1911 Zukunft S.49-54 Töchterschicksal
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Töchterschicksale.
Mein Interesse gehört den namenlosen Prinzessinnen, die in Armuth und Niedrigkeit geboren sind. Sie haben das Aristokratische in sich, sie wollen keine Aschenbrödel sein und nicht auf den märchenhaften Zufall der gütigen Fee mit den großen Gaben in der Nußschale warten. Man ist zu gut für die gemeine Arbeit; viel zu gut! Man ist zu ästhetisch. Anstrengung macht schwitzen; und Das ist nicht fein. Man ist auch von zarter Gesundheit, eine sensible Blume, die nach der lauwarmen Luft des Treibhauses schmachtet; an und für sich schon ein Zeichen höherer Abkunft trotz dieser Armsäligkeit (verwünschter Zufall der Geburt!) oder ein Zeichen höherer Bestimmung. Na, kurz und gut, man will irgendwie oben hinaus. Irgendwie!
Die Mutter, die gute Mutter, ein Wenig unwissend zwar, vielleicht auch ein ganz klein Wenig gewöhnlich, 'vieux jeu'. Trotzdem! Sie hat Ideale. Sie hat hohe Ziele. Sie hat heiße Wünsche für die Tochter. Die gute Mutter! Auch sie hatte einst himmelblaue und rosenrothe Mädchenträume mit Kreuzstichmustern gehegt. Aber die Rosen und blauen Schleifen sind mit dem Brautbouquet vergilbt und liegen in einer Tüte, ein Häufchen modrig duftender Asche, tief in einer Schatulle, tief auf dem Seelengrund, bedeckt von dem Staub der Jahre, dem Staub der grauen Ehestandsjahre. Aber die Tochter! Was dieses geizige, knöcherige, unfruchtbare Leben der Mutter versagt hat, soll die Tochter haben. Aus dem verstaubten Seelengrund blühen die alten welken Rosen wieder auf, flattern die blauen Bänder: und der Himmel, der trübe Himmel ist abermals ein bunter Canevas, mit Kreuzstichmustern über und über bedeckt. Blumen, Blumen, nichts als Blumen! Die Tochter solls besser haben. Die Mutter wird das häusliche Treibhaus um sie her aufrichten, den rauhen Wind abwehren, die edle Blüthe mit der lauwarmen Luft mütterlicher Zärtlichkeit umgeben; und wenn eines Tages der Prinz kommt, sich die Nase an den Scheiben plattquetscht (siehe Maeterlinck), bis die Mutter, von Rührung überwältigt (die Märchen sterben also doch nicht aus), die Thür öffnet und mit der feinsten Stimme, mit den süßesten Worten lispelt: „Aber bitte, Prinz, kommen Sie nur herein; die Prinzessin wartet schon!" Blauer Mondschein! Veilchendüfte! Rosenrothe Wonnen! Oh, dieser mitisgrüne Schmerz! Der gute Papa! Sein Einkommen ist leider gering. Was
kann man da machen? Mama muß Zimmer vermiethen; die
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Erziehung verschlingt furchtbar viel Geld. Diese Mädchenpensionate! Raubnester. Es ist so vornehm, in einem Pensionat erzogen zu werden. Man durchwandert ein deutsches, ein französisches, ein englisches Töchterinstitut. Man hat fremde Sprachen gelernt, im Ursprungsland, man beherrscht sie wie ein Papagei. Man hat viele Freunde im Ausland, verwandte und bekannte Familien, man wird empfohlen, eingeführt, da und dort. Man hat die bessere Gesellschaft kennen gelernt. Man hat das behagliche Landleben in England mitgemacht (merry old England!). Man weiß, was bequeme Lebensführung ist. Englischer Mittelstand! In Deutschland sinds die Reichen. Man hat eine ansehnliche Bildung erworben. Man hat den geistigen Stoff in den vorgeschriebenen Rationen eingenommen, diese auf Flaschen gezogene Tinktur, seit fünfzig Jahren wohlabgelagert, mit der fünfzig Schülergenerationen von subalternen Bildungverwaltern bedient werden. Diese Lehrbücher! Sie verzeichnen die Unmaßgeblichkeiten des Weltganges bis 1850. Von da ab hört die Geschichte überhaupt auf. Bildungfabrik! Man kann Alles, weiß Alles. Prüfstein: Die Anderen können und wissen auch nicht mehr. Man ist musikalisch und spielt Klavier mit der üblichen charakterlosen Wohlanständigkeit, die für die Höhere Tochter gewissermaßen die sittliche Forderung ist. Armer Beethoven, muß Deine vom Schmerz gesegnete Feuerseele unters Klavier fallen? Muß es sein? Es muß sein. Es kann nicht anders sein. Armer, von allen Lebensfiebern durchschauerter, vom Weingott erfüllter Schubert, wo sind die Schauer geblieben? Man kann malen, so gut wie irgendeine Miß, Blumen in Wasser und Oel, man heuchelt ein „furchtbares" Vergnügen an der Möglichkeit, die Farben unvermischt so neben einander hinzupinseln. Ein Spaßvogel vergleicht sie mit Segantini.
