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Dr. Wilhelm Jerusalem

Berlin, den 25. Mai 1912.

Die Logik des Unlogischen.

In meinem Bericht über den Heidelberger Philosophenkongreß, der in der „Zukunft vom zehnten Oktober 1908" veröffentlicht wurde, habe ich, in meiner Polemik gegen die Anmaßungen der „reinen" Logik, den paradoxen Ausspruch gethan: „Man muß den Muth haben, unlogisch zu denken, wenn man etwas Neues finden will." Manche meiner philosophischen Freunde haben dazu den Kopf geschüttelt und gemeint, ich hätte doch mindestens „unlogisch" in Gänsefüßchen stellen sollen. Ich aber blieb fest bei meiner Behauptung und wollte auch die Gänsefüßchen unter keiner Bedingung zugeben. Das erneute Studium der Werke Machs, besonders seiner „Mechanik" und des so überaus reichen Buches „Erkenntniß und Irrthum", hat mich in meiner Ueberzeugung gestärkt, daß die Logik sich, nach der Erfahrung und nach der Geschichte der Wissenschaften richten müsse.

Nun kommt eine merkwürdige Ueberraschung. Einer der strengsten und ehrlichsten unter den deutschen Denkern der Gegenwart, ein Mann, den die Aprioriker bisher ganz zu den Ihren zählten, hat ein Werk publizirt, in dem die Wahrheit meines Paradoxons mit eben so viel Scharfsinn wie Gelehrsamkeit geradezu unwiderleglich bewiesen wird. Das Buch heißt: „Die Philosophie des Als Ob", herausgegeben von Hans Vaihinger.

Der Verfasser hat den Lesern dieser Blätter in einer ausführlichen Selbstanzeige („Zukunft" vom dreißigsten September 1911) über Abfassung und Schicksal, über Inhalt und Anordnung seines

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Werkes Aufschluß gegeben. Er hat uns mitgetheilt, daß er das Buch vor fünfunddreißig Jahren geschrieben, und uns auch gesagt, warum er es damals nicht veröffentlicht hat. Vaihinger erklärt ausdrücklich, daß er das in seinem Jugendwerk Gesagte auch heute noch voll vertrete. Von den neu entstandenen Strömungen und Gedankenrichtungen in der Philosophie hofft er sich ein besseres Verstandniß und eine tiefere Wirkung, als sie damals zu erwarten waren. Da möchte ich nun zunächst sagen, daß, ich diese Hoffnung des Verfassers theile und daß sie sich an mir selbst und an einigen meiner philosophischen Freunde schon erfüllt hat. Man merkt dem Buch überall an, daß ein junger Mann es schrieb. Eine wohlthuende Frische und ein kühner Wagemuth durchziehen und durchwärmen das Ganze. Ueberall tritt uns die unverhohlene Freude entgegen, die der Verfasser nicht nur am eigenen Finden, sondern auch objektiv an den kunstvoll verschlungenen Wegen des menschlichen Denkens empfindet, die er mit vollendeter Meisterschaft bloszulegen versteht. Dabei ist das Ganze getragen von einer festgefügten, und zugleich dem Leben zugekehrten Weltanschauung. Der Zweck des Denkens ist für den jungen Vaihinger nicht das Denken selbst. Nein: das theoretische Erkennen, die ganze logische Funktion wird in Bewegung gesetzt und entfaltet durch den Erhaltungtrieb der Seele. Der letzte Zweck der Erkenntnißthätigkeit ist immer nur das menschliche Handeln, die sittliche That. Dieser aktivistische Zug in Vaihingers Philosophie berührt sich sehr nah mit modernen Tendenzen und Strömungen. Amerikanische, englische, französische, italienische, auch deutsche Denken[r] haben in den letzten Jahrzehnten diesen Weg betreten: und deshalb wird Vaihingers Buch in diesen Kreisen gewiß, mit Freude begrüßt werden.

