235 - Paul Scheerbart - 1910
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Die Entwickelung des Luftmilitarismus und die Auflösung der europäischen Landheere, Festungen und Seeflotten.
Eine Flugschrift.
Die Schnelligkeit der Entwicklung unserer technischen Kultur kommt uns meist wie etwas Verblüffendes, Unerwartetes vor. Und wir haben doch eigentlich gar keine Ursache, über diese Schnelligkeit so sehr erstaunt zu sein. Wir hätten uns im Lauf des vorigen Jahrhunderts an diese Schnelligkeit gewöhnen können. Was heute kommt, bildet nur den Schlußstein der ganzen technischen Kulturentwickelung. Wir vergessen immer wieder, daß vor hundert Jahren noch Niemand eine Ahnung hatte von dem ungeheuren Einfluß der Dampfmaschinen und der elektrischen Maschinen. Großstädte in unserem Sinn gabs damals noch gar nicht. Und auch der Militarismus sah vor hundert Jahren noch nicht so aus, wie wirs heute schon so gewöhnt sind; einen Volksmilitarismus gabs vor hundert Jahren noch nicht. Ich habe versucht, in meiner Flugschrift nachzuweisen, daß dieser Volksmilitarismus nicht mehr drei Jahre bestehen wird. Man wird mirs nicht glauben wollen. Das begreife ich. Aber unbegreiflich fände ichs, wenn man meine Flugschrift nicht lesen würde. Sie zeigt, daß die Schnelligkeit unserer technischen Kulturentwickelung durch die lenkbare Luftschiffahrt ihren Höhepunkt erreicht hat — und daß wir uns eigentlich nicht darüber wundern dürfen: die schnellen Entwickelungen im vorigen Jahrhundert hätten uns vorbereiten sollen. Die Lenkbaren setzen uns in die Lage, Kriege nur noch mit Dynamit zu führen. Die Schußwaffen sind veraltet. Dynamit, vom Lenkbaren heruntergeworfen, kann unsere großen Städte schnell in Schutthaufen verwandeln und die Seeflotten können auch durch das Dynamit, das von oben kommt, sehr rasch in die Tiefe gesenkt werden. Festungen sind plötzlich werthlos, denn dem „fliegenden" Feinde bieten sie kein Hinderniß. Die Haupt-Zukunftwaffe ist aber das lenkbare Lufttorpedo. Jedes Torpedo läßt sich auf einen unbemannten Gleitflieger legen, der Motor ist in Bewegung zu setzen, das Torpedo fliegt dahin und läßt sich von der Gondel des Lenkbaren oder von einem höheren Punkt aus durch drahtlose Telegraphie so lenken, daß es sein Ziel trifft. Gegen diese geflügelten Waffen sind die Schußwaffen werthlos. Nun darf aber die Umrüstung heute nicht so langsam arrangirt werden wie nach Erfindung des Pulvers. Damals gabs noch zwei Jahrhunderte hindurch Turniere mit Schild und Lanze, obwohl Pulver und Blei viel schneller wirkten. Heute muß die Umrüstung schneller gehen, schon weil der Luftmilitarismus viel billiger ist. Ich bitte, meine Flugschrift zu lesen. Sie ist keine Satire und nichts Literarisches.
Friedenau. Paul Scheerbart.
183 - Die lenkbare Flugwaffe. (Berlin, den 10. Februar 1912)
Die lenkbare Flugwaffe.
Wir sind heute daran gewöhnt, auf allen Gebieten immer wieder ein Unbegreifliches zu entdecken. Selbst eine scheinbar so einfache Sache wie die Mechanik führt uns eine ganze Reihe von Unbegreiflichkeiten vor; und es giebt schon sehr viele Physiker, die behaupten, daß es uns Menschen gar nicht gegeben ist, Naturgesetze zu erkennen und zu formuliren. Geht man aber vom physischen auf das psychische Gebiet über, dann wird das Reich des Unverständlichen so groß, daß man erschrecken muß.
Ich möchte hier nur einen speziellen Fall näher untersuchen: den einer psychischen Massenerkrankung. (Wir wollen nicht gleich von einem Massenwahnsinn sprechen, wie er in der Zeit von Kriegen, Revolutionen und Seuchen wahrnehmbar ist.) In den letzten Jahren sind sehr viele Abhandlungen und utopische Romane erschienen, die sich mit der lenkbaren Luftschiffahrt und ihrem Werth für die moderne Kriegführung beschäftigen. Der Luftmilitarismus ist ein Hauptthema unserer Tagespresse geworden. Man hat auch auf seine Gefahren hingewiesen und gezeigt, daß eine aus dem Luftschiff geworfene Dynamitmenge unsere ganze Kultur vernichten müsse. Jedenfalls macht der Luftmilitarismus den Land- und Seemilitarismus „überflüssig". Die Festungen sind entwerthet; die feindliche Luftflotte kann ihnen ausbiegen
184 - Die Zukunft.
