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"Corpskneipe" Auszug aus "Hellmuth Harringa" von Hermann Popert

121 - Corpskneipe.

Corpskneipe.*)

Ahlefeld legte seine Mütze auf den Tisch. „Silentium! Wir haben heute die Ehre und das Vergnügen, zwei Vertreter unseres lieben Kartellcorps Hansea bei uns begrüßen zu können...."

Während der sekundenlangen Pause, die der Redner nun machte, schossen Friedrich Harringa zwei Dinge durch den Kopf: erstens, wie oft er wohl in Göttingen diese Rede schon gehört hatte, die bei solchen Anlässen immer wörtlich die selbe war; dann, wie gut es doch war, daß


*)
„Hellmuth Harringa, eine Geschichte aus unserer Zeit; fürs deutsche Volk herausgegeben vom Dürerbund (Alexander Köhler in Dresden)": so heißt ein Roman, der frohe Zustimmung und heftigen Widerspruch findet und aus dem hier drum ein charakteristisches Stück veröffentlicht wird. Ein Bekenntnißbuch. Der Verfasser, Dr. Hermann Popert, der früher in Hamburg Amtsrichter war und im Guttemplerkampf gegen den Alkoholismus schon lange vornan steht, hat das Bedürfniß, seinen Landsleuten allerlei bittere, aber nothwendige und heilsame Wahrheiten zu sagen. Ueber das Gerichtswesen, die Presse, den ausschweifenden Drang des Kapitals, die Trinksitten, die nationale Pflicht zu Mannhaftigkeit und reiner Germanenkultur. Dieses Bedürfniß ist so stark, daß es den Gestaltungstrieb noch nicht zu rechtem Ausdruck kommen läßt. Wie weit die Plastikerkraft des neuen Mannes, seine Kunst, bestimmte Menschen im Licht ihrer eigenen Atmosphäre zu zeigen, reicht, ist nach diesem ersten Buch noch nicht zu ermessen. Hier wird für „Tendenzen" gefochten. Das ist gewiß nicht zu tadeln, wenn das Streben ein innig zu wünschendes Ziel sucht. Aber Kunstwerke sind aus solcher Gemüthsstimmung selten entstanden. Einerlei: das Buch ist lesenswerth. Und die Pedantenmühsal, Irrthum und Uebertreibung anzukreiden, sollte man sparen. Die Lebensauffassung des Autors wird sich klären, wenn er sich seinem Ziel innerlich näher fühlt und die Ideale, die ihm noch manchmal wohl nur in Nebeln vorschweben, schärfer prüft. Kräftiges Schriftstellertalent kann der Unbefangene ihm nicht absprechen; auch nicht die Gabe, Vorgänge und Stimmungen lebhaft zu schildern. Und die überall fühlbare Liebe zu norddeutschem Land und norddeutschen Menschen tröstet den spröden Leser über manches Bedenken hinweg. Die Darstellung der Corpskneiperei (der, allzu sehr nach dem Schema der Warnungbücher für die reifere Iugend, die Leibesstrafe höllisch schnell folgt) hat den Sachkundigen schmerzhaft fröhliche Erinnerung geweckt. Daß sie, ohne Lücke, auch Dem verständlich ist, der von den handelnden und leidenden Personen vorher nichts gehört hat, ist ein lehrreiches Merkmal des Buches, dem die Wirkung nicht aus der Gesammtheit der dargestellten Welt kommt, sondern aus Einzelzügen, Einzelangriffen auf Mißstände; und aus dem tüchtigen Draufgängertemperament, das man hinter den oft ein Bischen absichtvollen Willensgeräuschen spürt.

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er im letzten Augenblick vor dem Verlassen der Wohnung noch den Zettel zu sich gesteckt hatte, worauf die eben so wörtlich bestimmte Antwort verzeichnet stand, die er als der ältere der beiden anwesenden Hanseaten gleich zu geben haben würde. Er zog den Zettel heraus und las ihn verstohlen durch, während Ahlefeld auf dem vorgeschriebenen Gleis mit den Worten zu Ende kam: „... Wir heißen sie herzlich willkommen, danken für ihr Erscheinen, hoffen und wünschen, daß sie einige vergnügte Stunden in unserer Mitte verleben mögen, und trinken auf ihr und ihres C. C. Wohl, sowie auf ein ewiges Fortbestehen der innigen Kartellbeziehungen zwischen der Hansea einerseits und unserer lieben Baltia andererseits, unser Glas in Gestalt eines Schoppensalamanders."

