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1922 - „Kriegsdienstverweigerung“
von
Helene Stöcker



Schriften des Bundes der Kriegsdienstgegner

Dr. Helene Stöcker
Kriegsdienstverweigerung
Sonderabdruck aus: „Die Friedensbewegung“ Ein Handbuch der Weltfriedensströmungen der Gegenwart. Unter Mitwirkung von 64 hervorragenden in- und ausländischen Vertretern des Pazifismus herausgegeben von Kurt Lenz und Walter Fabian Verlag C. A. Schwetschke & Sohn Berlin 1922


[Werbung, Umschlag innen]
Monatsschrift für Kultur des Sexuallebens und Völkerverständigung
„Die Neue Generation“
Herausgeberin: Dr. phil. Helene Stöcker
Redaktion: Nikolassee-Berlin, Münchowstrasse l
Verlag: Neuer-Geist-Verlag, Leipzig, Gabelsbergerstr.la
Jahresabonnement 60,— Mark Für Mitglieder pazifischer Organisationen ermässigt


„Die englischen Kriegsdienstverweigerer“
Von Martha Steinitz
Preis 4,- Mark, Verlag Neues Vaterland, Berlin

„Die Frau und die Heiligkeit des Lebens“
Von Dr. Helene Stöcker
Preis 2,— Mark, Verlag Der neue Geist, Leipzig

Dr. Arnim T. Wegner
„Die Verbrechen der Stunde - Die Verbrechen der Ewigkeit“
Verlag Neues Vaterland, Berlin

Bund der Kriegsdienstgegner. Deutsche Gruppe des „Paco" (Internationale der Kriegsdienstverweigerer)
Sekretariat in Bilthoven, Holland, Bruderschaftshaus. Hauptgeschäftsstelle für das Reich: Dr. Arnim T. Wegner, Neu-Globsow i. d. Mark — Postscheckkonto Berlin Nr. 80907 (Dr. A. T. Wegner).
Geschäftsstelle Gross-Berlin: Martha Steinitz, Charlottenburg 9, Nussbaumallee 17


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Kriegsdienstverweigerung.

I.

Die Anerkennung der Heiligkeit des Menschenlebens als Grundgesetz der menschlichen Gesellschaft war bis zum Weltkriege wohl unbestrittene Selbstverständlichkeit für den Kulturmenschen. Daß es aber trotz dessen Umstände geben könnte, unter denen dieses Gesetz ausgeschaltet werden dürfte — wie im Kriege z. B. —, das war eben das, wodurch sich die praktische Staatsauffassung von einer grundsätzlich ethischen unterschied.

Das frühe Christentum, ehe es unter Konstantin zur „Staats“religion entartete und damit seinen Wahren Sinn verriet und verleugnete, lehnte die Teilnahme am Kriege selbst auf die Gefahr des Märtyrertodes ab. Ebenso jede spätere christliche Sekte, die aus dem! Schutt und Aberglauben der widerchristlichen Staatsreligion die wahrhaft christliche Gesinnung wieder herauszuheben und zur Geltung zu bringen versuchte, wie die Waldenser, die böhmischen Brüder, die Nazarener usw.

In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gab es vor allem die Sekte der Duchoborzen, über deren standhafte Weigerung, am Kriege — am Menschentöten — teilzunehmen Tolstoi ausführlich berichtet hat.

In den anglikanischen Ländern waren es besonders die Quäker, deren sittlichem Ernst die Gründung der Friedensbewegung im 19- Jahrhundert in Europa und Amerika überhaupt zu danken ist, die ihrer Überzeugung gemäß den Kriegsdienst verweigerten.

Doch das erste „Handbuch der Friedensbewegung“ (1911) von Alfred H. Fried Weiß noch nichts von einer eigentlichen „Bewegung“.

Erst der Weltkrieg 1914—1918 hat die Kriegsdienstverweigerung des Einzelnen, diese sittlich revolutionäre Handlung, in größerem Umfange hervorgebracht.

Aber weder jenen vorbildlichen Kämpfern, die — in England


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vor allem — während des Weltkrieges das Erbe der sittlichen Konsequenz, der ethischen Prinzipien des Christentums hochhielten, noch jenen, deren Überzeugung noch nicht erprobt wurde, ist es wohl verborgen geblieben, daß in diesem! Nichtteilnehmen am Töten eines der schwierigsten und verwickeltsten sittlichen Probleme der Menschheit verborgen liegt. Der eigentliche Konflikt zwischen konsequenten Antimilitaristen und gemäßigten Pazifisten wird immer darin bestehen, daß die einen glauben, die erste und höchste Pflicht sei: unter allen Umständen sittlich zu handeln, während die mehr praktisch-politisch eingestellten Menschen glauben, der gute Zweck könne auch das böse Mittel der Menschentötung heiligen, z. B. wenn es sich um den „Schutz des Vaterlandes“, oder die „Verteidigung“, den Kampf für die „Aufrechterhaltung“, des Bestehenden“ oder um den Kampf „für eine siegreiche Revolution“ handele. Alle diese politisch so verschieden eingestellten „realpolitischen“ Menschen argumentieren dem Problem des Militarismus gegenüber völlig einheitlich. Sie geben das unbedingte sittliche Gebot: „Du sollst nicht töten“ preis (das dem atheistischen Ethiker genau so unmittelbare Gewißheit ist, wie den gläubigen Anhängern der Zehn Gebote), zugunsten eines jeweiligen, von ihnen als notwendig erkannten praktischen Zweckes. Ebenso einheitlich ist die Stellung der konsequenten Dienstverweigerung, die von den verschiedensten Standpunkten aus erfolgte: Quäker, Mennoniten, Sozialisten, Atheisten, Ethiker — ihnen allen ist das eine gemeinsam: ihr Gewissen verbieten ihnen, an der Menschentötung, also an einer Handlung teilzunehmen, die sie für unsittlich halten. Solange wir die Geschichte der Menschheit zurückverfolgen können: es sind immer nur wenige, denen die persönliche Überzeugung so heilig ist, daß sie ihretwillen den Mut und die Kraft besitzen, selbst den Kampf mit der Gemeinschaft, dem Staate auf sich zu nehmen.

