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Wider das Schulelend.
In seinem Werk „Große Männer" hat Wilhelm Ostwald der deutschen Mittelschule ein Vorpostengefecht geliefert; mit dem Nothruf: „Wider das Schulelend" eröffnet er die Schlacht auf der ganzen Linie. Nach seiner Meinung ist unsere Schule nicht etwa nur der Verbesserung bedürftig, sondern im innersten Kern krank. Ein Beweis dafür sei die Unlust, mit der unsere Söhne und Töchter die Schule besuchen, und die Erleichterung, die sie bei deren Verlassen empfinden, während doch Interesse und Freude am Unterricht die Angelpunkte jeder gesunden Pädagogik sein müßten. Auch die leider nicht seltenen Schülerselbstmorde schreibt er aufs Schuldkonto der Schule, die doch gewiß nicht allein dafür verantwortlich zu machen ist.
Bei seinen Bemühungen, den Ursachen dieser traurigen Erscheinungen nachzuspüren, kommt Ostward zu dem Ergebniß, daß es im deutschen allgemeinen Bildungwesen nur zwei Anstalten giebt, die völlig gesund sind und ihren Weg um die ganze Welt gemacht haben oder machen werden: der Kindergarten und die Universität; also Anfang und Ende. Warum ist nun hier Alles vortrefflich und auf dem ganzen langen Wege zwischen dem ersten und dem letzten Stadium Alles faul? Der Verfasser findet den Grund darin, daß Kindergarten und Universität sich völlig frei und ohne jede Bevormundung entwickeln konnten, während in der Schule jeder Schritt durch Lehrpläne und Reglements vorgeschrieben ist. Im Kindergarten und auf der Hochschule hat die Persönlichkeit des Lehrers (oder der Lehrerin) freien und weiten Spielraum; auf der Schule aber ist sie überall beengt. Und doch ist die Persönlichkeit des Lehrers das werthvollste Material, mit dem die Schule arbeitet. Aber „mit der Schule darf nicht experimentirt werden". Das hört man oft. Dagegen lehnt sich Ostwalds naturwissenschaftliches Empfinden auf. Wie könne denn ein Fortschritt anders erzielt werden als durch Experimentiren? Gerade die Freiheit zu allen Experimenten über die beste Unterrichtsmethode sei ein Hauptfaktor für die Erfolge der elementarsten und der höchsten Bildunganstalten. So allein sei auch zu verstehen, daß ohne jede Beeinflussung, in ganz freier Entwickelung, sich auf unseren Hochschulen für das selbe Fach im Wesentlichen die selbe Unterrichtsmethode herausgebildet und eingebürgert hat. Ganz schön; aber ist es denn wahr, daß mit der Schule nicht experimentirt wird? Ist nicht jeder neue Lehrplan ein Experiment? Das preußische Gymnasium hat solche neuen Lehrpläne 1882,1892,1901 erhalten,
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also in jedem zehnten Jahr. So viel Zeit muß man doch zur Durchführung eines so schwierigen Experimentes gewähren. Und die Einrichtung von Mädchengymnasien, die Zulassung von Mädchen zu den Knabengymnasien, die Gründung der Oberrealschulen und Reformgymnasien: sind Das keine Experimente?
Der Hauptvorstoß des Verfassers gilt nun dem Ueberwiegen des sprachlichen Unterrichtes in den Lehrplänen der Mittelschule. In seinem Feuereifer spricht er dem sprachlichen Unterricht jeden Bildungwerth ab. „Die Sprache ist eben so wenig ein Bildungmittel wie die Eisenbahn, sondern ein Verkehrsmittel." Man begreift diesen Satz vielleicht im Munde des Mannes, der das Heil in einer einzigen Weltsprache erblickt; zustimmen werden ihm hierin wohl nur Wenige. Die Sprache ist der Ausdruck der Volksseele und unsere großen Sprachbildner Luther, Lessing, Goethe, Schiller haben uns ein kostbares Erbe hinterlassen, dessen idealen Werth wir wahrlich nicht zu hoch einschätzen können.
Aber eine andere Frage ist, ob der sprachliche Unterricht an unseren Schulen qualitativ und quantitativ richtig eingetheilt ist. Da mögen Ostwalds Vorwürfe bis zu einem gewissen Grade berechtigt sein. Der Bildungwerth von Genusregeln und unregelmäßigen Verben darf wohl bezweifelt werden, Hier wird mit dem Einprägen eines werthlosen Gedächtnißstoffes eine kostbare Zeit verschwendet, die auf andere Weise viel nützlicher zu verwenden wäre. Weniger „auswendig lernen"; mehr Anleitung zu selbständiger Denkarbeit!
