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Berliner Schnellbahnkrieg.
Vor den Thoren Berlins breitet sich ein Kranz blühender Gemeinden aus, deren fortschreitende Entwickelung mit der hauptstädtischen gleichen Schritt hält, deren schnelles Wachsthum das der Hauptstadt hier und da noch übertrifft. Einige dieser Vororte sind binnen unglaublich kurzer Zeit zu Großstädten herangewachsen, die sich an Einwohnerzahl, an Umfang der sozialen und wissenschaftlichen Einrichtungen zu den ersten des Reiches zählen dürfen. Trotzdem find sie in Abhängigkeit von der Hauptstadt geblieben. Die Lösung von Berlin, die Selbständigkeit jeder einzelnen kommunalen Verwaltung hat wohl auf mancherlei Gebieten anerkennenswerthe Fortschritte bewirkt; aber in Kunst und Wissenschaft, Handel und Gewerbe, in Geselligkeit und Vergnügungen, in allen Zweigen geistiger und körperlicher Versorgung sind die Vororte nach wie vor auf Berlin angewiesen. Sie können auch ohne bequeme Bahnlinien, die sie der Centrale verbinden, nicht gedeihen. Nur Charlottenburg erfreut sich solcher Verbindungen. Sieben verschiedene Stationen der Stadt-, Ring- und Vorortbahn breiten sich über sein Gebiet aus. Auch die einzige Schnellbahn, die bisher in der Hauptstadt gebaut wurde, führt nach Charlottenburg und durchzieht mit insgesammt neun Bahnhöfen, in zwiefacher Richtung sich verzweigend, charlottenburger Gebiet. Die anderen Vororte müssen sich einen Schnellbahnverkehr erst schaffen und arbeiten alle mit Eifer an dieser schwierigen Aufgabe. Besonders ungünstig liegen die Verhältnisse für Wilmersdorf, die jüngste der westlichen Großstädte, deren Einwohnerzahl die erste Hunderttausend überschritten hat. Seine drei Ringbahnhöfe liegen hart an der Grenze des Weichbildes und sind nur einem Bruchtheil der Bewohner nützlich. Außerdem stößt Wilmersdorf an keiner Stelle unmittelbar an Berlin, sondern ist durch charlottenburger und schöneberger Gebiet von der Hauptstadt getrennt.
Um so freudiger ging deshalb Wilmersdorf auf ein Anerbieten der Hoch- und Untergrundbahn-Gesellschaft ein, die von ihrer Linie auf eigene Kosten ein
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Gleispaar durch charlottenburger Gebiet bis an die Wilmersdorfer Grenze legen wollte, wenn Wilmersdorf die Verpflichtung übernahm, die Bahn weiter zu bauen. Dieser Vorschlag entsprang den Verkehrs bedürfnissen der Hochbahn. Bekanntlich vereinen sich ihre beiden vom Centrum und vom Osten Berlins ausgehenden Linien im Gleisdreieck zu einem einzigen Schienenweg, der über Nollendorfplatz und Wittenbergplatz weiter nach Westen, nach Charlottenburg läuft. Auf dieser gemeinsamen Strecke hat der Verkehr sich allmählich so gesteigert, daß seine Bewältigung eben so wie die Betriebssicherheit auf dem Gleisdreieck für die Zukunft gefährdet erscheint. Die Auflösung des Gleisdreiecks und die Anlegung eines neuen Gleispaares, um die vom Osten und vom Centrum stammenden Züge getrennt bis zum Wittenbergplatz weiter zu führen, war deshalb für die Hochbahn ein unabweisbares Bedürfniß und zugleich eine dringende Forderung des Verkehrsministers. Um aber die hohen Kosten dieser Umbauten wieder einzubringen, mußte die Hochbahngesellschaft daran denken, das neue Gleispaar über den Wittenbergplatz hinaus in ein neues, aussichtreiches Verkehrsgebiet überzuleiten. An Charlottenburg, das schon versorgt war, konnte sie nicht denken. Schöneberg zeigte sich den Vorschlägen der Hochbahn nicht geneigt, weil es die finanziellen Grundlagen des angebotenen Vertrages nicht günstig genug fand und weil es für seine neue Linie den Anschluß am Nollendorfplatz suchte, während die Hochbahngesellschaft aus technischen Gründen auf dem Wittenbergplatz bestehen mußte. Wilmersdorf nahm die nicht leichten Bedingungen, die von der Hochbahn für den Bau und späteren Betrieb gestellt wurden, an, weil es die Schnellbahn braucht. Der Anschluß an die geplante schöneberger Linie erschien der wilmersdorfer Verwaltung nicht rathsam, weil diese Linie am Nollendorfplatz keine Fortsetzung auf der Stammbahn ins Centrum Berlins zuließ und eine Weiterführung nach anderen wichtigen Verkehrspunkten, etwa nach dem Bahnhof Friedrichstraße, in zu weiter Ferne lag.
