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1911 Zukunft S.56-65 Theosophie

56 - Die Zukunft.

Theosophie.

Die Ausführungen dieser Arbeit beziehen sich auf die Lehren des Herrn Dr. Rudolf Steiner, niedergelegt in dem Buch „Theosophie, Einführung in übersinnliche Welterkenntniß und Menschenbestimmung. Vierte durchgesehene und erweiterte Auflage."

Laut den Lehren der Theosophie kann jeder Mensch in sich neue Organe der Erkenntniß entwickeln, durch welche er das den äußeren Sinnen verborgene wahre Wesen des Menschen zu erkennen vermag. Herr Dr. Steiner nennt diese neuen Organe der Erkenntniß innere Sinneswerkzeuge oder höhere Sinne. Er sagt dann: „Derjenige, welcher von der verborgenen Weisheit ergriffen ist, kann zu Demjenigen, dem der höhere Sinn sich erschlossen hat, von dieser verborgenen Weisheit sprechen, wie ein Reisender über Amerika zu sprechen vermag zu Denen, die zwar nicht selbst Amerika gesehen haben, die sich aber davon eine Vorstellung machen können, weil sie Alles sehen würden, was er gesehen hat, wenn sich ihnen dazu die Gelegenheit böte." Aus diesem Citat sehen wir, daß nach der Ansicht des Dr. Steiner Der, dem der höhere Sinn sich erschlossen hat, hierdurch noch nicht zum Schauen der verborgenen Weisheit gelangt ist. Um zum Schauen zu gelangen, muß der höher Erleuchtete ihm von der verborgenen Weisheit reden; dann kann er, da der höhere Sinn sich ihm erschlossen hat, diesem Vortrage folgen; wie Einer, der nie in Amerika war, dem Vortrag des Amerikareisenden zu folgen im Stande ist.

Da Herr Dr. Steiner das von ihm herangezogene Bild des Amerikareisenden zum Beweise seiner Behauptung benutzt, so haben wir uns mit dem Inhalt dieses Bildes genau bekannt zu machen. Zunächst ist wichtig, nicht zu übersehen, daß der Hörer des Amerikareisenden dessen Vortrag nur zu folgen vermag, wenn der Reisende von Dingen redet, die ihrem Wesen nach dem Hörer schon bekannt sind. Hätte der Hörer Wasser nie gesehen, so würde er die Schilderung eines Wasserfalles nicht verstehen. Wer nie an Farben sich erfreut hat, könnte der Schilderung der Farbenpracht eines Kolibri nicht folgen. Hätte der Amerikareisende mir, seinem Hörer, von einer ihrem Wesen nach ganz neuen Welt Mittheilung zu machen, so könnte sein Reden mir keine Anschauung dieser Welt vermitteln, selbst wenn mir die Sinne zu deren wirklicher Erfassung nicht fehlten.

Den Sinnen muß das ihnen entsprechende Objekt gegeben sein: dann vermitteln sie dessen Anschauung; aber nimmermehr kann das Objekt durch Reden ersetzt werden. Somit ist die Behauptung, daß schon das Reden des höher Erleuchteten genügend sei, um Einen, dem der höhere Sinn sich erschlossen hat, auch zum Schauen der verborgenen Wahrheit zu bringen, entschieden zurückzuweisen.

Noch ein sehr Böses haftet dem Bilde des Amerikareisenden an, er über Amerika zu Hörern spricht, die nie in Amerika waren: dieser Redner ist unkontrolirbar.

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Ich erinnere mich noch, wie ich zum ersten Mal einen Amerikareisenden von den kalifornischen Riesenbäumen erzählen hörte, die kaum dreimal so hoch wie dick sind. Keiner von uns Hörern glaubte dem Redner und erst photographisch aufgenommene Bilder vermochten uns einigermaßen zu überzeugen. In der Theosophie soll ich, nach Herrn Dr. Steiner, einem Redner zustimmen, der mir Bericht erstattet über eine höhere Welt, zu deren Erkenntniß meine gewöhnlichen Sinne nicht ausreichen. Das ist eine unerfüllbare Forderung.

