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Die Grammatik.

11 - Die Grammatik.

Schon Fritz Mauthner hatte die Grammatik abgethan und gezeigt, daß es in Wirklichkeit weder Substantiva noch Adjektiva gebe. Die Sprache ist kein Erkenntnißmittel, sondern nur eine Hirnfunktion, ein thierisches Organ. Schon lange hat man erkannt, daß es im Geistesleben der Menschen Vieles giebt, wofür die Sprache keine Ausdrucksmittel hat, das daher im Gesang und in den Künsten der Form und Farbe ausgesprochen wird. Aber auch die Chemiker haben Methoden und Ergebnisse, die sie, statt in Worten der Umgangssprache, in Formeln ausdrücken müssen. Die Sprache hat aufgehört, an manche Thatsächlichkeiten noch erinnern zu können. Wort und Begriffe sind nur Erinnerungen, Versuche einer Annäherung an die Wirklichkeitwelt; und so sind auch die Sprachformen ohne jede Beziehung zu irgendwelcher Wirklichkeit, nur ein Werkzeug, ein wundervolles Werkzeug, ein Unsagbares ahnen zu lassen. Aber die Kasusformen, die Modi, Zeiten, der Satzbau, Alles, was die Grammatik ausmacht, hat Mauthner in ihrer Hohlheit, Sinnlosigkeit und Nichtigkeit erwiesen. Es giebt thatsächlich keine Logik der Sprachen, sondern höchstens eine Logik der Sprachwissenschaft.

Jetzt hat durch eine Selbstanzeige in der „Zukunft" Max Kleinschmidt, Oberlehrer an der Realschule in Rostock, auf seine Schrift „Grammatik und Wissenschaft, eine psychiatrische Studie", aufmerksam gemacht. (Hannover, Dr. Max Jäneckes Verlag.) Er versprach, darin mit wissenschaftlich unabweisbaren Gründen die Unhaltbarleit des in unseren Schulgrammatiken vertretenen Lehrprinzipes zu erweisen. Ziel und Ergebniß seiner Arbeit hatten für mich nichts Erschreckendes und Befremdliches. Ich kannte Mauthner und hatte selbst in vieljähriger Beobachtung eine sehr geringe Meinung von dem wissenschaftlichen Werth unserer Grammatiken und des daran geknüpften gesammten sprachlichen Lehrverfahrens gewonnen; aber der Weg, auf dem Kleinschmidt zu seinem Urtheil gelangt, lockte mich, ihm zu folgen.

Die streng logische Beweisführung in dieser kleinen Abhandlung hat etwas Zwingendes, geradezu Beängstigendes. Hier wird das Denken in eiserne Zucht genommen; kein überflüssiges Wort, keine willkürliche Abschweifung, kein möglicher Zweifel, kein Bedenken wird dem Leser gestattet: er hat sich seinem Führer unterzuordnen, ihm auf jede Frage klipp und klar mit Ja oder Nein zu antworten. Seine Einwendungen werden ihm im Voraus abgeschnitten, die Kritik wird gegen alle seine Behauptungen selbst geführt und abgewiesen, so daß man am Schluß vor der Entscheidung steht, entweder sich selbst für einen Verblendeten und zu gesundem Denken Unfähigen zu halten oder Methode und Ergebnis des Führers ohne jede Einschränkung als richtig anzuerkennen.

Vor diesem unerbittlichen Denker, der auch mit Descartes und Kant

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scharf ins Gericht geht, bekenne ich, nicht bestehen zu können; ich bin aber mißtrauisch gegen ihn, gerade deshalb, weil er seines Weges gar so sicher ist. Beim Verfolgen seiner Beweisgründe und bei seinem Pochen auf die untrügliche Verläßlichkeit seines Verstandes und seines logischen Denkens wurde ich lebhaft an die Worte erinnert, die ich selbst, noch als Student aus des feinen Lotze Mund vernahm: „Meine Herren", sagte er, „zu wissenschaftlichen Erkenntnissen gelangen wir nur sprungweise; wir sitzen, um ein Bild zu gebrauchen, draußen auf einem kleinen Aestchen eines mächtigen Baumes. Von Zeit zu Zeit gestattet uns ein Windstoß den flüchtigen Blick auf den Stamm des Baumes, den ich im Bilde als die Wahrheit bezeichnen möchte. Aber die Herren Logiker bilden sich ein, sie könnten auf der breiten Straße der Logik auf das Ziel losfahren wie auf einer wohl chaussirten Straße."