Das kann wohl der Natur der Sache, d. h. hier des Menschen, nach, nicht anders sein. Wie auf jedem Gebiet menschlicher Leistungsfähigkeit müssen wir immer unterscheiden zwischen der Masse der Nachfolgenden und der Elite der Führer. Aber gerade sittliche Führerschaft, bei der sich die hohe Erkenntnis mit der Opfertat vereinen muß,


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gehört vielleicht zu der seltensten Art von Führertum und Genialität, die wir Menschen kennen.

Wenn hier die ethische Anschauung derer in Kürze anzudeuten versucht werden soll, welche die grundsätzliche Verweigerung jeder Teilnahme am Krieg wie der Vorbereitung zu ihm als die sittlich notwendige Haltung eines wahren Menschen erkennen, soll damit nicht bestritten werden, daß es auch andere Weltanschauungen gebe, die zu demselben Resultat führen können. Aber unter denen, die nicht mehr von. der christlichen Metaphysik zweier Jahrtausende vor uns zu ihrer Haltung bestimmt werden, ist die Grundanschauung wohl meist die: sie haben gelernt das Leben mit Nietzsche als den höchsten Wert anzusehen, — um so höher, als sie ja eben auf Grund ihres Diesseitsglaubens nicht mehr die Hoffnung hegen können, etwa für eine diesseitige Benachteiligung im Jenseits „belohnt“ zu werden. Daß das Leben der höchste Wert ist, kann natürlich, da es sich um eine Wertbestimmung handelt, niemals mathematisch bewiesen, sondern nur nach- und mitempfunden werden. Mir scheint es jedenfalls ein Zeichen der wachsenden Selbstachtung des Menschen, des Verständnisses für den einzigen, nie mehr wiederherstellbaren Wert des Individuums, der Persönlichkeit, die sich der Einmaligkeit und Unwiederbringlichkeit ihrer Existenz bewußt geworden ist. Das deshalb verlangt, dies köstliche, einmalige unwiederbringliche Leben vor sinnloser Zerstörung zu bewahren, den Menschen

— als die höchste Stufe des uns bekannten organischen Lebens — auch wirklich zum Herrn und Schöpfer aller Dinge zu machen, ihn seiner höchsten Entwicklung mit vollem Bewußtsein entgegen zu führen. Mit dem Sinn der Menschheit, wie wir ihn heute erkennen — als eines organischen Ganzen, von dem nicht ein Teil geschädigt werden kann, ohne daß auch die anderen Teile leiden —, daß wir uns selbst in jedem andern sehen, — daß die höchste Nächstenliebe wie weitblickender Egoismus gewissermaßen eines sind

— ist es unverträglich, einen Nebenmenschen, unser anderes Ich, wie totes Material — als ein Mittel zu gebrauchen und die lebendige Persönlichkeit zu zerstören. Diese stupide beschränkte Methode, das Kostbarste, was wir besitzen, nämlich den Menschen selbst, für viel weniger kostbare, irgend


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welche äußeren Dinge aufzuopfern, ist stupide und töricht

— nicht nur vom Standpunkt des Einzelnen, der zugrunde gerichtet wird, sondern ebenso vom Standpunkt der Gemeinschaft. Nicht nur aus ethischen, sondern ebenso aus ganz nüchtern ökonomischen — menschenökonomischen, rassenökonomischen, völkerökonomischen — Gründen, sind wir unerbittliche Feinde der Sinnlosigkeit der Menschenzerstörung

— bekämpfen wir den selbstmörderischen Wahnwitz, die beschränkte Kurzsichtigkeit dieses Beginnens.

Die Kriegsdienstverweigerer sind keineswegs so törichte und kindische Psychologen, zu glauben, die ethische Forderung „der Mensch sei gut“ (daß er es noch nicht ist, haben wir ja alle wohl mit mehr als wünschenswerter Deutlichkeit erfahren) werde sich in absehbarer Zeit vollkommen erfüllen. Auch sie wissen, daß noch ein unendlich langer, mühsamer Weg, ein ungeheures Maß menschlicher Arbeit und Entwicklung zurückgelegt werden muß, um zu jenem Ziel eines wahrhaft menschenwürdigen Zusammenlebens — ohne Blutvergießen — zu gelangen.


II.

Wenn aber etwas in dieser schweren Zeit, die so viel Hoffnungen auf Menschen oder Institutionen vernichtet hat, uns noch die Kraft zur Weiterarbeit, die Ehrfurcht vor menschlichem Wesen erhält, dann sind es die Gesinnungen und Handlungen, die wir von den Kriegsdienstgegnern während des Krieges — in England wie in anderen Ländern — erfahren haben. Die Militaristen aller Grade mögen mit Spott und Hohn alle Kriegsdienstverweigerer bedenken, die noch nicht für ihre Überzeugung haben leiden müssen — aber Hochachtung muß man verlangen vor jenen, die für sie ins Gefängnis, in Wahnsinn und Tod gingen. Es sind die Menschen, die nach dem Worte lebten: „Man muß Gott mehr gehorchen, als den Menschen.“

Heute gehört es der bedeutsamen Geschichte der sittlichen Entwicklung der Menschheit an, wie in den ersten Monaten des entbrannten Weltkrieges in England der Sozialist Fenner Brockway auf Veranlassung seiner Frau im „Labour Leader“ einen Aufruf erließ, der diejenigen sammelte, die sich der Einführung der Wehrpflicht mit aller moralischen und


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physischen Kraft entgegenstellen wollten. Diese  N o - C o n - s c r i p t i o n - F e l l o w s h i p  einigte sich zur Annahme nachstehender Formeln:

„Die Genossenschaft der Kriegsdienstgegner ist eine Organisation von Männern, die erwarten müssen, im Falle der Einführung der Wehrpflicht zum militärischen Dienst eingezogen zu werden, und die sich aus Gewissensgründen weigern werden, Waffen zu tragen, da sie das menschliche Leben für heilig halten und deshalb die Verantwortung, den Tod zuzufügen, nicht auf sich nehmen können. Sie sprechen den Regierungen das Recht ab, zu sagen, „Ihr sollt Waffen tragen“ und werden sich jedem Versuch, die Militärdienstpflicht in Großbritannien einzuführen, widersetzen. Sollten derartige Versuche trotzdem erfolgreich sein, so werden sie, was dies auch immer für Folgen haben möge, der Überzeugung ihres Gewissens eher Folge leisten, als den Befehlen der Regierung.“ Die CO-„Verweigerer aus Gewissensgründen“ erreichten zwar nicht, daß die Einführung der Wehrpflicht unterblieb, wohl aber enthielt das Gesetz eine Verordnung, wonach es Befreiung vom Heeresdienst aus Gewissensbedenken gab. Tatsächlich aber hat dieses Gesetz nur auf dem Papier gestanden, wie ja auch in Preußen vor der Revolution trotz der gesetzlichen Gleichberechtigung der Juden kein einziger Jude jemals Offizier wurde.