Wieder erfolgte das Kommando zum Salamander. Wieder ergossen die Gläser ihren Inhalt in die Mägen und klapperten und stießen dann auf den Tisch. Kaum aber hatten Christian und die Faxe sie überall wieder gefüllt, als sich Friedrich pflichtgemäß erhob und an Ahlefeld die vorgeschriebene Frage richtete: „Darf ich um Silentium bitten?"

Ahlefeld, dessen Gesicht die Langeweile, die ihm die oft erlebte Ceremonie verursachte, schlecht verbarg, antwortete eben so nach der Vorschrift: „Silentium für den Herrn Vertreter der Hansea zu Göttingen."

Und Friedrich Harringa sprach in ernstem Ton die altehrwürdigen Worte: „Wir göttinger Hanseaten danken für die freundlichen Worte der Begrüßung wie für den auf unseres C. C. und unser Wohl geriebenen Schoppensalamander. Wir trinken auf ein ewiges 'vivat crescat floreat' der Baltia zu Kiel, sowie auf ein ewiges Fortbestehen der innigen Kartellbeziehungen zwischen der Baltia einerseits und unserer lieben Hansea andererseits, unseren Rest." Nach den letzten Worten leerten er und Mosler, wie das Gesetz es befahl, ihr volles Glas, während sämmtliche Corpsburschen der Baltia feierlich „Prost" riefen.

„Ich komme den dritten und vierten Halben nach. Füchse einen Ganzen!" rief der Fuchsmajor. Die Sache klappte gut. Auch Holt erregte diesmal keinen Unwillen bei seinem Vorgesetzten.

Friedrich begann ein Gespräch mit dem Ersten Chargirten links neben ihm, von dem er hoffte, Mancherlei über das Leben auf den holsteinischen Landgütern zu hören. Von Ahlefelds Gesicht schwand sofort der Zug der Langenweile und er wurde ganz warm, wie er anhub, Friedrich die Schönheiten seines väterlichen Gutes zu schildern. Fitzwilliams hörte sehr interessirt zu, ließ auch einige Bemerkungen über den Landsitz seiner Familie in Wales einfließen. Die drei, die einander gut verstanden, achteten zwei Minuten lang wenig auf das fortwährende „Ich komme Dir einen Halben", „Prost, komme nach", um sie herum. Länger aber konnte Pornhagen es nicht mit anhören: er fragte, ob Friedrich ihm nicht von Göttingen her Etwas über die Gründe

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mittheilen könne, die zu dem Bruch des Kartells zwischen den „weißen" göttinger Sachsen und den „grünen" tübinger Schwaben geführt hatten. Friedrich Harringa hatte keine Ahnung mehr, da ihn Dergleichen nie interessirt hatte und außerdem die Geschichte eine Reihe von Jahren vor seiner eigenen göttinger Zeit lag. Aber die Sache gab doch Veranlassung, daß am Kopfe des Hufeisens eine Viertelstunde lang von nichts Anderem mehr gesprochen werden konnte als von dem Verhältniß, in dem die Corps des weißen Kreises überhaupt zu denen des grünen stehen. Und dann ging es von da auf die vielumstrittene Frage, ob für ein grünes Corps, wie die Baltia, nun eigentlich ein blaues oder ein schwarzes Corps das wünschenswerthere Vorstellungverhältniß sei. Während Graf Ahlefeld jetzt noch gelangweilter aussah als vorher, gerieth Pornhagen, so weit ers für zulässig hielt, in Begeisterung; mit der ganzen Gründlichkeit, die die Sache forderte, zählte er die sechs bis sieben schwarz-grünen Kreuzungen, die es gab, einzeln auf. Und von der Grundlage dieser unanfechtbaren Thatsachen aus wies er dann unwiderleglich nach, daß der Anspruch der blauen Corps, den grünen Corps näher zu stehen als die schwarzen, mit dem historisch Gewordenen durchaus nicht in Einklang sei.