oder sie überfliegen und dann die Hauptstädte mit Dynamit überschütten. Gegen diesen Luftangriff ist Land- und Seemilitarismus machtlos. Müßte man nun nicht an die Beseitigung dieser unnützen Dinge denken? Man denkt aber nicht daran. Und daß man nicht daran denkt: diese verblüffende „Gedankenlosigkeit" führe ich auf eine psychische Massenerkrankung zurück. Man hält die Entwerthung von Heer und Flotte für etwas so Ungeheuerliches, daß man den Gedanken nicht zu Ende zu denken wagt. Und dabei ist die Geschichte so schrecklich einfach, daß man über dieses feige Zaudern des Denkvermögens staunen muß. Wer hält denn in unserem Erdenleben einen unbrauchbar gewordenen Gegenstand mit großen Kosten in Stand, wenn er einen Ersatz hat der hundertmal besser und billiger ist? Wir können doch nicht Heer und Marine mit Riesenkosten weiter ausbilden und mit Zärtlichkeit pflegen, trotzdem wir wissen, daß zweihundertsechzig flotte Aeroplane hundertmal schneller und stärker wirken als eine Armee von drei Millionen Land- und Seesoldaten. Die können den Aeroplanen kaum gefährlich werden; die Flieger aber können in ein paar Stunden die Hauptstädte des feindlichen Landes in Trümmerhaufen verwandeln. Kein Kirchthurm bleibt stehen. Und alle Staatsgebäude können das herunterfallende Dynamit nicht abwehren. Die Thatsache, daß man die jetzt noch in Europa und Amerika nutzlos vergeudeten Milliarden nicht lieber für den Luftflottenbau verwendet, scheint mir nur durch eine Massenpsychose erklärlich. Darüber müßte man Neurologen und Psychiater hören.
Wir haben heute ja schon eine „lenkbare" Flugwaffe. Wir sind nicht mehr darauf angewiesen, das Dynamit vom Luftschiff aus hinunterzuwerfen. Wir können einen Torpedo auf einen Aeroplan legen, der dann, ohne Draht, von einer Wellensendestation aus gelenkt wird. Die Station kann auch auf einem lenkbaren Luftschiff sein. Will man noch mehr haben? Die Kriegführer brauchen ihr Dynamit nicht mehr zu verschwenden; sie können sparsam damit nmgehen. Ists da nicht Wahnsinn, für Kriegsschiffe, Kasernen, Soldaten, Matrosen immer neue Millionen auszugeben?
Die Firma Wirth, Beck & Knauß in Nürnberg besitzt einen Wellenfernschalter, mit dem sie ein zehn Meter langes Elektromotorboot ohne Bemannung drahtlos lenken kann. Ferner einen Drachenflieger, der ohne Draht und ohne Mannschaft zu lenken ist. Das Boot haben einzelne Reichstagsmitglieder gesehen; es fuhr im Kreis herum, ließ sich nach rechts und links steuern, stoppte und fuhr sogar rückwärts, Künftig kann man also unbemannte Luft- und Wasserfahrzeuge nach freiem Willen lenken. Und da begnügen wir uns mit der Förderung des Landheeres nnd der Marine? Mir scheint, wir müßten die ganze Kraft der Finanz und Technik aufbieten, um uns für den möglichen Luftkrieg zu rüsten und die Mächte zu überholen, die diese Nothwendigkeit früher als wir erkannt haben.
Großlichterfelde. Paul Scheerbart.
362 - Die Zukunft.
Drei Briefe.