Jeder kann, so lehrt die Theosophie, höhere Sinne in sich entwickeln. Wodurch? Auf diese Frage giebt Herr Dr. Steiner die folgende Antwort. „Das Gefühl, das Verständniß für Wahrheit liegen in jedem Menschen. Dieses Gefühl, das vielleicht anfangs gar nichts sieht von Dem, wovon zu ihm gesprochen wird, es ist selbst der Zauberer, der das Auge des Geistes aufschließt. In der Dunkelheit regt sich dieses Gefühl. Die Seele sieht nicht; aber durch dieses Gefühl wird sie erfaßt von der Macht der Wahrheit: und dann wird die Wahrheit nach und nach herankommen an die Seele und ihr den höheren Sinn öffnen."

Wer von diesen Sätzen sich nicht berauschen läßt, Der wird, je nach seinem Charakter, lachen oder sich empören. Zum Gefühl wird gesprochen! Mich dünkt, es müßte zum Verstande gesprochen werden. Dieses Gefühl wird zum Zauberer; also doch Zauberei! Und was thut dieser Zauberer? Er schließt das Auge des Geistes auf!

Ja, wenn dieses Bild eine Metapher sein sollte, so wäre kaum Etwas dagegen einzuwenden. Aber alles Weitere lehrt uns, daß dieser Ausdruck ganz wirklich zu nehmen ist. Denn mit diesem aufgeschlossenen Auge des Geistes sieht der Theosoph die äußeren Abmessungen und die verschiedenen Farben des Seelenleibes, des Geistesleibes und anderer Verkörperungen. Und wieder ist es das Gefühl, durch welches die Seele erfaßt wird von der Macht der Wahrheit, die dann nach und nach an die Seele herankommt. Wohl liest man: Preußen zieht mit seiner ganzen Macht heran, die sich in seinen Soldaten darstellt; aber um die Macht der Wahrheit heranmarschiren zu sehen, dazu gehören unzweifelhaft höhere Sinne.

Noch einmal spricht Herr Dr. Steiner von theosophischer Zauberei; er sagt: „Der Grundsatz, erst höhere Welten anzuerkennen, wenn man sie geschaut hat, ist ein Hinderniß für dieses Schauen selbst. Der Wille, durch gesundes Denken erst zu verstehen, was später geschaut werden kann, fördert dieses Schauen. Es zaubert wichtige Kräfte der Seele hervor, welche zu diesem Schauen des Sehers führen." Das heißt, in dürren Worten ausgedrückt: Lasse Dir so lange von den Dingen reden, bis Du überredet bist.

Noch deutlicher tritt das Selbe aus den Sätzen hervor, in denen Herr Dr. Steiner seinen Lesern verheißt, sie würden Alles verstehen, wenn sie unbefangene Logik und gesundes Wahrheitgefühl anwendeten. Da er doch unzweifelhaft sich selbst in erster Reihe diese unbefangene Logik und dieses gesunde Wahrheitgefühl zuspricht, so heißt der Satz,

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in klares Deutsch übertragen: Wer nicht wie Herr Dr. Steiner denkt, hat ungesundes Wahrheitgefühl und befangene Logik.

Es ist sehr schwer, mit diesem Herrn zu streiten, da die Mehrzahl seiner Ausdrücke in schier inhaltleere Allgemeinheit sich verliert. So auch hier. Was ist eine unbefangene, was eine befangene Logik? Ist die Logik in dieser Weise eintheilbar, dann müßte es auch eine befangene und eine unbefangene Mathematik geben können. Zum Verstandniß Dessen, was der Herr Doktor meint, werden wir am Besten gelangen, wenn wir in seinen eigenen Darlegungen danach forschen. Ich wähle hierzu seine Entwickelungen in Bezug auf einen Grundpfeiler seiner Lehren, nämlich in Bezug auf die Lehre von den Reinkarnationen.

„Wie die physische Aehnlichkeit der Menschen klar vor Augen liegt, so enthüllt sich dem vorurtheillosen geistigen Blick die Verschiedenheit ihrer geistigen Gestalten." Meinem vorurtheillosen geistigen Blicke zeigt sich eine viel größere Aehnlichkeit der geistigen Gestalten der Menschen im Allgemeinen, als in deren physischen Gestalten zu finden ist; und diese schier erschreckende geistige Aehnlichkeit der Menschen bleibt bestehen, wie dem Raum, so der Zeit nach. Die selben Leidenschaften und Begierden, die noch heute die Triebfedern ihrer Handlungen sind, haben vor Jahrtausenden die Menschen bewegt, den Hottentoten wie den Europäer. Das Ringen nach Ewigkeitwerthen prägt sich in der Fetischanbetung nicht weniger deutlich aus als in der verzückten Anerkennung der Unbefleckten Empfängniß. Und wenn schon die Edda im Hánamal lehrt: „Das schönste Leben ist Dem beschieden, der recht weiß, was er weiß", so sind die Weisen aller Zeiten kaum über diese Weisheit hinausgekommen.