Ich bin nicht Philosoph genug und fühle mich nicht dazu berufen, Kleinschmidts tief angelegte und weit ausgreifende Studien zu prüfen, die auch die Mechanik des Denkens und die Beweise der Mathematik in sich einschließen. Ich mißtraue vorläufig nur einer Logik, die zu dem Ergebniß kommt, daß „die Existenz eines dreieinigen Gottes mit der selben strengen Allgemeingiltigkeit bewiesen werden kann wie nur irgendein geometrischer Satz". Indem ich Das bestreite, verfalle ich allerdings seiner Bewerthung als „steriler Alltagskopf, bei dem leere Worte die fehlenden Begriffe ersetzen müssen und der daher zu jeder subtileren Gedankenoperation unfähig ist, auch durch kein Gefühl der Scham oder der Verantwortlichkeit mehr zurückgehalten wird, sich öffentlich über Dinge zu äußern, von denen er nicht das Mindeste versteht."

Der selbe strenge Kritiker verfährt auch mit Kant deshalb wenig säuberlich, weil er die Unmöglichkeit einer positiven wissenschaftlichen Metaphysik erwiesen zu haben glaubte: Das sei eben so windig wie die ontologischen, kosmologischen und teleologischen Beweise der Existenz Gottes, deren Nichtigkeit Kant aufgedeckt habe. Doch ist die Existenz Gottes selbst wissenschaftlich noch nie erwiesen worden; die Gottes-Sohnschaft ist eine theologische Hypothese, die vor der Wissenschaft einen schweren Stand hat; und vollends mit dem Heiligen Geist weiß ich neben Gott nicht das Geringste anzufangen. Aber ich bescheids mich zunächst. Der Beweis in seiner strengen Allgemeingiltigkeit wird uns erst für später in Aussicht gestellt. So lange er nicht vorliegt, dürfen wir beim Zweifel beharren. „Phrasen", wird mir Kleinschmidt entgegenhalten, „sind keine Beweise." Gewiß nicht. Ich will auch gar nichts beweisen: ich will mir nur das Recht des Zweifels einem Schriftsteller gegenüber wahren, der selbst mit so starkem kritischen Verstand ausgerüstet ist.

Hauptaufgabe seiner Schrift ist, den herrschenden grammatischen Unterricht als Produkt pathologischen Denkens zu erweisen, das eine systematische Desorganisation der jugendlichen Gehirne herbeiführe. Die Grammatiker ignoriren