So mußten beide Städte ihre Schnellbahnpläne getrennt betreiben. Beide bemühten sich, um den Verkehrswerth ihrer Linien zu erhöhen, eine Fortsetzung über das eigene Gebiet hinaus in zahlungfähige Gemeinden zu finden, und knüpften zu diesem Zweck ungefähr zur selben Zeit Verhandlungen mit dem Domänenfiskus an, der die Auftheilung und Besiedelung der Domäne Dahlem betreibt und dessen Interesse an einer Schnellbahnverbindung mit Berlin bekannt war. Die Auftheilungskommission wählte nach längerer Prüfung und Ueberlegung den Anschluß an die wilmersdorfer Bahn. Daß Schöneberg diese Entscheidung bedauerte, vielleicht auch für unklug hielt, ist begreiflich. Unbegreiflich aber, daß nach dem berechtigten, offenen Wettstreit Schöneberg einen Groll gegen den Nachbar hegte, der ihm den Wind aus den Segeln geblasen habe; unbegreiflich auch, daß seitdem ein großer Theil der berliner Zeitungen den Plan der wilmersdorf-dahlemer Schnellbahn bekämpft.
Der innere Werth des von der Hochbahngesellschaft, Wilmersdorf und Dahlem gemeinsam entworfenen Planes wurde durch die gegnerische Kritik freilich nicht vermindert. Die neue Bahn soll sich am Wittenbergplatz von der Stammlinie der Hochbahn abzweigen, zuerst die dicht bevölkerten Straßenviertel des Nürnberger Platzes, der Kaiserallee und des Hohenzollerndammes versorgen, dann ein von kapitalkräftigen Gesellschaften der Bebauung erschlossenes Hinterland durcheilen und endlich in das Gebiet von Dahlem umbiegen. Daß diese Bahnlinie nicht nur den Interessen zweier Vororte dient, sondern eine wichtige Verkehrsbereicherung für Groß
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Berlin bedeutet, daß sie den Südwesten, dem ausreichende Verbindungen noch fehlen, aufschließt und eine Fortsetzung nach Zehlendorf, Wannsee und anderen Gemeinden zuläßt: Das lehrt ein Blick auf die Karte. Dabei kann die Wichtigkeit der Verbindung von Berlin mit Dahlem gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Zwar hat Parteileidenschaft in den Zeitungen und Stadtparlamenten die Wirksamkeit der Auftheilungskommission von Dahlem lediglich als ein Terrainunternehmen zur Bereicherung des Fiskus hingestellt; in Wirklichkeit hat aber der Domänenfiskus hier höhereZiele. Viele wissenschaftliche Anstalten der Hauptstadt bedürfen der Erweiterung. Außerdem hat sich die Zahl der Aufgaben, die der Wissenschaft gestellt werden, erheblich vergrößert, so daß neuartige Schöpfungen nöthig sind. Zur Verwirklichung all dieser Forderungen findet man in Berlin den Boden gar nicht oder nur zu unerschwinglichen Preisen, so daß an Begründung neuer Niederlassungen oder Erweiterung der vorhandenen in der alten Gelehrtengegend gar nicht gedacht werden kann. Das Reich der Wissenschaft müßte zerstückt werden, wenn nicht ein weitblickender Geist im Kultusministerium dafür gesorgt hätte, daß auf fiskalischem Gebiet in Dahlem zu erschwinglichem Preis Boden für alle diese Anstalten zuhaben ist. Natürlich muß eine Schnellbahn ihren Verkehr mit der Hauptstadt vermitteln.