Ostwald kämpft besonders heftig gegen die alten Sprachen. Ein Blick auf die preußischen Lehrpläne vom Jahr 1901 zeigt hier wirklich ein erschreckendes Mißverhältnis In den beiden Tertien des humanistischen Gymnasiums fallen von 30 Wochenstunden auf Lateinisch 8, auf Griechisch 6, auf beide zusammen also fast die Hälfte der ganzen Unterrichtszeit. Das Französische, die einzige neuere Fremdsprache, muß sich mit 2 Wochenstunden begnügen, Mathematik mit 3, Naturwissenschaft mit 2 Stunden. So kann es nicht bleiben. Man muß das Lateinische noch viel mehr einschränken und das Griechische (so weh es thut) als obligatorischen Gegenstand der allgemeinen Vorbildung in absehbarer Zeit ganz fallen lassen. Philologen und Theologen müssen sich die nothwendigen Kenntnisse in dieser Sprache, wie das übrige geistige Rüstzeug, dessen sie für ihre besonderen Zwecke bedürfen, entweder in wahlfreiem Unterricht auf der Schule oder auf der Universität verschaffen. Daß Dies möglich ist, kann doch in einer Zeit nicht bezweifelt werden, die den Abiturienten des Realgymnasiums und
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der Oberrealschule zu allen Fakultäten zuläßt. Aber die Einführung in den Geist des klassischen Alterthums? Schiller hat seine Begeisterung für Homer zuerst aus der vossischen Uebersetzung geschöpft; und wer ein Halbdutzend griechischer Tragoedien in Wilamowitzens Uebersetzung gelesen hat, kennt den Geist dieser Dichtung doch wohl besser als Einer, der das Original einer einzigen mühsälig durchackern mußte und am Schluß nach all der Sprachquälerei längst den Anfang vergessen hat.
Ostwald will kein Versenken in den Geist des klassischen Alterthumes. Wie könne uns ein Zeitalter als Ideal gelten, dessen Kultur sich auf die Sklaverei gründete und das die Arbeit, als des freien Mannes unwürdig, gering schätzte? Gewiß: die Sklaverei des Alterthumes kann nicht unser Ideal sein; es wäre auch gar zu traurig, wenn die Menschheit in den zwei Jahrtausenden, die seitdem verstrichen sind, nicht um eine ansehnliche Strecke vorwärts gekommen wäre. Aber ist darum das geistige Erbtheil, das uns die Griechen durch ihre Dichter, ihre Philosophen und ihre Bildhauer hinterlassen haben, weniger kostbar? And können wir nicht aus der eisernen Staatsraison der Römer, so wenig sie uns persönlich sympathisch sein mögen, noch heute Wichtiges lernen? Jedes Zeitalter ist die nothwendige Folge der vergangenen Zeiten; und ohne Kenntniß der Vergangenheit giebt es auch kein volles Verständniß der Gegenwart.
Um seine Verurtheilung unserer Schule zu begründen, weist Ostwald auf die Lebensschicksale hervorragender Männer, die geistige Führer der Menschheit geworden sind. Nach seiner Behauptung haben fast alle einen Konflikt mit der humanistischen Mittelschule durchgemacht. Daß diese Annahme übertrieben ist, wäre leicht zu erweisen. Immerhin trifft der Satz eine nicht geringe Zahl von Fällen; besonders oft gilt er für Männer, die später Naturforscher wurden. So war Liebig, der schon während seiner Gymnasialzeit von dem damals als grotesk betrachteten Gedanken beherrscht wurde, sich der Chemie zu widmen, ein widerwilliger und deshalb auch schlechter Schüler. Heute würde sich dieser Konflikt in einfachster Weise dadurch lösen, daß er vom Gymnasium zur Oberrealschule überginge, in der wahrscheinlich seine hervorragende Begabung sogleich das richtige Feld der Bethätigung auch innerhalb des Schulrahmens fände.
Ostwald erinnert auch daran, daß die meisten großen Männer in der Jugend frühreif waren. „Liebig war mit 21 Jahren Professor, William Thomson, der spätere Lord Kelvin, mit 22; Liebig wurde über 70, Thomson 89 Jahre alt. Wäre Liebig in unserer
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Zeit geboren worden, hätte er mit 21 Jahren kaum den Doktorgrad zu erwerben vermocht und hätte noch vier Jahre warten müssen, um sich überhaupt habilitiren zu können." Ganz richtig; aber man darf wohl fragen, ob es Liebig geschadet hätte, wenn er einige Jahre später Professor geworden wäre. Einen gewissen Mangel in seiner allgemeinen Bildung hat er selbst empfunden und die Lücken seines Wissens auf Gebieten, die der Naturwissenschaft ferner lagen, erst allmählich ausgeglichen. Man kann doch nicht im Ernst daran denken, unsere Schuleinrichtungen nur den Ausnahmeschülern, den künftigen Genies auf den Leib zu schneiden. Daß sie der Entwickelung außergewöhnlicher Anlagen kein Hinderniß bereiten, dürfte man freilich verlangen.