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nach seiner Meinung das wesentliche Element der Sprache, vermutlich, weil sie nicht wissen, worin das Wesen der Sprache besteht; deshalb sei der praktische Werth ihrer Bücher gleich Null. Daraus ergebe sich mit Notwendigkeit die Forderung, den grammatischen Unterricht, der, praktisch werthlos, die geistige Gesundheit der Schüler direkt schädige, sofort zu sistiren und zwar auch dann, wenn nicht die geringste Aussicht vorhanden wäre, ihn durch eine andere Disziplin zu ersetzen. „Ich halte für ausgeschlossen", sagt er am Schluß der Abhandlung, „daß die Behörden die Fortsetzung dieses Unterrichtes gestatten werden. Der bloße Zweifel, daß die maßgebenden Stellen auch nur einen Augenblick zwischen sachlichen und persönlichen Erwägungen schwanken könnten, würde eine schwere Beleidigung für sie bedeuten." Er schließt mit der Prophezeiung: „Binnen Jahresfrist wird an deutschen Schulen kein Unterricht im pathologischen Denken mehr ertheilt werden." Als pathologisches Denken aber, als eine Art Paranoia bezeichnet er und sucht er zu erweisen den Geisteszustand, der die Gelehrten zur Aufstellung ihrer grammatischen „Wahnsysteme" verleite. Der grammatische Unterricht sei nichts Anderes als eine psychische Infektion, durch die eine schon durch ihr Alter moralisch und geistig schwächere Jugend von überlegenen Menschen zur Vornahme pathologischer Denkoperationen gezwungen wird. Der wahnbildende heterogene Komplex werde so früh und mit Aufgebot so wirksamer pädagogischer Künste erzeugt, daß ein Gehirn schon ungewöhnlich günstig organisirt sein müsse, um ohne erhebliche Schädigung aus diesem Unterricht hervorzugehen. Es bleibe von diesem Unterricht nach Verlassen der Schule den Meisten auch nicht mehr als eine dunkle Erinnerung an eine unverständliche, unsinnige und zwecklose Plackerei. Die Schüler, die später mit Grammatik nichts zu thun haben, hätten Aussicht, ihr gesundes Denken wieder zu erlangen. Alle aber, bei denen die Grammatik durch fortgesetzte Anwendung ein integrirender Bestandtheil ihrer ganzen Persönlichkeit werde, verfallen einer Krankheitenwickelung, die jeden Versuch einer Belehrung als persönlichen Angriff empfindet und zurückweist. Das wäre das Bild der Berufsgrammatiker in unseren Schulen. Diese hätten es glücklich fertig gebracht, auch klare und einfache Verhältnisse so schwierig und verworren zu gestalten, daß sich kein Mensch mehr darin zurechtfinden könne, die Grammatiker selbst eben so wenig wie die Lehrer, die nach ihren Büchern unterrichten, oder die Schüler, die dadurch an wissenschaftliches Denken gewöhnt werden sollen. Statt ein Schema der Beziehungen aufzustellen und den Ausdruck dieser Beziehungen mit den in einer bestimmten Sprache gegebenen Mitteln einzuüben, greife man eine durch Traditionen festgelegte Anzahl von Kombinationen zwischen Grund- und Beziehungelementen heraus, stelle diese in einer ebenfalls traditionell festgelegten Weise zusammen und lasse diese Reihen auswendig lernen. Solcher Unterricht bedeute eine systematische Desorganisation jugendlicher Ge-

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hirne, sei geradezu Gift für sie und erkläre die Konfusion ihrer Köpfe in Permanenz. Die Folge der auf diese Weise erzeugten geistigen Erkrankung sei Unfähigkeit zum zweckmäßigen Handeln und erstrecke sich auf alle Erscheinungen, die mit der Auffassung der Kranken vom Wesen der Sprache in irgendwelchem Zusammenhang stehen, in erster Linie also auf den Sprachunterricht, einerlei, ob in der Muttersprache oder in einer fremden. Da die Grammatiken selbst nicht Erzeugnisse und Vorbilder wissenschaftlichen Denkens seien, deshalb auch nicht an richtiges und selbständiges Denken gewöhnen können, so richten sie nach seiner Meinung überhaupt nur Schaden an. Er erinnert an den Spott Pauls de Lagarde, daß Kardinal Mezzofanti in achtundfünfzig Sprachen nichts zu sagen gewußt habe, und sagt selbst sehr zutreffend, daß eine Banalität dadurch nicht geistvoller wird, daß man sie in sechs Sprachen ausdrücken kann.

Ich stimme mit ihm in der tiefen Bewerthung des grammatischen Unterrichtes vollständig überein; nicht sowohl auf Grund streng wissenschaftlicher Untersuchungen als auf Grund der Beobachtung, daß die Grammatiken mit ihren Regeln dem Wesen der Sache nie auf den Grund kommen, daß sie mit ihren zahlreichen Ausnahmen den Sinn ihrer Regeln immer wieder selbst zerstören und daß es bei der Anwendung dieser Regeln nicht auf Verstand, sondern auf Gedächtniß ankommt, auf gewisse rein äußerliche Fertigkeiten und Kombinirfähigkeiten, für die man im täglichen Leben keine Verwendung wieder findet. Ich habe tüchtige Grammatiker kennen gelernt, deren geistiges Niveau erschreckend niedrig war. Ich sah auch unter den Schülern oft die unfähigsten gerade in der Grammatik glänzen. Mir sind die Grammatiker immer deshalb verdächtig gewesen, weil ihnen das Wesentlichste fehlte: die eigene Anschauung. Deshalb gefällt mir, was Kleinschmidt über die Analyse der Sprache vorträgt.