Aber schon in seine letzten Worte fiel Stavenhusens dröhnendes Organ: „Sind sie rum?" Er war Niebuhr einen Halben vorgekommen. In den einhundertundachtzig Sekunden, die von fünf Bierminuten umfaßt werden, mußte Der nachkommen. Nun waren zwar erst dreißig Sekunden verstrichen, aber Stavenhusen wünschte eine Bierrempelei. Er fand auch sofort zwei schadenfrohe Gemüther, die als falsche Zeugen mit dem Ausruf „Rum" feierlich bestätigten, die heilige Frist sei bereits verstrichen. Und als sich Stavenhusen fragend nach dem dritten nöthigen Helfer umsah, fand er auch den schnell in dem Corpsburschen Scharnweber. Der war als witzig bekannt und rief deshalb nicht „Rum", sondern „Arrak". Aber auch dieses Wort genügte, um das Gesetz zu erfüllen; und kaum war es ausgesprochen, als Stavenhusen zur Fuchsentafel hinüberrief: „Silentium! Niebuhr ist im einfachen B. V. Ein bierehrlicher Fuchs erhält den Auftrag, Niebuhr an die Tafel des Hauses zu kreiden."

Auf einen energischen Augenwink Medows sprang Holt auf und schrieb den Namen Niebuhr mit Kreide an eine schwarze Holztafel, die hinter ihm an der Längswand des Zimmers hing. Nach der Vorschrift ergriff er dann sein Seidel, ging, dieses in der Hand, um das ganze Hufeisen herum bis hinter Stavenhusens Stuhl, nahm respektvoll die Mütze ab und meldete: „Melde, Niebuhr an die Tafel des Hauses gekreidet zu haben, und trinke zur Bekräftigung meiner Aussage, was folgt."

Wenn er gedacht hatte, Stavenhusen würde nach einigen Schlucken „Geschenkt" sagen, so irrte er. Stavenhusen dachte über Füchse im Allgemeinen und über Holt im Besonderen genau wie Medow und Pornhagen. Holt mußte das ganze Glas austrinken. Das war das achte

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Gemäß, das er nun im Magen hatte; zusammen bald zweieinhalb Liter. Er war aber kaum wieder an seinen Platz gekommen, als Niebuhr sich schon an den ihm schräg gegenübersitzenden Corpsburschen wendete: „Sievers, ich pauke mich raus."

Sievers sprach, wie die Sitte gebot, nur für die Nächstsitzenden verständlich: „Silentium! Niebuhr paukt sich in die Bierehrlichkeit zurück."

Und nachdem dann Niebuhr einen Ganzen hinunter gegossen hatte, erklärte Sievers so laut, daß Alle im Zimmer es hörten: „Silentium! Niebuhr ist wieder bierehrlich. Ein bierehrlicher Fuchs kreide ihn aus."

Holt hatte noch keine halbe Minute auf seinem Platz gesessen, aber wieder traf ihn Medows befehlender Blick. Er spürte, wie eine dumpfe Wuth in ihm emporstieg. Aber er fühlte auch die Ketten, die ihn hielten, und gehorsam ergriff er den kleinen Schwamm in dem Kasten unter der Tafel und löschte Niebuhrs Namen aus. Dann folgte wieder der Marsch mit dem Seidel durch den Raum und die Meldung, diesmal an Sievers. Der war gnädiger und ließ ihn nur wenige Schluck trinken. Trotzdem fühlte Holt, wie sein Magen rebellisch wurde. Als er wieder ruhig auf seinem Stuhl saß, schien Das vorüber zu gehen. Wenn nur nicht gerade in diesem Augenblick Medow den Gedanken gehabt hätte, den fünften und sechsten Halben nachzukommen und zu diesem Zwecke die Füchse aufs Neue einen Ganzen trinken zu lassen! Holt dachte, er zwänge es nicht mehr. Aber es gelang noch.

Fitzwilliams fühlte das Bedürfniß, den Waschraum zu betreten. Mit feierlicher Zuvorkommenheit öffnete ein Corpsbursche der Baltia dem Gaste die Thür, die aus dem Kneipzimmer auf den Vorplatz führte, und dann die vom Vorplatz zum Waschraum.

Holt merkte, wie ihm immer wirrer im Kopfe wurde. Und in der steigenden Unklarheit vergaß er eins der heiligsten Gesetze der Kneipe. An seinen Nebenmann Niclassen, der, wie er selbst, Jurist war, richtete er eine Frage, die sich auf die Institutionenvorlesung des Professors Muthesius bezog; die Frage war ziemlich sinnlos, aber er hatte das dringende Bedürfniß, einen Augenblick lang an etwas Anderes zu denken als an die ringsum besprochenen Dinge.