Hiermit soll nicht etwa der kaum überbrückbare Abstand der geistigen Gestalten einzelner Menschen von allen anderen geleugnet werden; nur ist der Abstand der körperlichen Gestalt Einzelner nicht weniger auffallend. Nach der Auffassung des Herrn Steiner handelt es sich aber gar nicht um die Verschiedenheit der geistigen Gestalt Einzelner von allen Anderen, sondern um die Verschiedenheit der geistigen Gestalt Jedes von Jedem. Denn er sagt: „So wie die physische Aehnlichkeit der Menschen klar vor Augen liegt, so enthüllt sich dem vorurtheillosen geistigen Blicke die Verschiedenheit ihrer geistigen Gestalten. Es giebt eine offen zu Tage liegende Thatsache, durch welche Dies zum Ausdruck kommt. Sie besteht in dem Vorhandensein der Biographie eines Menschen. Wäre der Mensch bloßes Gattungwesen, so könnte es keine Biographie geben. Ein Löwe, eine Taube nehmen das Interesse in Anspruch, insofern sie der Löwen-, der Taubenart angehören. Man hat das Einzelwesen in allem Wesentlichen verstanden, wenn man die Art beschrieben hat. Wer daher über das Wesen der Biographie richtig nachdenkt, wird gewahr, daß in geistiger Beziehung jeder Mensch eine eigene Gattung für sich ist."

Trotzdem Herr Dr. Rudolf Steiner mit diesen Sätzen das päpstliche Dekret erläßt, daß, wer anders denkt, nicht richtig denkt, kann ich es doch nicht unterlassen, mein Andersdenken zu begründen.

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Zunächst hören wir, es gebe eine Biographie nur der Löwenart, aber nicht des einzelnen Löwen. Nehmen wir an, so sei es. Aber nun gibt es Kap-Löwen, Berber-Löwen, Perser-Löwen. Sind die alle mit einer Beschreibung abgethan? Tauben soll es in fünfzig Arten mit mehr als dreihundert Unterarten geben. Genügt für alle eine Schilderung? Doch Herr Steiner meint vielleicht für die Gattung Löwe, für die Gattung Taube auch eine Biographie in seinem Sinn, also eine rein geistige Schilderung?

Dann müßten wir ihm zwar dafür danken, daß er auch den Löwen und Tauben Geist zuerkennt; aber mit der Art- oder Gattung-Biographie steht es trotzdem schlimm. Denn wahrlich „eine offen zu Tage liegende Thatsache" ist, daß nicht nur der Pudel ein gänzlich anderes geistiges Wesen hat als der Dachshund, sondern daß auch kein jäger seinen Karo die selben geistigen Eigenschaften zuspricht wie seiner Sylvia. Ferner giebt es schon seit vielen Jahren Bücher wie: „'ne Minschen- un Vogel-Geschicht" von Fritz Reuter und „Im Dschungl" von Rudyard Kipling; und diese Bücher reden eine ganz andere Sprache als Herr Dr. Steiner.

Das sind poetische Phantasien? Aber seit ein paar Jahren ist ein Buch erschienen (und jetzt schon in hunderttausend Exemplaren verbreitet), das aus der Praxis des Thierlebens Hunderte von Belegen zu diesen „Phantasien" bringt. Ich meine: Hagenbecks „Von Menschen und Thieren". Von Tigern und Löwen heißt es da: „In der ganzen Welt zerstreut lebt mir, wohl verwahrt hinter Schloß und Riegel, eine Anzahl alter Freunde aus der Thierwelt." Meint Herr Steiner, daß Herr Hagenbeck, indem er einzelne Löwen und Tiger sich zu Freunden gewann, dadurch die Freundschaft aller Löwen und Tiger gewonnen hat? Dann lese er, mit vorurtheilloser Aufmerksamkeit, die Biographie des Löwen „Triest".

