeine Frage betreffen, die sich bei jeder Begebenheit unter und über dem Monde aufwerfen läßt: nämlich, warum z.E. just von einer Mücke, und just von dieser individuellen Mücke, just in dieser Secunde – dieser zehnten Minute – dieser sechsten Nachmittagsstunde, dieses 10 ten Augusts – dieses 1778 Jahres gemeiner Zeitrechnung, just diese nämliche Frau oder Fräulein von *** nicht ins Gesicht, nicht in den Nacken, Ellnbogen, Busen, nicht auf die Hand, noch in die Ferse, u.s.w. sondern gerade vier Daumen hoch über der linken Kniescheibe gestochen worden u.s.w. – und da bekennen wir ohne Scheu, daß wir auf dieses Warum nichts zu antworten wissen. Fragt die Götter – könnten wir allenfalls mit einem großen Manne sagen; aber weil dieses offenbar eine – heroische Antwort wäre, so halten wirs für anständiger, die Sache lediglich auf sich beruhen zu lassen.

Also – was wir wissen. Der König Archelaus in Macedonien, ein großer Liebhaber der schönen Künste und der – schönen Geister (wie man damals gewisse verzärtelte Kinder der Natur nicht nannte, und wie man heutigs Tages einen Jeden nennt, von dem man nicht sagen kann, was er ist) – dieser König Archelaus war auf den Einfall gekommen, ein eignes Hofschauspiel zu halben; und vermöge einer Zusammenkettung von Umständen, Ursachen, Mitteln und Zwecken, woran niemanden mehr viel gelegen sein kann, hatte er den Euripides unter sehr vorteilhaften Bedingungen vermocht, mit einer Truppe ausgesuchter Schauspieler, Virtuosen, Baumeister, Maler und Machinisten, kurz mit allem, was zu einem vollständigen Theaterwesen gehört, nach Pella an sein Hoflager zu kommen, und die Direction über die neue Hofschaubühne zu übernehmen. Auf dieser Reise war itzt Euripides mit seiner ganzen Gesellschaft begriffen; und wiewohl der Weg über Abdera weder der einzige noch der kürzeste war, so hatte er ihn doch genommem, weil er Lust hatte, eine wegen des Witzes ihrer Einwohner so berühmte Republik mit eignen Augen zu sehen. Wie es aber gekommen, daß er an dem nämlichen Tage eingetroffen, da der Nomophylax seine Andromeda zum erstenmale gab; davon können wir, wie gesagt, keine Rechenschaft geben. Dergleichen Apropo's tragen sich häufiger zu als man denkt; und es ist wenigstens kein größeres Mirakel, als daß z.E. der junge Herr von ** eben im Begriff war, seine Beinkleider hinaufzuziehen, als unvermutet seine Nähterin ins Zimmer trat, die seidnen Strümpfe, die er ihr zu stoppen geschickt hatte, zu überbringen – welches, wie Sie wissen, die Veranlassung zu einer zufälligen Begebenheit war, die in seiner hohen Familie wenigstens eben so große Bewegungen verursachte, als die unvorbereitete Erscheinung des Euripides in dem abderitischen Parterre. Wer sich über so was wundern kann, muß sich nicht viel auf die ΔΑΙΜΟΝΙΑ verstehen, wie eben dieser Euripides sagt.

Übrigens, wenn wir sagten, daß der König Archelaus ein großer Liebhaber der schönen Künste und schönen Geister gewesen sei, so muß das eben nicht so genau und im strengsten Sinn der Worte genommen werden; denn es ist eigentlich nur so eine Art zu reden, und dieser Herr war im Grunde nichts weniger als ein Liebhaber der schönen Künste und schönen Geister. Das Wahre davon war: daß besagter König Archelaus seit einiger Zeit öfters Langeweile hatte – weil ihn alle seine vormaligen Amüsemens, als da sind – F**, G**, H**, J**, K**, L**, M**, u.s.w. nicht länger amüsieren wollten. Überdem war er ein Herr von großer Ambition, der sich von seinem Oberkammerherrn hatte sagen lassen, daß es schlechterdings unter die Zuständigkeiten eines großen Fürsten gehöre, Künste und Wissenschaften in seinen Schutz zu nehmen. Denn, sagte der Oberkammerherr, Ew. Majestät werden bemerkt haben, daß man niemals eine Statue, oder ein Brustbild eines großen Herrn auf einer Medaille u.s.w. sieht, an dessen rechter Hand nicht eine Minerva stünde, neben einem Trophee von Panzern, Fahnen, Spießen und Morgensternen – zur Linken knien immer etliche geflügelte Jungen oder halbnackte Mädchen, mit Pinsel und Palet, Winkelmaß, Flöte, Leier und einer Rolle Papier in den Händen, die Künste vorstellend, die sich dem großen Herrn gleichsam zur Protection empfehlen; oben drüber aber schwebt eine Fama, mit der Trompete am Mund, anzudeuten, daß Könige und Fürsten sich durch den Schutz, den sie den Künsten angedeihen lassen, einen unsterblichen Ruhm erwerben u.s.w.

Der König Archelaus hatte also die Künste in seinen Schutz genommen; und dem zufolge wissen uns die Geschichtschreiber ein Langes und Breites davon zu erzählen, wie viel er gebaut habe, und wie viel er auf Malerei und Bildhauerei, auf schöne Tapeten und andre schöne Meublen verwandt; und wie alles, bis auf die Commodidät, bei ihm habe hetrurisch sein müssen; und wie er berühmte Künstler, Virtuosen und schöne Geister an seinen Hof berufen habe, u.s.w. welches alles, sagen sie, er um so mehr tat, weil ihm daran gelegen war, das Andenken der Übeltaten auszulöschen, durch die er sich den Weg zum Throne, zu dem er nicht geboren war, gebahnt hatte – wie E.E. aus Ihrem Bayle mit mehrerm ersehen können.

Nach dieser kleinen Abschweifung kehren wir zu unserm attischen Dichter zurück, den wir unter einem schimmernden Zirkel von Abderiten und Abderitinnen vom ersten Range, unter einem grünen Pavillon im Garten des Archon Onolaus antreffen werden.

Achtes Kapitel
Wie sich Euripides mit den Abderiten benimmt
Sie machen einen Anschlag auf ihn, wobei sich ihre politische Betriebsamkeit in einem starken Lichte zeigt, und der ihnen um so gewisser gelingen muß, weil alle Schwierigkeiten, so sie dabei sehen, bloß eingebildet sind

Es ist oben schon bemerkt worden, daß Euripides schon lange, wiewohl unbekannter Weise, bei den Abderiten in großem Ansehen stund. Itzt, so bald es erschollen war, daß er in Person zugegen sei, war die ganze Stadt in Bewegung. Man sprach von nichts als vom Euripides. – »Haben Sie den Euripides schon gesehen? Wie sieht er aus? Hat er eine große Nase? Wie trägt er den Kopf? Was hat er für Augen? Er spricht wohl in lauter Versen? Ist er stolz?« – und hundert solche Fragen machte man einander schneller als es möglich war, auf eine zu antworten. Die Neugier, den Euripides zu sehen, zog noch außer denen, die der Archon hatte bitten lassen, verschiedene herbei, die nicht geladen waren. Alles drängte sich um den guten glatzköpfigen Dichter her, um zu beaugenscheinigen, ob er auch so aussehe, wie sie sich vorgestellt hatten, daß er aussehen müsse. Verschiedne, insonderheit unter den Damen, schienen sich zu verwundern, daß er am Ende doch just so aussah wie ein andrer Mensch. Andre bemerkten, daß er viel Feuer in den Augen habe; und die schöne Thryallis raunte ihrer Nachbarin ins Ohr, man seh es ihm stark an, daß er ein ausgemachter Weiberfeind f58) sei. Sie machte diese Bemerkung mit einem Ausdruck von anticipiertem Vergnügen über den Triumph, den sie sich davon versprach, wenn ein so erklärter Feind ihres Geschlechts die Macht ihrer Reizungen würde bekennen müssen.

Die Dummheit hat ihr Sublimes so gut als der Verstand, und wer darin bis zum Absurden gehen kann, hat das Erhabne in dieser Art erreicht, welches für gescheute Leute immer eine Quelle von Vergnügen ist. Die Abderiten hatten das Glück, im Besitz dieser Vollkommenheit zu sein. Ihre Ungereimtheit machte einen Fremden Anfangs wohl zuweilen ungeduldig; aber so bald man sah, daß sie so ganz aus einem Stücke war, und (eben darum) so viele Zuversicht und Gutmütigkeit in sich hatte: so versöhnte man sich gleich wieder mit ihnen, und belustigte sich oft besser an ihrer Albernheit, als an andrer Leute Witz.

Euripides war in seinem Leben nie bei so guter Laune gewesen als bei diesem Abderitenschmause. Er antwortete mit der größten Gefälligkeit auf alle ihre Fragen, lachte über alle ihre platten Einfälle, ließ jeden so hoch gelten als er sich selbst würdigte, und erklärte sich sogar über ihr Theater und Musikwesen so billig, daß jedermann vollkommen mit ihm zufrieden war. – »Ein feiner Gast! raunte der politische Ratsherr der Dame Salabanda, die über ihm saß, ins Ohr; der tritt leise auf!« – »Und so höflich, so bescheiden, als ob er kein großer Kopf wäre«, erwiderte Salabanda. – »Der drolligste Mann von der Welt, beim Jupiter! sagte der kurze dicke Ratsherr, beim Aufstehen von Tische; ein recht kurzweiliger Mann! Hätt's ihm nicht zugetraut, mein Seel!« – Die Damen, die er schön gefunden hatte, waren dafür so höflich, und taten, als ob sie ihn um zwanzig Jahre junger fänden als er war; kurz, man war ganz von ihm bezaubert, und bedauerte nur, daß man die Ehre und das Vergnügen, ihn in Abdera zu sehen, nicht länger haben sollte. Denn Euripides blieb dabei, daß er sich nicht aufhalten könne.

Endlich nahm Frau Salabanda den politischen Ratsherrn und den jungen Onobulus auf die Seite. »Was meinen Sie, sagte sie, wenn wir ihn dahin bringen könnten, daß er uns seine Andromeda gäbe, Er hat seine eigne Truppe bei sich. Es sollen ganz außerordentliche Virtuosen sein.« – Onobulus fand den Einfall göttlich – »Ich hatte ihn eben selbst gehabt, sagte der politische Ratsherr, und war im Begriff es Ihnen vorzutragen. Aber es wird Schwierigkeiten absetzen. Der Nomophylax.« – »O, dafür lassen Sie mich sorgen, fiel Salabanda ein; ich will ihm schon warm machen!«

»Für meinen Oheim steh ich, sagte Onobulus; und noch in dieser Nacht will ich unter unsern jungen Leuten eine Partei zusammentrommeln, die Lerms genug in der Stadt machen soll.«

»Nur nicht zu hitzig, munkelte der politische Ratsherr mit dem Kopf wackelnd; wir wollen uns nichts merken lassen! Erst das Terrain sondiert, und fein leise aufgetreten! das ist was ich immer sage.«

»Aber, wir haben keine Zeit zu verlieren, Herr Froschpfleger f59), Euripides geht fort –«

»Wir wollen ihn schon aufhalten, sagte Salabanda; er soll morgen bei mir sein – eine Gartenpartie, und alle unsre hübschen Leute dazu eingeladen – Lassen Sie nur mich machen; es soll gewiß gehen.«

Frau Salabanda passierte in Abdera für eine gar weise Frau. Sie war stark in Politicis und hatte großen Einfluß auf den Archon Onolaus. Der Oberpriester war ihr Oheim, und fünf oder sechs Ratsherren, die sie in ihrer Freundschaft zählte, gaben selten eine andre Meinung im Rat von sich, als die sie ihnen des Abends zuvor eingetrichtert hatte. Überdies stunden ihr die Liebhaber der schönen Thryallis, mit der sie in engstem Vertrauen lebte, gänzlich zu Gebot; nichts von ihren eignen zu sagen, deren sie immer einige hatte, die auf Hoffnung dienten, und also so geschmeidig waren wie Handschuhe. Ihr Haus, das unter die besten in der Stadt gehörte, war der Ort, wo alle Geschäfte vorbereitet, alle Händel geschlichtet, und alle Wahlen ins Reine gebracht wurden; mit einem Wort, Frau Salabanda machte in Abdera was sie wollte.

Euripides, ohne die mindeste Absicht Gebrauch von der Wichtigkeit dieser Frau zu machen, hatte sich diesen Abend so gut bei ihr insinuiert, als ob er zum wenigsten eine Froschpflegerstelle auf dem Korn gehabt hätte. Brachte sie ein politisches Weidsprüchlein als einen Gedanken vor, so fand er, daß es eine sehr scharfsinnige Bemerkung sei; citierte sie den Simonides oder Homer, so bewunderte er ihr Talent, Verse zu declamieren. Sie hatte ihn mit einigen Stellen seiner Werke aufgezogen, die ihn zu Athen in den bösen Ruf eines Weiberfeindes gesetzt, und er hatte, indem er sich gegen sie und die schöne Thryallis verbeugte, versichert, daß es sein Unglück sei, nicht eher nach Abdera gekommen zu sein. Kurz, er hatte sich so aufgeführt, daß Frau Salabanda bereit war, einen Aufstand zu erregen, falls ihr mit dem politischen Ratsherrn eingefädeltes Project durch kein gelinderes Mittel hätte durchgesetzt werden können.