I. Der Aufsatz, den Herr Paul Scheerbart hier neulich über den Luftkrieg veröffentlichte, war der Anlaß zu dem Brief eines Technikers:
Es ist ein Urtrieb in allen Menschen, jedes Ding, das einen von ihnen erkannten Zweck hat, diesem Zweck zuzuführen, auch dann, wenn ein neuer, zunächst nur als Möglichkeit auftauchender Zweck gefunden ist. Das Kind, das ein Messer liegen sieht, wird bald anfangen, damit zu schneiden, und wir können beobachten, daß ein Erwachsener, der einen Bleistist in der Hand hält, auch wenn er nicht die Absicht hat, zu schreiben, bald zu kritzeln und zu zeichnen anfängt. Der Soldatenberuf fordert, im gewissen Sinn, eine Niederkämpfung dieses Triebes; denn der Offizier und der Soldat bereiten sich immer auf einen Zweck vor, ohne ihn vielleicht jemals erfüllen zu können. Dieser im Militär gebändigte Trieb hat eine Spannung erzeugt, die in unseren Tagen sich manchmal dem rothen Strich am Manometer der Politik nähert; und nicht immer weiß man, ob das alte Ventil der Diplomatie zur Beseitigung der Gefahr ausreicht. Diese Spannung ist der eines Knaben vergleichbar, der Tage lang an einem Segelschiffchen arbeitet und keine Möglichkeit sieht, es wirklich schwimmen und segeln zu lassen. Daher das emsige Streben, die Errungenschaften der Flugtechnik und Luftschiffahrt der Kriegstechnik nutzbar zu machen. In ruhigeren Zeiten mit ausreichender Kühlung der politischen Maschine hätte man vielleicht nicht halb so viel kriegstechnische Pläne auf die Erfolge der Luftschiffahrt gebaut, auch wenn man damals im Besitz aller Erfahrung gewesen wäre. Die Sehnsucht, nach jedem technischen Fortschritt etwas für den Krieg Brauchbares zu erlangen, führt leicht in Ueberschätzung des gesuchten Werthes. Wenn man die mit Wirths Fernlenkboot gemachten Erfahrungen mit dem Aeroplan kombinirt, so kann man sehr schnell beim lenkbaren Lufttorpedo ankommen. Die dichterische Phantasie eilt dann der technischen Kritik voraus und hat in Gedanken schon Städte und Festungen vernichtet. Ist der Dichtergeist müde wieder nach Haus gekommen, dann steht wohl sein ruhiger Bruder, die technische Kritik, auf und ein ganz neues Bild wird von ihm unserem Auge enthüllt. Was beim Fernlenkboot, dessen Bewegung geometrisch auf eine Fläche festgelegt ist, möglich wäre, wird beim lenkbaren Lufttorpedo zu einem ganz neuen und sehr schwer lösbaren Problem. Das Lufttorpedo bewegt sich im Raum und man muß hier praktisch etwa drei Bewegunggruppen unter Kontrole halten, während vom Fernlenkboot aus nur eine Gruppe von Bewegungen beherrscht zu werden braucht. Außerdem hat das Lenken aus der Entfernung, durch drahtlose Wellen, nur so lange einen Sinn, wie man das gelenkte Fahrzeug oder Flugzeug im Auge behält und ungefähr seine Lage kennt. Sonst fährt man, nach dem schönen Bild, wirklich nur mit der Stange im Nebel herum. Aber beim lenkbaren Lufttorpedo kommen noch ganz andere Schwierigkeiten hinzu.
363 - Drei Briefe.
Nehmen wir einen praktischen Fall. Wir sind dreißig Kilometer von einer Stadt, die wir mit lenkbaren Lufttorpedos vernichten wollen. Die Torpedos werden natürlich mit den Wellen der drahtlosen Telegraphie gesteuert. Wenn wir eine energische Wirkung erzielen wollen, müssen wir bei einer Stadt von der Größe Münchens immerhin mindestens 100 bis 150 Torpedos fliegen lassen; sollen alle zu gleicher Zeit fliegen, so müßten wir 15O Sendestationen für drahtlose Telegraphie aufstellen, alle von verschiedener Wellenlänge, damit jedes Lufttorpedo getrennt, für sich, gesteuert werden kann, was unbedingt nothwendig ist. Das sind schon schwierige Vorbereitungen. Lassen wir aber die Torpedos in Gruppen von zehn abfliegen, wobei wir immer noch zehn Sendestationen brauchen, so kann die nächstfolgende Gruppe immer erst losfliegen, wenn die vorausgegangene ihre Aufgabe bewältigt hat; denn sonst kommen die drahtlosen Kommandos in Konflikt mit einander. Wenn die Torpedos die dreißig Kilometer lange Strecke in zehn Minuten zurücklegen (was die ungemeine Geschwindigkeit von 180 Kilometern in der Stunde bedeutet), so würden wir mehr als zwei Stunden brauchen, um die 150 Lufttorpedos an den Bestimmungort zu bringen. In dieser Zeit könnte zu Land gegen diese Sendestationen von Lufttorpedos ein erfolgreicher Angriff ausgeführt werden. Die Möglichkeit, Lufttorpedos zu verwenden, wäre also von einer gut vertheidigten Absendestation abhängig; und mit Aeroplanen allein wird sich diese Sendestation nicht vertheidigen lassen. Auch die Aeroplane müssen, um ihren Benzinvorrath zu erneuern, immer wieder die Erde aufsuchen, bedürfen also einer vom Land her vertheidigten Basis. Man darf nie vergessen, daß eine Luftflotte, besonders, wenn sie aus Aeroplanen besteht, nur wenige Stunden in ihrem Element bleiben kann und dann auf die Erde zurückkehren muß; sie ist also von befestigten und gut vertheidigten Stellungen auf dem festen Land abhängig. Die Luftkriegutopisten vergessen diese Abhängigkeit der Luftwaffe von der Erde. Die Besiegung einer Kulturnation durch Luftwaffen würde voraussetzen, daß die Flugzeuge sich Wochen lang in der Luft halten können. Und schon (Das sei hier verrathen) giebt es eine Konstruktion die alle Angriffe lenkbarer Luftschiffe, Lufttorpedos und Aeroplane wirksam abwehren kann.