Niclassen war vorsichtig genug, mit der Antwort zu zögern, und hatte das Glück, noch nichts gesagt zu haben, als nun Medow dazwischen fuhr: „Holt, wie oft soll ich Dir sagen, daß die Fachsimpelei verboten ist. In die Kanne! Eins ist Eins, Zwei ist Zwei, Drei ist..

Bei den ersten Worten hatte Holt eine wahnsinnige Lust in sich gespürt, dem brutalen Gesellen seine Faust in das breite Slavengesicht zu schlagen. Aber er dachte an seinen Vater und konnte sie nur in der Tasche ballen. Ihn schauderte, als er das Gemäß an den Mund setzte. Doch wider alles Erwarten brachte er auch diesmal das Bier noch hinunter. Aber dann begann es ihn zu schütteln, stärker und immer stärker. Wohl stimmte auf Ahlefelds Kommando gerade jetzt die Korona das

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zweite Lied an: „So pünktlich zur Sekunde"; aber Holt war es nicht mehr möglich, den Mund zu öffnen. Alles, was er denken konnte, war auf einen Punkt gerichtet: daß er sich nur nicht in das Kneipzimmer hinein erbrach. Die zwanzig Mark Geldstrafe wären ja zu tragen gewesen. Aber Ahlefeld, gerade Ahlefeld in die Lage bringen, ihn nachher vor dem ganzen Renoncenkonvent wegen solcher kolossalen Selbstzuchtlosigkeit rüffeln zu müssen: nein, nur Das nicht! Er würgte und würgte, während das Lied ertönte. Drei Verse lang ging die Sache. Doch als nun der vierte Vers einsetzte, konnte er nicht mehr, und während es erklang:

„O Baltia, Dir gehör ich,
Dich lieb ich treu und heiß,
Auf Deine Farbe schwör ich,
Die Farb' blau-silber-weiß"

stürzte er ganz formlos, trotz Medows zornigen Blicken, hinaus auf den Vorplatz. Es war ihm gleichgiltig, daß er draußen Fitzwilliams fast umwarf, der gerade aus dem Waschraum heraustrat. Er rannte nur wie besessen, den Mund krampfhaft geschlossen und beide Hände fest davor gepreßt, in eine Ecke des Vorplatzes und beugte sich über einen trichterförmigen Porzellanbehälter, der dort in Brusthöhe eingebaut war und nach unten in eine Blechröhre endete, die sich in den Boden verlief. Seine Hände packten zwei Messinggriffe, die rechts und links an der Wand angebracht waren, und während der ganze Körper krampfhaft erschüttert wurde, brachen ihm aus Mund und Nase dicke Ströme von Bier, Schleim und Magensäure.

Dazu klang von drinnen der letzte Vers des Liedes, den Alle stehend sangen:

„Wir Balten wollns beweisen,
Beweisen durch die That,
Daß Balten-Herz und -Eisen
Stets brav geschlagen hat."

Fitzwilliams hörte den Gesang. Und sah die Erscheinung vor sich. Und dachte an die sonnenbraunen Kraftgestalten der Bootsmannschaft von Oxford. Er war der Schlagmann gewesen bei dem letzten Siege über die Rivalen von Cambridge. Er hatte hier in Kiel die junge deutsche Flotte gesehen, hatte viel mit Marineoffizieren verkehrt und herzliche Hochachtung für das stammverwandte Volk gewonnen. Hatte manchmal auch Etwas wie Eifersucht gespürt, wie ein ganz leises Jagen, ob da nicht Etwas heranwachse, das selbst Altenglands Stern einst überstrahlen möge. Solcher Anwandlungen gedachte er jetzt. Und in den Zug des Ekels um seinen Mund trat eine Linie beruhigter Ueberlegenheit. Mit klarer Zuversicht zog es ihm durch das Haupt: „Britons never, never, never shall be slaves."