Man säumte sich nicht, sich vor allen Dingen des Archons zu versichern, der gewöhnlich bald gewonnen war, wenn man ihm sagte, daß eine Sache der Republik Abdera zu großem Ruhm gereichen, und dem Volk sehr angenehm sein werde. Aber, weil er ein Herr war, der seine Ruhe liebte, so erklärte er sich: er überlasse es ihnen, alles in die gehörige Wege einzuleiten; er seines Orts möchte sich mit niemand deswegen abwerfen, am wenigsten mit dem Nomophylax, der ein Grobian sei, und unter dem Volk einen starken Anhang habe. – »Wegen des Volkes machen sich Ew. Herrlichkeit keine Sorge, flüsterte ihm der Ratsherr zu; das will ich durch die dritte Hand schon stimmen lassen, wie wirs nur wünschen können.« – »Und ich, sagte Salabanda, nehme die Ratsherren auf mich.« – Wir wollen sehen, sprach der Archon, indem er zur Gesellschaft zurückkehrte.

»Sein Sie ruhig, sprach die Dame zum politischen Ratsherrn, indem sie ihn auf die Seite nahm: ich kenne den Archon. Wenn man ihn haben will, so muß man ihm nur des Abends von einer Sache sprechen, und wenn er Nein gesagt hat, des Morgens wiederkommen, und, ohne den Mund zu verkrümmen, so reden, als ob er Ja gesagt habe, und ihm dabei zeigen, daß man des Erfolgs gewiß ist: so kann man sich auf ihm verlassen wie auf Gold. Es ist nicht das erstemal, daß ich ihn auf diese Art drangekriegt habe.«

»Sie sind eine schlaue Frau, versetzte der Herr Froschpfleger, indem er sie sachte auf den runden Arm klopfte – Was Sie leise auftreten! – Aber man wird merken, daß wir etwas vorhaben und das könnte nachteilig sein – Wir müssen piano gehn!«

In diesem Augenblick trippelten ein paar Abderitinnen herbei, denen bald alle übrigen von der Gesellschaft folgten, um zu hören, wovon die Rede sei. Der politische Ratsherr schlich sich weg.

»Nun, wie gefällt euch Euripides? sagte Frau Salabanda; nicht wahr, das ist ein Mann?«

O! ein scharmanter Mann, riefen die Abderitinnen.

Nur Schade, daß er so kahl ist – setzte eine hinzu; und daß ihm ein paar Zähne fehlen, sagte die andre.

Närrchen, destoweniger kann er dich beißen, sagte die dritte; und weil dies ein witziger Einfall war, so lachten sie alle herzlich darüber.

Ist er schon verheuratet, fragte ein junges Ding, das so aussah, als ob es wie ein Pilz in einer einzigen Nacht aus dem Boden aufgeschossen wäre.

Möchtest Du ihn etwa haben? antwortete ein andres Fräulein spöttisch; ich denke, er hat schon Urenkel zu verheuraten.

O! die will ich Dir überlassen, sagte jene schnippisch; und der Stich war desto wespenartiger, weil das besagte Fräulein, wiewohl sie so jung tat als ein Mädchen von achtzehn, wenigstens ihre volle fünf und dreißig auf dem Nacken trug.

»Kinder, unterbrach sie Frau Salabanda, von dem allen ist itzt die Rede nicht. Es ist was ganz anders auf dem Tapet. Wie gefiel' es euch, wenn ich den fremden Herrn beredete, etliche Tage hier zu bleiben, und uns mit der Truppe, die er bei sich hat, eine seiner Komödien zu geben?«

O das ist herrlich, riefen die Abderitinnen alle vor Freuden aufhüpfend; o ja, wenn Sie das machen könnten!

»Das will ich schon machen können, versetzte Salabanda, aber ihr müßt alle dazu helfen!«

O ja, o ja, schnatterten die Abderitinnen; und nun liefen sie in hellen Haufen auf den Euripides zu, und schrien alle auf einmal: O ja, Herr Euripides, Sie müssen uns eine Komödie spielen! Wir lassen Sie nicht gehen, bis Sie uns eine Komödie gespielt haben. Nicht wahr, Sie versprechens uns?

Der arme Mann, dem diese Zumutung auf den Hals kam wie ein Kübel Wassers übern Kopf, trat ein paar Schritte zurück, und versicherte sie, es sei ihm nie in den Sinn gekommen, in Abdera Komödie zu spielen; er müsse seine Reise beschleunigen u.s.w. Aber das half alles nichts – O Sie müssen, schrien die Abderitinnen; wir lassen Ihnen keine Ruhe; Sie sind viel zu artig, als daß Sie uns was abschlagen sollten. Wir wollen Sie so schön bitten –

»Im Ernst, sagte Frau Salabanda, wir haben einen Anschlag auf Sie gemacht –« und der nicht zu Wasser werden soll, fiel Onobulus ein, oder ich will nicht Onobulus heißen.

Was gibts? Was gibts? fragte der politische Ratsherr, der den Unwissenden machte, indem er langsam und mit unstetem Blick hinzuschlich; was haben Sie mit dem Herrn vor? – Der kurze dicke Ratsherr kann auch herbeigewatschelt. »Ich glaube gar, straf mich! sie wollen alle auf einmal sein Herz mit Arrest beschlagen, ha, ha, ha!« – schrie er und lachte, daß er sich die Seiten halten mußte. Man verständigte ihn, wovon die Rede sei. – »Ha, ha, ha, ha! Ein schöner Gedanke! straf mich Jupiter! da komm ich gewiß auch, das versprech ich Ihnen! Der Meister selbst! das muß der Mühe wert sein! Wird recht viel Ehre für Abdera sein, Herr Euripides, große Ehre! Haben uns glücklich zu schätzen, daß unsre Leute von so einem geschickten Manne profitieren sollen!« – Noch ein paar Herren von Bedeutung machten ihm ungefähr das nämliche Compliment.

Euripides, wiewohl er den Einfall nicht so übel fand, sich diese Lust mit den Abderiten zu machen, spielte noch immer den Erstaunten, und entschuldigte sich damit, daß er dem König Archelaus versprochen habe, seine Reise zu beschleunigen.

»Ei, was, sagte Onobulus, Sie sind ein Republikaner, und eine Republik hat ein näheres Recht an Sie.«

»Sagen Sie dem Könige nur, schnarrte die schöne Myris, daß wir Sie so gar schön gebeten haben. Er soll ein galanter Herr sein. Er wird Ihnen nicht übel nehmen, daß Sie sechs Frauenzimmern auf einmal nichts abschlagen konnten.«

O du, Tyrann der Götter und der Menschen, Amor! rief Euripides im Ton der Tragödie, indem er zugleich die schöne Thryallis ansah.

»Wenn das Ihr Ernst ist, sagte Thryallis, mit der Miene einer Person, die nicht gewohnt ist, weder abzuweisen, noch abgewiesen zu werden; wenn das Ihr Ernst ist, so beweisen Sie es dadurch, daß Sie sich von mir erbitten lassen.«

Dies von mir verdroß die andern Abderitinnen. Wir wollen nicht unbescheiden sein, sagte eine, indem sie die Lippen einzog, und auf die Seite sah – Man muß dem Herrn nichts zumuten, was ihm unmöglich ist, sagte eine Andre.

Um Ihnen Vergnügen zu machen, meine schönen Damen, sprach der Dichter, könnte mir das Unmögliche möglich werden.

Weil dies Nonsens war, so gefiel es allgemein. Onobulus war hurtig mit seiner Schreibtafel heraus, um sich den Gedanken aufzunotieren. Die Weiber und Mädchen warfen einen Blick auf Thryallis, als ob sie sagen wollten: Ätsch! er hat uns auch schön geheißen! Madam braucht sich eben nicht so viel auf ihre Atalantenfigur einzubilden; er bleibt so gut um unsertwillen hier als um ihrentwillen.

Salabanda machte endlich dem Handel ein Ende, indem sie sich bloß die Gefälligkeit ausbat, daß er ihr und ihren Freunden, die alle seine großen Verehrer seien, nur noch den morgenden Tag schenken möchte. Weil Euripides im Grunde nichts zu eilen hatte, und sich in Abdera sehr gut amüsierte, so ließ er sich nicht lange bitten, eine Einladung anzunehmen, die ihm hübsche Beiträge zu – Possenspielen für den Hof zu Pella versprach. Und so ging dann die Gesellschaft, auf die Ehre, sich morgen bei Frau Salabanda wiederzusehen, gegen Mitternacht in allerseitigem Vergnügen auseinander.

Neuntes Kapitel
Euripides besieht die Stadt, wird mit dem Priester Strobylus bekannt, und vernimmt von ihm die Geschichte der Latonenfrösche
Merkwürdiges Gespräch, welches bei dieser Gelegenheit zwischen Demokritus, dem Priester und dem Dichter vorfällt

Inzwischen führte Onobulus, in Begleitung etlicher junger Herren seines Schlages, seinen Gast in der Stadt herum, um ihm alles, was darin sehenswürdig wäre, zu zeigen. Unterwegens begegnete ihnen Demokritus, mit welchem Euripides schon von langem her bekannt war. Sie gingen also mit einander; und da die Stadt Abdera ziemlich weitläufig war, so hatten die beiden Alten Gelegenheit genug, von den jungen Herren zu profitieren, die immer den Mund offen hatten, über alles entschieden, alles wußten, und sich gar nicht zu Sinne kommen ließen, daß es ihres gleichen in Gegenwart von Männern anständiger sei, zu hören als sich hören zu lassen.

Euripides hatte also diesen Morgen genug zu hören und zu sehen. Die jungen Abderiten, die nie weiter als bis an die äußersten Schlagbäume ihrer Vaterstadt ge kommen waren, sprachen von allem, was sie ihm zeigten, als von Wundern, die gar nicht ihres gleichen in der Welt hätten. Onobulus hingegen, der die große Reise gemacht hatte, verglich alles mit dem, was er in eben dieser Art zu Athen, Korinth und Syrakus gesehen, und brachte, in einem albernen Ton von Entschuldigung, eine Menge lächerlicher Ursachen hervor, warum diese Dinge in Athen, Korinth und Syrakus schöner und prächtiger wären als in Abdera.

Junger Herr, sagte Demokritus, es ist hübsch, daß Sie Ihre Vater- und Mutterstadt in Ehren haben; aber wenn Sie uns einen Beweis davon geben wollen, so lassen Sie Athen, Korinth und Syrakus aus dem Spiele. Nehmen wir jedes Ding wie es ist, und so keine Vergleichung, so brauchts auch keine Entschuldigung!

Euripides fand alles, was man ihm zeigte, sehr merkwürdig; und das war es auch! Denn man zeigte ihm eine Bibliothek, worin viel unnütze und ungelesene Bücher, ein Münzcabinet, worinnen viel abgegriffene Münzen, ein reiches Spital, worin viel übelverpflegte Arme, ein Arsenal, worin wenig Waffen, und einen Brunnen, worin noch weniger Wasser war. Man zeigte ihm auch das Rathaus, wo die gute Stadt Abdera so wohl beraten wurde, den Tempel des Jasons, und ein vergoldetes Widderfell, welches sie, wiewohl wenig Gold mehr daran zu sehen war, für das berühmte goldne Vließ ausgaben. Sie nahmen auch den alten rauchigten Tempel der Latona in Augenschein, und das Grabmal des Abderus, der die Stadt zuerst erbaut haben sollte, und die Gallerie, wo alle Archonten von Abdera in Lebensgröße gemalt stunden, und einander alle so ähnlich sahen, als ob der folgende immer die Copie von dem vorhergehenden gewesen wäre. Endlich, da sie alles gesehen hatten, führte man sie auch an den geheiligten Teich, worin auf Unkosten gemeiner Stadt die größten und fettesten Frösche gefüttert wurden, die man je gesehen hat; und die, wie der Priester Strobylus sehr ernsthaft versicherte, in gerader Linie von den lycischen Bauren abstammten, die der umherirrenden nirgends Ruhe findenden, und vor Durst verschmachtenden Latona nicht gestatten wollten, aus einem Teiche, der ihnen zugehörte, zu trinken, und dafür vom Jupiter zur Strafe in Frösche verwandelt wurden.

O Herr Oberpriester, sagte Demokritus, erzählen Sie doch dem fremden Herrn die Geschichte dieser Frösche, und wie es zugegangen, daß der geheiligte Teich aus Lycien über das ionische Meer herüber bis nach Abdera versetzt worden; welches, wie Sie wissen, eine ziemliche Strecke Wegs über Länder und Meere ausmacht, und, wenn man so sagen darf, beinahe ein noch größeres Wunder ist, als die Froschwerdung der lycischen Bauern selbst.