Aber auch die Logiker und Mathematiker, die der teleologischen Denkrichtung ferner stehen, werden in dem Buch reiche Anregung und eine Fülle von Belehrung finden. Die Philosophie des Als Ob untersucht nämlich einen bisher zwar nicht unbekannten, aber in seiner Bedeutung nicht genug beachteten Kunstgriff des menschlichen Denkens. Das Werk ist, wie der Untertitel besagt, „ein System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit". Was ist nun eine Fiktion? Wir verstehen darunter eine bewußt falsche, in sich widerspruchvolle, also durchaus unlogische Annahme, die sich als tauglich erweist, die Wirklichkeit zu berechnen und das praktische Handeln, darin möglich zu machen. Solche Annahmen werden in den verschiedensten Wissenschaften, besonders in der Mathematik und Physik, in der Nationalökonomie, in der Rechtswissenschaft, in der Ethik und Theologie sehr oft gemacht und

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sind vielfach gar nicht zu entbehren. Ohne den Kunstgriff der Fiktion hätte das menschliche Denken nie vermocht, die Natur dem Geiste zu unterwerfen. Interessant ist nun, zu sehen, wie Vaihinger den psychischen Mechanismus enthüllt, der diesen Kunstgriff des Denkens hervorbringt, und wie er zugleich die logische und erkenntnißtheoretische Ergiebigkeit der Fiktionen im weitesten Umfang nachzuweisen versteht. Was hier geboten wird, ist wirklich, wie die Ueberschrift des Artikels sagt, eine, Logik des Unlogischen; und jeder unbefangene Leser muß zugeben, daß damit die traditionelle Logik eine werthvolle Ergänzung erfährt. Hier hat einmal die Logik, nach dem bekannten Ausspruch Kants, einen gewaltigen „Schritt vorwärts thun können"; und zwar, merkwürdiger Weise, dadurch, daß sie das Unlogische in den Bereich ihrer Untersuchungen zog.

Doch es ist Zeit, daß ich Vaihingers Theorie der Fiktionen an einigen Beispielen erkläre.

Der Mathematiker will den Umfang und den Flächeninhalt des Kreises berechnen. Er stößt dabei auf die unüberwindlich scheinende Schwierigkeit, eine krumme Linie durch gerade Linien zu Messen. Da hilft er sich durch einen Kunstgriff, durch eine Fiktion. Er betrachtet den Kreis als ein Vieleck von sehr großer Seitenzahl. So wird es möglich, das Verhältniß des Kreisdurchmessers zum Kreisumfang durch eine Zahl (Pi) zu bestimmen, die zwar nicht mit absoluter, aber mit so großer Genauigkeit berechnet werden kann, daß es nicht nur für alle praktischen Messungen, sondern auch für die komplizirtesten mathematischen Bestimmungen ausreicht. Der Kreis ist kein Vieleck: denn eine gebrochene und eine krumme Linie bleiben immer wesentlich verschiedene geometrische Gebilde. Er kann aber betrachtet werden, als ob er ein Vieleck von sehr großer Seitenzahl wäre, und diese durchaus unlogische, fiktive Annahme erweist sich als sehr nützlich. Von viel größerer Bedeutung für die Mathematik war die Einführung einer anderen Fiktion. Ich meine den von Leibniz und Newton zum ersten Mal verwendeten Begriff des Unendlich-Kleinen. Das hier erfundene Denkmittel ist durchaus unlogisch. Man operirt hier mit einer Größe, die so gering ist, daß sie oft gleich Null gesetzt werden kann und doch wieder mehr als Null ist, so daß durch Summirung vieler solcher Größen doch wieder wirkliche, reale Zahlen entstehen können. Durch diesen genialen Kunstgriff ist die sogenannte „höhere" Mathematik geschaffen worden, in deren Gebiet dieses Denkinstrument in ganz unglaublicher Weise verfeinert wurde. Vaihinger hat gerade dieser bedeutsamen Fiktion besondere Aufmerksamkeit gewidmet; und die „Geschichte der Infinitesimalfiktion", die er uns giebt, ist so recht geeignet,

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auch dem der Mathematik Fernen die Entstehung und Bedeutung dieser genialen Methode verständlich zu machen.

In der Physik und Chemie hat bekanntlich der Atombegriff große Bedeutung. Die griechischen Denker, die dieses Denkmittel geschaffen haben, hielten zwar die Atome für etwas Reales; und auch neuere Forscher haben sich für die Wirklichkeit dieser Unendlich kleinen Körperchen eingesetzt. Prüft man, aber die Sache genauer, so sieht man bald ein, daß ausdehnunglose Kraftpunkte, von denen Wirkungen ausgehen sollen, weder anschaulich vorgestellt noch widerspruchlos gedacht werden können. Das Atom ist eben keine Hypothese, die durch Experimente geprüft und bestätigt werden könnte, sondern ein rein fiktiver, Begriff, der sich mehrfach als zweckgemäß erwiesen hat. Man konnte mit seiner Hilfe mechanische und zum Theil auch chemische Vorgänge mathematisch formuliren und der Berechnung unterweisen. Manche neuere Physiker glauben, ohne diesen Kunstgriff auskommen zu können, und halten deshalb diese Fiktion für entbehrlich. Das ist aber immer (und Vaihinger zeigt es wieder mit sonnenheller Klarheit) nur eine Frage der Zweckmäßigkeit und niemals kann es sich darum handeln, ob die Atome existiren oder nicht.