Durch die militärischen Behörden wurde das Gesetz in folgender Weise sabotiert: die CO's wurden einberufen, leisteten der Einberufung nicht Folge und wurden dann als Deserteure verhaftet. Im Gefängnis weigerten sie sich, den Befehlen der militärischen Vorgesetzten Folge zu leisten, da sie keine Soldaten seien, worauf sie vor ein Kriegsgericht gestellt und zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt wurden. Diese wurden oft in Zwangsarbeit umgewandelt. Nach Verbüßen der Strafe kamen sie zur Armee zurück, wo sie wieder den Gehorsam, verweigerten, wieder verurteilt, wieder ins Zuchthaus geworfen wurden. Damit, daß sie für ihre Überzeugung leiden mußten, waren die Kriegsdienstverweigerer selbst am meisten einverstanden. Sie wollten nicht mit Feiglingen und Drückebergern verwechselt werden. „Es gab bei uns damals für den anständigen


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Menschen nur zwei Alternativen: den Schützengraben oder das Gefängnis. Nichts dazwischen.“ So sagte neulich ein englischer Kriegsdienstverweigerer, John Fletcher, der sich jetzt in Versöhnung fördernder Quäkerarbeit in Deutschland aufhielt 1).

Besonders charakteristisch für englische Verhältnisse ist, daß u. a. auch der angesehene Enkel des Premierministers Lord John Russell, der präsumtive Erbe des Herzogstitels, Mitglied der englischen Akademie, Professor der Mathematik in Cambridge, Bertrand Russell, sich auf die Seite der Kriegsdienstverweigerer stellte, seine Professur verlor und 6 Monate im Gefängnis saß 2).

Leider gestattet der Raum nicht, die Leiden und Schicksale der englischen Kriegsdienstverweigerer hier in aller Ausführlichkeit zu behandeln.

Aus der folgenden Statistik mag jedenfalls aber auch hier noch Näheres über das Schicksal der Dienstverweigerer zu ersehen sein.

Diese Angaben sprechen für sich selbst:

Wegen Kriegsdienstverweigerung
verhaftete CO 6312
Verurteilte CO 5970
(655 davon 2mal, 521 3mal, 50 5mal und 3 6mal.)
CO, die über zwei Jahre im Gefängnis waren 816
CO, die nach der Verhaftung starben 69
(10 davon im Gefängnis.)
CO, die geisteskrank wurden 39
CO, die aus Gesundheitsgründen aus dem Gefängnis entlassen wurden 333
CO, die nach der Gefangenschaft im Heimatdienst arbeiteten 3612


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1) Zur ausführlicheren Orientierung sei hier mangelnden Raumes wegen verwiesen sowohl auf die englischen Berichte über die Kriegsdienstverweigerer wie auf die recht anschauliche Darstellung von Martha Steinitz, „Die englischen Kriegsdienstverweigerer“, Flugschrift Nr. 24/25 des Bundes Neues Vaterland (Verlag Neues Vaterland).

2) Siehe „Bertrand Russell und die englischen Pazifisten im Kriege“, von E. J. Qumbel (Neue Generation, Juli/August-Heft 1921, Verlag „Der Neue Geist“, Leipzig).



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CO, die sich nach der Verhaftung den Militärbehörden fügten 349
Genauere Daten wurden vor allen Dingen für die oben erwähnten sogenannten 816 Absolutisten festgestellt. Sämtliche Berufe sind vertreten, vom Arbeiter und Bauern bis zum Geistlichen und Politiker. Eine hervorragende Stelle sowohl durch ihre Anzahl als durch ihren Platz in der Bewegung nehmen Sozialarbeiter ein, d. h. Lehrer, Armenpfleger und Sekretäre von Wohlfahrtseinrichtungen. Als Kuriosum seien zwei Polizisten erwähnt.

Was sich hier in England im großen, das hat sich, wenn auch darüber zusammenfassende Mitteilungen schwerer zugänglich waren, in allen vom Krieg heimgesuchten Ländern abgespielt, vor allen Dingen auch in Amerika, wo der Haß und die Grausamkeit gegen die Kriegsdienstverweigerer nicht weniger stark war.

Ein Teil der ernstesten Kriegsdienstgegner dort hat sich nach dem Kriege zusammengeschlossen um die Zeitschrift „The World Tomorrow“, deren Sekretär John Nevin Sayre ist („The Fellowship Press, Inc. 118 East 28 th Street, New-York, N.Y“.), der im vorigen Winter auch Europa bereiste und mit die Anregung zu der internationalen Gründungskonferenz der „Absolutisten“ in Bilthoven gab.

Auch in Deutschland hat es während des Krieges Menschen gegeben, die die Teilnahme an der Tötung anderer Menschen verweigerten, die sich ebenso bereit erklärten, für die menschliche Kultur sterben zu wollen, wie die anderen für eine russische, deutsche, französische oder englische Kultur. In Deutschland wurden solche Fälle meist dadurch erledigt, daß man die Verweigerer zur Beobachtung ihres Geisteszustandes in eine Nervenheilanstalt schickte und je nach der Lage des Falles entweder nach einiger Zeit als „unzurechnungsfähig“ entließ oder dort behielt.