Strobylus sah dem Demokritus und dem Fremden mit einem bedenklichen Blick unter die Augen. Weil er aber nichts darin sehen konnte, das ihn berechtigt hätte, sie für Spötter zu erklären, welche nicht verdienten, zu so ehrwürdigen Mysterien zugelassen zu werden: so bat er sie, sich unter einen großen wilden Feigenbaum zu setzen, der eine Seite des kleinen Latonentempels beschattete, und erzählte ihnen hierauf, mit eben der Treuherzigkeit, womit man die alltäglichste Begebenheit erzählen kann, alles, was er von der Sache zu wissen glaubte.

»Die Geschichte des Latonendiensts in Abdera, sagte er, verliert sich im Nebel des grauesten Altertums. Unsre Vorfahren, die Tejer, die sich vor ungefähr 140 Jahren von Abdera Meister machten, fanden ihn bereits seit unendlicher Zeiten eingeführt; und dieser Tempel hier ist vielleicht einer der ältesten in der Welt, wie Sie schon aus seiner Bauart und andern Zeichen eines hohen Altertums schließen können. Es ist, wie Sie wissen, nicht erlaubt, mit strafbarem Vorwitz den heiligen Schleier aufzuheben, den die Zeit um den Ursprung der Götter und ihres Dienstes geworfen hat. Alles verliert sich in Zeiten, wo die Kunst zu schreiben noch nicht erfunden war. Allein die mündliche Überlieferung, die von Vater zu Sohn durch so viele Jahrhunderte fortgepflanzt wurde, er setzt den Abgang schriftlicher Urkunden mehr als hinlänglich, und macht, so zu sagen, eine lebendige Urkunde aus, die dem toten Buchstaben billig noch vorzuziehen ist. Diese Tradition sagt: als die vorerwähnte Verwandlung der lycischen Bauren vorgegangen, hätten die benachbarten Einwohner und einige von den besagten Bauren selbst, welche an dem Frevel der übrigen keinen Teil genommen, als Zeugen des vorgegangenen Wunders, die Latona mit ihren noch an der Brust liegenden Zwillingen, Apollo und Diana, für Gottheiten erkannt, an dem Teiche, wo die Verwandlung geschehen, einen Altar errichtet, auch die Gegend und das Gebüsche, das den Teich umgab, zu einem Hain geheiligt. Das Land hieß damals noch Milia, und die in Frösche verwandelten Bauren waren also eigentlich zu reden Milier; als aber lange Zeit hernach Lycus, Pandions des zweiten Sohn, sich mit einer attischen Colonie des Landes bemächtigte, bekam es von ihm den Namen Lycia, und der ältere Name verlor sich gänzlich. Bei dieser Gelegenheit verließen die Einwohner der Gegend, wo der Altar und Hain der Latona stund, weil sie sich der Herrschaft des besagten Lycus nicht unterwerfen wollten, ihr Vaterland, setzten sich zu Schiffe, irrten eine Zeitlang auf dem ägeischen Meere herum, und ließen sich endlich zu Abdera nieder, welches kurz zuvor durch die Pest beinahe gänzlich entvölkert worden war. Bei ihrem Abzuge schmerzte sie, wie die Tradition sagt, nichts so sehr, als daß sie den geheiligten Hain und Teich der Latona zurücklassen mußten. Sie sannen hin und her, und fanden endlich, das Beste wäre, einige junge Bäume aus dem besagten Hain mit Wurzel und Erde, und eine Anzahl von Fröschen aus dem besagten Teich in einer Tonne voll geheiligten Wassers mitzunehmen. Sobald sie zu Abdera anlangten, war ihre erste Sorge, einen neuen Teich zu graben, welches eben dieser ist, den Sie hier vor sich sehen.

Sie leiteten einen Arm des Flusses Nestus in denselben, und besetzten ihn mit den Abkömmlingen der in Frösche verwandelten Lycier oder Milier, die sie in dem geweihten Wasser mit sich gebracht. Um den neuen Teich her, dem sie sorgfältig die völlige Gestalt und Größe des alten gaben, pflanzten sie die mitgebrachten heiligen Bäume, weiheten sie aufs neue der Latona zum Hain, bauten ihr diesen Tempel, und verordneten einen Priester, der den Dienst desselben versehen, und des Hains und Teiches warten sollte, welche sich auf diese Weise, ohne ein so großes Wunder, als Herr Demokritus für nötig hielt, aus Lycien nach Abdera versetzt befanden. Dieser Tempel, Hain und Teich erhielt sich, vermöge der Ehrfurcht, welche sogar die benachbarten wilden Thracier für denselben hegten, durch alle Veränderungen und Unfälle, denen Abdera in der Folge unterworfen war, bis die Stadt endlich von den Tejern, unsern Vorfahren, zu den Zeiten des großen Cyrus wiederhergestellt, und, wie man ohne Ruhmredigkeit sagen kann, zu einem Glanz erhoben wurde, daß sie keine Ursache hat, irgend eine andre in der Welt zu beneiden.«

Sie reden wie ein wahrer Patriot, Herr Oberpriester, sagte Euripides. Aber wenn es erlaubt wäre, eine bescheidene Frage zu tun –

»Fragen Sie – was Sie wollen, fiel ihm Strobylus ein; ich werde Gott Lob! nie verlegen sein, Antwort zu geben.«

Mit Ew. Ehrwürden Erlaubnis also! – fuhr Euripides fort Die ganze Welt kennt die edle Denkart und die Liebe zur Pracht und zu den schönen Künsten, die den tejischen Abderiten eigen ist, und wovon ihre Stadt überall die merkwürdigsten Beweise darstellt. Wie kömmt es also, da zumal die Tejer schon von alten Zeiten her im Ruf einer besondern Ehrfurcht für die Latona stehen, daß die Abderiten nicht auf den Gedanken gekommen sind, ihr einen ansehnlichern Tempel aufzubauen?

»Ich vermutete mir diesen Einwurf«, sagte Strobylus, mit einem Lächeln, wobei er die Augenbraunen in die Höhe zog, und mächtig weise aussehen wollte –

Es soll kein Einwurf sein, versetzte Euripides, sondern bloß eine bescheidene Frage.

»Ich will sie Ihnen beantworten, sagte der Priester. Ohne Zweifel wäre es der Republik leicht gewesen, der Latona als einer Göttin vom ersten Rang einen so prächtigen Tempel aufzubauen, wie sie dem Jason, der doch nur ein Heros war, gebaut hat. Aber sie hat mit Recht geglaubt, daß es der Ehrfurcht, die wir der Mutter des Apollo und der Diana schuldig sind, gemäßer sei, ihren uralten Tempel zu lassen, wie sie ihn gefunden; und er ist und bleibt demungeachtet der oberste und heiligste Tempel von Abdera, was auch immer der Priester des Jasons dagegen einwenden mag.«

Strobylus sagte dieses letzte mit einem Eifer und einem Crescendo il Forte, daß Demokritus für nötig fand, ihn zu versichern, daß dies wenigstens bei allen Gesunddenkenden eine ausgemachte Sache sei.

»Indessen, fuhr der Oberpriester fort, hat die Republik gleichwohl solche Beweise ihrer besondern Devotion für den Tempel der Latona und dessen Zubehörden abgelegt, daß gegen die Lauterkeit ihrer Absichten nicht der geringste Zweifel übrig sein kann. Sie hat zu Versehung des Dienstes nicht nur ein Collegium von sechs Priestern, deren Vorsteher zu sein ich unwürdiger Weise die Ehre habe, sondern auch aus dem Mittel des Senats drei Pfleger des geheiligten Teichs angeordnet, von welchen der erste allezeit eines von den Häuptern der Stadt ist. Ja sie hat, aus Beweggründen, deren Richtigkeit streitig zu machen, nicht länger erlaubt ist, die Unverletzlichkeit der Frösche des Latonenteichs auf alle Tiere dieser Gattung in ihrem ganzen Gebiet ausgedehnt; und zu diesem Ende das ganze Geschlecht der Störche, Kraniche und aller andern Froschfeinde aus ihren Grenzen verbannt.«

Wenn die Versicherung, daß es nicht länger erlaubt ist, an der Richtigkeit dieses Verfahrens zu zweifeln, mir nicht die Zunge bände, sagte Demokritus, so würde ich mir die Freiheit nehmen zu erinnern, daß selbiges mehr in einer, zwar an sich selbst löblichen, aber doch aufs äußerste getriebnen Deisidämonie f62), als in der Natur der Sache oder der Ehrfurcht, die wir der Latona schuldig sind, gegründet zu sein scheint. Denn in der Tat ist nichts gewisser, als daß die Frösche zu Abdera und in der Gegend umher, die den Einwohnern bereits sehr beschwerlich sind, mit der Zeit sich unter einer solchen Protection so überschwenglich vermehren werden, daß ich nicht begreife, wie unsre Nachkommen sich mit ihnen werden vergleichen können. Ich rede hier bloß menschlicher Weise, und unterwerfe meine Meinung dem Urteil der Obern, wie einem rechtgesinnten Abderiten zukommt.

»Daran tun Sie wohl, sagte Strobylus, es mag nun Ihr Ernst sein oder nicht; und Sie würden, nehmen Sie mirs nicht übel, noch besser tun, wenn Sie dergleichen Meinungen gar nicht laut werden ließen. Übrigens kann nichts lächerlichers sein, als sich vor Fröschen zu fürchten; und unter dem Schutze der Latona können wir, denke ich, gefährlichere Feinde verachten, als diese guten unschuldigen Tierchen jemals sein könnten, wenn sie auch unsre Feinde würden.«

Das sollt ich auch denken, sagte Euripides. Mich wundert, wie einem so großen Naturforscher, als Demokritus, unbekannt sein kann, daß die Frösche, die sich von Insecten und kleinen Schnecken nähren, dem Menschen vielmehr nützlich als schädlich sind.

Der Priester Strobylus nahm diese Anmerkung so wohl auf, daß er von diesem Augenblick an ein hoher Gönner und Beförderer unsers Dichters wurde. Die Herren hatten sich kaum von ihm beurlaubt, so ging er in einige der besten Häuser, und versicherte, Euripides sei ein Mann von großen Verdiensten. »Ich habe sehr wohl bemerkt, sagte er, daß er mit dem Demokritus nicht zum Besten steht; er gab ihm ein- oder zweimal tüchtig auf den Kolben. Er ist wirklich ein hübscher verständiger Mann – für einen Poeten.«

Zehntes Kapitel
Der Senat zu Abdera gibt dem Euripides, ohne daß er darum angesucht hätte Erlaubnis, eines seiner Stücke auf dem abderitischen Theater aufzuführen Kunstgriff; wodurch sich die abderitische Kanzlei in solchen Fällen zu helfen pflegte
Schlaues Betragen des Nomophylax
Merkwürdige Art der Abderiten, einem, der ihnen im Wege stund, allen Vorschub zu tun

Nachdem Euripides die Wahrzeichen von Abdera sämtlich in Augenschein genommen, führte man ihn nach dem Garten der Salabanda, wo er den Ratsherrn ihren Gemahl, (einen Mann, der bloß durch seine Gemahlin merkwürdig wurde,) und eine große Gesellschaft von abderitischem Beau-Monde fand, alle sehr begierig zu sehen, wie man es machte, um Euripides zu sein.

Euripides sah nur Ein Mittel, sich mit Ehren aus der Sache zu ziehen; und das war – in so guter abderitischer Gesellschaft nicht Euripides – sondern so sehr Abderit zu sein, als ihm nur immer möglich war. Die guten Leute wunderten sich, ihn so gleichartig mit ihnen selbst zu finden. Es ist ein scharmanter Mann, sagten sie; man dächte, er wäre sein Leben lang in Abdera gewesen.

Die Cabale der Dame Salabanda ging inzwischen tapfer ihren Gang, und des folgenden Morgens war schon die ganze Stadt des Gerüchtes voll, der fremde Dichter würde mit seinen Leuten eine Komödie aufführen, wie man in Abdera noch keine gesehen habe.

Es war ein Ratstag. Die Herren versammelten sich, und einer fragte den andern, wenn Euripides sein Stück geben würde? Keiner wollte was davon wissen, wiewohl jeder positiv versicherte, daß bereits die Zurüstungen dazu gemacht würden.

Als der Archon die Sache in Vortrag brachte, formalisierten sich die Freunde des Nomophylax nicht wenig darüber. »Wozu, sagten sie, braucht's uns noch zu fragen, ob wir erlauben wollen, was schon beschlossen ist, und wovon jedermann als von einer ausgemachten Sache spricht?«

Einer der hitzigsten behauptete, daß der Senat eben deswegen Nein dazu sagen, und dadurch zeigen sollte, daß Er Meister sei.

»Das wäre mir ein sauberes Participium, rief der Zunftmeister Pfrieme; weil die ganze Stadt für die Sache bordiert ist, und die fremden Komödianten zu hören wünscht, so soll der Senat Nein dazu sagen? Ich behaupte just das Gegenteil. Eben weil das Volk sie zu hören wünscht, so sollen sie aufspielen! Fox pobulus, Fox Deus! Das ist immer mein Simplum gewesen, und soll es bleiben, so lange ich Zunftmeister Pfrieme heißen werde!«

Die Meisten traten auf des Zunftmeisters Seite. Der politische Ratsherr zuckte die Achseln, sprach Pro und Contra, und beschloß endlich: wenn der Nomophylax nichts dabei zu erinnern hätte, so glaubte er, man könnte für diesmal connivendo geschehen lassen, daß die Fremden auf dem Stadttheater spielten.

