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007 - Kinematograph und Erkenntnißlehre.

Kinematograph und Erkenntnißlehre.

Man kann den Kinematographen-Theatern den Vorwurf nicht ersparen, daß sie neben Lehrreichem und Ergötzlichem viel Schlechtes und Widerwärtiges bieten. In den „Dramen" pflegt es zwar sehr dramatisch, aber sonst nicht schön herzugehen; neben der widerlich verlogenen Rührsäligkeit macht sich die überspannteste Räuberromantik breit und um den Humor ists auch oft übel bestellt. Die berliner Urania hat den dankenswerthen Versuch gemacht, den Kinematographien in den Dienst der Naturbeobachtung zu stellen. Was, als erste Probe dieser Bemühungen, in den „Lebenden Thierbildern" gezeigt wurde, ist des höchsten Lobes werth. Hier wird die Freude an der Beobachtung lebendiger Natur geweckt und der Kinematographie ein neues Ziel gewiesen. Könnte denn aber der Kinematograph nicht sogar in den Dienst der höchsten theoretischen Naturerkenntniß, in den Dienst der Philosophie gestellt werden?

Wir wollen von der großen Thatsache ausgehen, daß uns die Sinnenerfahrung etwas ganz Anderes zeigt, als das wissenschaftlich abstrakte Denken uns lehrt. Für unsere Sinnenerfahrung steht die Erde still und die Sonne bewegt sich: die Wissenschaft lehrt, daß die Erde sich um die Sonne dreht. Nehmen wir ein noch näher liegendes Beispiel, unseren eigenen Leib. Er scheint sich für unsere Sinnenerfahrung lange Zeit hindurch nicht zu verändern.

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Das abstrakte Denken aber lehrt uns, daß unser Leib in unaufhörlicher Veränderung und Bewegung begriffen ist. Herakleitos hat gesagt: Wir können nicht zweimal in den selben Fluß steigen; heute wissen wir, daß wir auch nicht zweimal mit den selben Angen sehen, nicht zweimal mit der selben Hand greifen können. Unser Körper bleibt nicht einen Augenblick unverändert. Der Blutumlauf wandelt fortwährend alle Theile unseres Leibes; wir nehmen unaufhörlich Stoffe in uns auf und scheiden unaufhörlich Stoffe aus. Wir sehen aus diesen Beispielen, daß uns in der Sinnenerfahrung ein isolirtes, dingliches Sein und Beharren vorgetäuscht wird, das sich dem abstrakten wissenschaftlichen Denken in unaufhörliche Bewegung auflöst.

Die Wahrheit von der einen, ewigen Bewegung der Welt ist keine neue Wahrheit, liegt sie doch schon eingeschlossen im heraklitischen Wort: „Alles fließt." Ihre Universalität aber, ihre „Allgemeingiltigkeit und Nothwendigkeit" haben wir lange nicht erkannt und ihr deshalb auch nicht auf das Ganze unseres Denkens den bestimmenden Einfluß eingeräumt, der ihr gebührt. Konstantin Brunner hat uns in seinem Hauptwerk, in der „Lehre von den Geistigen und vom Volke" die Universalität der Bewegunglehre gezeigt und ein grandioses Weltgemälde entrollt, dem ich nichts, weder aus der älteren noch aus der neueren Literatur, an die Seite zu stellen wüßte. Brunner hat zum ersten Mal den Bewegungsgedanken in seiner ganzen Fülle und Tiefe gedacht und uns gezeigt, daß das Wesen dieser Welt der Dinge, dieser relativen Wirklichkeit, Bewegung ist.

In den Dienst der Bewegunglehre, der letzten und höchsten Naturerkenntniß, muß die Bewegungphotographie gestellt werden; und ich will zu zeigen versuchen, daß hier die Kinematographie eine bisher ungeahnte Bedeutung erlangen wird.

Wir wissen, daß unserer Sinnesorganisation natürliche Grenzen gesetzt sind, und wir suchen im Interesse einer immer besser werdenden Naturerkenntniß diese Grenze nach Möglichkeit zu erweitern, um uns Manches mittelbar in die Anschauung zu bringen, was unmittelbar nicht angeschaut werden kann. Solcher Mittel zur Erweiterung unserer Sinnenerfahrung giebt es schon viele: Fernrohr, Mikroskop, Spektroskop. Auch der Kinematograph kann uns zu einer erweiterten Sinnenerfahrung verhelfen: zur Wahrnehmung einer Bewegung, die uns ohne ihn unwahrnehmbar bliebe. Bewegung ist uns nur erkennbar, wo wir Ortsveränderung, „Veränderung des Nebeneinander, Zustandekommen eines anderen Nebeneinander", wahrnehmen. Unter Ortsveränderung ist

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nicht etwa nur die Versetzung eines ganzen Dinges von einem Ort an den andern zu verstehen, sondern jede Veränderung des Dinges selbst, jede Zustandsveränderung ist Ortsveränderung oder Bewegung der Theile eines Dinges. Nehmen wir die Bewegung der Pflanzen. Sie ist uns nicht unmittelbar als Bewegung anschaulich; die Pflanzen erscheinen unserer Sinnenerfahrung als unbewegt. Deshalb gelingt es so schwer, die Kinder davon zu überzeugen, daß die Pflanzen Leben haben. Mein fünfjähriger Junge hat mir einmal ganz empört entgegnet: „Die leben? Die rühren sich doch nicht!" Die Bewegungen des Wachsthums, des Heliotropismus, des Geotropismus werden uns nicht unmittelbar anschaulich, weil sie so langsam und im für unser Auge so Kleinen sich vollziehen, daß wir sie nicht mit den Sinnen als Bewegung auffassen können. Nur wenige pflanzliche Bewegungen verlaufen so, daß wir sie als Bewegung erkennen; bekannte Beispiele sind die Bewegung der 'Mimosa pudica', der 'Dionaea muscipula', der Staubfäden der 'Berberis vulgaris' und ähnliche.