Den Plan, der alle wichtigen Verkehrsinteressen förderte, kann die Hochbahn nur mit Charlottenburgs Zustimmung ausführen, weil die Abzweigung von der Stammbahn am Wittenbergplatz bis zur wilmersdorfer Grenze, also eine Strecke von sechshundert Metern, auf charlottenburger Gebiet liegt. Charlottenburg erhob aber Einspruch und brachte, um ihn zu begründen, um den Wittenbergplatz und die Kleiststraße ein zweites Mal in Beschlag zu nehmen, plötzlich den Plan einer eigenen Schnellbahn ans Licht. Diese Bahn sollte vom Lietzensee ausgehen, nur charlottenburger Gebiet bis zum Nollendorfplatz berühren und, wie die wilmersdorfer Bahn, am Wittenbergplatz mit der alten charlottenburger Linie verbunden werden. Daß dieser Plan alle Spuren übereilter Arbeit an sich trug, kein neues Verkehrsgebiet aufschloß, keine lohnende Fortsetzung zuließ, daß sich insbesondere die neue Verkehrszone mit der alten der Hochbahn zum größten Theil deckt, erweist wieder ein Blick auf die Karte; im charlottenburger Stadtparlament und in vielen berliner Zeitungen wurde er dennoch als eine rettende That gepriesen.
Der Verkehrsminister versuchte eine gütliche Verständigung. Die von ihm im März 1909 einberufene Konferenz erreichte zwar eben so wenig wie die folgenden diesen Zweck, aber sie legte im Wesentlichen die Grundsätze, die der Minister bei der Anlegung neuer Schnellbahnen beachtet wissen will, fest. Eine Konzession soll nur für Bahnen zu haben sein, die neue Verkehrsgebiete aufschließen und nicht die Entwickelung schon bestehender gefährden. Der Minister zögerte nicht, der wilmersdorfer Bahn hiernach den größten Verkehrswerth zuzusprechen, während er den Vertretern Charlottenburgs anheimgab, für ihre Bahn, „wenn sie sie auch fernerhin für nothwendig erachten, eine andere Linienführung in Erwägung zu ziehen". Er schlage eine Bahn über den ganzen Kurfürstendamm nach Halensee vor. Trotzdem diese Anregung mehr an die Charlottenburger gerichtet war, nahm Wilmersdorf sie sofort auf und beschloß, neben seiner ersten Südwestlinie auch den Bau einer zweiten Westbahn über den ganzen Kurfürstendamm mit Fortsetzung nach Grunewald, Schmargendorf und dem westlichen Theil von Dahlem zu betreiben, wenn es dabei von den betheiligten Gemeinden unterstützt werde. Die drei zuletzt genannten waren
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dem Plan geneigt; Charlottenburg lehnte ihn ab: weil die Linie nicht rentabel sei. Selbst wenn diese Schätzung richtig sein sollte, brauchte sie noch nicht Zur Verwerfung der Westbahn zu führen. Wilmersdorf wenigstens baut seine Bahn nicht, um aus den Einnahmen Gewinn zu ziehen, sondern, weil es die Ausgestaltung der Verkehrswege für eine Hauptpflicht aller städtischen Verwaltungen von Groß-Berlin hält und obendrein weiß, daß durch die Verbesserung der Verkehrsmittel die Bebauung geordert, der Zuzug wohlhabender Mlether vermehrt und damit die Steuerlast der ganzen Gemeinde gehoben wird. Doch Charlottenburg blieb unzugänglich und der Plan der Kurfürstendammbahn mußte fallen. Eben so wenig Erfolg hatte der Zweite Vorschlag des Ministers: die wilmersdorfer Linie an der Uhlandstraße abzulenken und so dem charlottenburger Plan anzunähern. Wilmersdorf lehnte nach sorgfältiger Prüfung der gesammten Verhältnisse diesen Plan mit eingehender Begründung ab. Charlottenburg nahm überhaupt keine Stellung dazu.