Der Nomophylax hatte bisher bloß die Nase gerümpft, gegrinst, seinen Knebelbart gestrichen, und einige abgebrochne Worte mit untermischtem Hä, hä, hä, gemeckert. Er hätte nicht gerne dafür angesehen werden mögen, als ob ihm daran gelegen sei, die Sache zu hintertreiben. Allein je mehr er's verbergen wollte, desto stärker fiel's in die Augen. Er schwoll zusehends auf, wie ein Truthahn, dem man ein rotes Tuch vorhält, und endlich, da er entweder bersten oder reden mußte, sagte er: »Die Herren mögen nun glauben was sie wollen – aber ich bin wirklich der erste, der das neue Stück zu hören wünscht. Ohne Zweifel hat der Poet den Text und die Musik selbst gemacht, und da muß es ja wohl ein ganzes Wunderding sein. Indessen, weil er sich nicht aufhalten kann, wie man sagt, so seh ich nicht, wie man mit den Decorationen wird fertig werden können. Und wenn wir zu den Chören unsre Leute hergeben sollen, wie zu vermuten ist: so bedaur ich, daß ich sagen muß, vor vierzehn Tagen wird nicht daran zu denken sein.«

Dafür lassen wir den Euripides sorgen, sagte einer von den Vätern, aus deren Sprachröhren die Stimme der Dame Salabanda sprach; man wird ihm ohnehin Ehren halben die ganze Direction seines Schauspiels überlassen müssen – Den Rechten eines zeitigen Nomophylax und der Theatercommission unpräjudicierlich, setzte der Archon hinzu.

»Ich bin alles zufrieden, sagte Gryllus; die Herren wollen was Neues – Gut! Wünsche, daß es wohl bekomme! Bin selbst begierig, das Ding zu hören, wie gesagt. Es kommt freilich alles bloß darauf an, ob man Glauben an die Leute hat – Verstehen Sie mich? – Indessen wird Recht Recht, und Musik Musik bleiben; und ich wette was die Herren wollen, die Terzen und Quinten und Octaven der Herren Athenienser werden just so klingen wie die unsrigen, hä, hä, hä, hä!«

Es ging also mit einem großen Mehr durch, »daß den fremden Komödianten, semel pro semper und citra consequentiam, erlaubt sein sollte, eine Tragödie auf der Nationalschaubühne aufzuführen, und daß ihnen hiezu von Seiten der Theaterdeputation aller Vorschub getan und die Kosten von der Cassa bestritten werden sollten.« Allein, weil der Ausdruck erlaubt sein sollte dem Euripides, der nichts verlangt hatte, sondern sich bloß erbitten lassen, hätte anstößig sein können: so veranstaltete Frau Salabanda, daß der Ratsschreiber, der ihr besonderer Freund und Diener war, im Bescheid die Worte erlaubt sein sollte in ersucht werden sollte, und die fremden Komödianten in den berühmten Euripides verwandelte – Alles übrigens dem Ratschluß und der Kanzlei ohnpräjudicierlich und citra consequentiam!

So wie der Senat auseinander ging, begab sich der Nomophylax zum Euripides, überschüttete ihn mit Complimenten, bot ihm seine Dienste an, und versicherte ihn, daß ihm aller möglicher Vorschub getan werden sollte, um sein neues Stück recht bald aufführen zu können. Der Effect dieser Versicherung war, daß ihm, ohne daß jemand Schuld daran haben wollte, alle mögliche Hindernisse in den Weg gelegt wurden, und daß es immer an allem fehlte, was er nötig hatte. Beschwerte er sich, so wies ihn immer einer an den andern – und jeder beteuerte seine Unschuld und seinen guten Willen, indem er ganz deutlich zu verstehen gab, daß der Fehler bloß an diesem oder jenem liege, der eine Viertelstunde zuvor seinen guten Willen eben so stark beteuert hatte.

Euripides fand die abderitische Art, allen möglichen Vorschub zu tun, so beschwerlich, daß er sich nicht entbrechen konnte, der Dame Salabanda am Morgen des dritten Tages zu erklären: seine Meinung sei, sich mit dem ersten Winde, woher er auch blasen möchte, wieder einzuschiffen, wofern sie nicht einen Ratschluß auswirkte, der den Herren von der Commission anbeföhle, ihm keinen Vorschub zu tun. Da der Archon, wie wohl eigentlich alle executive Gewalt von ihm abhing, kein Mann von Execution war, so war das einzige Mittel in dieser Not, den Zunftmeister Pfrieme und den Priester Strobylus, welche alles beim Volke vermochten, in Bewegung zu setzen. Salabanda übernahm beides mit so guter Wirkung, daß binnen Tag und Nacht alles, was von Seiten der Theatercommission besorgt werden mußte, fertig und bereit war; welches um so leichter geschehen konnte, da Euripides seine eignen Decorationen bei sich hatte, und also beinahe nichts weiter zu tun war, als sie dem abderitischen Theater anzupassen.

Elftes Kapitel
Die Andromeda des Euripides wird endlich, trotz aller Hindernisse, von seiner eignen Truppe aufgeführt
Außerordentliche Empfindsamkeit der Abderiten, mit einer Digression, welche unter die lehrreichsten in diesem ganzen Werke gehört, und daher auch von gar keinem Nutzen sein wird

Die Abderiten hatten ein neues Stück erwartet, und waren daher übel zufrieden, da sie hörten, da es eben die Andromeda war, die sie vor wenig Tagen schon gesehen zu haben glaubten. Noch weniger wollten ihnen Anfangs die fremden Schauspieler einleuchten, deren Ton und Action so natürlich war, daß die guten Leute gewohnt ihre Helden und Heldinnen wie Besessene herumfahren zu sehen, und schreien zu hören wie der verwundete Mars in der Iliade – gar nicht wußten, was sie daraus machen sollten. Das ist eine wunderliche Art zu agieren, flüsterten sie einander zu; man merkt gar nicht, daß man in der Komödie ist; es klingt ja ordentlich, als ob die Leute ihre eigne Rollen spielten. Indessen bezeugten sie doch ihr Erstaunen über die Decorationen, die zu Athen von einem berühmten Meister in der Theaterperspectiv gemalt waren; und da die Meisten in ihrem Leben nichts Gutes in dieser Art gesehen hatten, so glaubten sie bezaubert zu sein, wie sie das Ufer des Meers, den Felsen, wo Andromeda angefesselt war, und den Hain der Nereiden an einer kleinen Bucht auf der einen Seite, und den Palast des Königs Cepheus in der Ferne auf der andern, so natürlich vor sich sahen, daß sie geschworen hätten, es sei alles wirklich und wahrhaftig so, wie es sich darstellte. Da nun überdies die Musik vollkommen nach dem Sinn des Dichters, und also das alles war, was die Musik des Nomophylax Gryllus – nicht war; da sie immer gerad aufs Herz wirkte, und ungeachtet der größten Einfalt und Singbarkeit doch immer neu und überraschend war: so brachte alles dies, mit der Lebhaftigkeit und Wahrheit der Declamation und Pantomime, und mit der Schönheit der Stimmen und des Vortrags, einen Grad von Täuschung bei den guten Abderiten hervor, wie sie noch in keinem Schauspiel erfahren hatten. Sie vergaßen gänzlich, daß sie in ihrem Nationaltheater saßen; glaubten unvermerkt mitten in der wirklichen Scene der Handlung zu sein, nahmen Anteil an dem Glück und Unglück der handelnden Personen, als ob es ihre nächsten Blutsfreunde gewesen wären, betrübten und ängstigten sich, hofften und fürchteten, liebten und haßten, weinten und lachten, wie es dem Zauberer, unter dessen Gewalt sie waren, gefiel, – kurz, die Andromeda wirkte so außerordentlich auf sie, daß Euripides selbst gestand, noch niemals des Schauspiels einer so vollkommnen Empfindsamkeit genossen zu haben.

Wir bitten – in Parenthesi – die empfindsamen Frauenzimmerchen und Jüngelchen unsrer von lauter Empfindsamkeit höchst unempfindsamen Zeit sehr um Verzeihung! – aber es war in der Tat unsre Meinung nicht, durch diesen Zug der außerordentlichen Empfindsamkeit der Abderiten Ihnen einen Stich zu geben – und gleichsam dadurch einigen Zweifel gegen ihren guten Verstand bei Ihnen selbst oder bei andern Leuten zu erwecken. – In ganzem Ernst, wir erzählen die Sache bloß wie sie sich zutrug; und wem eine so große Empfindsamkeit an Abderiten befremdlich vorkommt, den ersuchen wir höflichst – zu bedenken, daß sie, bei aller ihrer Abderitheit, am Ende doch Menschen waren wie andre; ja, in gewissem Sinn, nur desto mehr Menschen – je mehr Abderiten sie waren. Denn gerade ihre Abderitheit machte, daß es eben so leicht war, sie zu betrügen, als die Vögel, die in die gemalten Trauben des Zeuxis hineinpickten; indem sie sich jedem Eindruck, besonders den Illusionen der Kunst, viel ungewahrsamer und treuherziger überließen, als feinere und kältere, folglich auch gescheutere Leute zu tun pflegen, als welche man so leicht nicht verhindern kann, durch jeden Zauberdunst, den man um sie her macht, durchzusehen.

Übrigens macht der Verfasser dieser Geschichte hier die Anmerkung: Die große Disposition der Abderiten, sich von den Künsten der Einbildungskraft und der Nachahmung täuschen zu lassen, sei eben nicht das, was er am wenigsten an ihnen liebe. Er mag aber wohl dazu seine besondern Ursachen gehabt haben.

In der Tat haben Dichter, Tonkünstler, Maler, einem aufgeklärten und verfeinerten Publico gegenüber schlimmes Spiel; und just die eingebildeten Kenner, die unter einem solchen Publico immer den größten Haufen ausmachen, sind am schwersten zu befriedigen. Anstatt der Einwirkung still zu halten, tut man alles, was man kann, um sie zu verhindern. Anstatt zu genießen, was da ist, raisonniert man darüber, was da sein könnte. Anstatt sich zur Illusion zu bequemen f63), wo die Vernichtung des Zaubers zu nichts dienen kann, als uns eines Vergnügens zu berauben: setzt man ich weiß nicht welche kindische Ehre darin, den Philosophen zur Unzeit zu machen, zwingt sich zu lachen, wo Leute, die sich ihrem natürlichen Gefühl überlassen, Tränen im Auge haben, und, wo diese lachen, die Nase aufzurümpfen, um sich das Ansehen zu geben, als ob man zu stark oder zu fein oder zu gelehrt sei, um sich von so was aus seinem Gleichgewicht setzen zu lassen. –

Aber auch die wirklichen Kenner verkümmern sich selbst den Genuß, den sie von tausend Dingen, die in ihrer Art gut sind, haben könnten, durch Vergleichungen derselben mit Dingen anderer Art; Vergleichungen, die meistens ungerecht und immer wider unsern eignen Vorteil sind. Denn das, was unsre Eitelkeit dabei gewinnt, ein Vergnügen zu verachten, ist doch immer nur ein Schatten, nach welchem wir schnappen, indem uns das Wirkliche entgeht.

Wir finden daher, daß es allezeit unter noch rohen Menschen war, wo die Söhne des Musengottes jene großen Wunder taten, wovon man noch immer spricht, ohne recht zu wissen was man sagt. Die Wälder in Thracien tanzten zur Leier des Orpheus, und die wilden Tiere schmiegten sich zu seinen Füßen, nicht weil er – ein Halbgott war, sondern weil die Thracier – Bären waren; nicht, weil er übermenschlich sang, sondern weil seine Zuhörer wie bloße Naturmenschen hörten; kurz, aus eben dem Grunde, warum (nach Forsters Bericht) eine schottische Sackpfeife die guten Seelen von Tahiti in Entzücken setzte.

Die Anwendung dieser nicht sehr neuen, aber sehr praktischen Bemerkung, die man so oft gehört hat, und doch fast immer aus der Acht läßt, wird der geneigte Leser selbst machen, wenn's ihm beliebt. Unser eigen Gewissen mag uns sagen, ob und in wie fern wir in andern Dingen, mehr oder weniger, Thracier und Abderiten sind; aber wenn wir's in diesem einzigen Puncte wären, so möcht' es nur desto besser für uns – und freilich auch für den größten Teil unsrer poetischen Sackpfeifer, sein.