Segantini? Wer ist Das? Großer Gott! Man hat Literatur studirt und weiß nichts von Gerhart Hauptmann! Natürlich auch Kunstgeschichte; aber man hat keine Ahnung von den Impressionisten. Man kann ein sehr braver, anständiger, nützlicher Mensch sein, ohne von Segantini, den Impressionisten, den modernen Dichtern eine blasse Ahnung zu haben. Aber wenn man . . . Verfluchte Pensionate! Raubnester, Und diese untauglichen Lehrpläne! Aber sind es wirklich allein die Lehrpläne, sind es die fragwürdigen Institute? Liegt die Ursache nicht riefer? Sie liegt tiefer. Man denke nur ein Wenig nach. Nun sitzt die feine Tochter wieder daheim in den engen, trüben Stuben, von der Glashauswärme der mütterlichen Zärtlichkeit behütet, sich sehnend, frierend, anämisch. Die Zeit vergeht
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in geschäftigem Müßiggang. Was auch soll sie thun? Verdienen? Arbeiten wie die gewöhnlichen Mädchen, die jeden Morgen in die Geschäfte, Kontore, Arbeitstuben hinaus müssen und dabei guter Dinge sind und glänzen wie die Bachkiesel? Man hat doch eine höhere Bildung genossen, man ist zu gut für die gemeine Nützlichkeit. Ganz unten aber die erdrosselte, manchmal noch aufzuckende, heimliche Wahrheit: Man kann nichts. And hat weder die klare Erkenntniß noch den Muth noch die unverzagte Kraft, die Lebenslüge abzuwerfen, sich zu bescheiden, von vorn anzufangen, sich auf die eigenen Füße zu stellen. Was war das praktische Ergebniß der Schulbildung? Daß man Ansprüche bekommen hat, die weit über die Verhältnisse der Wirklichkeit hinaus gehen. Ansprüche und keine Mittel! Wer wird die schwierige Rechenaufgabe lösen? Später einmal, wenn die Windstille der mütterlichen Zärtlichkeit nicht mehr die zarte Blume, den Stolz des Hauses, umfängt? Vielleicht kommt am Ende doch noch der Prinz! Vielleicht! Man hat ihn zwar noch nicht gesehen und unter den Aftermiethern von Mamas großer Wohnung ist er auch nicht. Und wenn er nicht kommt? Und wenn das Bischen Jugend vergeht? Dann erfüllt sich die heimliche Tragik, wie sie sich erfüllen muß: ohne Ruhm und ohne Größe. Eine kleine verhutzelte Klavierlehrerin oder Sprachenlehrerin; fünfzig Pfennige die Stunde...