In den Niederlanden haben etwa 800 Männer bis heute den Dienst verweigert. Sie waren meist 10 Monate im Gefängnis und weigerten sich sogar, auf das Kompromiß einer „Bürgerdienstpflicht“ einzugehen. Vor kurzem waren noch etwa 25 im Gefängnis und im Anschluß an einen Hungerstreik im Juni 1921 wurden auch die Leiter der antimilitaristischen Bewegung, der ehemalige Pfarrer De Ligt und


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der Generalsekretär Albert de Yong ins Gefängnis gesetzt, hauptsächlich einer Rede wegen, in der De Ligt im Namen der Besten und Weisesten der Menschheit: im Namen Christi und Tolstois, Kropotkins, Bakunins u. a. zur Verweigerung des Militärdienstes aufforderte. Zahlreiche Protestversammlungen und Proteststreiks begleiteten den Hungerstreik der holländischen Gefangenen, insbesondere des Kriegsdienstverweigerers Groenendaal.

Während also in Holland auf der einen Seite das Verständnis für die Bedeutung der Kriegsdienstverweigerung erfreulich gewachsen ist und durch die Zeitung: „De Wapens neder“ unter der Redaktion des tatkräftig begeisterten Pfarrers Schermerhorn sowie durch verwandte Organe gefördert wird, ist auf der anderen Seite durch die Regierung ein Gesetzentwurf in Vorbereitung, der mit großer Schärfe allen antimilitaristischen Bestrebungen entgegen zu treten versucht.

Dasselbe gilt von der Schweiz, wo während des Krieges. — zum Teil wohl auch durch den Einfluß religiöser Sozialisten wie des Professors L. Ragaz - Zürich, und anderer und der Zeitschrift: „Neue Wege“ — die Dienstverweigerung, insbesondere unter Lehrern und Akademikern, Fortschritte, machte, während jetzt ein ungeheuerlich reaktionärer Gesetzentwurf, ein wahres „Zuchthausgesetz“ zur Unterdrückung dieser Bestrebungen vorliegt, der dem Ruhme einer „freien Schweiz“ ein gründliches Ende bereiten würde, falls er wirklich zur Annahme gelangte.

In Norwegen blieben anfänglich die christlichen Kriegsdienstverweigerer ohne Strafe. Allmählich aber, als die Zahl der Verweigerer wuchs und zur Massenbewegung wurde, hat man auch hier durch eine strengere Bestrafung der Bewegung Einhalt zu tun versucht.

In Schweden zählt man über 40000 Antimilitaristen, die ein internationales Manifest „An die Soldaten“ veröffentlicht haben; sie haben eine eigene Zeitung: „Brand“ von dem Jungsozialisten Björklund herausgegeben, die einen beträchtlichen Leserkreis besitzt.

In Frankreich ist ein „Aktionsausschuß der Jugend“, in dem sich Anarchisten, Kommunisten und Syndikalisten gegen den Militarismus zusammenschlössen, gegründet, aber eine große Anzahl von Führern ist wegen ihrer Agitation gegen den


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Militarismus überwacht und gefangen genommen worden. Der Führer der Liga der Militärdienst Verweigerer, Henri Delecourt, hat mehr als zwei Jahre Gefängnis bekommen, andere wurden zu einem Jahr, 26 zu mehreren Monaten Gefängnis verurteilt.

Charakteristisch für Frankreich sind zahlreiche Fälle von Menschen, die zwar dienen, im Verlauf dieser Zeit aber, durch die Erfahrung belehrt, den Kriegsdienst verabscheuen lernen und desertieren, so daß in Marokko mehr als 30000 Deserteure sind.

Aber die Erkenntnis von der Bedeutung des Antimilitarismus ist auch in Frankreich so weit erwacht, daß zum Beispiel die Arbeiter der Metallwerke in Roubaix einen Auftrag auf Metallhülsen für Schrapnells zu vollziehen sich weigerten und in den Streik eintraten.

Auch in Dänemark schreitet die Arbeit der konsequenten Antimilitaristen fort. Die Führer sind auf fast zwei Jahre ins Gefängnis gesetzt und die Regierung versucht bisher vergeblich, durch ein Gesetz über den Zivildienst ihren Widerstand zu brechen.

Auch in Italien gab es — nach Berichten an das antimilitaristische Büro im Haag — während des Krieges Tausende von Kriegsdienstverweigerern und Zehntausende von Deserteuren. Ihre Zahl war so groß, daß das Standrecht; ihnen gegenüber ausgeübt wurde und in einem Regiment wurden auf je 10 Mann ein Mann erschossen.

Auch von Belgien werden Fälle wie von den italienischen Regimentern berichtet; genaue Nachrichten über eine so prinzipielle Kriegsdienstverweigerung wie in England, Amerika, Holland usw. liegen nicht vor.

In Neuseeland finden wir — nur in kleinerem Maßstabe — die Situation ähnlich wie in England.

Auch in den neugeschaffenen Ländern der „Kleinen Entente“ ist der militaristische Geist auf Seiten der herrschenden Klassen sehr groß; man geht mit ungeheurer Schärfe gegen die Antimilitaristen vor. So gibt man in Litauen eine Gefängnisstrafe von 10 Jahren wegen Dienstverweigerung.

In Jugoslavien wird eine heftige Unterdrückung der antimilitaristischen Bewegung gegenüber ausgeübt. Presse, Bibliotheken und Volkshäuser wurden geschlossen; mehr als


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14000 Personen verhaftet, eine Anzahl darunter gefoltert. Im Parlament ist ein Gesetz gegen alle antimilitaristische, wie anarchistische, syndikalistische, kommunistische Tätigkeit und Propaganda eingebracht. Streik, Sabotage, passiver wie aktiver Widerstand werden streng bestraft. Eine Erörterung dieses Gesetzes im Parlament wurde nicht gestattet.

Auch in Rußland sind seit Anfang des Krieges etwa 1000 Fälle von Dienstverweigerung bekannt geworden. Seitdem aber hat das Widerstreben noch außerordentlich zugenommen. Wenn im Anfang die Sowjet-Regierung einfach die Kriegsgesetze. gegen die Dienstverweigerer walten ließ, so daß sie standrechtlich erschossen wurden, hat man sich in letzter Zeit doch dem Vernehmen nach mit milderen Strafen, Gefängnis und dergl. begnügt.