Weiter. „Will man den ganzen Menschen erfassen, so muß man ihn aus sieben Bestandtheilen zusammengesetzt denken. Der Leib baut sich aus der physischen Stoffwelt auf, so daß dieser Bau auf das denkende Ich hin geordnet ist. Er ist von Lebenskraft durchdrungen und wird dadurch zum Aetherleib oder Lebensleib. Als solcher schließt er sich in den Sinnesorganen nach außen auf und wird zum Seelenleib. Diesen durchdringt die Empfindungseele und wird eine Einheit mit ihm. Die Empfindungseele empfängt nicht nur die Eindrücke der Außenwelt als Empfindung; sie hat ihr eigenes Leben, das sie durch das Denken auf der anderen Seite eben so befruchtet wie durch die Empfindungen auf der einen. So wird sie zur Verstandesseele. Sie kann Das dadurch, daß sie sich nach oben hin den Intuitionen erschließt wie nach unten hin den Empfindungen. Dadurch ist sie Bewußtseinsseele. Das ist ihr deshalb möglich, weil ihr die Geisteswelt das Intuitionorgan einbildet, wie ihr der physische Leib die Sinnesorgane bildet, Hieraus ergiebt sich die Gliederung des ganzen Menschen in folgender Art: Physischer Leib; Aetherleib oder Lebensleib; Seelenleib;

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Empfindungseele; Verstandesseele; Bewußtseinsseele; Geistselbst; Lebensgeist; Geistesmensch."

Nach meiner Ansicht enthalten diese Sätze und Worte an „unbefangener Logik" nicht mehr als das Verschen: „Die Mücke ist ein kleines Thier; was kann der Elephant dafür?" Und an gesundem Wahrheitgefühl kann die folgende Entwickelung unbedingt als gleichwerthig angesehen werden. Der Zucker bildet sich aus der physischen Stoffwelt, so daß sein Bau auf das Wasser hin geordnet ist. Er ist von Süßigkeit durchdrungen und wird dadurch zum Süßigkeitleib. Als solcher löst er in Wasser sich auf und wird hierdurch zur Geschmacksseele. Die Geschmacksseele hat ihr eigenes Leben und wird durch die Hemmungen der Schwere nicht minder beeinflußt, wie vom Süßigkeitleib. Aufsteigend aus der engen Umgrenzung ihrer selbst wird sie zur Raumseele. Sie kann Das Und so weiter.

Man beachte wohl, daß ich mit meiner Kritik auf den Inhalt der angeführten Sätze gar nicht eingehe, sondern lediglich ihren Zusammenhang kritisire. Ich versuche, auch dem Geblendeten darzuthun, daß ein sinnvoller Zusammenhang zwischen diesen Sätzen nicht besteht.

Wenn Herr Dr. Steiner uns lehrt, daß der ganze Mensch durchschnittlich doppelt so lang und viermal so breit ist wie der physische Mensch und daß diese den physischen Menschen durchdringende Umhüllung der Theosoph die Aura nennt, so ist gegen diese Sätze formal nichts einzuwenden. Ob ihr Inhalt der Wirklichkeit entspricht, ist erst zu prüfen; aber gegen ihre Zusammenstellung ist kein Einwand wahrnehmbar. Ganz anders bei den zuerst angeführten Sätzen. Die führen uns eine Reihe von Metamorphosen vor, in denen das einzig Auffaßbare die zusammenhanglos an einander gereihten Namen sind.

Ich citire weiter. „In der Aura fluthen die verschiedensten Farbentöne. Und dieses Fluthen ist ein getreues Bild des inneren menschlichen Lebens. Zum Beispiel: Roth ist sinnliche Gluth. In schönem hellem Gelb erscheint ein Gedanke, durch den der Denker zu einer höheren Erkenntniß aufsteigt. In herrlichem Rosaroth erstrahlt hingebungvolle Liebe. Der ganze Mensch lebt in drei Welten: in der physischen Welt, in der Seelenwelt, in der Geisteswelt und zwar nach einander und in jeder höheren Welt die Beziehungen zur niederen Welt mehr und mehr von sich ablösend. Seelenwelt und Geisteswelt theilen sich jede in sieben Regionen und jede hat ihre eigenen Gesetze. So gelten in der Seelenwelt unsere Gesetze der Perspektive nicht. Die Geisteswelt ist aus dem Stoff gewoben, aus dem der menschliche Gedanke besteht. In dieser Welt sind die Urbilder aller Dinge vorhanden. Das geistige Auge sieht den Gedanken des Löwen. Alle diese Urbilder sind gleichzeitig klingend und somit ist die Geisteswelt ein Meer von Tönen. Wenn im Tod Seele und Geist den Körper entlassen, so treten sie in das Seelenland. Aber in diesem ist nicht die ureigene Heimath des Geistes; daher beginnt jetzt der Auflösungprozeß der Seele. Unter harten Qualen wird die Seele in den sieben Regionen des Seelenlandes geläutert, bis