Holt kam gerade rechtzeitig wieder hinein, um den siebenten und achten Halben, den der Fuchsmajor jetzt nachkam, mittrinken zu können. Zwar zitterte seine Hand noch ein Wenig von der Anstrengung

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draußen, und als er in dieser Schwäche Bier vergoß, ließ ihn Medow zur Strafe gleich noch einen Ganzen hinterher trinken. Uebrigens mußte in diesem Augenblick auch Niclassen den Vorplatz nnd den Trichter in der Ecke aufsuchen.

Graf Ahlefeld sah mit verstohlenem Gähnen nach der Uhr. Gegen Zehn. Also mindestens fünf Viertelstunden noch muß es dauern.

Die Trinkenden fühlten sich erregter; das Bier hatte die Rauflust aufgestachelt. Zwar hielten die unverbrüchlichen Gesetze nach wie vor Alles im Bann strenger Feierlichkeit. Aber diese Gesetze selbst boten ja bestimmte Bahnen, auf denen man das Thier rasen lassen konnte. Die Bierrempeleien, wie erst zwischen Stavenhusen und Niebuhr, mehrten sich. Und immer häufiger scholl auch das Wort „Bierjunge" und die Antwort „hängt".

Jetzt rief Sievers, der bisher verhältnißmäßig wenig getrunken hatte, die Herausforderung zu Scharnweber hinüber. Er war an den Verkehrten gekommen. Scharnweber mußte sich überlegen und antwortete: „Prost doppelt!" Sievers fühlte sich vom Muth der Verzweiflung gepackt und rief: „Prost dreifach!"

„Lührs ist Unparteiischer", bestimmte, dem Gesetz gemäß, Scharnweber als der Geforderte.

„Silentium! Ich bins", rief der Dritte Chargirte Lührs; und während auf seinen Wink Christian und die beiden Fäxe drei volle Gemäße vor jeden der beiden Gegner hinstellten, fuhr er fort: „Ich zähle bis Drei. Auf Drei wird getrunken. ,Popokatepetl' entscheidet."

Die Kämpfer standen bereit. Sobald Lührs bis Drei gezählt hatte, floß das Bier des ersten Seidels in die beiden weitaufgerissenen Schlünde hinab. Als sie es hinunter hatten, war noch kein Vortheil auf einer Seite zu sehen; ganz gleichzeitig flogen die zweiten Seidel hinauf. Nun gelang es Sievers, der mit rasendem Muth zog, zwei Sekunden eher fertig zu werden. Schon meinte Pornhagen leise zu seinem Nachbar Mosler: „Das hätte ich doch nicht geglaubt, daß Scharnweber sich von Dem ansiegen läßt." Aber es kam anders. Scharnweber dachte jetzt an den durch drei Semester fest begründeten Ruhm, der zu verlieren war; Das gab ihm Halt und Kraft. Wie ein Gletscherbach in den Abgrund stürzte das dritte Seidel in seinen Magen, und als Sievers erst den letzten Tropfen hinabgoß, hatte sein Gegner schon das Wort des Sieges „Popokatepetl" ausgesprochen. Ja, sein Triumph wurde noch größer: denn während Sievers nun sofort hinausstürzen mußte, um an den Trichter auf dem Vorplatz zu gelangen, vermochte Scharnweber noch in guter Haltung Lührs' Entscheidung mit anzuhören: „Sievers dürfte zweiter Sieger sein."

Dann allerdings war es auch für ihn höchste Zeit; und er kam jetzt so rasch an den Trichter, daß sich der Anfang des Bierstromes aus seinem Munde noch mit den letzten Resten Dessen vereinigen konnte, was Sievers ausspie.

Der Trichter blieb jetzt überhaupt nicht fünf Minuten lang mehr

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unbenutzt. Nicht nur häuften sich drinnen die Bierrempeleien und die Bierjungen stetig: auch dem Fuchsmajor war man nach Erledigung der ersten zehn Halben sofort zehn weitere vorgekommen. Als Graf Ahlefeld endlich erleichtert für sich feststellte, daß es elf Uhr geworden sei, gabs unter den Füchsen keinen mehr, der nicht zweimal draußen am Trichter gewesen war. Und als jetzt das Lied erscholl „Ich kenn' einen Helden seltener Art", beugte sich gerade Holt zum dritten Mal über das Geräth.

Als er wieder herein kam, sa,h er totenblaß aus, und als er sich hingesetzt hatte, fiel sein Kopf schwer auf den Tisch. Sofort, rief Medow: „Fuchs, setze Dich gefälligst ordentlich hin; sofort in die Kanne! Eins ist Eins..."