Wichtiger noch sind die Fiktionen in den eigentlichen Geisteswissenschaften, weil man hier durch Beobachtung und Experiment den komplizirten Erscheinungen nicht beizukommen vermag. Ein klassisches Beispiel bietet die Begründung der Nationalökonomie durch Adam Smith. Der Kunstgriff des großen schottischen Denkers besteht darin, „daß er alle wirthschaftlichen Handlungen der Gesellschaft so betrachtet, als ob sie einzig und allein vom Egoismus diktirt wären; er sieht dabei ab von allen anderen Faktoren, wie Wohlwollen, Gerechtigkeit, Billigkeit, Mitleiden, Gewohnheit, Sitten und Gebräuchen. Auf diese Weise ist es ermöglicht, die Erscheinungweisen der menschlichen Wirthschaft auf wenige Grundgesetze zu reduziren. Mit sicherer Hand greift er das Motiv heraus, das am Häufigsten und Stärksten ist. Er stellt den fiktiven Satz (es ist, als ob alle wirthschaftlichen, geschäftlichen Handlungen nur vom Egoismus motivirt wären) als ein Axiom an die Spitze des Systems und entwickelt daraus deduktiv, mit systematischer Nothwendigkeit, alle Verhältnisse und Gesetze des Handels und Verkehrs und aller Schwankungen in diesen komplizirten Gebieten." Was hier Adam Smith als Fiktion anwendet, Das ist von den späteren Nationalökonomen vielfach als Hypothese betrachtet und dann geradezu zum Dogma erhoben worden. Dadurch wurde in der Volkswirthschaftlehre manchmal der Schein von Exaktheit bewirkt, der nicht selten

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Verwirrung schuf. Doch die grundlegende Annahme von Adam Smith hat sich als ein höchst nützliches Denkmittel bewährt. Der moderne Großbetrieb schaltet thatsächlich alle nicht egoistischen Motive aus, indem er auch die freiwilligen oder aufgezwungenen Wohlfahrteinrichtungen in den wirthschaftlichen Kalkül einbezieht. Deshalb ists ein sehr richtiger Gedanke von Rudolf Goldscheid, wenn er sein tief berechtigtes Verlangen nach Berücksichtigung des Entwickelungwerthes und der Menschenökonomie im wirthschaftlichen Leben in den Rahmen dieser rein berechnenden Betrachtungweise einbezieht. Man muß die Großunternehmer überzeugen, daß eine ökonomischere Behandlung des Menschenmaterials wirthschaftliche Vortheile verspricht. Erst dann darf man hoffen, daß die wirthschaftliche Entwickelung sich den Forderungen der sozialen Ethik, der Sozialhygiene und Sozialpolitik allmählich anpassen wird.

In der Rechtswissenschaft ist die Fiktion vielleicht am Längsten heimisch. Die römischen Juristen machen reichlichen Gebrauch von ihr und sind sich des fiktiven Wesens ihrer Annahmen deutlich bewußt. Wenn, zum Beispiel, ein römischer Bürger in Kriegsgefangenschaft geräth und dort stirbt, so behält sein früher errichtetes Testament volle Giltigkeit, trotzdem er zur Zeit seines Ablebens nicht rechtsfähig war. Man macht in diesem Fall die fiktive Annahme, daß der Mann in seiner Heimath gestorben sei. Kehrt der Gefangene zurück, so wird er sofort, ohne jede Erneuerung seiner Bürgerrechte, wieder rechtsfähig, weil er vom Gesetz angesehen wird, als wäre er nie in Gefangenschaft gerathen. Auch im modernen Rechtsleben wird oft von fiktiven Annahmen Gebrauch gemacht. So bestimmt das deutsche Handelsgesetzbuch, daß, eine nicht rechtzeitig dem Absender zur Verfügung gestellte Waare zu betrachten ist, als ob sie vom Empfänger endgiltig angenommen worden sei. Eben so ist der Begriff einer juristischen (oder, wie man früher sagte, einer moralischen) Person ein fiktiver, der sich als zweckgemaß bewährt, obwohl er an sich unlogisch ist.