Sehr schlimm steht es in dieser Beziehung mit den romanischen Ländern wie Spanien und Brasilien. Vor allem in Spanien herrscht direkt ein weißer Terror. Seit Jahren werden die Besten erschossen oder ins Gefängnis gesetzt, Hunderte von Arbeitern nach Afrika verschickt, politische Gefangene: — ganz wie in Deutschland — auf einem sogenannten „Fluchtversuch“ erschossen.

Unter diesem letzteren Vorwand erlitten in einem einzigen Monat des letzten Jahres 26 Arbeiterführer den Tod. In 6 Monaten sind 764 Arbeiter erschossen worden. Ein Mann wie Mauro Bajatierra, der wegen seiner den internationalen Kameraden erwiesenen Dienste eingesperrt wurde, ist ebenfalls noch in den dunkelsten Verließen der spanischen Justiz gefangen.

Auch in Brasilien werden die freidenkerischen Zeitschriften unterdrückt, die Schriftsteller eingesperrt und jede Gedankenfreiheit unmöglich zu machen gesucht, so daß schon seit langem alle freiheitlichen antimilitaristischen Elemente vor einer Auswanderung nach Brasilien gewarnt werden müssen.

Ein Bericht über mexikanische Zustände, den der Herausgeber Gale von Gales „Internationaler Monatsschrift“, der jetzt nach Amerika ausgewiesen ist, an das internationale Büro im Haag sandte, ist niemals eingetroffen.

In Österreich wirkt im Sinne des konsequenten Antimilitarismus besonders der „Bund herrschaftsloser Sozialisten“, der in der von Pierre Ramus (Rudolf Großmann) heraus-


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„gegebenen Zeitschrift: „Erkenntnis und Befreiung“ seinen Mittelpunkt und manche Erfolge zu verzeichnen hat. Dieser — notgedrungen flüchtige — Überblick zeigt schon, daß die Erkenntnis von der Notwendigkeit einer verantwortlichkeitsbewußten Gegnerschaft gegenüber dem Krieg und der Teilnahme an ihm in allen Ländern zunimmt.


III.

Der „Internationale Antimilitaristische Kongreß“ im Haag von Ostern 1921, wie die ihm vorausgegangene „Internationale Konferenz der absolutistischen Dienstverweigerer“ in Bilthoven, haben zum ersten Male versucht, eine umfassende internationale Front aller konsequenten Gegner des Krieges aufzubauen und dichter zusammenzuschließen. Tage innerer Gemeinschaft —, die allen Teilnehmern unvergeßlich bleiben werden.

Die englische Kriegsdienstverweigerer-Organisation hat sich nach dem Kriege umgewandelt in eine Bewegung „Nie mehr Krieg“, die folgende Erklärung zur Grundlage genommen hat:

„In dem Glauben, daß jeder Krieg unrecht ist und daß die Bewaffnung der Nationen sowohl zu Wasser, zu Lande als in der Luft, ein Verrat an der geistigen Einheit und Verständigung des Menschengeschlechts ist, erkläre ich es als meine Absicht, niemals an einem Kriege teilzunehmen, sei es ein Angriffs- oder Verteidigungskrieg, ein internationaler oder ein Bürgerkrieg, weder durch Waffendienst, noch durch Anfertigung oder Verkauf von Munition, noch durch freiwillige Zeichnung von Kriegsanleihe oder indem ich durch meine Arbeit andere für den Kriegsdienst freimache.“ —

„Außerdem erkläre ich es als meine Absicht, für die Beseitigung aller Kriegsursachen zu arbeiten und eine neue soziale Ordnung anzustreben, die auf gemeinsamer Arbeit zum allgemeinen Wohl beruht.“



Der letzte Zusatz war die Frucht der Bilthovener Tage, an denen Wilfred Wellock, einer der tapfersten Vorkämpfer der englischen Kriegsdienstverweigerer, als Vertreter der englischen Bewegung teilgenommen hatte.

Die Gründungskonferenz in Bilthoven, die vom 22. bis


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26. März 1921 stattfand und die internationale Erklärung abfaßte:

„Der Krieg ist ein Verbrechen gegen die Menschheit !
Wir sind daher entschlossen, keine Art von Krieg zu unterstützen und für die Beseitigung aller seiner Ursachen zu wirken!“

erläuterte sie in folgender Weise:
„Krieg ist ein Verbrechen gegen die Menschheit!
Denn er ist ein Verbrechen gegen das Leben und mißbraucht den Menschen als Mittel für politische und wirtschaftliche Zwecke.“
„Wir sind daher entschlossen,
getrieben von starker Liebe zur Menschheit,
Keine Art von Krieg,
weder Angriffskrieg noch Verteidigungskrieg, zu unterstützen. Dies ist wichtig, weil fast jeder Krieg von den Regierungen als Verteidigungskrieg hingestellt und im Bewußtsein der Völker als Verteidigungskrieg geführt wird.

Wir unterscheiden drei Arten von Krieg:

a) Krieg zur Verteidigung des Staates, zu dem wir durch Geburt oder Wahl gehören. Den Waffendienst für diesen Zweck zu verweigern, ist schwierig, weil der Staat alle seine Machtmittel gebrauchen wird, uns zu zwingen. Ferner, weil man die angeborene Liebe zu unserer Heimat so lange zu der nationalistischen Täuschung mißbraucht hat, als sei Staat und Heimat dasselbe.

b) Krieg zur Verteidigung der bestehenden Gesellschaftsordnung mit ihren Sicherungen und Vorrechten für die Besitzenden. Daß wir keine Waffen für diesen Zweck ergreifen werden, versteht sich von selbst.

c) Krieg zur Verteidigung und Befreiung des bedrückten Proletariats. Die Weigerung, für diesen Zweck die Waffen zu ergreifen, ist sehr schwer.

1. Weil der bolschewistische Staat und noch mehr das empörte Proletariat in Zeiten der Revolution in jedem


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einen Verräter sehen wird, der sich weigert, es mit Waffengewalt zu unterstützen.