Jetzt gab es also nur noch das wilmersdorfer Schnellbahnprojekt. Am sechsundzwanzigsten Juni 1909 verfügte der Minister, das Bauunternehmen Hochbahn-Wilmersdorf-Dahlem sei dem Kleinbahngesetz zu unterstellen. Nun konnte die Hochbahngesellschaft das Ergänzungverfahren einleiten und für die Strecke vom Wittenbergplatz nach dem Nürnberger Platz, die sie zu bauen hatte, die Einwilligung Charlottenburgs erzwingen. Der erste Akt des Dramas war beendet. Und Wilmersdorf durfte sich der frohen Erwartung hingeben, daß die Hochbahn, sein Bundesgenosse, der den Schnellbahnplan angeregt und entworfen hatte, die Fortführung mit dem selben Eifer wie bisher betreiben werde.
Der zweite Akt brachte eine Ueberraschung. Als Charlottenburg, dessen Ansprüche nach Verwerfung des eigenen Schnellbahnplanes wesentlich herabgestimmt waren, auf den letzten Einigungvorschlag des Ministers, zu dem es noch keine Erklärung abgegeben hatte, nach drei Monaten zurückgriff und sich bereit erklärte, die Führung der wilmersdorfer Bahn durch sein Gebiet zuzulassen, wenn sie durch die Uhlandstraße gehe, wies der Minister den Polizeipräsidenten an, die Bauerlaubniß für Wilmersdorf noch vier Wochen zurückzuhalten, damit für neue Einigungversuche Zeit bleibe. Wilmersdorf mußte sich, zumal neue sachliche Momente von keiner Seite geltend gemacht wurden, darauf beschränken, die ausführliche Begründung seiner früheren Ablehnung des Uhlandstraßenplanes zu wiederholen. Die städtischen Körperschaften erklärten sich immer noch bereit, an ihren beiden getrennten Bahnen, der Südwestlinie nach Dahlem und der Westlinie nach Halensee festzuhalten: erblickten aber in der mechanischen Zusammenziehung dieser beiden Linien zu einer einzigen, über die Uhlandstraße und das letzte Viertel des Kurfürstendammes laufenden, nur ein Verlegenheitprodukt, dem wichtige Vorzüge der beiden selbständigen Bahnen fehlen. Man war wohl auf diese Ablehnung gefaßt und hatte deshalb einen scheinbar neuen Vermittelungweg vorbereitet. Charlottenburg erkläre sich nämlich bereit, seine Straßen der wilmersdorfer Bahn zu öffnen, wenn sie nur nach dem Centrum Berlins führe; den Osten solle eine neue Linie (Kurfürftendamm bis zur Uhlandstraße) mit Charlottenburg verbinden. Danach hätte also Charlottenburg neben seiner bereits vorhandenen Untergrundbahn für das Kürfürstendammgebiet eine neue Verbindung mit dem Osten gewonnen. Wilmersdorf sollte, wie der neue Einigungvorschlag behauptete, über durchgehende Züge nach dem Centrum verfügen und nur auf die Züge nach dem Osten, auf die sein
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Vertrag mit der Hochbahn ihm ein Recht giebt, verzichten. Unter diesem Eindruck erklärte sich der Oberbürgermeister von Wilmersdorf bereit, den Einigungvorschlag dem Magistrat und den Stadtverordneten zu empfehlen. Dieses Versprechen hat er auch gehalten. Aber die beiden anderen wilmersdorfer Vertreter, in deren Händen die juristische und die technische Bearbeitung der Pläne lag, brachten ihre Bedenken zur Geltung und bewirkten die Ablehnung des Entwurfes, der sich nun, aus triftigen Gründen, auch der Oberbürgermeister anschloß.