Diese Beispiele dürften genügen, um zu beweisen, daß die Fiktion ein eben so sinnreicher wie fruchtbarer Kunstgriff des Denkens ist, der auf den verschiedensten Wissensgebieten mit Erfolg angewendet wird. Vaihinger giebt natürlich eine viel reichere Auswahl; doch er betrachtet damit seine Aufgabe nicht als erledigt. Er geht noch viel weiter. Zunächst ist ihm darum zu thun, die logische und die psychologische Struktur dieser Denkoperation bloszulegen. Die Logik der Fiktion hat Vaihinger nicht nur mit ungemeinem Glück in Angriff genommen, sondern auch, wie ich glaube, in endgiltiger Weise festgestellt. Durch eine bewußt falsche Annahme

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wird zunächst ein logischer Fehler gemacht. Der Kreis ist ein Vieleck, sagen wir, trotzdem wir genau wissen, daß er kein Vieleck ist. Dieser Fehler wird nun in den folgenden Operationen entweder beseitigt (dann fällt von der Behauptung das Falsche von selbst weg) oder er wird durch einen entgegengesetzten Fehler kompensirt und dadurch unschädlich gemacht. Diese von Vaihinger geradezu genial erkannte Methode der doppelten Fehler wird nun an einigen Beispielen illustrirt. Leider sind es meist schwierige mathematische Deduktionen, die ohne weitläufige Auseinandersetzungen nicht allgemein verständlich werden können. Ich muß deshalb die der Mathematik kundigen Leser auf das Buch selbst verweisen.

Wichtiger noch ist die scharfe Unterscheidung von Fiktion und Hypothese. Eine Hypothese ist eine wissenschaftliche Vermuthung, die aufgestellt wird, um eine Reihe von Erscheinungen zu erklären. Sie hofft, wenn sie ernst gemeint ist, immer, durch künftige Beobachtungen und Experimente bestätigt zu werden. Jede Hypothese will wahr sein oder wahr werden. Die fiktive Annahme aber steht im bewußten Gegensatz Zur Wirklichkeit. Sie kann ihrer Natur nach niemals verifizirt werden, sondern sich nur als brauchbar und nützlich erweisen. In neuerer Zeit stellt man allerdings auch Hypothesen auf, an deren Bestätigung man selbst nicht recht glaubt. Sie sollen der wissenschaftlichen Arbeit nur vorläufig zu Grunde gelegt werden und man nennt sie deshalb Arbeithypothesen. Sie stehen den Fiktionen nah und begreiflich ist deshalb, daß diese beiden Denkgebilde oft mit einander verwechselt werden. Die Auffassung der Denkoperationen ist ja stetem Wechsel unterworfen. Ein wissenschaftlicher Gedanke, der neue Betrachtungwege eröffnet, wird von seinem Urheber oft nur als fiktive Annahme hingestellt. Später sieht man darin eine Hypothese; und noch später wird diese Annahme, die sich als brauchbar erwiesen hat, zum Dogma erhoben. Auch die Umkehr dieses Verhältnisses ist aber nicht selten. Die Idee wird von ihrem Urheber sogleich als feststehende Wahrheit, als Dogma hingestellt. Genauere Forschungen ergeben dann, daß hier keine bewiesene Wahrheit, sondern höchstens eine Hypothese vorliegt. Aus dieser Hypothese wird, dann schließlich eine für den Zweck mehr oder minder taugliche Fiktion. Vaihinger nennt diesen von ihm entdeckten Wandel in der wissenschaftlichen Beurtheilung der Denkgebilde das Gesetz der Ideenverschiebung und hat durch diese Entdeckung unsere Einsicht in die Entwickelung des wissenschaftlichen Denkens ungemein gefördert. Den ersten Weg, vom Dogma durch die Hypothese zur Fiktion, hat, wie bereits erwähnt wurde, Adam Smiths „wirthschaftlicher Mensch" gemacht. Der Gedanke

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der Atomistik ist von den griechischen Denkern Leukipp und Demokrit als Dogma ausgesprochen worden. Bei den Physikern des siebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts wird er zur Hypothese. Und die Mehrzahl der neueren Forscher läßt das Atom nur noch als brauchbare Fiktion gelten. Alle diese Dinge hat Vaihinger zum ersten Mal gesehen und damit gezeigt, daß die Logik des Unlogischen als ein wichtiges und ganz besonders interessantes Moment in der Geschichte des Menschengeistes angesehen werden muß.