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endlich in der siebenten, der höchsten, der des eigentlichen Seelenlebens, der Mensch befreit wird von seinen letzten Hinneigungen zur sinnlich physischen Welt. Indem die Seele ihren Erdenrest überwunden hat, ist sie selbst ihrem Element zurückgegeben. Der Geist kann sich nun ganz den Anforderungen des Geisteslebens hingeben; er bildet sich, befreit von der physischen Körperlichkeit, nach allen Seiten aus, bis er zu einem neuen körperlichen Dasein reif ist."

Arme Seele! Du hast die Aufgabe, dem Geist die Richtung nach dem Physischen zu geben; und je besser du diese Aufgabe erfüllt hast, um so heftiger mußt Du dafür im Seelenlande leiden. Eine ärgere Ungerechtigkeit ist wohl nicht ersinnbar.

Armer Geist! Durch die Seele warst Du an die Dich nach allen Seiten hemmende Körperlichkeit gebunden; nun, endlich aus dem Körper befreit, mußt Du die Fegefeuerqualen des Seelenlandes erdulden und kannst Dich dann erst in Deinem eigenen Elemente, dem Geisterlande, zur Geistesfreiheit durchringen. Und wenn Du endlich die volle Geistesfreiheit gewonnen hast, dann packt Dich von Neuem ein Stück Seelenelement und zerrt Dich in die physische Körperlichkeit zurück. Und dieses Spiel hast Du ungezählte Male zu erdulden! Und zu wessen Nutzen und Frommen ist das Alles erdacht? Zu Gunsten des Menschen. Das ganze Geisterland kann keines Friedens froh werden; es muß dem Menschen dienstbar sein. Wie elend verkrüppelt muß der Menschengeist sein, der sich von solchen Lehren gefangen nehmen läßt!


Die Frage nach dem sittlichen Werth dieser Lehren zerfällt in zwei Unterfragen. Erstens: Bringt die Theosophie den ernstesten sittlichen Problemen befriedigende Lösung? Zweitens: Welche bedeutsamen sittlichen Lebensforderungen fließen eigenartig aus den Lehren der Theosophie? Die erste dieser Fragen ist fast identisch mit der folgenden: Erklärt die Theosophie in befriedigender Weise die Thatsache des Leidens?

Es scheint so, denn sie lehrt: Die Seele unterliegt dem selbstgeschaffenen Schicksal. Doch wem schafft die Seele dieses Schicksal? Nach theosophischer Auffassung nicht sich selbst, sondern dem Geist, Welches Verschulden trifft den Geist an dem Karma, in welches irgend eine Seele ihn reißt? Den Geist trifft die Schuld seiner früheren Geburten; so lehrt die Theosophie. Aber bei seiner ersten Inkarnation: welche Schuld lastete da schon auf ihm?

Beachten wir noch, daß uns Menschen die größte Summe der Leiden aus der physischen Welt kommt, so erkennen wir (nach theosophischer Auffassung), daß unsere Leiden uns immer enger mit der Körperlichkeit verstrickte und folglich haben wir, je mehr wir hier auf Erden leiden, auch um so länger und heftiger im Seelenland zu leiden! Die Theosophie, die Solches lehrt, bringt also keine Lösung dieses härtesten Problems, sondern sie verschärft es noch.

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Mit Nachdruck fordert sie ernste Denkarbeit und warnt vor Ueberschätzung seiner selbst; sie lehrt, daß die weitere Lebensgestaltung von den früheren Lebensstufen bestimmt ist; sie fordert, daß ihr Jünger danach strebe, das innere Wesen der Dinge zu erkennen, um sich hierdurch von dem Schlamm der physischen Welt zu befreien. Das klingt, wenn auch nicht sehr neu, doch sehr sittlich; ist es im Munde des Theosophen aber nicht.

Alle diese Forderungen und Mahnungen der Theosophie beziehen sich nämlich immer nur auf das einzelne Individuum Mensch, als selbständige Gattung, Nun aber kann der einzelne Mensch, für sich allein gedacht, weder sittlich noch unsittlich handeln: erst in der Gemeinschaft der Menschen entstehen alle sittlichen Probleme. Und welche Lehren der Theosophie beziehen sich auf die Gemeinschaft derMenschen? Solche Lehren kennt die Theosophie nicht. Sie spricht wohl einmal von hingebender Liebe; aber aus keiner ihrer Lehren ergiebt sich diese Liebe als sittliche Pflicht. Im Bezirk der Sittlichkeit sind alle Lehren der Theosophie tönende Schellen.