Die geplante Neuanlage des Bahnhofs Wittenbergplatz, die der Kurfürstendammlinie die durchgehenden O-Züge verschafft, versetzt nämlich das wilmersdorfer Gleispaar in die Mitte zwischen die Schienen der alten charlottenburger Stammbahn und läßt es dort in einem Kehrgleis enden. Durch Weichen können dann allerdings die wilmersdorfer Züge auf dieser charlottenburger Bahn in das Centrum von Berlin weitergeführt werden; aber eben so leicht ist es möglich, die Züge auf dem Kehrgleis vom Bahnhof Wittenbergplatz wieder nach Wilmersdorf zurückzuführen. Dieses Hin- und Herpmdeln ist für die charlottenburger Züge und die der Kurfürstendammbahn, deren Gleise außen liegen und weiter nach Berlin führen, ausgeschlossen. Nun läßt sich heute schon voraussagen, daß nach höchstens zwei Jahrzehnten alle Züge vom Wittenbergplatz nach Berlin auf den zur Verfügung stehenden Schienenwegen nicht mehr weiter befördert werden können. Dann muß von drei Linien, die am Wittenbergplatz einmünden, eine jedenfalls die direkte Verbindung mit Berlin verlieren: und nach der Anlage des Bahnhofes kann es nur die wilmersdorfer Bahn sein. Alle Zusicherungen helfen nichts gegen die Macht der Thatsachen; man wird lieber ohne einen Pfennig Geld der inneren Linie die Durchgangszüge nehmen als durch einen viele Millionen verschlingenden Umbau eine der beiden Außenlinien abschneiden. Das sieht auch Professor Cauer in seinem Gutachten voraus. Jsts aber später so weit, können die wilmersdörfer Züge über den Wittenbergplatz hinaus nicht mehr befördert werden, haben nur charlottenburger Stammbahn und Kurfürstendammlinie noch durchgehenden Verkehr, dann wird man mit Recht hervorheben, daß der Ostverkehr für das reiche Kurfürstendammviertel keine allzu große Bedeutung habe, dann können, durch die einfache Anlage neuer Weichen, Kurfürstendammbahn und charlottenburger Linie so verbunden werden, daß beide Schienenwege nach Belieben durchgehenden Schnellbahnverkchr mit dem Centrum und dem Osten haben. Wilmersdorf hätte also viele Millionen umsonst geopfert. Die Hingabe ließ sich rechtfertigen, wenn man die neuen Ergänzungsgleise und damit die Sicherheit dauernd durchgehender Züge erwarb. So aber kämen die Riesensummen Charlottenburg zu Gut, dessen Verbindungen mit Berlin auf Kosten Wilmersdorfs verdoppelt wären.
Auch in Charlottenburg scheint man die angedeuteten Folgen dos Einigungverfahrens zu erkennen. Anfangs brachte die Stadtverordnetenversammlung dem Plan Mißtrauen entgegen, tadelte das ständige Zurückweichen Charlottenburgs und zeigte, trotz eindringlicher Ermahnung des Oberbürgermeisters, nur geringe Lust zur Annahme des Entwurfs. Eine Ausschußberathung, in der sich der Magistrat freier äußern konnte, änderte jedoch das Bild. Die Vorlage wurde in der Vollversammlung angenommen und am Schluß der Verhandlung drückte auch der ständige Referent dem Magistrat die Freude darüber aus, daß „das große, hoffnung- und
zukunftreiche Werk zum Abschluß gelangt sei". Das deutete nicht auf den Entschluß zur Nachgiebigkeit, sondern- auf das Vorgefühl glänzender Errungenschaften.