Nicht so glücklich ist Vaihinger in der psychologischen und sprachlichen Analyse der Fiktionen. Er steht auf dem Standpunkt der von Herbart eingeführten und von Steinthal weiterentwickelten Mechanik des Seelenlebens. Er spricht mehrmals von stabilem und labilem Gleichgewicht der Seele und sieht nicht, daß, diese von der Mechanik hergenommenen Bilder unsere Einsicht eher trüben als erhellen. Alle Mechanik setzt die Undurchdringlichkeit der Körper voraus. In schroffem Gegensatz dazu finden wir im Seelenleben eine vollkommene gegenseitige Durchdringung aller seelischen Vorgänge des selben Individuums. Das hat in neuster Zeit besonders Henri Bergson durch eindringende Zergliederung und tiefgründige Selbstschau zur unerschütterlichen Gewißheit erhoben. Hier ist die Wissenschaft von der Seele einen erheblichen Schritt weiter gekommen. Bergsons Bild von dem Gedanken, der mit sich selbst Schneeball spielt und so immer wächst, weil die ganze Vergangenheit sich in ihm verdichtet, und fein genialer Vergleich des Intellekts mit einem Kinematographen leuchten ganz anders in die Tiefen der Menschenseele hinein als Herbarts Spiel der Vorstellungen und Steinthals Formeln. Vaihinger sieht nun freilich auch in psychologischen Dingen manchmal schärfer als diese Vorgänger. Er bemerkt ganz richtig, daß allen fruchtbaren Fiktionen eine Analogie (besser wäre vielleicht: eine Aehnlichkeit-Assoziation) zu Grunde liegt. Das Vieleck wird, je mehr seine Seitenzahl zunimmt, einem Kreis immer ähnlicher. Wenn aber Vaihinger meint, zu der Vorstellung der Aehnlichkeit geselle sich nun der Gedanke, daß diese Analogie mit der Wirklichkeit im Widerspruch stehe, so ist Dies, meiner Ueberzeugung nach, ein Irrthum. Wenn sich ein solcher Gedanke wirklich mit voller Klarheit und Entschiedenheit einstellte, dann müßte er eine Hemmung, eine Ablehnung bewirken. Wir würden dadurch gehindert, diesem Einfall weiter nachzugehen, und würden ihn als unfruchtbar abwerfen. Da jedoch die Gedanken leicht bei einander wohnen und unserer Denkphantasie schrankenlose Möglichkeiten offen stehen, so wird das Weiterverfolgen scheinbar widerspruchvoller Gedanken zu einem überaus reizvollen Spiel.

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Wir spinnen deshalb unsere phantastische Annahme mit einem gewissen Behagen weiter aus, bis sich plötzlich eine neue Perspektive eröffnet, die uns zeigt, daß wir auf diesem Weg dazu gelangen können, das scheinbar Unmögliche möglich zu machen. Wie der primitive Mensch mit der von ihm instinktiv gefundenen Technik, die ihm ein brauchbares Werkzeug geliefert hat, gern spielt und dadurch oft, wie Perworn gezeigt hat, zu künstlerischer Leistung gelangt, so spielt der wissenschaftlich erwachte Geist auf seinem Denkinstrument und findet dadurch neue Forschungmethoden. Die leichte Vollziehbarkeit widerspruchvoller Annahmen, die schöpferische Entwickelung, die für alles Seelische bezeichnend ist: da ist die psychologische Grundlage der Logik des Unlogischen; da ist die in gewissem Sinn künstlerische Natur der wissenschaftlichen Fiktion.

Das wird vielleicht noch klarer, wenn wir uns die sprachliche Form des „Als Ob" ansehen. Vaihinger findet in dem „Als" die Aehnlichkeit-Assoziation, den Vergleich ausgedrückt und meint, das „wenn es wäre" bedeute den bewußten Gegensatz zur Wirklichkeit. Hätte er den Versuch gemacht, mehrere solcher Sätze ins Lateinische oder ins Griechische zu übersetzen, dann hätte er seinen Irrthum sofort erkannt. Der Satz, „als ob es wäre" würde im Lateinischen manchmal mit „quasi esset", sehr oft aber auch mit „quasi sit" wiederzugeben sein. Aehnliche Verschiedenheiten würden sich auch im Griechischen ergeben. Die deutsche Form „wäre" bedeutet durchaus nicht immer den Gegensatz zur Wirklichkeit, sondern besagt sehr oft, daß der Sprechende die Erfüllung der Bedingung für möglich hält. Schulgemäß ausgedrückt heißt Das: „wäre" ist nicht immer ein „modus Irrealis", sondern oft auch ein „modus potentialis". Latein und Griechisch haben für diese zwei Gedanken verschiedene sprachliche Wendungen zur Verfügung, während im Deutschen in beiden Fällen die Form „wäre" angewendet wird. In den meisten fiktiven Annahmen ist „wäre" zweifellos ein „modus potentialis." Wir lassen uns immer die Möglichkeit offen und eben deshalb denken wir weiter. Wir halten nicht für ausgeschlossen, daß ein Vieleck bei stark vermehrter Seitenzahl schließlich doch vollständig zum Kreis werden könne. Eben deshalb dürfen wir wagen, die Berechnungart des Umfanges und Flächeninhaltes vom Vieleck auf den Kreis zu übertragen. Wir wagen: und es gelingt. Nach unserer Interpretation ist also der sprachliche Ausdruck des „Als Ob" geeignet, den eigenthümlichen Schwebezustand des Denkens wiederzugeben und dadurch zum Weiterverfolgen der Annahme zu locken und zu reizen. Ich glaube, daß erst durch diese berichtigte psychologische und sprachliche Zergliederung Vaihingers Grundgedanke von der