Zwölftes Kapitel
Wie ganz Abdera vor Bewunderung und Entzücken über die Andromeda des Euripides zu Narren wurde
Philosophischkritischer Versuch über diese seltsame Art von Phrenesie, welche bei den Alten insgemein die abderische Krankheit genannt wird – den Geschichtschreibern ergebenst zugeeignet

Als der Vorhang gefallen war, sahen die Abderiten noch immer mit offnem Aug und Munde nach dem Schauplatz hin; und so groß war ihre Verzückung, daß sie nicht nur ihrer gewöhnlichen Frage, wie hat Ihnen das Stück gefallen? vergaßen, sondern sogar des Klatschens vergessen haben würden, wenn Salabanda und Onolaus (die bei der allgemeinen Stille am ersten wieder zu sich selbst kamen) nicht eilends diesem Mangel abgeholfen, und dadurch ihren Mitbürgern die Beschämung erspart hätten, gerade zum erstenmale, wo sie wirklich Ursache dazu hatten, nicht geklatscht zu haben. Aber dafür brachten sie auch das Versäumte mit Wucher ein. Denn sobald der Anfang gemacht war, wurde so laut und so lange geklatscht, bis kein Mensch mehr seine Hände fühlte. Diejenigen, die nicht mehr konnten, pausierten einen Augenblick, und fingen dann wieder desto stärker an, bis sie von andern, die inzwischen ausgeruht, wieder abgelöst wurden. Es blieb nicht bei diesem lärmenden Ausbruch ihres Beifalls. Die guten Abderiten waren so voll von dem, was sie gehört und gesehen hatten, daß sie sich genötiget fanden, ihrer Repletion noch auf andere Weise Luft zu machen. Verschiedene blieben im Nachhausegehen auf öffentlicher Straße stehen, und declamierten überlaut die Stellen des Stücks, wovon sie am stärksten gerührt worden waren. Andre, bei denen die Leidenschaft so hoch gestiegen war, daß sie singen mußten, fingen zu singen an, und wiederholten, wohl oder übel, was sie von den schönsten Arien im Gedächtnis behalten hatten. Unvermerkt wurde, wie es bei solchen Gelegenheiten zu gehen pflegt, der Paroxysmus allgemein; eine Fee schien ihren Stab über Abdera ausgereckt, und alle seine Einwohner in Komödianten und Sänger verwandelt zu haben. Alles was Odem hatte sprach, sang, trallerte, leierte und pfiff, wachend und schlafend, viele Tage lang nichts als Stellen aus der Andromeda des Euripides. Wo man hin kam, hörte man die große Arie – O du, der Götter und der Menschen Herrscher, Amor u.s.w. und sie wurde so lange gesungen, bis von der ursprünglichen Melodie gar nichts mehr übrig war, und die Handwerksbursche, zu denen sie endlich herabsank, sie bei Nacht auf der Straße nach eigner Melodie brüllten.

Wenn der Rat nicht (wie so viele andre, die uns von Weisen gegeben werden) den einzigen Fehler hätte – daß er nicht praktikabel ist, so würden wir eilen was wir könnten, allen Menschen den Rat zu geben, niemals von irgend einer Begebenheit, die ihnen erzählt wird, ein Wort zu glauben. Denn unzählige Erfahrungen, die wir hierüber seit mehr als dreißig Jahren gemacht, haben uns überzeugt, daß an allen solchen Erzählungen ordentlicher Weise kein Wort wahr ist; und wir wissen uns in ganzem Ernst nicht eines einzigen Falles zu besinnen, wo eine Sache, wiewohl sie sich erst vor wenigen Stunden zugetragen, nicht von jedem, der sie erzählte, anders, und also (weil doch ein Ding nur auf eine Art wahr ist) von jedem falsch erzählt worden wäre.

Da es diese Bewandtnis mit Dingen hat, die zu unsrer Zeit, an dem Ort unsers Aufenthalts, und beinahe vor unsern sichtlichen Augen geschehen: so kann man leicht ermessen, wie es um die historische Treue und Zuverlässigkeit solcher Begebenheiten stehen müsse, die sich vor langer Zeit zugetragen, und für die wir keine andre Gewähr haben, als was uns davon in geschriebenen oder gedruckten Büchern weisgemacht wird. Weiß der liebe Gott, wie sie da der armen ehrlichen Wahrheit mitspielen, und was von ihr übrig bleiben kann, wenn sie ein paar tausend Jahre lang durch alle die verfälschenden Mediums von Traditionen, Chroniken, Jahrbüchern, pragmatischen Geschichten, kurzen begriffen, historischen Wörterbüchern, Anekdotensammlungen u.s.w., und durch so manche gewaschne oder ungewaschne Hände von Schreibern und Abschreibern, Setzern und Übersetzern, Censoren und Correctoren etc. durchgebeutelt, geseigt und gepreßt worden ist! Ich meines Orts bin durch die genauere Betrachtung dieser Umstände schon lange bewogen worden, ein Gelübde zu tun, keine andre Geschichte zu schreiben, als von Personen, an deren Existenz – und von Begebenheiten, an deren Zuverlässigkeit – keinem Menschen in der Welt etwas gelegen sein kann.

Was mich zu dieser kleinen Expectoration veranlaßt, ist gerade die Begebenheit, die wir vor uns haben, und die von den verschiedenen Schriftstellern, welche ihrer Erwähnung tun, so seltsam behandelt und mißhandelt worden ist, als ein gutherziger nichts Arges wähnender Leser sich kaum vorstellen kann.

Da ist nun, zum Exempel, dieser Yorik, dieser Erfinder, Vater, Protoplastus und Prototypus aller empfindsamen Reisen und empfindelnden Wandersleute, die ohne Beutel und Tasche, ja ohne nur ein paar Schuhsohlen darüber abgenutzt zu haben, empfindsame Reisen, wer weiß wohin, bloß in der Absicht getan haben, mit deren Beschreibung ihre Bier- und Tabaksrechnung zu saldieren – ich sage, da ist nun dieser Yorik, der, um ein hübsches Kapitelchen in sein berühmtes Sentimental Journey daraus zu machen, diese nämliche Begebenheit so accommodiert hat, daß sie zwar so wunderbar und abenteuerlich als ein Feenmärchen worden ist, aber auch darüber alle ihre individuelle Wahrheit, und sogar alle abderitische Familienähnlichkeit verloren hat.

Man höre nur an! – »Die Stadt Abdera (sagt er) war die schändlichste und gottloseste Stadt in ganz Thracien – wimmelte und brudelte von Giftmischerei, Verschwörungen, Meuchelmord, Schmähschriften, Pasquillen und Tumult. Bei hellem Tage war man seines Lebens nicht sicher; bei Nacht wars noch ärger. Nun begab sichs (fährt er fort), als der Greuel aufs höchste gestiegen war, daß man zu Abdera die Andromeda des Euripides vorstellte. Sie gefiel allen Zuschauern; aber von allen Stellen, die dem Volke gefielen, wirkten keine stärker auf seine Imagination als die zärtlichen Naturzüge, die der Dichter in die rührende Rede des Perseus verweht hatte –

O du, der Götter und der Menschen Herrscher, Amor!

Alle Welt sprach den folgenden Tag in Jamben, und von nichts als der rührenden Anrede des Perseus: O Amor, du der Götter und der Menschen Herrscher! f64) – In jeder Gasse von Abdera, in jedem Hause: ›O Amor, O Amor‹! – In jedem Munde u.s.w. nichts als: O du, der Götter und der Menschen Herrscher, Amor! Das Feuer griff um sich, und die ganze Stadt, gleich dem Herzen eines einzigen Mannes, öffnete sich der Liebe. Kein Drogist konnte einen Scrupel Niesewurz los werden – kein Waffenschmied hatte das Herz, ein einziges Werkzeug des Todes zu schmieden Freundschaft und Tugend begegneten sich auf den Gassen – das goldne Alter kehrte zurück, und schwebte über der Stadt Abdera. Jeder Abderit nahm sein Haberrohr, und jede Abderitin verließ ihr Purpurgewebe, und setzte sich keusch und horchte auf den Gesang.«

In der Tat ein sehr schönes Kapitelchen! Alle jungen Knaben und Mädel fanden es deliciös – »O Amor, Amor! der Götter und der Menschen Herrscher, Amor!« – Und daß ein einziger Vers aus dem Euripides – ein Vers, wie wahrlich – bei beiden Ohren des Königs Midas! – der geringste unter euern Haberrohrsängern sich alle Augenblicke zwanzig auf einem Beine stehend zu machen getrauen kann – ein Wunder gewirkt haben soll, das alle Priester, Propheten und Weisen der ganzen Welt mit gesamter Hand nicht im Stande gewesen sind, nur ein einzigesmal zu bewirken – das Wunder, eine so schändliche, heillose und gottesvergessene Stadt und Republik, wie Abdera gewesen sein soll, auf einmal in ein unschuldiges, liebevolles Arkadien zu verwandeln – das gefällt freilich den gauchhaarigten, empfindsamen, geelschnäblichten Turteltäubchen und Turteltaubern! Nur Schade, wie gesagt, daß am ganzen Histörchen, so wie es Bruder Yorik erzählt, kein wahres Wort ist.

Das ganze Geheimnis ist: der wunderliche Mensch war verliebt, als er sich das alles einbildete; und so schrieb er (wie es jedem ehrlichen Amoroso und Virtuoso, Steckenpferdler und Mondritter zu gehen pflegt) alles, was er sich einbildete, für Wahrheit hin. Nur ists nicht hübsch an ihm, daß er – um seinem Leibgötzen und Fetisch, Amor, ein desto größeres Compliment zu machenden armen Abderiten das Ärgste nachsagt, was sich von Menschen denken und sagen läßt. Aber das ganze griechische und römische Altertum soll auftreten und zeugen, ob jemals so etwas auf die guten Leute gebracht worden sei! Sie hatten freilich, wie man weiß, ihre Launen und Mucken, und was man im eigentlichen Verstande Klugheit und Weisheit nennt, war nie ihre Sache gewesen; aber ihre Stadt deswegen zu einer Mördergrube zu machen, das geht ein wenig über die Grenzen der berüchtigten Dichterfreiheit, die (so einen großen Tummelplatz man ihr auch immer zugestehen will) doch am Ende, wie alle andere Dinge in der Welt, ihre Grenzen haben muß.

Lucian von Samosata, im Eingang seines berühmten Büchleins, wie man die Geschichte schreiben müßte – wenn man könnte, erzählt die Sache ganz anders, wiewohl, mit seiner Erlaubnis, nicht viel richtiger als Yorik. Er muß, wie es scheint, etwas vom König Archelaus und von der Andromeda des Euripides und von der seltsamen Schwärmerei, die sich der Abderiten bemächtigte, gehört haben; und daß man zuletzt genötiget war, den Hippokrates zu Hülfe zu rufen, damit er alles zu Abdera wieder ins alte Gleis setzen möchte – Und nun sehe man einmal, wie der Mann das alles durch einander wirft! – »Der Komödiant Archelaus (der damals so viel war, als wenn man bei uns Brokmann, oder Schröter, oder, ne vous déplaise, der deutsche Garrik sagt) – dieser Archelaus kam in den Tagen des Königs Lysimachus nach Abdera, und gab die Andromeda des Euripides. Es war just ein außerordentlich heißer Sommertag. Die Sonne brannte den Abderiten auf ihre Köpfe, die wahrlich ohnehin schon warm genug waren. Die ganze Stadt brachte ein starkes Fieber aus der Komödie nach Hause. Am siebenten Tage brach sich bei den Meisten die Krankheit entweder durch heftiges Nasenbluten oder einen starken Schweiß; hingegen blieb ihnen eine seltsame Art von Zufall davon zurück. Denn wie das Fieber vorbei war, überfiel sie allesamt ein unwiderstehlicher Drang, tragische Verse zu declamieren. Sie sprachen in lauter Jamben, schrien, wo sie stunden und gingen, aus vollem Halse ganze Tiraden aus der Andromeda daher, sangen den Monologen des Perseus« u.s.w.

Lucian, nach seiner spöttischen Art, macht sich sehr lustig mit der Vorstellung, wie närrisch es ausgesehen haben müsse, alle Straßen in Abdera von bleichen, entbauchten, und vom siebentägigen Fieber ausgemergelten Tragikern wimmeln zu sehn, die aus allen ihren Leibeskräften, »Du aber, der Götter und der Menschen Herrscher Amor,« u.s.w. gesungen; und er versichert, diese Epidemie habe so lange gedauert, bis der Winter und eine eingefallne große Kälte dem Unwesen endlich ein Ende gemacht.

Man muß gestehen, Lucians Art, den Hergang zu erzählen, hat vor der yorikischen vieles voraus. Denn so seltsam dieses abderitische Fieber scheinen mag, so werden doch alle Ärzte gestehen, daß es wenigstens möglich, und alle Dichter, daß es charaktermäßig ist. Es gilt also davon, was die Italiäner zu sagen pflegen: se non è vero, è ben trovato. Aber wahr ists freilich nicht; wie schon aus dem einzigen Umstand erhellt, daß um die Zeit, da sich diese Begebenheit in Abdera zugetragen haben soll, eigentlich kein Abdera mehr war, weil die Abderiten schon einige Jahre zuvor ausgezogen waren, und ihre Stadt den Fröschen und Ratten überlassen hatten.

Kurz, die Sache begab sich – wie wir sie erzählt haben; und wem man den Paroxysmus, der die Abderiten nach der Andromeda des Euripides überfiel, ein Fieber nennen will: so war es wenigstens von keiner andern Art als das Schauspielfieber, womit wir bis auf diesen Tag manche Städte unsers werten deutschen Vaterlandes behaftet sehen. Das Übel lag nicht sowohl im Blute, als in der Abderitheit der guten Leute überhaupt.

