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321 - Im Krankenhaus.

Im Krankenhaus.

Dies ist der Ort des Todes und der Schmerzen,
Die Schwelle feucht von Thränen. Doch da liegen
Mit grüner Hoffnung sie in bangen Herzen.

Und täglich sagt man ihnen fromme Lügen,
Indeß Freund Hein sein Vorwort spricht
Aus hohlen, fieberheißen Zügen.

Sie lächeln selig unter Schmerzen
Und hoffen stets. Und ahnen nicht
Den trüben Schein der Sterbekerzen.

Wien, Moriz Scheyer.




Kapital.

Erfahrung wird lehren, ob die Folgen der neuen Effektensteuern dem Auge so sichtbar werden, wie die Unglückspropheten noch immer behaupten. Die Neubildung von Kapital vollzieht sich ohne Rücksicht auf Dogmen und vorgefaßte Meinungen. Und da eine kapitalistische Ueberproduktion sich nur in gewissen Verschiebungen der Schichten des Kapitalgebirges äußert, sind die Vorgänge, die den Mikrokosmos in Aufregung versetzen, für den Makrokosmos ohne Bedeutung. Wir wissen, daß Jahr vor Jahr ein Betrag von 4 bis 6 Milliarden dem deutschen Volksvermögen zuwächst. Der größte Theil dieser Summe kommt auf den Effektenmarkt. Die Steuern und Lasten, die dem Börsen- und Werthpapiergeschäft auferlegt wurden, haben die Befruchtungzunahme nicht gehindert. Nach der geltenden Theorie durfte der Effektenverkehr seit der Rechtskraft des Börsengesetzes nur in langsamem Tempo fortschreiten. Die Thatsachen ergeben ein ganz anderes Bild. Die belebende Wirkung niedriger Zinsensätze wurde in der Zeit, da die Reichsbank Wechsel mit 7 1/2 Prozent Diskont kaufte, zum alleinseligmachenden Dogma erhoben. Jeder schwor auf „billiges Geld“ und tröstete mit dieser „Heilswahrheit„ die gar nicht des Trostes bedürftige Menge der Debitoren. Seit langen Monaten ist der Wechselzinsfuß nun niedrig: der Reichsbanksatz beträgt im Durchschnitt des Jahres 1908/09 etwa 3 3/4, der Privatdiskont seit Januar 1909 ungefähr 2,38 Prozent. Tägliches Geld, das allerdings nur für das Börsengeschäft in Frage kommt, hat sich während des ersten Semesters 1909 in den Grenzen von 2 bis 1 1/2 Prozent bewegt. Das sind die äußeren Kennzeichen eines Zustandes, den man als „Periode billigen Geldes“ bezeichnet. Wo aber sind die Wirkungen dieser Erscheinung geblieben? In der Industrie, im Handel und Transport wurden sie nicht sichtbar; oder doch nur dadurch, daß sie die Erkenntniß der geschäftlichen Depression im Heimathbezirk erweiterten. Die Zunahme der Auswanderung nach den Vereinigten Staaten, die das Herz des bekümmerten Aktionärs von Hapag und Lloyd höher schlagen läßt, ist kein Zeichen wachsender Regsamkeit am Schraubstock und in der Fabrik. Hätten die Leute zu

322 - Die Zukunft.

Haus genügende Arbeit, so würden sie nicht so leicht ihr Bündel schnüren. Die Rückwanderung aus Amerika ist so unbeträchtlich, daß man keines anderen Beleges für die gewerbliche Depression in Deutschland bedarf. Aber die Erzeugung überschüssigen Kapitals verlangsamt sich trotz der Ruhe im industriellen Leben nicht. Wäre es anders, so würde der Gegensatz zwischen ruhendem Kapital und flüssigem Geld deutlicher erkennbar werden. Kapital ist jeder Werthfaktor in der Wirthschaft: die Kohle auf den Halden und der Träger auf dem Lager eben so wie der preußische Konsol und das bare Geld. Aber die nicht im Umsatz befindliche Waare ist ein toter Bestandtheil des Volksvermögens; erst die Zins tragenden Anlagen bringen Leben ins Land. Nun stellt sich die Frage ein: „Wie ist es möglich, daß die Anschoppung toten Kapitals den Quell flüssigen Geldes reichlicher springen läßt?“ Liegt da ein Widerspruch zwischen Faktum und Dogma vor? Im Zweifel darf man immer annehmen, daß das Prinzip Unrecht hat. Denn die Regel, die den Ursprung des wirthschaftlichen Vorganges markiren soll, ist nicht das Produkt des Nachdenkens, sondern die bequeme Schablone, deren einziger Vorteil darin besteht, daß sie sich durch den Gebrauch nicht abnutzt. Der Eindruck des Geldüberflusses wird nur durch den Kontrast zwischen dem regen Umsatz von Effekten und der geringen Bewegung in der Industrie bewirkt. Das Werthpapiergeschäft zeigt eine viel regelmäßiger ansteigende Kurve als der Umsatz industrieller Erzeugnisse. Dadurch wird das Gleichgewicht zu dem Mangel der Erzeugung industriellen Betriebskapitals aus dem Absatz der Produkte hergestellt. So ist der Schein (mehr ists ja eigentlich nicht) einer Geldabundanz in Zeiten gewerblicher Depression zu erklären.