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lebendigen und organischen Natur der logischen Funktion in seiner wahren Bedeutung erkannt wird.

Damit ist aber die „Philosophie des Als Ob" noch nicht zu Ende. Wo Vaihinger die Fiktion im Gebiete des Ethischen und Religiösen aufsucht, rührt er an die höchsten und letzten Fragen der Welt- und Lebensaunschauung. Die Willensfreiheit ist für ihn eine wissenschaftlich ganz unmögliche Annahme; trotzdem braucht sie der Strafrichter als nützliche Fiktion. Eben so läßt sie sich für die Aufstellung sittlicher Ideale und in der Erziehung verwenden. Von Gott und Unsterblichkeit können wir nichts wissen; aber als zweckgemäße Fiktionen können diese Ideen eine wichtige Aufgabe erfüllen. Hier trenne ich mich von Vaihinger. Ueber den menschlichen Willen sind in neuerer Zeil von William James, von Karl Joel, von Heinrich Gomperz tiefgründige Forschungen durchgeführt worden, aus denen jedenfalls das Eine hervorgeht, daß der Determinismus, die Leugnung der Willensfreiheit, keine wissenschaftliche Selbstverständlichkeit ist. Eine „Religion des Als Ob" aber kann meiner Aeberzeugung nach ein gläubiges Gemüth niemals befriedigen. Gott als Fiktion: Das ist für den des Trostes bedürftigen Frommen schlimmer als Pantheismus, schlimmer sogar als Materialismus.

Noch ein Wort über das Verhältniß der Philosophie des Als Ob zum Pragmatismus. Ueber diese von Amerika herübergekommene neue philosophische Methode habe ich mich hier in dem zuvor erwähnten Kongreßbericht ausgesprochen. Ihr Wesen besteht darin, daß die menschlichen Urtheile nicht ausschließlich und nicht einmal hauptsächlich als Konstatirungen von Thatsachen anzusehen, sondern als Richtlinien für unser Handeln zu betrachten sind. Die Wahrheit eines Urtheils besteht für den Pragmatismus nicht in seiner Uebereinstimmung mit der Wirklichkeit, sondern in den das Leben fördernden Maßnahmen, zu denen mich das Urtheil veranlaßt. Diese Auffassung ist in Deutschland heftig bekämpft worden und auch Vaihinger meint, daß der Pragmatismus auf einen flachen Utilitarismus hinauslaufe. Trotzdem findet er den Grundgedanken richtig und nennt den Pragmatismus unter den neueren philosophischen Strömungen, die ihn eine günstige Aufnahme seines Buches erhoffen lassen. Ich muß nun zugeben, daß die pragmatische Methode, die ich für sehr fruchtbar halte, noch zu wenig ausgestaltet und auf die verschiedenen Gebiete angewendet ist, als daß sich ihre Konsequenzen schon jetzt klar erkennen ließen. Vaihlingers Buch ist in hohem Grade geeignet, hier erklärend und vertiefend zu wirken. Wenn ich den Versuch mache, den Grundgedanken