2. Weil unsere angeborene Liebe für die Leidenden uns in Versuchung führen könnte, Gewalt zu gebrauchen, um ihnen zu helfen oder sie zu unterstützen.

Wir sind indessen überzeugt, daß Gewalt niemals die Ordnung aufrecht erhalten, nicht wirklich unsere Heimat schützen, das Proletariat nicht wahrhaft befreien kann.

Die Erfahrung hat gezeigt, daß durch jeden Krieg eine erschreckende Verwilderung und Verrohung, die Vernichtung aller Freiheit eintritt und daß das Proletariat nur scheinbar dadurch gewinnt, in Wahrheit aber seine Leiden vermehrt.

Es ist uns daher unmöglich, irgend einen Krieg

zu unterstützen,

weder durch direkten Dienst im Heere, in der Flotte, in der Luft, noch durch bewußte Herstellung von Munition und Kriegsmaterial, noch durch Leistung irgend eines von der Regierung geforderten Dienstes als Ersatz für Waffendienst, noch durch Zeichnung von Kriegsanleihen, noch durch Hergabe unserer Arbeit, um andere für den Kriegsdienst freizumachen.

Wir sind uns klar, daß wir als konsequente Pazifisten nicht das Recht haben, eine bloß negative Stellung einzunehmen, sondern bemüht sein müssen, die tieferen Ursachen des Krieges zu erkennen,

Und für die Beseitigung aller seiner Ursachen zu kämpfen.

Als Ursachen des Krieges sehen wir nicht nur Selbstsucht und Habsucht an, die sich in jedem Menschenherzen finden, sondern auch alle Faktoren, welche die Menschen als Massen zu gegenseitigem Haß und Massenmord führen.

Wir sehen in den folgenden Antrieben die für unsere Zeit wichtigsten :
1. Die Unterschiede der Rassen, die zu Neid und Haß künstlich gesteigert werden.
2. Die Unterschiede der Glaubensbekenntnisse, die durch Unduldsamkeit zu gegenseitiger Mißachtung künstlich aufgestachelt werden.


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3. Die Gegensätze der Klassen, der Besitzenden und der Nichtbesitzenden, die fast unvermeidlich hintreiben zu Völker- und Bürgerkrieg, so lange das gegenwärtige Produktionssystem besteht, das auf Profitwirtschaft anstatt auf Bedarfswirtschaft beruht.
4. Die Gegensätze der Nationen, in denen wir zum großen Teil eine Folge des jetzigen Produktionssystems sehen, das zum Weltkrieg und zu wirtschaftlichem Chaos geführt hat.
Wir sind überzeugt, daß diese Gegensätze durch eine den Bedürfnissen der einzelnen Nationen angepaßte Regelung der Weltwirtschaft ausgeglichen werden können.
5. Endlich sehen wir auch eine wesentliche Ursache des Krieges in der falschen Auffassung über das Wesen des Staates. Der Staat ist um des Menschen Willen da, nicht der Mensch um des Staates willen. Die Anerkennung der Heiligkeit des menschlichen Lebens, der menschlichen Persönlichkeit muß das Grundgesetz der menschlichen Gesellschaft werden.
Anderseits darf auch der einzelne Staat nicht mehr als souveränes Einzelwesen betrachtet werden; denn jede Nation ist ein Teil der großen Familie der Menschheit.

Wir müssen daher mit aller Kraft für die Beseitigung von Klassen und trennenden Grenzen wirken und für die Schaffung einer weltumfassenden Brüderlichkeit, begründet auf              Gegenseitige Hilfe.“


IV.

Im Anschluß an die Konferenz in Bilthoven hat sich nun auf Grund dieses gemeinsamen — in verschiedenen Sprachen verfaßten — Manifestes die „Internationale der Kriegsdienstverweigerer“ („Paco“) gebildet, Sekretariat Bilthoven, Holland.

Die Konferenz in Bilthoven ging also von dem Standpunkt aus, daß, wer den Krieg als ein Verbrechen an der Menschheit bekämpfen und jede Teilnahme an ihm verweigern zu sollen glaubt, auch an der Abschaffung der Ursachen des Krieges wirken müsse. Diese Ursachen sehen die konsequenten Antimilitaristen nicht nur im Kapitalismus, einer falschen, ungerechten Gestaltung unserer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern auch in der verhängnisvollen


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Auffassung vom Staat als eines Götzen, der sich zu Ehren [Menschenopfer schlachten lassen darf, ferner in der Aufstachelung der Rassenunterschiede, der religiösen und nationalen Verschiedenheiten. Unsere wachsende Toleranz erlaubt zwar nicht mehr, die Vertreter einer anderen religiösen Auffassung zu töten. Wohl aber stecken wir noch so tief in Barbarei, daß die Anhänger verschiedener politischer Anschauungen oder die Angehörigen verschiedener Nationen einander töten. Aber die Erkenntnis der Menschheit als eines Ganzen, dessen Wohl und Wehe voneinander abhängt, wächst täglich. Wir begreifen, daß der Krieg die Verneinung der menschlichen Persönlichkeit in der stärksten Form ist und von einer ihrer selbst bewußt gewordenen Menschheit überwunden werden muß.

War die Konferenz in Bilthoven, an der Intellektuelle und Arbeiter teilnahmen, gewissermaßen die Beratung einer Führerschaft, so war der darauffolgende Kongreß im Haag, der auch die nicht absolutistischen Antimilitaristen einte, welche die Bekämpfung des Krieges vor allem im Generalstreik, in der Sabotage der Munitionsherstellung, wie -transportierung usw. sehen, mehr ein Parlament der Masse.

Auf dem Antimilitaristischen Kongreß im Haag wurde das „Internationale Antimilitaristische Büro“ gegründet (Sekretär W. Giesen, Utrecht, Heerenweg 14), dessen Grundsätze folgendermaßen lauten: „Das I. A. M. B. gegen Krieg und Reaktion, aus revolutionär-antimilitaristischen Organisationen gebildet, hat den Zweck, den Militarismus international zu bekämpfen, um sowohl den Krieg wie auch die Bedrückung der arbeitenden Klasse unmöglich zu machen. —

Es versucht, in den Arbeitern das Bewußtsein ihrer entscheidenden, ökonomischen Macht zu stärken und macht Propaganda für den Generalstreik und die Massenverweigerung des Militärdienstes.