Indessen ist nicht zu leugnen, daß es bei einigen, bei denen es mehr Zunder und Nahrung als bei andern finden mochte, ernsthaft genug wurde, um des Arztes zu bedürfen – woraus denn vermutlich in der Folge der Irrtum Lucians entstanden sein mag, die ganze Sache für eine Art von hitzigem Fieber zu halten. Zum Glücke befand sich Hippokrates noch in der Nähe; und da er die Natur der Abderiten schon ziemlich kennen gelernt hatte: so setzten etliche Pfund Niesewurz alles in kurzem wieder in den alten Stand – d.i. die Abderiten hörten auf: »O du, der Götter und der Menschen Herrscher, Amor!« zu singen, und waren nun samt und sonders wieder – so weise als zuvor.



Der Schlüssel zur Abderitengeschichte

Als Homers Gedichte unter den Griechen bekannt worden waren, hatte das Volk, das in vielen Dingen mit seinem schlichten Menschenverstand richtiger zu sehen pflegt als die Herren mit bewaffneten Augen, gerade Verstand genug, um zu sehen, daß in diesen großen heroischen Fabeln, ungeachtet des Wunderbaren, Abenteuerlichen und Unglaublichen, womit sie so reichlich durchwebt sind, daß eine Amme Märchen genug um ihr Kind in Schlaf zu singen daraus machen konnte, mehr Weisheit und Unterricht fürs praktische Leben liege, als in einem milesischen Ammenmärchen; und wir sehen aus Horazens Brief an Lollius, und aus dem Gebrauch, welchen Plutarch von Homers Gedichten macht und zu machen lehrt, daß noch viele Jahrhunderte nach Homer die verständigsten Weltleute unter Griechen und Römern der Meinung waren, daß man was recht und nützlich, was unrecht und schädlich sei, und wie viel ein Mann durch Tugend und Weisheit vermöge, so gut und noch besser aus Homers Fabeln lernen könne, als aus den subtilsten oder beredtesten stoischen Sittenlehrern. Man überließ es alten Kindsköpfen (denn die Jungen belehrte man eines Bessern,) an dem bloßen materiellen Teil der Dichtung kleben zu bleiben; verständige Leute fühlten und erkannten den Geist, der in diesem Leibe atmete, und ließen sichs nicht einfallen, scheiden zu wollen, was die Muse untrennbar zusammengefügt hatte, das Wahre unter der Hülle des Wunderbaren, und das Nützliche durch eine Mischungskunst, die nicht allen geoffenbart ist, vereinbart mit dem Schönen und Angenehmen.

Wie es bei allen menschlichen Dingen geht, so ging es auch hier. Nicht zufrieden, in Homers Gedichten warnende oder aufmunternde Beispiele, einen lehrreichen Spiegel des menschlichen Lebens in seinen mancherlei Ständen, Verhältnissen und Scenen zu finden, wollten die Gelehrten späterer Zeiten noch tiefer eindringen, noch mehr sehen, als ihre Vorfahren; und so entdeckte man (denn was entdeckt man nicht, wenn man sichs einmal in den Kopf gesetzt hat, etwas zu entdecken) in dem was nur Beispiel war, Allegorie, in allem, sogar in den bloßen Maschinen und Decorationen des poetischen Schauplatzes, einen mystischen Sinn, und zuletzt in jeder Person, jeder Begebenheit, jedem Gemälde, jeder kleinen Fabel, Gott weiß was für Geheimnisse von hermetischer, orphischer und magischer Philosophie, an die der gute Dichter in der Unschuld seines Herzens gewiß so wenig gedacht hatte, als Virgil, daß man zwölf hundert Jahre nach seinem Tode mit seinen Versen die bösen Geister beschwören würde.

Immittelst wurde es unvermerkt zu einem wesentlichen Requisit eines epischen Gedichts (wie man die größern und heroischen poetischen Fabeln zu nennen pflegte,) daß es außer der natürlichen Sinn und der Moral, die es beim ersten Anblick darbot, noch einen andern geheimen und allegorischen haben müsse – wenigstens gewann diese Grille bei den Italiänern und Spaniern die Oberhand; und es ist mehr als lächerlich, zu sehen, was für eine undankbare Mühe sich die Ausleger oder auch wohl die Dichter selbst geben, um aus einem Amadis und Orlando, aus Trissins befreitem Italien oder Camoens Lusiade, ja sogar aus dem Adone des Marino, alle Arten von metaphysischer, politischer, moralischer, physikalischer und theologischer Allegorien herauszuspinnen. Da es nun nicht die Sache der Leser war, in diese Geheimnisse aus eigner Kraft einzudringen: so mußte man ihnen, wenn sie so herrlicher Schätze nicht verlustigt werden sollten, notwendig einen Schlüssel dazu geben; und dieser Schlüssel war eben die Exposition des allegorischen oder mystischen Sinnes; wiewohl der Dichter, gewöhnlicherweise, erst wen er mit dem ganzen Werk fertig war, daran dachte, was vor versteckte Ähnlichkeiten und Beziehungen sich etwa aus seinen Dichtungen herausholen lassen könnten.

Was bei vielen Dichtern bloße Gefälligkeit gegen eine herrschende Mode war, über welche sie sich nicht hinwegzusetzen wagten, wurde für andre wirklicher Zweck und Hauptwerk. Der berühmte Zodiacus vitae des sogenannten Palingenius, die Argenis des Barcley, die Feenkönigin des Spencer, die neue Atlantis der Dame Manley, die malabarischen Prinzessinnen, das Märchen von der Tonne, die Geschichte von Johann Bull und eine Menge andrer Werke dieser Art, woran besonders das sechzehnte und siebenzehnte Jahrhundert fruchtbar gewesen ist, waren ihrer Natur und Absicht nach allegorisch, und konnten also ohne Schlüssel nicht verstanden werden, wiewohl einige derselben, z.B. Spencers Feenkönigin, und die allegorischen Satyren des D. Swift, so beschaffen sind, daß eine jede verständige und der Sachen kundige Person den Schlüssel dazu ohne fremde Beihülfe in ihrem eignen Kopfe finden kann.

Diese kurze Deduction wird mehr als hinlänglich sein, um denen, die noch nie daran gedacht haben, begreiflich zu machen, wie es zugegangen sei, daß sich unvermerkt eine Art von gemeinem Vorurteil und wahrscheinlicher Meinung in den meisten Köpfen festgesetzt hat, als ob ein jedes Buch, das einem satyrischen Roman ähnlich sieht, mit einem versteckten Sinn begabt sei, und also einen Schlüssel nötig habe. Daher hat auch der Herausgeber der gegenwärtigen Geschichte, wie er gewahr wurde, daß die meisten unter der großen Menge von Lesern, welche sein Werk zu finden die Ehre gehabt hat, sich fest überzeugt hielten, daß noch etwas mehr dahinter stecken müsse, als was die Worte beim ersten Anblick zu besagen scheinen, und also einen Schlüssel zu der Abderitengeschichte, als ein unentbehrliches Bedürfnis zu vollkommner Verständnis eines so interessanten Buches zu erhalten wünschten, sich dieses ihm häufig zu Ohren kommende Verlangen seiner werten Leser keineswegs befremden lassen; sondern er hat es im Gegenteil für eine Aufmerksamkeit die er ihnen schuldig ist gehalten, bei gegenwärtiger neuer und vollständiger Originalausgabe, demselben, so viel an ihm ist, ein Genüge zu tun, und ihnen, als einen Schlüssel oder statt des verlangten Schlüssels (welches im Grunde auf eins hinausläuft) alles mitzuteilen, was zu gründlicher Verständnis und nützlichem Gebrauch dieses zum Vergnügen aller Klugen, und zur Lehre und Züchtigung aller N**n geschriebenen Werkes, dienlich sein kann.

Zu diesem Ende findet er nötig, ihnen vor allen Dingen die Geschichte der Entstehung desselben, unverfälscht und mit den eigen Worten des Verfassers, eines zwar wenig bekannten, aber seit dem Jahr 1753 sehr stark gelesenen Schriftstellers, mitzuteilen.

»Es war (so lautet sein Bericht) – es war ein schöner Herbstabend im Jahr 177*; ich befand mich allein in dem obern Stockwerk meiner Wohnung und sah – denn ich schäme mich nicht zu bekennen, wenn mir etwas menschliches begegnet – vor langer Weile zum Fenster hinaus; denn schon seit vielen Wochen hatte mich mein Genius gänzlich verlassen. Ich konnte weder denken noch lesen. Alles Feuer meines Geistes schien erloschen, alle meine Laune, gleich einem flüchtigen Salze, verduftet. Ich war dumm, aber ach! ohne an den Seligkeiten der Dummheit Teil zu haben, ohne einen einzigen Gran von dieser stolzen Zufriedenheit mit sich selbst, dieser unerschütterlichen Überzeugung, welche gewisse Leute versichert, daß alles, was sie denken, sagen, träumen und im Schlaf reden, wahr, witzig, weise, und in Marmor gegraben zu werden würdig sei – einer Überzeugung, die den echten Sohn der großen Göttin, wie ein Muttermal, kennbar und zum glücklichsten aller Menschen macht. Kurz, ich fühlte meinen Zustand, und er lag schwer auf mir; ich schüttelte mich vergebens; und es war, wie gesagt, so weit mit mir gekommen, daß ich durch ein ziemlich unbequemes kleines Fenster in die Welt hinaus guckte, ohne zu wissen was ich sah, oder etwas zu sehen, das des Wissens wert gewesen wäre. Auf einmal war mir, als höre ich eine Stimme – ob es Wahrheit oder Täuschung war, will ich nicht entscheiden – die mir zurief: setze dich und schreibe die Geschichte der Abderiten! Und plötzlich ward es Licht in meinem Kopfe. Ja, ja, dacht ich, die Abderiten! Was kann natürlicher Sein? Die Geschichte der Abderiten will ich schreiben! Wie war es doch möglich, daß mir ein so natürlicher Einfall nicht schon längst gekommen ist? Und also setzt ich mich und schrieb, und schlug nach, und compilierte, und ordnete zusammen, und schrieb wieder, und es war eine Lust zu sehen, wie mir das Werk von den Händen ging.

Indem ich nun so im besten Schreiben war, (fährt unser Verfasser in seiner treuherzigen Beichte fort,) kam mir in einem Anstoß von Capriccio, oder Laune, oder wie man's sonst nennen will, der Einfall, meiner Phantasie den Zügel schießen zu lassen, und die Sachen so weit zu treiben, als sie gehen könnten. Es betrifft ja nur die Abderiten, dacht ich, und an den Abderiten kann man sich nicht versündigen: sie sind ja doch am Ende weiter nichts als ein Pack Narren; die Albernheiten, die ihnen die Geschichte zur Last legt, sind groß genug, um das Ungereimteste, was du ihnen andichten kannst, zu rechtfertigen. Ich gesteh es also unverhohlen – und wenn's unrecht war, so verzeihe mirs der Himmel! – ich strengte alle Stränge meiner Erfindungskraft bis zum Reißen an, um die Abderiten so närrisch denken, reden und sich betragen zu lassen, als es nur möglich wäre. Es ist ja schon über zweitausend Jahre, daß sie allesamt tot und begraben sind, sagte ich zu mir selbst; es kann weder ihnen noch ihrer Nachkommenschaft schaden; denn auch von die ser ist schon lange kein Gebein mehr übrig. Zu diesem allem kam noch eine andre Vorstellung, die mich durch einen gewissen Schein von Gutherzigkeit einnahm. Je närrischer ich sie mache, dachte ich, je weniger habe ich zu besorgen, daß man die Abderiten für eine Satyre halten, und Anwendungen davon auf Leute machen wird, die ich doch wohl nicht gemeint haben kann, da mir ihr Dasein nicht einmal bekannt ist. Aber ich irrte mich sehr, indem ich so schloß. Der Erfolg bewies, daß ich unschuldigerweise Abbildungen gemacht hatte, da ich nur Phantasie zu malen glaubte.«

Man muß gestehen, dies war einer der schlimmsten Streiche, die einem Autor begegnen können, der keine List in seinem Herzen hat, und, ohne irgend eine Seele ärgern oder betrüben zu wollen, bloß sich selbst und seinem Nebenmenschen die Langeweile zu vertreiben sucht. Gleichwohl war dies was dem Verfasser der Abderiten schon mit den ersten Kapiteln seines Werkleins begegnete. Es ist vielleicht keine Stadt in Deutschland, und so weit die natürlichen Grenzen der deutschen Sprachen gehen (welches, im Vorbeigehen gesagt, eine größere Strecke Landes ist, als irgend eine andre europäische Sprache inne zu haben sich rühmen kann), wo die Abderiten nicht Leser gefunden haben sollten; und wo man sie las, da wollte man die Originale zu den darin vorkommenden Bildern gesehen haben. »In tausend Orten (sagt der Verfasser) wo ich weder selbst jemals gewesen bin, noch die mindeste Bekanntschaft habe, wunderte man sich, woher ich die Abderiten, Abderitinnen und Abderitismen dieser Orte und Enden so genau kenne; und man glaubte, ich müßte schlechterdings einen geheimen Briefwechsel oder einen kleinen Cabinetsteufel haben, der mir Anekdoten zutrüge, die ich mit rechten Dingen nicht hätte erfahren können. Nun wußte ich (fuhr er fort) nichts gewisser, als daß ich weder diesen noch jenen hatte: folglich war klar wie Taglicht, daß das alte Völklein der Abderiten nicht so ausgestorben war, als ich mir eingebildet hatte.«

Diese Entdeckung veranlaßte den Autor, Nachforschungen anzustellen, die er für unnötig gehalten hatte, so lange er bei Verfassung seines Werkes mehr seine eigne Phantasie und Laune als Geschichte und Urkunden zu Rate gezogen hatte. Er durchstöberte manche große und kleine Bücher ohne sonderlichen Erfolg, bis er endlich in der sechsten Dekade des berühmten Hafen Slawkenbergius p. m. 864. folgende Stelle fand, die ihm einigen Aufschluß über diese unerwartete Ereignisse zu geben schien.