Wie stark der ständig wachsende Vermögensüberschuß aus rentablen Anlagen wirkt, zeigt, unter Anderem, die Art der Unterbringung des liquiden Kapitals: ohne Rücksicht auf die industriellen Verhältnisse werden neue Industriepapiere geschaffen. Man verwerthet nicht günstige Chancen, sondern Neigungen des Publikums. Die Mittel, die neuen Industriewerthen zufließen, werden also in unproduktives Kapital verwandelt, so lange die Ertragsfähigkeit industrieller Betriebe gehemmt oder eingeschränkt ist. Steigende Produktion von Industriepapieren in einer Zeit industriellen Stillstandes: eine wunderliche Erscheinung. Im ersten Semester 1909 wurden für 218 Millionen Mark neue Industrieaktien ausgegeben, die einen Kurswerth von 403 Millionen hatten. Mit einem Aufgeld von durchschnittlich 86 Prozent wurden diese Effekten auf den Markt gebracht. Wo ist die sachliche Begründung des Umfanges der Summe und des Agios? Weder die Berichte aus den Industriebezirken noch Gewinnziffern und Dividenden können als Motive angeführt werden. Die (von der Geschäftslage unabhängige) Auswechselung im Effektenbesitz erzeugt eben von selbst neues Kapital. Wer die dynamischen Kräfte der Börse und der Emissionthätigkeit richtig einschätzt, ohne ihren Mängeln allzu große Bedeutung beizulegen. Der kann sich nicht darüber täuschen, daß eine belebte Börse in Tagen gewerblicher Ruhe nicht nur als ein Denkmal spekulativer Tollheit anzusehen ist, sondern auch als das achtbare Zeichen eines starken Willens zur Schaffung oder Besserung geschäftlicher Konjunkturen. Viel illusorisches Kapital wird dadurch hervorgebracht; aber ohne Illusion ist das wirtschaftliche Leben überhaupt nicht denkbar. Die Täuschung findet ihre Rechtfertigung darin, daß die schließliche Abrechnung, wenn mans richtig bedenkt, ein wesenloser Begriff ist. Wer kann sich vermessen, heute zu sagen, wann die große Liquidation beginnen wird?

323 - Kapital.

Das in Effekten angelegte Kapital hat im Ganzen nur den Werth, den ihm die Affektion giebt. Ist die Bilanz einer Gesellschaft abgeschlossen und die Dividende festgesetzt, so wird bis zum nächsten Abschluß mit Chancen gearbeitet. Die Börse diskontirt bloße Möglichkeiten und bewerthet danach den Kurs des Papiers. Wie stark der Einfluß der Affektion ist, sieht man oft bei der Einführung neuer Papiere. Werden sie ohne öffentliche Subskription eingeführt, so ergiebt am ersten Tag der Stückemangel oft einen sehr hohen Kurs. Viele Voranmeldungen sind erfolgt und die reguläre Nachfrage kann nicht befriedigt werden, weil das Emissionhaus sich nicht mit genügendem Material versehen hat oder weil man einen Theil der Stücke zurückhält, um zunächst den Kurs weiter steigen zu lassen und den Gewinn aus den später zu verkaufenden Popieren zu erhöhen. Nicht immer klingts glaubhaft, wenn die Bank versichert, daß sie selbst von der Notiz unangenehm berührt sei. Sicher aber ist, daß nur Glaube und Liebe den hohen Kurs zeugen konnten. Ich erwähnte den Ausgleich, den die verringerte Neuerzeugung gewerblichen Kapitals im Umsatz findet. Hier ist ein Beispiel für ein solches Aequivalent: der künstlich gesteigerte Werth der Effekten. Im ersten Halbjahr 1909 wurden in- und ausländische Börsenpapiere im Nominalwerth von 2229 Millionen emittirt. Der Kurswerth betrug 2419 Millionen. Das Agio von 190 Millionen ist als mehr oder minder fiktives Kapital anzusehen. Und der Kurs, zu dem die Effekten auf den Markt gebracht wurden, pflegt sich eine Weile zu halten. Namentlich in Perioden gesteigerten Dranges nach Wertpapieren. Das Publikum denkt nicht an die Möglichkeit einer Selbsttäuschung, wenn es theure Papiere kauft, weil ihm zunächst nur die Möglichkeit eines Kursgewinnes, nicht aber die Dividende vor Augen steht. Haben sich, zum Beispiel, die Antheile der Deutschen Kolonialgesellschaft für Südwestafrika von der Erwägung der Dividenden und Chancen nicht völlig gelöst? Schon die Thatsache, daß neue Zulassungsanträge für Kolonialpapiere gestellt sind und vorbereitet werden, genügt, um dem spekulativ geschaffenen Kapital Bestand zu sichern. Hier herrscht die Fiktion, daß unter dem Schirm der Börse der letzte Zweifel an der Solidität der kolonialen Hoffnungen schwinden werde.