Doch dürfen wir nicht unbeachtet lassen, daß die Theosophie diese Verachtung der physischen Welt lehrt, verbunden mit einer fast maßlosen Herabsetzung aller Sinnlichkeit in vollem Umfange dieses Wortes, so daß man sie die asketischste aller Lehren nennen muß. Ist Das nicht die allerhöchste Sittlichkeit?

Wer also denkt, muß unserem Luther fluchen, daß er aus dem Kloster entwichen ist und sich ein beglückendes Familienleben geschaffen hat. Wer also denkt, muß wünschen, daß aller schmetternde Lerchengesang verstumme; muß jeden Frühlingsjubel verabscheuen; muß Feind sein aller Lust jauchzender Bewegung; muß die Qualen des Hungers höher preisen als die Lust seiner Stillung. Denn all Das verstrickt den Geist nur immer tiefer mit der physischen Welt und bewirkt, daß es dem Geist immer schwerer wird, die Neigung zum Physischen in sich zu tilgen.

Nur wer den Menschen in einzelne (und nun gar in sieben) Stücke zerreißt, deren jedes eine eigene Wesenheit für sich darstellt, vermag zu solcher Verachtung der niedersten Wesenheit, genannt physischer Körper, zu gelangen. Lasset den Menschen unzerrissen, wie er als Ganzes gegeben ist: und fröhliches jauchzen durchzieht die Menschengemeinschaft; denn jeder Athemzug des Menschen ist Wonne, jeder Pulsschlag ein Lobgesang, mit jedem Augenaufschlag dringt belebend der Sonnenglanz in den Menschen, Begeisterung weckend, und mit dem Menschen jauchzt in sprossendem, keimendem Leben das ganze Weltenall. Das ist die Arbeit des Geistes am sausenden Webstuhl der Zeit.

Wie die schroffste Dissonanz hart neben der schönsten Konsonanz liegt, so entstehen die gefährlichsten und verwerflichsten Irrlehren durch kleine Verdrehungen gerade aus den allerwerthvollsten, aus den bestbegründeten Anschauungen. Man erlaubt sich scheinbar harmlose Fortlassungen, man macht scheinbar dem Zweck entsprechende Zusätze:

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und die willkürlichsten Aenderungen werden spielend erreicht. Das sichtbarste Beispiel für das soeben Gesagte ist die Entstehung des Papstthumes aus der Lehre Jesu. In ganz der selben Weise haben sich die Lehren der Theosophie herausgebildet.

Unwiderleglich ist erwiesen, daß die Lehre von der Biographie in theosophischem Sinn unhaltbar ist; und hiermit fällt die einzige Begründung der theosophischen Lehre von den Wiedergeburten, die wir in ihrer ganzen Unsittlichkeit, nämlich als eine Uebervergötterung des Menschen, erkannt haben.

Aber haben denn nicht die so hoch angesehenen Denker der alten Inder das Selbe gelehrt? Dem Wort nach: ja! Aber nicht dem Wesen nach. Aus Jahrhunderte langer Denkarbeit eines ganzen Volkes war der Glaube an unzählige Wiedergeburtmöglichkeiten entstanden. Aber in diesen Wiedergeburtenkreis waren alle lebenden Wesen mit eingeschlossen und in diesen Wiedergeburten selbst, also hier auf Erden, vollzog sich die Läuterung. So konnte ein wilder, verbrecherischer Charakter sehr wohl, zur Strafe, als Tiger wiedergeboren werden, wodurch die Zahl seiner Wiedergeburten sich fast unendlich vermehrte, bevor er, geläutert, zur ewigen Ruhewonne des Nirwanna eingehen konnte; und aus dieser Ruhe wird Niemand herausgerissen. Das ist eine der Wirklichkeit nicht widersprechende, tief erschütternd sittliche Lehre. Aber diese Brahmanenlehre kennt keinen strafenden Gott, vor dem wir zu zittern haben, weiß daher auch nichts von vermittelnden Priestern, deren Aufgabe ist, den zürnenden Gott zu beschwichtigen. Die Brahmalehre kennt keine Priesterherrschaft.