Aber weiter kam er nicht, denn mit ganz ungewohnter Schärfe fuhr ihn Ahlefeld an: „So, Medow, nun ists genug! Du sorgst jetzt dafür, daß der arme Kerl im Nebenzimmer aufs Sofa gepackt wird."

Medow knurrte tückisch in sich hinein, wagte aber nicht zu widersprechen und ließ die Anordnung durch Niclassen und einen anderen Fuchs ausführen. Die Beiden konnten übrigens auch kaum mehr auf den Beinen stehen, und als gleich darauf Ahlefeld die Mütze vor sich auf den Tisch legte und rief: „Silentium! Offizielle Kneipe ex!" da, gingen auch sie zugleich mit den meisten anderen Füchsen ins Nebenzimmer, wo sie halbtot auf das Sofa, die Sessel und die Stühle sanken.

Was von den Füchsen noch auf den Beinen stand (drei oder vier), blieb mit den Corpsburschen in der tabakgeschwängerten Luft des Kneipzimmers und trank weiter.

Aber schon nach einer Viertelstunde zog Ahlefeld seine Uhr und „So, wir wollen nach Haus gehen", und zu Harringa, Mosler und Fitzwilliams: „Die Corpsburschen Lührs und Medow werden sich die Ehre geben, die Herren zu geleiten."

Friedrich verständigte sich durch einen raschen Blick mit Fitzwilliams und lehnte dann dankend ab: Medow, den er im Lauf des Abends beobachtet hatte, war ihm zu unerfreulich geworden, als daß er seine Gesellschaft noch länger gewünscht hätte, und Lührs sah so totmüde aus, daß es ihm leid that, ihn noch wach zu halten. So fand er sich denn nach ein paar Minuten mit Mosler und dem Engländer allein vor dem Haus und athmete in tiefen Zügen die reine Luft der köstlichen Sommernacht ein. Die verfehlte ihre Wirkung auch auf die beiden Anderen nicht: Fitzwilliams stand gleich Friedrich stumm genießend da und Mosler sagte: „Herrschaften, darf ich einen Vorschlag machen? So schön ist es selten; wäre weiß Gott schade, jetzt schon ins Bett zu kriechen. Wo wohnst Du eigentlich, Harringa?" Und als Friedrich geantwortet hatte, fuhr Jener fort: „Also Feldstraße, ungefähr Ecke Waitzstraße? Na, und ich Eckernförderallee. Das ist Beides etwa gleich weit von hier. Ich meine also, Harringa und ich gehen schnell nach Haus, legen Mütze und Band ab uud dann treffen wir uns alle Drei wieder hier auf diesem Fleck. In fünfunddreißig Minuten kann Das gemacht sein."

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Fitzwilliams hatte nichts einzuwenden. „Gut," sagte er zu Friedrich, „ich bringe Sie nach Haus und wieder hierher."

Friedrich kam Moslers Vorschlag sehr gelegen. Er hatte nicht die mindeste Lust, schon ins Bett zu gehen. Ihm war so herrlich zu Muth, so überschäumend jugendstark. Wie er den Sommer im Blut fühlte! Den Sommer und das gute Getränk des Abends. Er hatte heute dem Biercomment so manches Schnippchen geschlagen; jetzt ging es ihm nicht wie Holt und den anderen armen Kerlen, die ein sinnloser Zwang getrieben hatte, die Gottesgabe zu mißbrauchen. Mild durchwärmt und leicht erhoben, schritt er neben Fitzwilliams dahin. Schon nach einer kleinen halben Stunde trafen sie auf dem freien Platz vor der „Klinke" wieder mit Mosler zusammen.

Der rief ihnen schon von Weitem sehr laut entgegen: „Wohin solls nun gehen?"

„Zunächst ans Wasser", antwortete Friedrich. „Und dann immer dran entlang den Hafen hinunter. Und nachher, denke ich, biegen wir links ab und bummeln noch eine Stunde im düsternbrooker Gehölz."

Die Anderen warens zufrieden und schritten auf den lockenden Glanz zu, der von der Germaniawerft, wo auch um diese Stunde die Arbeit nicht ruhte, über den Handelshafen herüberstrahlte.