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des Pragmatismus mit der Philosophie des Als Ob zu kombiniren, so entwickelt sich mir daraus eine neue Auffassung vom Wesen der Wissenschaft und von der wahren Aufgabe der Philosophie. Der wissenschaftliche Forscher geht von der meist unausgesprochenen und nicht klar bewußten Voraussetzung aus, daß der Mensch von Natur aus die Fähigkeit besitzt, die auf ihn wirkenden Vorgänge der Umgebung zunächst als Thatsachen, als Erlebnisse rein objektiv zu konstatiren. Man hält Dies sogar für die primitivste, für die einfachste und deshalb ganz allgemeine Form, in der wir auf die Eindrücke der Umwelt reagiren. Dieses intellektualistische Vorurtheil ist nun in den letzten Jahrzehnten gründlich zerstört worden. Die Völkerkunde, die Kinderpsychologie, die neueren Forschungen über Zeugenaussagen haben sonnenklar bewiesen, daß das objektive Feststellen von Thatsachen eben so schwer wie selten ist. Für den primitiven Menschen und für das Kind sind die Vorgänge in der Umgebung zunächst gewiß nicht Thatsachen, sondern Anlässe zu Angriffs-, zu Abwehr-, zu Fluchtbewegungen oder zu anderem Handeln. Levi Brühl sagt in seinem sehr interessanten Buch „Les fonctions mentales dans les soziétés inférieures", daß von einer rein theoretischen Vorstellung beim primitiven Menschen keine Rede sein könne. Wir finden aber auch bei den Gebildeten unserer Tage, daß ihre Beobachtungen und Aussagen keineswegs reine Konstatirungen von Thatsachen sind. Die von William Stern in Breslau begonnenen Forschungen über die Psychologie der Aussage haben eben so überraschende wie überzeugende Ergebnisse ans Licht gefördert. In alle unsere Urtheile schleichen sich die Vorzüge und die Mängel unserer psychophysischen, Organisation ein und unsere scheinbar rein objektiven Feststellungen sind von unseren Interessen, unseren Wünschen und Neigungen, von unserer unbewußt auswählenden Thätigkeit immer persönlich gefärbt. Wenn wir diesen Gedanken mit unerbittlicher Konsequenz bis ans Ende denken, so gelangen wir zu dem Ergebniß, daß das Konstatiren von Thatsachen ein Ideal ist, dem wir uns wohl nähern können, das wir aber nie erreichen. Daraus folgt nun ein unerträglicher Widerspruch. Die Wissenschaft beruht auf der Voraussetzung, daß der Mensch die Fähigkeit besitzt, Thatsachen zu konstatiren. Wenn ihm diese Fähigkeit fehlt, dann giebt es keine Wissenschaft. Nun hat aber die Wissenschaft ihre Existenz durch die ungeheuren Wirkungen erwiesen, die sie auf unser Leben ausgeübt hat und noch ausübt. Aus diesem Dilemma zeigt uns die Philosophie des Als Ob den willkommenen Ausweg. Die Wissenschaft macht mit kühnem Wagemuth die fiktive Annahme, daß wir die Fähigkeit besitzen, Thatsachen zu konstatiren, und arbeitet auf dieser Grundlage ruhig weiter.

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Je intensiver und je erfolgreicher sie forscht, desto stärker wird unser Intellekt geschult, desto besser lernen wir unsere Gefühle und Wünsche unterdrücken und unsere Vorurtheile aufgeben und nähern uns dem Ideal des rein objektiven Konstatirens in der selben Weise, wie das Vieleck durch stete Vermehrung der Seitenzahl dem Kreis immer ähnlicher wird. Die Annahme, daß wir Thatsachen konstatiren können, war anfangs ein unbezweifelbares Dogma und ist jetzt, durch das Gesetz der Ideenverschiebung, zu einer fruchtbaren und unentbehrlichen Fiktion geworden.