Dagegen ist in der Theosophie der höhere Seher der von dem Zauber des Geheimnisses umstrahlte Herrscher. Er nur schaut das innerste Wesen der Dinge; alle Anderen müssen seine Mittheilungen als Thatsachen der Wirklichkeit annehmen und gehorsam warten, bis auch sie zu Sehern die Intuition erhalten. Jeder steht vereinzelt, denn Jederhat nur in sich und an sich zu arbeiten, denn sein Karma bestimmt nur ganz allein er selbst. Skrupelloser hat noch keine Politik das Wort verwirklicht: 'Divide et impera!' Das ist die Urtriebfeder aller höheren Lehre der Theosophen: Sie wollen herrschen; sie bereiten bei Zeiten für sich die Wege, um das Erbe des Papstthums anzutreten.

In nicht minder empörender Weise hat die Theosophie eine andere Lehre gestohlen, um sie für ihre Herrschsuchtzwecke zu verdrehen. Der Theosoph lehrt: Alle Geheimwissenschaft keimt aus zwei Gedanken. Diese beiden Gedanken sind, daß es hinter der sichtbaren Welt eine unsichtbare, eine zunächst für die Sinne und das an die Sinne gefesselte Denken verborgene Welt giebt und daß es den Menschen durch Entwickelung von Fähigkeiten, die in ihm schlummern, möglich ist, schon vor seinem Tode in diese verborgene Welt einzudringen. In herrlichen Sätzen, unangreifbar von der Logik wie von aller Wissenschaft, ist die folgende Lehre vorgetragen worden. Wie wir in der Zeit von der Zeugung bis zur Geburt uns die Organe entwickeln, die zum Schauen und

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zum Handeln nach der Geburt uns zu dienen haben, eben so entwickeln wir uns in der Zeit von der Geburt bis zum Tode die Organe, die wir zum Schauen und zum Handeln in unserer Lebensform nach dem Tode gebrauchen werden. Solches paßt den Theosophen nicht. Denn es ist ja ein nothwendiger Lebensprozeß, der in Gemeinschaft sich vollzieht und den der Einzelne nur mehr oder weniger, wie für sich, so für Andere, hemmen oder fördern kann. Hierbei findet der höhere Seher für sich keinen Platz. Kurz entschlossen, bricht er dieser in Wahrheit idealen und darum einzig realen Lehre die Spitze ab. Er kann schon vor dem Tod in diese höhere Welt, in das Jenseits eindringen; nur er. Das Alles verschlingende Chaos der Theosophie ist fertig.

Der wunderbare Prediger der herrlichen Ewigkeitlehre warnt schon selbst vor dem Mißbrauch seiner Worte wie ihn die Theosophen vollzogen haben. Im zehnten Kapitel seines „Büchleins vom Leben nach dem Tode" sagt Fechner: „Das Diesseits hat den Leib des Jenseits nur für das Jenseits zu bauen, nicht schon mit dessen Auge und Ohr zu sehen und zu hören." Die Methode der Zwangsüberredung, der systematischen Verdrehung seiner Lehre hat Fechner auch vorausgesehen, denn in dem selben Kapitel heißt es: „Am Einfachsten, sich vor dem Kommen von Gespenstern zu bewahren, bleibt es immer, an ihr Kommen nicht zu glauben; denn glauben, daß sie kommen, heißt schon, ihnen auf halbem Wege entgegengehen."

Ich bin in eine unheimliche Lage gebracht. Herr Dr. Rudolf Steiner schreibt: „Der eine Skizze theosophischer Weltanschauung in dieser Schrift entworfen, will nichts darstellen, was für ihn nicht in einem ähnlichen Sinn Thatsache ist, wie ein Erlebniß der äußeren Welt Thatsache für Augen und Ohren ist. Dem Lehrer mit dem geöffneten geistigen Auge liegen die vergangenen Leben wie ein aufgeschlagenes Buch als Erlebniß vor." Also Wirklichkeit ist Alles, was Herr Steiner in seinem Buch vorbringt. Dann mußte meine Kritik also eigentlich Wohl unterbleiben. Zu meinem Glück sind die beiden zerlegt angeführten Sätze des Theosophen ohne Auslassung und richtig gebaut. Zwar wird in beiden Sätzen die Wirklichkeit der vorgetragenen Schilderungen behauptet, aber diese Behauptung bezieht sich nur auf Herrn Dr. Rudolf Steiner. Für den verzückten Visionär sind die zu ihm tretenden Himmelserscheinungen auch Wirklichkeiten und die vom Geisteskranken gehörten Stimmen sind für den Geisteskranken von unzweifelhafter Wirklichkeit; aber eben nur für ihn, nicht für uns Alle. Herr Dr. Steiner aber, der Theosoph, fordert, wir sollen uns in den Glauben überreden lassen, daß seine Schilderungen für uns Alle, die wir Menschen heißen, ganz unantastbare Wirklichkeit wiedergeben. Dieses, Herr Dr. Steiner, muß bewiesen werden, und zwar bewiesen werden auf allgemein giltige Weise, also ohne Berufung auf höhere Sinne.