Der Sprachunterricht wendet sich ans Gehör und ist deshalb den Kindern viel schwieriger als aller Unterricht, der sich an das Auge wendet. Das weiß ich aus Beobachtung am lebenden Objekt. Hier wird es uns als Ergebniß streng wissenschaftlicher Untersuchung vorgefühlt. Nach Aschaffenburgs statistischen Aufnahmen schwanken die akustischen Assoziationen beim gesunden Menschen zwischen 2 und 4 Prozent, während sie bei manchen Geisteskranken, so bei manischen Kranken, von 32 bis auf 100 Prozent hinaufgehen. Kleinschmidt betont sehr richtig, daß in dem ersten Kindesalter die Beobachtung hauptsächlich von Gesichtsempfindungen ausgeht und daß auch im späteren Leben diese Gesichtsempfindungen (die Anschauungen) die Hauptgrundlage unseres Denkens bilden. Daher sei auch die Sprache fast ausschließlich der Ausdruck optischen Denkens. Aus dieser Erkenntniß heraus habe ich seit Jahren schon eine starke Steigerung des optischen Unterrichtes, um mich so auszudrücken, im Gegensatz zu dem akustischen empfohlen; auf dem Philologentage in Hamburg zum Entsetzen der überzeugten Grammatiker gefordert, daß eine völlige Umkehr des Lehr-

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verfahrens geschaffen werde. Jetzt kommen auf achtzehn Sprachstunden zwei Zeichenstunden; der Jugend wäre besser gedient, wenn sie achtzehn Stunden zeichnete und zwei Stunden Grammatik triebe. Bei Geisteskranken schwindet das optische gesunde Denken in dem selben Grade, wie die akustischen Assoziationen hervortreten. Schließlich lallen sie nur noch, wie kleine Kinder.

Aus den anerkanntesten Grammatiken der in unseren Schulen gelehrten Sprachen, auch der deutschen, bringt Kleinschmidt Beweise des falschen Denkens herbei. Diese Beweise sind so überzeugend, daß man sie nur zu wiederholen braucht, um allgemeiner Zustimmung gewiß zu sein. Von den Schülern wird, zum Beispiel, schon im Elementarunterricht verlangt, daß sie die einzelnen Wortarten unterscheiden lernen. Kleinschmidt ist aber mit Recht der Meinung, daß es wenige Grammatiker oder Lehrer geben dürfte, die im Stande sind, zu sagen, was ein Substantiv, ein Berdum oder Adjektiv eigentlich ist. Nach Meyers Konservationlexikon ist das Substantiv die Bezeichnung einer Person oder Sache oder eines Begriffes. Danach wären also auch die persönlichen Fürwörter, die doch unzweifelhaft Personen oder Sachen bezeichnen, Substantive und müßten nach der allgemeinen Regel groß geschrieben werden. Eitelkeit, Lauf und ähnliche Wörter bezeichnen aber weder Personen noch Sachen, müßten also ein Begriff sein. Nun ist aber Laufen offenbar eben so gut ein Begriff wie Eitelkeit und Lauf; trotzdem gilt es in der Regel nicht als Substantiv. Eben so schwer lassen sich die Begriffe des Adjektivs und des Verbums definiren; daher auch die Gelehrten in diesen elementaren Fragen, mit denen man schon unsere Siebenjährigen belästigt, zu keiner Einigung kommen können. Ein Grammatiker sagt: „Verben oder Zeitwörter sind diejenigen Wörter, die aussagen, was eine Person oder Sache thut und leidet. Ein anderer sagt: „Zeitwörter find solche Wörter, welche eine Thätigkeit, ein Leiden, einen Zustand ausdrücken und zugleich die Zeit bestimmen, in welcher die Thätigkeit, das Leiden, der Zustand stattfindet." Dazu sagt Kleinschmidt: „Beides ist falsch. In dem Satze: ,Der Mann wurde wegen Urkundenfälschung zu Zuchthaus verurtheilt', giebt das Wort Urkundenfälschung an, was der Mann gethan hat, ist aber trotzdem kein Verbum. In den Sätzen: ,Ich bat ihn, mein Messer zu schleifen', ,Ich will ihn bitten, mein Messer zu schleifen', wird durch das Wort schleifen die Zeit nicht bestimmt; demnach wäre ,schleifen' kein Verbum." Er hat Recht. Recht auch mit der Frage: Wie darf man von Schülern verlangen, daß sie sich in diesem Wirrwarr zurechtfinden, und wie soll es sie an wissenschaftliches Denken gewöhnen, wenn man sie mit Begriffen jongliren läßt, die ihrem Lehrer und dem Verfasser der Grammatik selbst noch unklar sind?