»Die gute Stadt Abdera in Thracien (sagt Slawkenbergius am angeführten Orte), ehmals eine große, volkreiche, blühende Handelsstadt, das thracische Athen, die Vaterstadt eines Protagoras und Demokritus, das Paradies der Narren und der Frösche diese gute schöne Stadt Abdera – ist nicht mehr. Vergebens suchen wir sie in den Landcharten und Beschreibungen des heutigen Thraciens; sogar der Ort, wo sie ehmals gestanden, ist unbekannt, oder kann wenigstens nur durch Mutmaßungen angegeben werden. Aber nicht so die Abderiten! diese leben und weben noch immer fort, wiewohl ihr ursprünglicher Wohnsitz längst von der Erde verschwunden ist. Sie sind ein unzerstörbares, unsterbliches Völkchen; ohne irgendwo einen festen Sitz zu haben, findet man sie allenthalben; und wiewohl sie unter allen andern Völkern zerstreut leben, haben sie sich doch bis auf diesen Tag rein und unvermischt erhalten, und bleiben ihrer alten abderitischen Art und Weise so getreu, daß man einen Abderiten, wo man ihn auch antrifft, nur einen Augenblick zu sehen braucht, um eben so gewiß zu sehen und zu hören, daß er ein Abderit ist, als man es zu Frankfurt und Leipzig, Constantinopel und Aleppo einem Juden anmerkt, daß er ein Jude ist. Das Sonderbarste aber, und ein Umstand, worin sie sich von den Israeliten, Beduinen, Armeniern und allen andern unvermischten Völkern wesentlich unterscheiden, ist dieses: daß sie sich ohne mindeste Gefahr ihrer Abderitheit mit allen übrigen Erdbewohnern vermischen, und – ungeachtet sie allenthalben die Sprache des Landes, wo sie wohnen, reden, Staatsverfassung, Religion und Gebräuche mit den Nichtabderiten gemein haben, auch essen und trinken, handeln und wandeln, sich kleiden und putzen, sich frisieren und parfümieren, purgieren und klysterisieren lassen, kurz, alles was zur Notdurft des menschlichen Lebens gehört ungefähr eben so machen wie andre Leute – daß sie, sage ich, nichts destoweniger in allem was sie zu Abderiten macht sich selbst so unveränderlich gleich bleiben, als ob sie von jeher durch eine diamantne Mauer, dreimal so hoch und dick als die Mauern des alten Babylons, von den vernünftigen Geschöpfen auf unserm Planeten abgesondert gewesen wären, alle andre Menschenarten verändern sich durch Verpflanzung, und zwo verschiedne Arten bringen durch Vermischung eine dritte hervor. Aber an den Abderiten, wohin sie auch verpflanzt wurden und soviel sie sich auch mit andern Völkern vermischt haben, hat man nie die geringste wesentliche Veränderung wahrnehmen können. Sie sind immer noch die nämlichen Narren die sie vor zweitausend Jahren zu Abdera waren; und wiewohl man schon längst nicht mehr sagen kann: siehe hie ist Abdera oder da ist Abdera: so ist doch in Europa, Asia, Africa und America, soweit diese große Erdviertel policiert sind, keine Stadt, kein Marktflecken, Dorf noch Dörfchen, wo nicht einige Glieder dieser unsichtbaren Genossenschaft anzutreffen sein sollten.« – So weit besagter Hafen Slawkenbergius.

»Nachdem ich diese Stelle gelesen hatte, fährt unser Verfasser fort, so hatte ich nun auf einmal den Schlüssel zu den vorbesagten Erfahrungen, die mir ersten Anblicks so unerklärbar vorgekommen waren; und so wie der Slawkenbergische Bericht das was mir mit den Abderiten begegnet war, begreiflich machte, so bestätigte dieses hinwieder die Glaubwürdigkeit von jenem. Die Abderiten hatten also einen Samen hinterlassen, der in allen Landen aufgegangen war und sich in eine sehr zahlreiche Nachkommenschaft ausgebreitet hatte; und da man beinahe allenthalben die Charaktere und Begebenheiten der alten Abderiten für Abbildungen und Anekdoten der neuen ansah: so erwies sich dadurch auch die seltsame Eigenschaft der Einförmigkeit und Unveränderlichkeit, welche dieses Volk, nach dem angeführten Zeugnis, von andern Völkern des festen Landes und der Inseln des Meeres unterscheidet. Die Nachrichten, die mir hierüber von allen Orten zukamen, gereichten mir aus einem doppelten Grunde zu großem Troste: erstens, weil ich mich nun auf einmal von allem innerlichen Vorwurf den Abderiten vielleicht zuviel getan zu haben erleichtert fand; und zweitens, weil ich vernahm, daß mein Werk überall, auch von den Abderiten selbst, mit Vergnügen gelesen, und besonders die treffende Ähnlichkeit zwischen den alten und neuen bewundert werde, welche den letztern, als ein augenscheinlicher Beweis der Echtheit ihrer Abstammung, allerdings sehr schmeichelhaft sein mußte. Die Wenigen, welche sich beschwert haben sollen, daß man sie zu ähnlich geschildert habe, kommen in der Tat gegen die Menge derer die zufrieden sind in keine Betrachtung; und auch diese Wenigen täten vielleicht besser, wenn sie die Sache anders nähmen. Denn da sie, wie es scheint, nicht gerne für das angesehen sein wollen was sie sind, und sich deswegen in die Haut irgend eines edlern Tieres gesteckt haben: so erfodert die Klugheit, daß sie ihre Ohren nicht selbst hervorstrecken, um eine Aufmerksamkeit auf sich zu erregen, die nicht zu ihrem Vorteil ausfallen kann.

Auf der andern Seite aber ließ ich mir auch den Umstand, daß ich die Geschichte der alten Abderiten gleichsam unter den Augen der neuern schrieb, zu einem Beweggrund dienen, meine Einbildungskraft, die ich anfangs bloß ihrer Willkür überlassen hatte, kürzer im Zügel zu halten, mich vor allen Karikaturen sorgfältig zu hüten, und den Abderiten in allem was ich von ihnen erzählte, die strengste Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Denn ich sah mich nun als den Geschichtschreiber der Altertümer einer noch fortblühenden Familie an, welche berechtigt wäre, es übel zu vermerken, wenn man ihren Vorfahren irgend etwas ohne Grund und gegen die Wahrheit aufbürdete.«

Die Geschichte der Abderiten kann also mit gutem Grunde als eine der wahresten und zuverlässigsten, und eben darum als ein getreuer Spiegel betrachtet werden, worin die Neuern ihr Antlitz beschauen, und, wenn sie nur ehrlich gegen sich selber sein wollen, genau entdecken können, in wiefern sie ihren Vorfahren ähnlich sind. Es wäre sehr überflüssig, von dem Nutzen, den das Werk in dieser Rücksicht so lange als es noch Abderiten geben wird – und dies wird vermutlich sehr lange sein – stiften kann und muß, viele Worte zu machen. Wir bemerken also nur, daß es beiläufig auch noch den Nutzen haben könnte, die Nachkömmlinge der alten Teutschen unter uns behutsamer zu machen, sich vor allem zu hüten was den Verdacht erwecken könnte, als ob sie entweder aus abderitischen Blute stammten, oder aus übertriebner Bewundrung der abderitischen Art und Kunst und daher entspringender Nachahmungssucht, sich selbst Ähnlichkeiten mit diesem Volke geben wollten, wobei sie aus vielerlei Ursachen wenig zu gewinnen hätten.

Und dies, werte Leser, wäre also der versprochne Schlüssel zu diesem merkwürdigen Originalwerke, mit beigefügter Versicherung, daß nicht das kleinste geheime Schubfach darin ist, welches Sie sich mit diesem Schlüssel nicht sollten aufschließen können; und wofern Ihnen jemand ins Ohr raunen wollte, als ob noch mehr darin verborgen sei, so können Sie sicherlich glauben, daß er entweder nicht weiß was er sagt, oder nichts Gutes im Schilde führt.

– – SAPIENTIA PRIMA EST STULTITIA CARUISSE –

f) )

Fußnoten

01) Solin. Polyhist. c. X.

02) Paläphatus in seinem Buche von Unglaublichen Dingen erklärt auf diese Weise die Fabel, daß dieser Fürst seine Pferde mit Menschenfleisch gefüttert habe, und ihnen endlich selbst vom Herkules zur Speise vorgeworfen worden sei.

03) Herodot. I. 43.

06) Juvenal. Satyr. X. v. 50.

08) Ein berühmter Sophiste von Abdera (etwas älter als Demokritus), welchen Cicero dem Hippias, Prodikus, Gorgias, und also den größten Männern seiner Profession an die Seite setzt.

09) Was hier von den Abderiten gesagt wird, erzählen andere alte Schriftsteller von der Stadt Alabandus. S. Coel. Rhodog. Lect. Ant. L. XXVI. Cap. 25.

10) Plato de Republ. L. III. Tom. opp. II. p. 398.

11) Plin. Naturgesch. B. IV.

12) Solin. C. XXX. auch Plinius, Mela, und andere Alte und Neuere, welche uns alle die Wundermenschen, von denen hier die Rede ist, für wirkliche Geschöpfe Gottes zu gehen kein Bedenken tragen.

13) Solinus aus dem Ktesias.

14) Ebenderselbe.

16) Parmenides von Elea wird für den Erfinder der Lehre von den Ideen oder wesentlichen Urbildern gehalten, welche Plato in sein System aufgenommen, und sich so eigen gemacht hat, daß man sie gewöhnlich nach seinem Namen zu nennen pflegt.

17) Ein sehr gewöhnlicher Griff der abderitischen Gelehrten und Kunstrichter.

18) Griechische Possenspiele, die mit der Opera buffa der Welschen einige Ähnlichkeit hatten, und wovon uns der Cyklops des Euripides, das einzige übrig gebliebene Stück dieser Art, einen Begriff gibt.

19) Aelian. Var. Hist. III. 36.

20) Die Athenienser hatten zu ihrem Kriege mit Megara keinen bessern Grund (wenn man dem Aristophanes glauben dürfte,) als daß etliche junge Herren von Megara, um die Entführung einer megarischen Courtisane zu rächen, ein paar junge Dirnen von der nämlichen Profession aus Aspasiens Pflanzschule entführt hatten. Aspasia vermochte alles über den Perikles, Perikles alles in Athen, und so wurde den Megarern der Krieg angekündigt. Plutarch im Leben des Perikles.

21) Ob diese Stelle, der Gasthöfe wegen, für unecht und eingeschoben zu halten sei, überläßt man dem Urteile derjenigen, welche die Rem cauponariam Veterum gründlich untersucht haben.

22) Ein fremdes Wort! Ich bitte es den Puristen ab. Aber weder Lage, noch Stellung, noch Gebärde drückt das aus was Attitüde; und so oft es uns an unentbehrlichen einheimischen Worten gebricht, werden wir wohl genötiget bleiben, fremde zu borgen. Und von wem können wir solchenfalls schicklicher borgen als von derjenigen lebenden Sprache, welche die polierteste und allgemeinste ist? So machten es die alten Römer mit der griechischen; und warum sollten deutsche Schriftsteller, mit gleicher Bescheidenheit, nicht tun dürfen, was sogar Cicero, dem seine Muttersprache so viel zu danken hatte, für erlaubt hielt?

23) Die öffentliche Ehrbarkeit diente ihnen statt eines Schleiers, sagt, ich weiß nicht welcher Alter, von den spartanischen Töchtern.

24) Frau Salabanda hat Recht. Lange vor dem Hammel der Madame Dannoy machte Lucian in seiner wahren Geschichte, und lange vor Lucian machten die griechischen Komödiendichter, Metagenes, Pherckrates, Teleklides, Krates und Kratinus, Beschreibungen vom Schlaraffenlande und vom Schlaraffenleben, worin sie sich in die Wette beeiferten, der ausschweifendsten Einbildungskraft eines neuern Märchenmachers nichts übrig zu lassen. Die kühnsten Züge im Gemälde, welches Demokritus davon macht, sind aus den Fragmenten genommen, die uns Athenäus im sechsten Buche seines Gastmahls der Sophisten davon aufbehalten hat.