Es strebt danach, die Heere und Flotten unzuverlässig zu machen und zollt der persönlichen Verweigerung des Militärdienstes Anerkennung.

Es wendet sich gegen jede Bemühung, durch das Mittel bewaffneten Einschreitens ein Proletariat aufs neue zu unterwerfen, welches das kapitalistische Joch abgeworfen hat.


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Es wendet sich gegen alle Formen ökonomischer Ausbeutung militärischer Bedrückung der farbigen Rassen und versucht, die größtmögliche Einheit und Arbeitsgemeinschaft zwischen dem revolutionären Proletariat im Norden, Süden, Osten und Westen zu fördern.“

Man sieht: das Büro hat mehr eine praktisch-politische Einstellung gegen die am meisten militaristischen, im Besitz der Macht und des Geldes befindlichen Schichten, während die „Internationale der Absolutsten“ (Bilthoven) bestrebt ist, dem Prinzip der Enthaltung von der Teilnahme am Krieg jeder Art in voller Reinheit nachzuleben und durch die Macht dieses Beispiels das Übel zu bekämpfen.

Im Haag, wo über die Arbeit und das Vorbild der Kriegsdienstgegner in allen Ländern berichtet wurde, wurde klar: bis heute hat weder irgend ein Land noch irgend eine Klasse als solche schon das Ideal des konsequenten Antimilitarismus erreicht. Weder der Sozialismus, noch der Kommunismus, noch der Liberalismus, noch der alte bürgerliche Vorkriegs-pazifismus — vom verstaatlichten Christentum gar nicht zu reden — zogen schon diese letzte Konsequenz sittlichen Adels, wie der Krieg leider erwiesen hat. Eine unendlich mühevolle, aber unbedingt notwendige Arbeit ist noch zu tun, um den Geist des Militarismus, der der schlimmste Feind der Menschheit ist, der es uns allein psychologisch noch möglich macht, einander zu töten, — aus allen seinen Schlupfwinkeln zu vertreiben.

Aber nicht nur auf den vorgeschobenen Posten einzelner ethischer Revolutionäre, syndikalistischer oder anarchistischer Arbeiter finden wir heute glücklicherweise den aktiven Pazifismus, der sich nicht nur mit der Änderung der äußeren Formen und öffentlichen Einrichtungen begnügt, sondern in das Gewissen und die Verantwortung jedes Einzelnen die Pflicht zur Abwehr des Mordgeistes legt.

Erfreulicherweise ist es nun gelungen, in dieser Arbeit nicht nur alle Nationen, sondern auch, was oft noch schwerer ist, die verschiedenen sozialen Schichten, sowie die Geschlechter zu einen: Arbeiter und Intellektuelle, Männer und Frauen. So wie in England während des Krieges die Frauen die Arbeit der zu Gefängnis verurteilten Männer fortsetzten, bis auch sie verhaftet wurden, so hat sich auch die „Internationale


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Frauenliga für Frieden und Freiheit“, — die schon April 1915 im Haag gegen den Krieg protestierte, — in Zürich Mai 1919 und im Juni 1921 in Wien für Kriegsdienstverweigerung auch durch die Frau im Zivildienst ausgesprochen. In Amerika wirkt eine besondere Frauenfriedensgesellschaft (Vorsitzende Mrs. Francis Villard, New-York, 525 Park Avenue) für die Kriegsdienstverweigerung und allgemeine Abrüstung, für die Heilighaltung des menschlichen Lebens.

Ein Beweis dafür, daß es möglich ist, einen bewegenden Einfluß zur Beseitigung von Übelständen auszuüben, ohne zugleich das Leben derer, die man bekämpfen zu müssen glaubt, zu zerstören, gaben uns Berichte der Kriegsdienstgegner aus Amerika, wie vor allem auch über die Gandhi-Bewegung in Indien. Dieser Methode der Gewaltlosigkeit ist es gelungen, eine große Macht in Indien — wie vorher in Südafrika — im Sinn einer allmählichen Befreiung Indiens von englischer Herrschaft auszuüben, ohne zu der üblichen vorsintflutlichen barbarischen Methode der Handgranaten oder der Kanonen zu greifen.

Als ein erfreuliches Resultat all dieser Pionierarbeit darf heute auch die Tatsache angesehen werden, daß sogar die gemäßigten Elemente der II. Internationale, die durch den Internationalen Gewerkschaftsbund in Amsterdam vertreten sind, jetzt die Notwendigkeit einer solchen Aktion erkannt zu haben scheinen. Denn nur wenn auch die zahlreichsten Kreise des arbeitenden Volkes selber sich nicht mehr an der Vorbereitung für Krieg und Menschenmord durch die Fabrikation von Mordwerkzeugen beteiligen, nur dann wird dem Krieg wirklich ein Ende bereitet werden. Der Aufruf der Gewerkschaftsinternationale vom August 1920 sowie die Weigerung der englischen Arbeiter, Munition zu transportieren, hat bereits den Erfolg gehabt, die Erneuerung des Krieges gegen Rußland zu verhindern. Noch dankbarer zu begrüßen ist der Beschluß vom1 November 1921, jede Kriegserklärung mit dem Generalstreik zu beantworten.

Auch in Deutschland erlebten wir schon Beispiele von Weigerung der Arbeiter, Munition herzustellen, wie in Sömmerda in Thüringen und Reinickendorf.

Für einen Staat, in dem! der Militarismus, d. W. der Glaube an die Gewalt, im letzten Jahrhundert gewissermaßen Staats-


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religion war, ist es immerhin ein erfreuliches Zeichen, daß nun auch bei uns immer mehr das Unnatürliche und Unmenschliche des Krieges erkannt wird — im Sinne jenes Matrosen, dessen Zweifel Tolstoi mitteilt: ob es wirklich gottgefällig sein könne, daß die Regierung die Menschen zwinge, andere Menschen zu töten?! Das ist der Funke jenes Feuers, welches das wahre Christentum, d. h. die wahre Menschlichkeit, auf der Erde angezündet hat.