Ich schätze es als ein großes Glück für Sie, Herr Doktor, daß Ihre eigenen Lehren die Möglichkeit dieser elementaren Beweisführung nicht ausschließen. Sie haben zu solchem Zwecke nur den folgenden Forderungen zu entsprechen.

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Erstens: Sie lehren, daß in der Aura die verschiedenen Farben, Formen und Bewegungen den Charakter und das Denken des Menschen unzweifelhaft deutlich erkennen lassen, und lehren weiter, daß der theosophische Seher diese Aura, mit allen Vorgängen in ihr, als Wirklichkeit schaue. Gut. Wir der Theosophie Unkundigen wollen Ihnen etwa ein Dutzend Ihnen gänzlich unbekannter Personen gegenüberstellen und dann sollen Sie und Ihre Kollegen aus der Aura dieser Personen uns den Charakter jeder erklären und ihr Denken nennen. Wenn dann Ihre Angaben unter einander und zu den Personen stimmen, dann werden auch wir Sie als höhere Seher anerkennen.

Zweitens: Vermöge ihres geöffneten geistigen Auges sollen einige höhere Seher über bestimmte ihnen genannte Führer der Menschheit urtheilen und aus deren vielen Vorleben alle Einzelheiten uns nennen. Wenn Sie Solches könnten, würde der Geschichtforschung die genaue Kenntniß der prähistorischen Zeiten eröffnet und spielend vermöchten Sie an allen historischen Schilderungen Kritik zu üben. Zu bedauern wäre dann nur, daß Sie nicht auch die zukünstigen Inkarnationen der Führer der Menschheit in ihrem aufgeschlagenen Buch zu lesen vermögen.

So lange Sie, Herr Doktor, und Ihre Herren Kollegen diesen beiden Forderungen nicht genügt haben, so lange werden Menschen mit gesundem Wahrheitgefühl sich nicht Ihre Schüler nennen.

Riga. Dozent Dr. Hermann Westermann.

Wir haben gewacht und werden wieder wachen; das Leben ist eine Nacht, die ein langer Traum füllt, der oft zum drückenden Alb wird. Meine Phantasie spielt oft (besonders bei Musik) mit dem Gedanken, aller Menschen Leben und mein eigenes seien nur Träume eines ewigen Geistes, böse und gute Träume, und jeder Tod sei ein Erwachen. Wie in unseren Träumen Verstorbene als Lebende auftreten, ohne daß ihres Todes auch nur gedacht werde: so wird, nachdem unser jetziger Lebenstraum durch einen Tod geendet, alsbald ein neuer anheben, der von jenem Leben und jenem Tod nichts weiß. Es ist eine Täuschung, daß wir, nach Analogie des Naturgesetzes von der Beharrlichkeit der Substanz, uns bisweilen vorspiegeln, auch wir selbst könnten, vermöge eines analogen Gesetzes, nicht untergehen, auch wir hätten, bon gré, mal gré, eine Unsterblichkeit, um die wir uns nicht zu bemühen brauchten. Das ist Täuschung. Ueber uns herrscht kein Naturgesetz; wir sind nichts, wozu wir uns nicht selbst machten: eine äußere Gewalt kann uns so wenig erhalten wie vernichten. Lachten muß ich, wenn ich sehe, daß diese sogenannten Menschen mit Zuversicht und Trotz eine Fortdauer, durch alle Ewigkeit, ihrer erbärmlichen Individualität verlangen: da sie doch offenbar nichts Anderes sind als die in Windeln menschenähnlich verlarvten Steine, die man mit Freuden vom Kronos verschlungen sieht, während nur der echte, unsterbliche Zeus, vor ihm gesichert, zur ewigen Herrschaft heranwächst.
(Schopenhauer.)

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