Diese zunächst gewiß befremdende Auffassung vom Wesen der Wissenschaft wird erst verständlich, wenn sie vom Grundgedanken des Pragmatismus durchleuchtet und durchwärmt worden ist. Der Grundgedanke ist, wie schon gesagt wurde, daß unsere Urtheile ihrem Wesen nach Richtlinien für unser Handeln sind. Das heißt aber: der menschliche Intellekt ist als Waffe, als Mittel, als Werkzeug anzusehen. Mit diesem immer verfeinerten Werkzeug hat der Menschengeist nicht nur die Natur erobert, sondern auch sich selbst ein eigenes großes Reich gegründet. Ueber die ganze Erde erstreckt sich schon dieses internationale Reich der Wissenschaft, das sich immer einheitlicher und fester organisirt und sich am Besten selbst verwaltet. Jeder Eingriff in seine Regirungform ist von Uebel. Die Philosophie ist aber längst nicht mehr die Königin dieses Reiches, wofür sie lange gegolten hat. And als einfache Bürgerin kann sie ihre wahre Aufgabe nicht erfüllen. Wer die Philosophie zu einer Einzelwissenschaft macht oder ihr die Aufgabe zuweist, die Grundlagen und Voraussetzungen alles Wissens zu bestimmen, Der verkennt ihr wahres Wesen und raubt ihr die innere Kraft. Von ihrem alten Thron vertrieben, hat die Philosophie ein neues, schwereres und verantwortungvolleres Herrscheramt erworben. Den unermeßlichen Kräften, die uns die Wissenschaft zur Verfügung stellt, hat sie die Richtung zu geben und die Ziele zu zeigen. Für den wissenschaftlichen Forscher ist die Wahrheit Selbstzweck; dem Philosophen wird sie zu einem wichtigen Mittel der Lebensförderung. Wir arbeiten mit wissenschaftlichen Methoden, denn wir müssen die Welt kennen, um sie vorwärts zu bringen. Zum Philosophen gehört aber mehr als Wissenschaft. Er braucht den intuitiven, in die Tiefe und in die Weite dringenden Seherblick und vor Allem einen kräftigen, idealen Aufschwung des Willens. „Was können wir", fragte sich vor mehr als hundert Iahren der französische Philosoph Maine de Biran (und das selbe Problem macht in jüngster Zeit Rudolf Goldscheid in seinem noch wenig bekannten Buche „Grundlinien einer Kritik der Willenskraft" zur Hauptfrage der Philosophie). Die Philosophie wird aktivistisch sein oder sie wird gar nicht sein.

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Den Sinn der Wissenschaft und des Lebens zu deuten, dem menschlichen Wollen neue Impulse zu geben, der schöpferischen Entwickelung, die unser Seelenleben darstellt, die grenzenlosen Möglichkeiten zu zeigen und so ein neues, tieferes und wirksameres Leben zu schaffen: Das ist heute die Aufgabe der Philosophie.

Wir müssen den Staaten und ihren Lenkern immer wieder sagen, daß sie ihre hohe sittliche Aufgabe noch nicht ganz erfaßt, ja, noch kaum in Angriff genommen haben. Wir müssen aber auch jedem einzelnen Menschen zum Bewußtsein bringen, daß er sich nur dann,zu "einer kraftvollen, geschlossenen und harmonischen Persönlichkeit entfalten kann, wenn er sich freiwillig einer großen sozialen Sache hingiebt, die seine verborgenen Kräfte ans Licht zieht und zu fruchtbarer Bethätigung bringt. Vielleicht gelingt es einer solchen Philosophie, die Strömungen, die einander entgegendrängen, den Sozialismus und den Individualismus in ein gemeinsames Bett zu leiten und dadurch Kräfte, die sich im Kampfe verzehren, zu schöpferischer Arbeit zu vereinen.

Auf der fiktiven Annahme, daß wir Thatachen konstatiren können, beruht alle Wissenschaft und die Forscherthätigkeit selbst bringt uns in dieser Fähigkeit immer weiter. Die Wissenschaft nimmt gleichsam in der menschlichen Erkenntnißentwickelung die große und breite Mitte ein. Die Philosophie aber bildet den Anfang und das Ende; sie ist das A und das O. Sie geht auf die ursprüngliche Funktion des Intellektes zurück, die darin besteht, das Leben zu erhalten und zu bereichern. Die Philosophie darf aber auch nicht müde werden, darauf hinzuweisen, daß der letzte Zweck aller Forschung und Erkenntniß nur sein darf, dem Leben immer neue Kräfte zuzuführen und seinen Inhalt reicher und beglückender zu gestalten. Dadurch vermag sie auch der Wissenschaft neuen Geist einzuflößen. Sie setzt der Wissenschaft keine Schranken; aber sie zeigt ihr das Leben als ihren letzten Zweck. Ich glaube, daß meine hier nur angedeutete Auffassung von Wissenschaft und Philosophie sich nicht allzu weit von Vaihingers Gedankengängen entfernt. Auch für ihn ist unsere ganze Vorstellungwelt ein fiktives Gebilde, das sich zwischen Empfindung und Bewegung einschaltet. Geschaffen aber ist dieses Gebilde von der organischen, auf die Erhaltung des Lebens gerichteten Funktion der Seele.

Die Philosophie des Als Ob bietet also eine erstaunliche Fülle neuer Thatsachen und neuer Gedanken. Sie reizt aber auch zum Weiterdenken und wird wohl noch lange die Geister beschäftigen.

Wien. Professor Dr. Wilhelm Jerusalem.