Es giebt natürlich Varianten. Unzählige Abstufungen. Das Wesentliche aber ist dieses Gemeinsame: daß Ansprüche, die irgendwie die Gefahr des Schiffbruches mit sich bringen, Ansprüche, die man irrthümlich mit Bildung und Vornehmheit verwechselt, erworben, anerzogen werden. Andere, nicht weniger häufige Fälle sind die, wo das ungnädige Schicksal diese Ansprüche, so zu sagen, als Familienerbtheil in die Wiege gelegt, aber vergessen hat, das nöthige Kleingeld hinzuzufügen. Beispiele. Papa ist hoher Beamter, General, Excellenz oder so was Aehnliches; mehrere Töchter im Haus. Die gesellschaftliche Stellung legt gewisse Verpflichtungen auf; nach außen muß Alles glänzend erscheinen, auch das Elend. Würdige Repräsentation muß sein. Man darf sich nicht bescheiden, man kann sich nicht ausschließen, man muß bei den offiziellen Veranstaltungen mitthun. Nur nichts merken lassen! Einschränken kann man sich, wenns Keiner sieht. Bei den Buben gehts ja noch: die werden in die Kadettenschule gesteckt (Das kostet nicht so viel) und für ihre Zukunft ist gesorgt. Aber die Mädchen, diese immerwährende Verlegenheit! Titel, Rang: für den Herrn Papa und für die Frau Mama eine sehr dekorative Sache, die ihre Annehmlichkeiten hat,
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für die Tochter aber oft ein Fluch. Die Generalstochter kann nicht, wie sie will. Wenn es überhaupt einmal eine Generalstochter gibt, die was Praktisches will. Man ist von hundert Konventionen eingeschränkt. Man hat natürlich überall genascht, Musik getrieben, gemalt, singen gelernt und hat sich die dumpfe Ueberzeugung verschafft, daß es für was Ernsthaftes nicht reicht. Soll es auch gar nicht. Man hat sogar gearbeitet, verdient, heimlich zwar (daß es, um Gottes willen, nur Niemand erfährt!), hat Kravatten genäht, Stickereien angefertigt: und hat sich so wirklich das monatliche Handschuhgeld verdient. Was sollen die Mädchen thun, um sich selbständig zu behaupten, ohne die alten Vorurteile ihrer Gesellschaftklasse zu verletzen? Da ist guter Rath theuer. And selbst wenn sich dieser unwahrscheinliche Rath fände, bliebe noch ein großes Hinderniß: die Kosten. Denn Alles, was man lernt, kostet nicht nur Lehrzeit, sondern auch Geld. Woher nehmen? Alles ist bis auf Heller und Pfennig ausgerechnet: Bälle, Sommerfrische, gesellige Veranstaltungen. Wenn auch zu Haus gepfuscht, das Seidenkleid gewendet, umgearbeitet, neu geputzt wird: es kostet immerhin Geld. Da ergiebt sich ganz von selbst die Spekulation auf den Heirathmarkt, wo natürlich die Chancen unter solchen Umständen immer geringer werden. Jahr vor Jahr wird von Sommerfrische zu Sommerfrische gegondelt, jede Wintersaison wird durchtanzt, die Generalin hält streng Rekrutenschau; aber es will nicht gelingen. Man wird älter, spitzer, giftiger und hört überall in dem gewissen impertinenten Ton: Ach, sind Die auch wieder da!
Ein aufregendes, zehrendes, Kräfte vergeudendes, freudloses Leben. Manchmal glückts ja; meist dann durch sehr, sehr tiefe Herabsetzung der Ansprüche, gleichsam im Ausverkauf; nur manchmal. Oft ist das Unglück, das der blaue Bogen dem Herrn Papa bringt, die einzige Rettung für die Tochter. Der blecherne Glanz des Hauses wandert in die Rumpelkammer zur Invalidenuniform; man wird praktisch; vielleicht! Aus dem zierlichen Fräulein ist inzwischen aber eine grämliche Alte Jungfer geworden.