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Auch der Hochbahn mußte der Einigungentwurf erwünscht sein. Sie brauchte die Genehmigung Charlottenburgs zur Freigabe der Straße nicht zu erzwingen, wenn sich eine gütliche Einigung erzielen ließ. Niemand wird der Gesellschaft verargen, daß sie den Prozeß mit seinen Kosten und Lasten meiden wollte, wenn Das ohne Benachtheiligung des Verbündeten möglich war. Die Hochbahn hat den Vorwurf, Wilmersdorf im Stich gelassen zu haben, zurückgewiesen und betheuert, daß sie noch jetzt die Ausführung des ursprünglichen wilmersdorfer Entwurfes wünsche; sie glaube sich nur verpflichtet, auch alle anderen Wünsche und Vorschläge genau zu prüfen. Der Einigungentwurf, um den sichs jetzt handelt, war aber schon im Mai 1909 von der Hochbahngesellschaft dem juristischen Referenten Wilmersdorfs vorgelegt und von ihm, ohne daß sich die Techniker mit dem Plan zu befassen hatten, zurückgewiesen worden. Daß ein gleichartiger Entwurf sechs Monate später von Charlottenburg vorgelegt wurde, muß auffallen. Das Interesse der Hochbahngesellschaft an dem Entwurf erscheint aber verständlich, wenn man erwägt, daß er ihr erstens die Kosten des Ergänzungverfahrens erspart und zweitens ermöglicht, auf vier erweiterbaren Linien den Menschenstrom zwischen Wittenberg- und Nollendorfplatz der Hochbahn zuzuführen. Charlottenburg dringt nach Westend und der Jungfernhaide vor. Die Kurfürstendammbahn kann nicht ein Torso bleiben, sondern muß nach der einen oder anderen Richtung über die Uhlandstraße hinaus verlängert werden; zwischen Dahlem und den weiter entfernten Gemeinden schweben schon jetzt Unterhandlungen wegen des Anschlusses; das Selbe gilt für Schöneberg. Und diese Menschenschaaren würden künftig die Hochbahnhöfe vom Wittenbergplatz bis zum Potsdamer Platz Überfluthen und auf einer einzigen überladenen Karawanenstraße nach Berlin befördert werden. Daß diese Anhäufung jeder vernünftigen Verkehrspolitik widerspricht, ist klar. In der Märzkonferenz hatte der Vertreter Berlins vor jeder Abzweigung der Hochbahn gewarnt. Da aber neben dem alten Schienenweg in der Bülow- und Kleiststraße Ergänzungsgleise nöthig sind, die wieder eine Fortsetzung verlangen, so muß man dem Minister beistimmen, der damals sagte, nur eine der geplanten Bahnen, und zwar die wichtigste, die wilmersdorfer Linie, können ihren Betrieb mit der Stammbahn vereinen, während die anderen selbständig ihren Weg nach Berlin suchen müßten. Der Einigungentwurf aber stößt diese vom Minister selbst aufgestellten Grundsätze um und würde die künstige Regelung des Schnellbahnverkehrs von Groß-Berlin schädlich beeinflussen. Daß diese Anhäufung des Verkehrs, die Hineinzwängung der Fahrgäste in eine einzige Richtung auf die Dauer unmöglich ist, daß nach zwanzig Jahren eine Umgestaltung der Verhältnisse erfolgen muß, braucht die Hochbahngesellschaft nicht zu kümmern. Denn sie muß ihr Unternehmen im Jahr 1927 an die Gemeinden auf deren Verlangen abgeben und kann dann die Ablösungsumme nach den mächtig angeschwollenen Verkehrszahlen berechnen. Den Gemeinden aber bliebe später die Auflösung des Knotens unter hohen Kosten vorbehalten. Wilmersdorf hält an dem ursprünglichen Plan des Ministers fest, daß die Kurfürstendammbahn den Wittenbergplatz nur berühre und sich, wenigstens in Zukunft, mit der schöneberger Linie vereine, dieser dadurch die fehlende Lebensfähigkeit gewähre und mit ihr gemeinsam auf neuem Weg das Innere Berlins aussuche.
Wilmersdorf muß aber auch darauf bestehen, daß die Kurfürstendammbahn, die nach dem Entwurf in der Uhlandstraße enden soll, auch wirklich den ganzen
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Kurfürftendamm durchläuft. Das Ministerium selbst bezeichnet die jetzt vorgesehene Strecke des Kurfürstendammes als „Anfangsstück einer Schnellbahn, deren Fortsetzung nach Halensee und Schmargendorf kaum in Zweifel zu ziehen ist". Weshalb soll dann die Weiterführung nicht wenigstens im Prinzip mit Charlottenburg vereinbart und die Kostenbetheiligung grundsätzlich festgesetzt werden? Etwa, weil Charlottenburg die Bahn in sein Weichbild ablenken will?