Mosler wurde jetzt mit jedem Schritt lauter und aufgeregter. Mit großem Aufwand an Kräften erkletterte er die Kohlenhaufen, die unten am Eisenbahndamm zwischen Schienenstrang und Kaimauer lagen. Und als man an einen Dampfer kam, dessen Heck die Aufschrift „Brunsnis-Flensburg" trug, war er kaum zu halten: er wollte mit Gewalt an Bord steigen und den Kapitän zur Rede stellen, was dieser Schiffsname zu bedeuten habe, den er absolut nicht verstehen konnte.

Fitzwilliams sagte nichts dazu, sondern hielt ihn nur mit sanfter Gewalt fest, damit er nicht zwischen Kaimauer und Schiff ins Wasser stürze. Friedrich Harringa aber fühlte sich unliebsam gestört. Dieser Kölner sollte ihm nicht die Stimmung zerreißen! In ihm war es wie Glockenklang, wie seliges Sehnen, als berge der Schleier dieser Nacht noch ein großes, weiches Geheimniß.

Sie waren den Eisenbahndamm zu Ende gegangen, hatten die kleine Brücke des Bootshafens überschritten und gingen den Wall entlang. Jetzt, als sie die düstere Masse des Packhauses hinter sich hatten, sprangen rechts die vier Seegartenbrücken in die Wasser des Kriegshafens hinein.

Friedrich lenkte die Schritte auf die erste der Brücken; die beiden anderen jungen Männer folgten. Man hatte Glück: Moslers Redestrom war gerade auf einen Damm getroffen; vielleicht wurde der Rheinländer allmählich müde. Fünf Minuten lang störte nichts das weiche Wehen des Seewindes, das stille Leuchten der Sterne und den hellen Glanz der Hunderte von Lichtern, die von den Schiffen im Hafen schimmerten.

Als man dann aber den Weg fortsetzen wollte, zeigte sich, daß es

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völlig unmöglich war, Mosler am Café Fährhaus vorbei zu bringen. Er müsse jetzt Cognac haben. Die beiden Anderen gaben wohl oder übel nach. Als man drinnen war, quälte Mosler so lange, bis Friedrich ihm widerwillig die kleine Kristallflasche leeren half. Fitzwilliams' bestimmte Erklärung, er habe für diesen Abend genug getrunken, steigerte Moslers Erregtheit fast bis zu einem Zornausbruch. Es gelang aber, ihn zu begütigen und in verhältnißmäßiger Ruhe wieder aus dem Cafe herauszubringen.

Dort wurde er mit einem Mal sehr fröhlich. „Herrschaften," rief er vergnügt, „mir kommt eine Prachtidee. Ich denke, wir lassen das düsternbrooker Gehölz schwimmen. Wir sind hier nur eine halbe Minute von einem ganz famosen Lokal, wo ich mich vor acht Tagen glänzend amusirt habe. ,Hinter der Mauer' Nummer sechzig, zehn Schritt hier in die Fischerstraße hinein und dann links um die Ecke. Man siehts dem Hause von außen nicht an. Eine Eleganz da drinnen und eine Sektmarke! Na, und Mädchen! Ich bin doch jetzt, wer weiß, wie oft, nach Hamburg 'rübergefahren und kenne die Schwiegerstraße gründlich. Aber so was habe ich wirklich selten gesehen. Also abgemacht: da gehen wir jetzt hin."

Friedrich war es, seit sie das Café verlassen hatten, als schwimme ein leichter Nebel in seinem Kopf. Immer lockender schien ihm der Zauber der Nacht, immer heller klang es in seinem Blut. Was lag über diesen Häusern mit einem Mal für ein seltsamer Reiz, wie wundersam lockte das Dunkel dieser engen Straßen. Jetzt Etwas erleben! Etwas ganz Neues, das Schleier lüftete, hinter die man nie gesehen hatte. Irgendein Abenteuer. In diese Stimmung schlugen Moslers Worte hinein. „Hinter der Mauer." Ja, so, den Klang der Worte kannte er. Und ihm war eigentlich, als habe er sonst den Begriff des Ekels damit verbunden. Aber nun ging Das wieder unter in dem Nebel, der durch sein Haupt wogte, und in dem Kraftgefühl, das immer höher schwoll. Warum war ihm eigentlich dieser Mosler früher so unangenehm gewesen? War doch ein lustiger Geselle!