Ein solches Feuer, nachdem es einmal aufzulodern begonnen, wird auch nicht wieder erlöschen, bis es alles Unkraut des Hasses und der Vergewaltigung verzehrt hat.

Denn so sehr uns die Ereignisse des letzten Jahrzehntes zur Skepsis, zur Bescheidenheit in bezug auf die menschliche Rasse, ihre Natur und ihre Fähigkeiten stimmen müssen, das Eine scheint uns doch sicher: das Gewissen der Menschheit ist erwacht, in einer ganzen Anzahl von Individuen ist ihr zum Bewußtsein gekommen, welche Torheit, — nicht nur welches Verbrechen, — dieser Selbstmord der Völker ist.

Mögen daher diejenigen Pazifisten, die nicht an die Wirksamkeit dieser sittlichen Erkenntnisse und Methoden glauben, ihre Arbeit für Völkerbund und Weltparlament weiter ausbauen. Die Kriegsdienstverweigerer werden sie in dieser Arbeit nach Kräften unterstützen. Aber es scheint uns, daß man den Durchbruch des Tunnels von beiden Seiten beginnen muß: nicht nur durch die Verbesserung der äußeren Institutionen, der parlamentarischen, der wirtschaftlichen, der technischen Einrichtungen, sondern auch durch die Erweckung des Gewissens, des Verantwortlichkeitsgefühls des Einzelnen.

Und mag früher vielleicht einmal der Krieg, der Militarismus, eine geschichtliche Notwendigkeit für die Entwicklung der Menschheit aus der Tierheit gewesen sein, — auch das läßt sich bezweifeln — heute gibt es auf jeden Fall nur noch eine geschichtliche Notwendigkeit: die bewußte Höherentwicklung, nur noch eine wahre Religion: die Menschlichkeit, und in ihrem Sinn gilt es zu leben und zu arbeiten.

Helene Stöcker.



Flugblatt des Bundes der Kriegsdienstgegner. Hauptgeschäftsstelle: Dr.Armin T.Wegner, Neu-Globsow i.d.M.
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Zum Weltfrieden durch Kriegsdienstverweigerung.

Daß der erfolgreiche Kampf gegen die Gewalt mit unblutigen Mitteln nicht eine Utopie ist, wie eine falsche „Realpolitik" meint, dafür zeugen die folgenden Beispiele:
1905. Als zwischen Norwegen und Schweden Krieg auszubrechen droht, fordern die Jungsozialisten zur Kriegsdienstverweigerung auf und der Ausbruch des Krieges wird verhindert.
1909. Während des Kolonialkrieges Spaniens gegen Marokko fordert Ferrer mit solchem Erfolge zum Generalstreik auf, daß Spanien zeitweise seine Truppen zurückziehen muß.
1914/18. In England und Amerika verweigern 12000 Männer und eine Anzahl Frauen jeden Kriegsdienst und jede Arbeit zur Förderung des Krieges. Während die Bestrebungen vereinzelter gleichgesinnter Helden in den anderen Ländern scheitern und in den meisten Fällen zu ihrer Hinrichtung führen, bleiben in England und Amerika die Regierungsmaßnahmen infolge der straffen Organisation und der geschlossenen Haltung der Kriegsdienstverweigerer unwirksam. Wohl sterben viele in der Gefangenschaft, aber die Regierungen wagen nicht die Tausende zum Tode zu verurteilen. Ihr Widerstand ist stärker als die Macht der Regierungen — sie bleiben Sieger.
1919. Abschaffung der Wehrpflicht in Deutschland, England und Amerika, somit Freigabe der Propaganda gegen den Kriegsdienst — ein überaus wichtiger Umstand, der in den vor dem Kriege wehrdienstlosen Ländern, England und Amerika, allein die Organisierung! der Kriegsdienstverweigerung ermöglichte.
1920. Der Kapp-Putsch wird durch den Generalstreik der Arbeiter, also den waffenlosen Widerstand, in wenigen Tagen niedergerungen.
1920. Englische Arbeiter weigern sich, Waffen und Kriegsmaterial für den Kampf gegen Sowjetrußland zu transportieren. Der von den Regierungen der Entente geplante Krieg gegen Sowjetrußland kommt hierdurch nicht zum Ausbruch.
Die internationale Generalstreikdrohung verhindert den Einmarsch der Ententetruppen in das Ruhrgebiet
1922. Der Internationale Gewerkschaftskongreß in Rom, hinter dem 24 Millionen Arbeiter stehen, erklärt es für die Aufgabe der organisierten Arbeiterschaft, allen Kriegen, die in Zukunft auszubrechen drohen, durch jedes Mittel entgegenzutreten, das der Arbeiterbewegung zur Verfügung steht und im Notfalle den| tatsächlichen Ausbruch solcher Kriege zu verhindern, indem der internationale Generalstreik proklamiert und durchgeführt wird.

Diese Tatsachen sprechen. Wenn wir ferner bedenken, daß der internationale Gewerkschaftsbund in früheren Resolutionen alte pazifistischen Organisationen dazu auffordert, ihre Bemühungen mit den seinen zu vereinen, um spätere Kriege unmöglich zu machen, so zeigt sich, welche Bedeutung die Unterstützung der Bewegung der Kriegsdienstgegner für die zukünftige Entwicklung der Ereignisse hat.
Deshalb stärkt den „Bund der Kriegsdienstgegner" durch Geldmittel und Mitarbeit. Gebt ihm die Möglichkeit, weitere Propaganda-schriften zu veröffentlichen und mit seinen ausländischen Gesinnungsgenossen in persönlicher und brieflicher Verbindung zu bleiben. Es gilt wirksame Organisationen der Kriegsdienstgegnerschaft, insbesondere Stellennachweise, Unterstützungsfonds für Kriegsdienstverweigerer usw. zu schaffen.
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„Der Krieg ist ein Verbrechen gegen die Menschheit. Wir sind daher entschlossen, keine Art von Krieg zu unterstützen und für die Beseitigung] aller seiner Ursachen zu kämpfen."
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Erstellt 2018 - Letzte Änderung am 02.08.2018.