Das Ergebniß all dieser Erwägung war, daß Wilmersdorf den Einigungentwurf ablehnte. Die Frist von vier Wochen war somit wieder ergebnißlos verstrichen; und der Minister mußte Wilmersdorf die zugesagte Bauerlaubniß für die Bahn innerhalb seines Weichbildes gewähren. Er hat in einem offiziösen Artikel aber auch die Wilmersdorfer getadelt, weil sie „in einseitiger Interessenvertretung die Ausgestaltung eines Schnellbahnnetzes gehemmt und aufgehalten" haben. Der Tadel ist nicht gerecht. Die Gründe, die Wilmersdorf zur Ablehnung des Entwurfes bestimmten, sind dem Polizeipräsidium, dem Beauftragten des Verkehrsministers, sofort mitgetheilt worden. Trotzdem beschränkt sich die ministerielle Kundgebung auf die kurze Angabe, daß Wilmersdorf nicht das geringfügige Opfer bringen wollte, auf durchgehende Ostzüge zu verzichten. Daß Wilmersdorf fürchten muß, später auch die Durchgangszüge nach dem Centrum zu verlieren und die eigene Bahn zum Pendelverkehr herabgedrückt zu sehen, daß Wilmersdorf die Fortsetzung der Kurfürstendammlinie über die Uhlandstraße hinaus bis nach Halensee für gefährdet hält, daß es ferner im Interesse von Groß-Berlin die unglückliche Bahnhofsanlage am Wittenbergplatz und die gesammte Überlastung mißbilligt, wird in dieser Kundgebung nicht erwähnt. Solche Unterlassung könnte schon dem Gegner nicht verziehen werden; bei Dem, der sich zum Richter berufen fühlt, muß sie als unverantwortlich bezeichnet werden. Wilmersdorf wird sich aber durch solche Zeichen des Grolles, die wohl auf übereifrige Räthe zurückzuführen sind, nicht beirren lassen und von der ihm ertheilten Bauerlaubniß erst Gebrauch machen, wenn die Bahnhofsanlage am Wittenbergplatz so geplant ist, wie sie den Verkehrsinteressen von Groß-Berlin entspricht. Von diesem Standpunkt aus wird es alle neuen Einigungvorschläge prüfen; eigene Entwürfe, die diesen Forderungen gerecht werden, hat es den Behörden und der Nachbargemeinde vorgelegt. Wilmersdorf glaubt sich zur Standhaftigkeit verpflichtet; nicht, weil sein Interesse sich mit dem des Domänenfiskus deckt, sondern, weil gegen den Verkehrswerth seiner Bahn in keiner Phase des Streites haltbare Bedenken vorgebracht worden sind.
Wenn es ein Verkehrsparlament von Groß-Berlin gäbe, dem die Ausgestaltung des Schnellbahnnetzes der Hauptstadt und ihrer Vororte obläge, dann würde ein einzelner Bezirk, zumal ein solcher, der, wie Charlottenburg, bereits über ausgezeichnete Schnellbahnverbindung verfügt, kaum gewagt haben, ein Bahnunternehmen von so weittragender Bedeutung wie das wilmersdorfer deshalb zu befehden, weil der unterirdische Schienenweg an einer Stelle seine Bezirksgrenzen überschreitet. Der Versuch, das allgemeine Verkehrsinteresse dem engherzigen Anspruch auf Straßenland zu opfern, wäre von allgemeinem Unwillen zurückgewiesen worden. Wilmersdorf hegt nur den einen Wunsch, die Entwickelung der Spruchbehörden so gefällt zu sehen, wie wenn es kein Wilmersdorf und kein Charlottenburg gäbe, sondern ein einheitlich verwaltetes Gross-Berlin.
Wilmersdorf. Dr. Georg Heinitz.