25) Um denjenigen Lesern, welche weder den Diogenes Laertius, noch des Deslandes, oder Bruckers kritische Geschichte der Philosophie, noch die Compendien des Herrn Formey oder D. Büschings, gelesen haben, irrige Vermutungen zu ersparen, erinnert der Verfasser, daß alle hier vorkommende Hypothesen sich eines sehr ehrwürdigen Altertums, und zum Teil einer Menge Verfechter und Anhänger rühmen können. Die Meinung unsers Demokritus ist die einzige, welche, vermutlich bloß weil sie die vernünftigste ist, keine Secte gemacht hat.

26) Dieser Philosoph war also ein Cartesianer vor dem Cartesius.

27) Xerxes, der bei seinem Kriegszuge gegen die Griechen einige Tage zu Abdera bei dem Vater des Demokritus sein Hauptquartier gehabt, hatte den damals noch sehr jungen Demokritus lieb gewonnen, und zu dessen besserer Erziehung ein paar von den Magis, die er bei sich hatte, zurückgelassen. Diogen. Laert

28) S. Lucian im Philopseudes.

29) Epopten hießen diejenigen, welche nach ausgestandner Prüfung zum Anschauen der großen Mysterien zu Eleusis zugelassen wurden. S. Warburtont's Divine Legation Vol. I. p. 155 der 4ten Ausgabe.

30) Ein Mann, von dessen wunderbarer Leibesstärke und Gefräßigkeit die fabelhaften Graeculi erstaunliche Dinge zu erzählen wissen; z.E. daß er einen wohlgemästeten Ochsen dreihundert Schritte weit auf den Schultern getragen, und, nachdem er ihn mit einem einzigen Faustschlag tot gemacht, in einem Tage aufgegessen habe.

31) Eine der Hälfte des menschlichen Geschlechts verhaßte Sagacität – nennt dies Joh. Chrysostomus Magnenus, in seinem Leben des Demokritus.

32) Plinius, der in seiner Natur- und Kunstgeschichte Wahres und Falsches ohn Unterschied zusammengetragen hat, erzählt, im Capit. 49 seines zehnten Buchs, in ganzem Ernst: Demokritus habe in einer seiner Schriften gewisse Vögel benennet, aus deren vermischtem Blut eine Schlange entstehe, welche die Eigenschaft habe, daß derjenige, der sie esse, (ob mit Essig und Öl? sagt er nicht) von Stund an alles verstehe, was die Vögel miteinander reden. Wegen dieser und anderer ähnlicher Albernheiten, wovon (wie er sagt) die Schriften des Demokritus wimmeln, liest er ihm an einem andern Orte seines Werkes den Text sehr schulmeisterhaft. Aber Gellius (Noct. Atticar. L. X. Cap. 12.) verteidigt unsern Philosophen mit besserm Grund, als Plinius ihn verurteilt. Was konnte Demokritus dafür, daß die Abderiten dumm genug waren, alles, was er im Ernste sagte, für Ironie, und alles, was er scherzweise sagte, für Ernst zu nehmen? Oder wie konnt' er verhindern, daß nicht lange nach seinem Tode abderitische Köpfe tausend Albernheiten, an die er nie gedacht hatte, unter seinem Namen und Ansehen an andre Abderiten verkauften? Was für klägliches Zeug ließ ihn nicht erst im Jahr 1646 Magnenus in seinem Democritus redivivus sagen? Und was müssen nicht die Leute in der andern Welt von sich sagen lassen?

33) Dies ist wohl ein Irrtum des Übersetzers. Denn wer weiß nicht, daß die Truthühner dem Aristoteles selbst unbekannt waren, und unbekannt sein mußten, weil sie erst aus Westindien zu uns und in die übrigen Teile unsrer Halbkugel gekommen sind? S. Buffon Histoire naturelle des Oiseaux, T. 3. p. 187 u. f.

34) Nichts ist möglicher, als daß Sokrates wirklich einmal etwas gesagt haben konnte, das zu dieser Türlipinade Anlaß gegeben. Er durfte nur in einer Gesellschaft, wo die Rede von Größe und Kleinheit war, den Irrtum angemerkt haben, den man gewöhnlich begeht, da man von Groß und Klein als von wesentlichen Eigenschaften spricht, und nicht bedenkt, daß es bloß auf den Maßstab ankommt, ob etwas groß oder klein sein soll. Er konnte nach seiner scherzhaften Art gesagt haben: man habe Unrecht, den Sprung eines Flohs nach der attischen Elle zu messen; man müsse, um die Schnellkraft des Flohs mit derjenigen eines Luftspringers zu vergleichen, nicht den menschlichen Fuß, sondern den Flohfuß zum Maß nehmen, wenn man anders den Flöhen Gerechtigkeit widerfahren lassen wolle – und dergleichen. Nun brauchte nur ein Abderite in der Gesellschaft zu sein, so können wir sicher darauf rechnen, daß er es als eine große Ungereimtheit, die dem Philosophen entfahren sei, nach seiner eignen Art wieder erzählt haben werde; und wenn gleich Aristophanes klug genug war, zu begreifen, daß Sokrates etwas kluges gesagt hatte, so war es doch für einen Mann von seiner Profession und zu seiner Absicht, den Philosophen lächerlich zu machen, schon genug, daß man diesem Einfall eine Wendung geben konnte, wodurch er geschickt wurde, die Zwerchfelle der Athenienser, welche (den Geschmack und den Witz abgerechnet) ziemlich Abderiten waren, einen Augenblick zu erschüttern.

35) Perpetuo risu pulmonem agitare solebat Democritus. – Juvenal. Sat. X. 33.

36) De Tranquill. animi c. 15.

37) Bei allem dem erklärt sich doch Seneca bald darauf, daß es noch besser und einem weisen Manne anständiger sei, die herrschenden Sitten und Fehler der Menschen sanft und gleichmütig zu ertragen, als darüber zu lachen oder zu weinen. Mich dünkt, er hätte mit wenig Mühe finden können, daß es – noch was bessers gibt als dies Bessere. Warum immer lachen, immer weinen, immer zürnen, oder immer gleichgültig sein? Es gibt Torheiten, welche belachenswert sind; es gibt andere, die ernsthaft genug sind, um dem Menschenfreund Seufzer auszupressen; andre, die einen Heiligen zum Unwillen reizen könnten; endlich noch andre, die man der menschlichen Schwachheit zu gut halten soll. Ein weiser und guter Mann (nisi pituita molesta est, wie Horaz weislich ausbedingt,) lacht oder lächelt, bedaurt oder beweint, entschuldigt oder verzeiht, je nach dem es Personen und Sachen, Ort und Zeit mit sich bringen. Denn lachen und weinen, lieben und hassen, züchtigen und loslassen, hat seine Zeit, sagt Salomo, welcher älter, klüger und besser war als Seneca mit allen seinen Antithesen.

40) Apolog. C. 46.

41) Memorab. Socrat. Lib. 1. Cap. 3. Num. 14.

42) Brucker; vom Magnenus, der den Demokritus nach seiner eignen Phantasie raisonnieren und deraisonnieren läßt, nichts zu sagen!

43) Bruck. Histor. Crit. Philos. T. 1. p. 1190.

44) Hier scheint sich eine Unrichtigkeit in den Text eingeschlichen zu haben. Der Pfau war vor Alexanders Eroberung des persischen Reiches ein unbekannter Vogel in Griechenland. Und da er nachmals aus Asien nach Europa überging, war er anfangs so selten, daß man ihn zu Athen um Geld sehen ließ. Jedoch wurde er in kurzer Zeit (nach dem Ausdruck des Komödienschreibers Antiphanes) so gemein als die Wachteln. In der üppigen Epoche von Rom wurde deren eine unendliche Menge daselbst erzogen, und der Pfau machte ein vorzügliches Gerichte auf den römischen Tafeln aus. Woher der Herr von Büffon genommen hat, daß die Griechen keine Pfauen gegessen, weiß ich nicht; das Gegenteil hätte ihm eine Stelle aus dem Poeten Alexis beim Athenäus beweisen können. Indessen wäre doch, wenn es vor Alexandern keine Pfauen in Europa gegeben hätte, gewiß, daß Demokritus dem Priester Strobylus keinen gebratnen Pfauen hätte schicken können; man müßte denn voraussetzen, daß dieser Naturforscher unter andern Seltenheiten auch Pfauen aus Indien mitgebracht hätte. Und warum sollte man dies nicht voraussetzen können? Im Notfall könnten uns auch die alten samischen Münzen, auf denen man neben der Juno einen Pfau abgebildet sieht, aus der Schwierigkeit helfen – wenn es der Mühe wert wäre.

45) Eine persische Goldmünze, die von Cyaxares 11, oder Darius aus Medien, nach der Eroberung Babylons zuerst soll geschlagen worden sein.

46) Wie ungleich sich doch das nämliche Factum erzählen läßt. Von eben dieser Tat, die unser Sykophant für den vollständigsten Beweis eines verrückten Gehirnes hält, spricht Plinius als von einer höchst edeln und der Philosophie Ehre machenden Handlung. Demokritus war viel zu gutherzig, um sich auf Unkosten andrer, die nicht so viel entbehren konnten wie er, bereichern zu wollen. Ihre ängstliche Unruhe und Verzweiflung, einen so großen Gewinnst verfehlt zu haben, rührte ihn; er gab ihnen ihr Öl, oder das daraus gelöste Geld zurück, und begnügte sich, den Abderiten gezeigt zu haben, daß es nur von ihm abhange, Reichtümer zu erwerben, wenn er es für der Mühe wert hielte. In diesem Lichte sieht Plinius die Sache an; und in der Tat muß man ein Abderite, ein Sykophant, und ein Schurke zugleich sein, um so wie unser Sykophant davon zu sprechen.

47) Es befindet sich noch etwas unter dieser Rubrik in den Ausgaben der Werke des Hippokrates. Es ist aber ohne allen Zweifel untergeschoben, und die Arbeit irgend eines schalen Gräculus späterer Zeiten; so wie die ganze Erzählung von der Zusammenkunft dieses Arztes mit dem Demokritus in einem der unechten Briefe, die den Namen des erstern führen.

48) Denen, welche sich etwan hierüber verwundern möchten, dienet zur Nachricht, daß die Lorgnetten damals noch nicht erfunden waren.

49) Zum Unglück sind alle seine Werke verloren gegangen. V. Recherches sur Hecatée de Milet, Tom. IX. des Mém. de Litterat.

50) Ovid. Metamorph. L. V, v. 218.

52) Es nannte sich Eugamia, oder die vierfache Braut. Eugamia war von ihrem Vater an einen, von der Mutter an den andern, und von einer Tante, an deren Erbschaft ihr gelegen war, an den dritten Mann versprochen worden. Am Ende kam heraus, daß das voreilige Mädchen sich selbst in aller Stille bereits an einen vierten verschenkt hatte.

55) Ein Ausdruck, der vor kurzem von einem französischen Schriftsteller bei einer solchen Gelegenheit gebraucht worden ist, daß er nun für unwiederbringlich ruiniert angesehen werden kann, und allein noch in einem Possenspiel auszustehen ist.

58) Es ist bekannt, daß dieses häßliche Laster dem Euripides, wiewohl unverdienter Weise, Schuld gegeben wurde.

59) Der Ratsherr war einer von den Fürsorgern des geheiligten Froschgrabens, welches in Abdera eine sehr ansehnliche Stelle war. Man nannte sie die Batrachotrophen, welches zu deutsch sehr füglich durch Froschpfleger gegeben werden kann.

62) Der Apostel Paul bedient sich des von diesem Worte abgeleiteten Beiworts, da er die Athenienser, ironischer oder wenigstens zweideutiger Weise, wegen ihrer unbegrenzten Religiosität zu loben scheint. Apost. Gesch. XVII. 22. Man könnte es Götterfurcht oder Dämonenfurcht übersetzen.

63) Es versteht sich von selbst, daß der Dichter das Seinige getan haben muß, um die Illusion zu bewirken und zu unterhalten; denn sonst hat er freilich kein Recht, von uns zu verlangen, daß wir, ihm zu gefallen, tun sollen, als ob wir sähen, was er uns nicht zeigt, fühlten, was er uns nicht fühlen macht, u.s.w.

64) Aufrichtig zu reden, dieser Vers ist der einzige rührende in dem ganzen Fragment der Rede des Perseus, das zufälliger Weise noch vorhanden ist, wie unsre des Griechischen kundige Leser selbst urteilen mögen – denn so lauten die Worte:

Αλλ' ω τυραννε Θεων τε κανϑρωπων, Ερως,

Η μη διδασκε τα κακα φαινεϑαι καλα,

Η τοι ερωσιν, ών συ δημιουργος ει,

Μοχϑουσι μαχϑους ευτυχως συνεκπονει, κ. τ. λ.

65) Wir wissen wohl daß dies nicht à la grecque gesprochen ist; aber die Dame Struthion ist wie Frau Damon in unsern Komödien: und was liegt dem Leser daran, wie die Zahnärztin mit ihrem eigenen Namen geheißen haben mag



Quelle: Christoph Martin Wieland: Werke. Band 2, München 1964 ff.. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20005912512 Lizenz: Gemeinfrei ----- ENDE -----

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Erstellt am 21.01.2013 - Letzte Änderung am 24.01.2013.