Die Unhaltbarkeit des ganzen Sprachbetriebes auf all unseren Schulen hatte vorher außer Fritz Mauthner in seinen bekannten Untersuchungen auch Rudolf Pannwitz (Berlin. Schöneberg, Hilfe-Verlag) in dem jetzt in zweiter

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Auflage vorliegenden gedankenreichen Schriftchen nachgewiesen: „Der Volksschullehrer und die deutsche Sprache" Die neue Schrift aber des Oberlehrers Kleinschmidt ist von den genannten Untersuchungen die zwingendste, ich möchte sagen: die gewaltthätigste. Er besteht unerbittlich auf einer sofortigen Entscheidung. Er will nicht dulden, daß die deutsche Jugend auch nur in einem kleinen Theil durch falsche Anleitung weiter in ihrem gesunden Denken geschädigt werde. Er empfindet Das wie eine geistige Vergiftung und ruft nach schneller Abhilfe, wie man Abhilfe gegen gefälschte Lebensmittel fordert.

Es handelt sich hier thatsächlich um eine Kardinalfrage der geistigen Wohlfahrt unserer Jugend und damit unseres Volkes. In den letzten Jahren ist über die Unfruchtbarkeit und Dürre des landesüblichen grammatikalischen Sprachbetriebes schon von vielen berufenen Sprechern laut und bitter genug Klage geführt worden. Manche konnten sich und Anderen keine klare Rechenschaft darüber geben, woraus sich ihr tiefer Widerwille gegen die abstrakte, nüchterne, formelle Herrichtung erkläre. Die Meisten fühlten nur deutlich, ohne es begrifflich sich und Anderen klar machen zu können, daß es sich um eine Vergewaltigung ihres natürlichen Denkens und Empfindens handelte. So fühlten vor Allem die künstlerisch veranlagten Menschen. Jetzt haben wir für diese gefühlmäßige Abneigung den Versuch einer streng wissenschaftlichen Begründung. Damit ist das Problem der Lösung näher gerückt.

Ich halte mein eigenes abschließendes Urtheil absichtlich zurück. Meine ganze Entwickelung führte mich auf andere Bahnen. Ich weiß nicht, ob ich dem Verfasser darin Recht geben darf, daß die Gewöhnung an selbständiges Denken das vornehmste Ziel aller Pädagogik sei. Daneben scheint mir doch das selbständige Handeln zu kurz zu kommen; auch das selbständige Fühlen, Empfinden, Glauben und Leben. Aber daß eine Grammatik nach streng wissenschaftlichem Denken aufgebaut werden muß und daß ein System nichts taugt, wenn es aus falschen Begriffen aufgebaut war, ist sicher: wissenschaftliches Denken kann nicht an falschen „Gesetzen" geübt werden.

Ich meine, daß jetzt eine Art geistiger Gesunndheitkommission eingesetzt werden müßte, um unsere bestehenden Grammatiken auf Gesundheitschädlichkeit zu prüfen. Rücksichten auf Autoren und Verleger dürfen nicht genommen werden: nur die Konsumenten kommen in Frage. Das Gesetz schont die Weinfälscher auch nicht. In einem Jahr müßte die Entscheidung gefallen sein. Daß sie freilich zur Vernichtung aller bestehenden Grammatiken und zur Aufhebung des bisherigen grammatikalischen gesummten Lehrbetriebes führen werde, scheint mir doch eine zu kühne Hoffnung. Aber totgeschwiegen, totgelacht, niedergeschrien, durch das „Prinzip des Imponirens, Kujonirens und Bangemachens" „unschädlich gemacht" darf diese Schrift nicht werden.

Steglitz. Professor Dr. Ludwig Gurlitt.



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