Ein neuer Typus ist in den letzten Jahren aufgetaucht: die Kunstgewerblerin. Zwar steht auch sie in der Regel unter häuslicher Fürsorge, aber sie unterscheidet sich in einem sehr wesentlichen Punkt von den bisher betrachteten Alltagserscheinungen: sie erfreut sich der größten Freiheit. Im Namen der Kunst ist ihr gelungen, die einschnürenden Fesseln der spießbürgerlichen Sitte zu durchschneiden und sich über alle herkömmlichen Begriffe des „Anstandes" hinwegzusetzen. Sie kann wagen, mit burschikosem
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Ungestüm den entsetzten Verwandten in der Provinz ins Haus zu fallen und sich, statt auf einen Sessel, gleich auf den Teppich des Fußbodens zu setzen, wie sie es von den Atelierfesten her gewöhnt ist. Sie darf Cigaretten paffen, allein Maskenbälle mitmachen und so spät heimkommen, wie ihr beliebt. Kein Mensch wird was dagegen sagen (wenigstens in München nicht, wo die Kunstgewerbelerin in Reinkultur anzutreffen ist). Denn sie hat Talent. Ich bitte, mir zu sagen, wozu ein junges Mädchen nicht Talent hat. Sie hat Talent, sie stilisirt ihr Haar nach der schwabinger Frisur mit schneckenförmig um die Ohren gedrehten Zöpfchen; sie rebellirt gegen die Mode, sie kleidet sich künstlerisch mit etwas männlichem Schnitt, wobei die Erfindung meist in der geschickten Applikation von alten Bauernstickereien oder minder werthvoller, selbst entworfener kunstgewerblichen Handarbeiten besteht. Also: sie hat Talent. So saß sie denn eines Tages in einer privaten Kunstgewerbeschule, wo sie das „Dekorative" lernte: Muster zeichnen, Ornamente, in der hinterlistigen Weise, die Insektenflügel ausreißt und abzeichnet, Haferrispen auf ihre „Hängeschönheit" beobachtet, in den Sand spuckt, um die originellen Zufälligkeiten dabei zu verwerthen. Die Dutzenddilettantin arbeitet fast immer für sich, für ihren Putz, für ihre 'menus plaisirs'. Aber sie hat Frische, bringt einen neuen Zug ins Leben, macht gern mit und bleibt, wenn sie auch durch viele Hände geht, im Großen und Ganzen unversehrt (wobei man das Wort nicht auf die Goldwage legen soll). 'Demi vierge!' Mein Gott: warum nicht? Man ist nicht immer jung, will sich des Lebens freuen, so lange das Lämpchen glüht, will auch seine große Festzeit haben. Und man packt Alles augenscheinlich mit ausgelassener Selbstsicherheit an, mit einer Art Ueberwinderlaune, mit männlich festem Griff. Aber man führt nichts durch; man bleibt mit der Leistung (natürlich giebt es vereinzelte rühmliche Ausnahmen) in der Halbheit stecken. Schicksal. Vielleicht drängt der Frauenberuf in ganz andere Bahnen. Trotz der neuen starken Geste ists immer die selbe Geschichte. Sie erobern nicht: sie werden erobert. Zwar ist das Weibchen tief versteckt; nur ein geübtes Auge kann es in der modernen Verpuppung erkennen. Aber es ist da. Ein Glück, daß es da ist. Und wartet. Es spricht nie vom Heirathen, geht nicht darauf aus. (Das macht den Verkehr der Geschlechter so ungezwungen.) Ist deshalb das Märchen von dem Prinzen, der da kommen muß, ganz aus ihrem Leben gestrichen? Nein. Am Ende kommt er doch. Wahrscheinlich. Vielleicht sieht er nicht ganz märchenhaft aus. Vielleicht. Oder sollte er gar lieben, abends neben der theuren Gattin in
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Pantoffeln und Hemdärmeln zu sitzen, den Maßkrug vor sich, und aus der Pfeife zu qualmen? Das wäre zu häßlich.
Ihr blutarmen, liebereichen, guten, liebenswerthen Mädchen: allen wünsche ich von ganzem Herzen den Prinzen, so mächtig, so edel, so reich und so schön, wie Ihr selbst ihn Euch wünscht.
Ob er aber kommt?
München. Joseph Lux.