Wir kommen der Vorstellung pflanzlicher Bewegung schon näher, wenn wir das Mikroskop zu Hilfe nehmen; da sehen wir das Protoplasma der Zelle sich bewegen und die Chlorophyllkörner der belichteten Seite sich zuwenden. Das sind aber im günstigsten Fall kleine Ausschnitte aus der Gesammtbewegung des pflanzlichen Organismus. Wenn wir den ganzen, für uns unmerklichen Bewegungvorgang in der Pflanze als Prozeß anschaulich machen wollen, müssen wir die Pflanze kinematographiren. Das läßt sich an einem Beispiel, das ich selbst in einer guten farbigen Kinematographie gesehen habe, erläutern. Dargestellt wurde das Erblühen einer Chrysanthemum-Knospe. Wollten wir diesen Vorgang, der etwa acht Tage dauert, wirklich ohne Pause beobachten (was ja an sich unmöglich ist), so hätten wir noch immer nicht die Anschauung eines kontinuirlichen Bewegungprozesses. Wurde aber dieses Erblühen der Knospe kinematographirt, so spielt der Vorgang in wenigen Minuten sich vor unserem Auge ab. In der noch geschlossenen Knospe regt es sich; sie schwillt und schwillt, wie von einem starken inneren Drang erfüllt. Nun bricht sie auf und die ersten Blüthenblätter zeigen sich. Sie wachsen vor unserem Blick, dehnen und strecken sich: und schon prangt die Blüthe in all ihrer Schönheit. Wir müssen freilich, bei so überraschendem Anblick, an Brunners Warnung denken und dürfen es nicht „menscheln" lassen. Aber der Kinematograph macht uns mittelbar anschaulich, daß auch dieses uns so fremde Leben der Pflanze von innen heraus gelebt und getrieben wird und daß sie, wenn auch in

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anderem Grade des Bewegtseins, im Wesentlichen eben so Beseeltheit und Spontaneität besitzt wie das uns vertrautere thierische Leben. Das ist ein Beispiel. Welche Fülle von Möglichkeiten bietet sich hier! Wenn wir eine Sonnenblume aufnahmen, würde das Bild uns darstellen, mit welcher Beharrlichkeit und, wenn ich so sagen darf, mit welcher Sehnsucht die Blume sich der Sonne zuwendet. Wenn man unseren Sonnenthau, 'Drosera rotundifolia', beim Insektenfang kinematographisch belauschte, würde man sehen, mit welcher Macht und Energie die Drüsenhaare das zappelnde Insekt am Entkommen hindern, wie sie es schließlich töten und verdauen, so weit es für die Pflanze verdaulich, also löslich ist, und dann, nach gethaner Arbeit, sich zu neuem Fang aufrichten. Wir könnten die Ranke unseres Weinstocks beobachten, wie sie sich tastend in der Runde bewegt, um einen Stützpunkt zu suchen; wir könnten das schnelle Wachsthum mancher Pflanzen (zum Beispiel: das „Schießen" des Spargels) lebendig im Bilde sehen. Und auch das Welken und Sterben würde uns anschaulich: als Uebergang einer Bewegung in eine andere.

Wir brauchen uns aber nicht etwa auf die belebte Welt zu beschränken; auch gewisse Vorgänge in der anorganischen Welt sind vom Kinematographen erfaßbar. Ein besonders geeignetes Objekt wäre die Kristallbildung. Wir könnten das Wachsen eines Kristalles in seiner Mutterlauge deutlich sehen. Wenn man ein kleines Alaunkriställchen an einem feinen Faden in die Alaunlösung hineinhängt, lassen sich wahre Prachtexemplare von Kristallen erzielen; und dieser Prozeß der Kristallisirung würde uns als Bewegungvorgang anschaulich werden und der Kristall, das Individuum der anorganischen Welt, wie ein Lebendiges erscheinen. Der Kinematograph kann ein Mittel zur Erweiterung unserer Sinnenerfahrung werden und uns eben solche Dienste leisten wie Fernrohr und Mikroskop. In der besseren, deutlicheren und vermehrten Anschauung, die uns der Kinematograph vermitteln könnte, würde das Fundament aller Naturwissenschaft immer klarer und sichtbarer. Wir werden mit erweiterten Sinnen auch da Bewegung erkennen, wo uns das unbewaffnete Auge keine Bewegung wahrnehmen ließ, und immer mehr von den Naturvorgängen erklärlich finden. (Eine neue Gesellschaft, die in Berlin gegründet worden ist, stellt sich die Aufgabe, den Kinematographen der Wissenschaft dienstbar zu machen. Ihre Leistung erst kann erkennen lehren, ob sie die hier angedeuteten Wünsche erfüllen will.)

Dr. Eduard Bäumer.


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