Was klangen da in seine Traumstimmung für merkwürdig kühle Worte? Ach, sie waren ja zu Dreien. Was wollte denn nun der Dritte?

„Hören Sie, lieber Harringa", sagte die Stimme mit dem leichten englischen Accent, „lassen Sie die Finger von der Geschichte, besonders heute abends. Wir sind ja, gute Bekannte geworden hier in Kiel, darum werden Sie es mir nicht übel nehmen: ganz nüchtern sind Sie doch nicht mehr; man siehts Ihnen jetzt deutlich an, seit wir das Café verlassen haben. Machen sie keinen Unsinn. Geben Sie mir Ihren Arm und lassen Sie uns weitergehen."

Und er wollte seinen Arm unter den Friedrichs schieben. Aber mit einem wahren Wuthschrei sprang Mosler dazwischen. Er hatte jede Herrschaft über sich verloren; mit hochrothem Gesicht, mit den Händen wild in der Luft herumfuchtelnd, schrie er zu dem Engländer, dem er kaum bis an das Kinn reichte, hinauf: „Mein Herr, Das

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verbitte ich mir! Das geht Sie gar nicht an! Wenn Sie sich hier als Spielverderber aufthun wollen, dann scheren Sie sich gefälligst nach Hause, Sie. . ."

Er stockte. In Fitzwilliams' etwas lässiger Haltung war kaum eine Veränderung zu bemerken gewesen, und ob die grauen Augen ihren Ausdruck gewechselt hatten, konnte im Schein der Straßenlaternen Niemand erkennen. Aber Mosler hatte gesehen, wie sich die Fäuste des jungen Mannes ballten. Das hatte genügt, um seinen umnebelten Geist doch noch eine Erkenntniß fassen zu lassen: Der, den er zu beschimpfen im Begriff war, ist kein deutscher Student, sondern ein freier Mann. Der gelernt hatte, seine natürliche Waffen zu gebrauchen, und der ihn, wenn er unverschämt wurde, einfach mit zwei Boxerstößen auf das Pflaster warf, ihm keine Satisfaktion dafür gab und nicht nöthig hatte, das Ehrengericht des S. C. zu befragen, ob ihm Das gefalle oder nicht. Er zog also vor, den Rest seiner Worte zu verschlucken, stammelte: „Pardon, ich bin heute etwas aufgeregt", und machte, daß er einen Abstand von einigen Schritten gewann.

Als er sich dann nach Friedrich umsah, bemerkte er zu seinem Vergnügen, daß Der schon links in die Fischerstraße hineinschritt. Er ging hinter ihm her, erreichte ihn und Beide bogen links um die Ecke. Fitzwilliams sah ihn einen Augenblick nach, machte eine bedauernde Bewegung und schritt dann in die Wasserallee hinein, seiner Wohnung im Forstweg zu.

* * *

... Es war an einem Morgen drei Wochen darauf. Fitzwilliams hatte gesegelt und schlenderte nun, von der Bellevuebrücke her, den Düsternbrooker Weg entlang seiner Wohnung zu. Als er vor der Marineakademie stand, sah er sich auf der anderen Seite der Straße einen jungen Herrn entgegenkommen. Es war die unverkennbare hochgewachsene Gestalt Harringas. Er hatte ihn seit dem Abend der Baltenkneipe nicht wiedergesehen und war im Begriff, auf ihn zuzugehen und ihn zu fragen, weshalb er in der letzten Zeit nicht mehr zu dem abendlichen Rudern gekommen sei. Aber Harringa bemerkte ihn offenbar nicht, sah eigenthümlich starr geradeaus und bog, ehe Fitzwilliams ihn erreicht hatte, in die Reventlowallee hinein, wo er in einem Haus verschwand. Fitzwilliams war kein neugieriger Mensch. Aber das Aussehen und Gebühren des jungen Chemikers hatten einen so unheimlichen Eindruck gemacht, daß der Engländer unwillkürlich seine Schritte bis vor das Haus lenkte, in das Harringa hineingegangen war. Gleich darauf kehrte er mit betrübtem Gesicht um. Auf dem Porzellanschild am Eingang des Hauses hatte er den Namen eines berühmten Spezialarztes gelesen.

München. Hermann Popert.

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