Nach Ostwalds Meinung wäre schon viel gewonnen, wenn die Mittelschule nicht neun, sondern höchstens sechs Lehrjahre umfassen würde. Dann könnten fleißige und begabte Schüler mit fünfzehn Jahren auf die Hochschule kommen. Man braucht diese Folgerung nur zu erwägen, um sich (es wird erlaubt sein, hier einen Ausdruck Ostwalds zu gebrauchen) von ihrer vollkommenen Sinnlosigkeit zu überzeugen. Knaben gehören nicht auf die Hochschule, da sie weder die Einsicht noch die Festigkeit des Charakters besitzen, die für den richtigen Gebrauch der akademischen Freiheit nothwendige Vorbedingungen sind.
In der Ueberzeugung, daß die letzten Schuljahre heranwachsenden Jünglingen weder die Kost noch die Behandlung bieten, nach denen ihre der Selbständigkeit entgegenwachsende Kraft verlangt, muß ich Ostwald zustimmen. Auch ist der plötzliche, unvermittelte Uebergang von der Gebundenheit der Schule zur Freiheit des akademischen Lebens eine gefährliche Klippe, an der schon mancher von Haus aus brave Junge gescheitert ist. Hier aber scheint mir das Heilmittel nah zu liegen. Man gestalte den Unterricht in der Unter- und Oberprima so, daß der Nebergang zur akademischen, Freiheit allmählich vorbereitet wird; und zwar sowohl auf wissenschaftlichem wie auf ethischem Gebiet. Wo besondere Neigung und Begabung für eine gewisse Geistesrichtung vorhanden ist, da gebe man die Möglichkeit, dieser ein höheres Maß von Kraft und Zeit zu widmen, als dem Durchschnitt der Klasse entspricht; natürlich muß Dies durch eine entsprechende Entlastung
auf anderen Gebieten ausgeglichen werdend *) Auch das Verhält-
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*) Einen ähnlichen Gedanken hat Professor Paul von der münchener Universität in einer Rektoratsrede ausgesprochen. Auch hat man seit kurzer Zeit in einzelnen Anstalten solche Versuche gemacht, so in dem unter der Leitung des Dr. Prinzhorn stehenden Lyceum in Hannover. Aber es handelt sich bisher nur um ganz vereinzelte Versuche; immerhin auch wieder um ein „Experimentiren mit der Schule".
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niß zwischen Lehrern und Schülern muß allmählich freiere Formen annehmen: Vertrauen gegen Vertrauen muß hier die Losung sein. Fort mit den Entschuldigungzetteln für versäumte Unterrichtsstunden, die eines heranwachsenden jungen Mannes unwürdig sind! Man appellire an sein Ehrgefühl; und dieser Appell wird nur ganz selten getäuscht werden.
Am Schluß spricht Ostwald den Wunsch aus, daß eine Neugestaltung des Unterrichtes auch für ein mehr persönliches Verhältniß zwischen Lehrer und Schüler sorgen möge. Wer möchte ihm hierin nicht beistimmen? Er klagt, daß der jetzige Unterricht, schon in Folge der überfüllten Klassen, zu sehr Massen- (oder, wie er sich ausdrückt, Ramsch-) Arbeit ist, und fordert, daß er durch Einzelarbeit ersetzt werde. Das Ideal scheint ihm erreicht, wenn jeder Schüler sich der Führung eines selbstgewählten Lehrers anvertraut. Leicht bei einander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen! Wie er richtig sagt, „giebt es glücklicher Weise auch unter den jetzigen kümmerlichen Verhältnissen einzelne sieghafte Lehrerpersönlichkeiten, die ein solches Verhältniß (das der gegenseitigen Freude und Freundschaft) mit ihren Schülern entwickeln können". Eine bessere pädagogische Ausbildung der Lehrer müßte diese Eigenschaften zu entwickeln und sorgsam zu pflegen suchen. Das wäre eine dankbare Aufgabe für die Universität, die einen nach dem Lehramt Strebenden nicht zum Philologen, sondern zum Lehrer erziehen sollte. Ueber die Unvollkommenheiten der menschlichen Natur und der menschlichen Verhältnisse wird man freilich niemals ganz fortkommen. Jedenfalls aber wird man Ostwald Recht geben, wenn er verlangt, daß die Schule nicht Durchschnitts- und Schablonenmenschen erziehe, sondern Einzelmenschen, die auf ihrem eigenen Gebiet besonders Tüchtiges leisten. Im Sinn dieser Auffassung verlangt er auch die Beseitigung des Abiturientenexamens. Wir können nur hoffen, daß dieser alte Zopf bald abgeschnitten wird. Ostwalds temperamentvolle Schrift bringt viele gute Gedanken und fruchtbare Anregungen; aber auch Allerlei, das zu lebhaftem Widerspruch herausfordert. Daß dieser Widerspruch vernehmbar werde, ist dringend zu wünschen. Nur aus Rede und Gegenrede kann, der Schule und damit der Jugend zum Heil, die reine Wahrheit hervorgehen.
Braunschweig. Professor Dr. Richard Meyer.