Der Gegensatz zwischen der Spiegelung der finanziellen Lage im Status der Reichsbank, in den Bankbilanzen und im Rahmen der Börse sollte nachdenklich stimmen. Man muß alle halbwegs befriedigenden Faktoren zusammenstellen, um sagen zu können, der Zustand der Reichsbank sei normal. Dabei hat die steuerfreie Notenreserve die Höhe des Vorjahres noch nicht erreicht; und die Dicke des Effektenportefeuilles deutet auch nicht auf unbehinderte Athmungverhältnifse. Trotzdem ist man zufrieden, weil man die Wünsche herabgestimmt hatte. Ein neuer Beweis für die geringe Haltbarkeit aller Dogmen; denn jede Regel gilt nur für die Verhältnisse, die gerade herrschen. Die Reichsbank aber steht dem eigentlichen Geschäftsverkehr näher als der Börse. Ihr Aussehen hängt von der gewerblichen Konjunktur ab. Und die Diagnose, die man danach zu stellen hat, lautet: „Der Prozeß der Erneuerung wirtschaftlichen Kapitals hat sich nicht beschleunigt. Der Geldüberfluß steht nur so weit in Wechselwirkung mit der industriellen Konjunktur, wie er die Folge der Geschäftsruhe ist.“

Den selben Eindruck machen die Halbjahresbilanzen der berliner Großbanken. Die Summe der Debitoren hat sich seit dem Januar kaum verändert. Das ist das Barometer für die Höhe der Ansprüche, die von der Industrie an die Banken ge-

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stellt werden. Bei den Hauptbilanzen am Jahresende wird freilich mancher Debitor ins Wechselportefeuille versetzt; aber ein Vergleich der beiden Endsummen der Außenstände ist dennoch möglich. Auch die Zunahme der Acceptverbindlichkeiten spricht für abnorme Verhältnisse auf gewerblichem Gebiet. Das Gewöhnliche ist der Kredit im Konkorrent. Wenn die Bank ihr Accept hingiebt, so handelt sichs meist um komplizirte Bedingungen bei der Beschaffung industriellen Kredits. Die oft als Nachteil bezeichnete Ausdehnung des Apparates einer modernen Großbank zeigt ihren Nutzen in der Möglichkeit, bei nachlassendem Geschäft der einen Abtheilung aus dem Ertrag einer anderen den nothwendigen Ausgleich für das Gesammtresultat zu schaffen. So hat die Abnahme der Effekten- und Konsortialbestände über die Einschränkung der Einnahmen aus dem „legitimen“ Geschäft hinweggeholfen. Fast alle Institute haben sich von eigenen Engagements erleichtert und sind dabei von der Bereitwilligkeit des Publikums, Werthpapiere zu jedem Preis zu erwerben, unterstützt worden. Mancher Direktor hat, zur Beruhigung seiner Aktionäre, in der Generalversammlung erklärt, für den Ausfall an Zinseneinnahmen werde durch andere Geschäfte Ersatz geschafft werden. Die Erzeugung fiktiven Kapitals haben die Banken eifrig gefördert, indem sie die Börsenspekulation durch Gewährung von Vorschüssen unterstützten. Beweis: das Anschwellen der Reportdarlehen.

Um die Art der Ueberschußvertheilung zu erkennen, braucht man nur auf die Entwickelung des Geschäftes bei den Pfandbriefbanken zu blicken. Auch da sieht man die Kluft zwischen Theorie und Praxis. Monate lang hörte man über die ungünstigen Verhältnisse auf dem Hypotheken- und Pfandbriefmarkt klagen. Aber der Saldo, den das Geschäft der deutschen Hypothekenbanken ausweist, stimmt nicht zu solchem Wehgeschrei. Die Gesammtsumme der ins Register eingetragenen Darlehen hat am Halbjahresschluß die Grenze der zehnten Milliarde überschritten. Der Zuwachs seit Januar betrug 331 Millionen gegen 211 Millionen im ersten Halbjahr 1908 und 252 Millionen im zweiten Semester 1908. Wenn die zweite Hälfte des Jahres nur auf der Höhe von 1908 bleibt, giebt es ein Gesammtplus von 120 Millionen. Doch darf man mindestens auf das Doppelte rechnen. Die Voraussetzung für die Ausdehnung des Hypothekengeschäftes ist die Steigerung des Pfandbriefabsatzes, die im ersten Halbjahr 1909 rund 358 Millionen (auf 9958 Millionen) betragen hat. Das sind Ziffern, die von einem normalen Geschäft zeugen. Noch ist nicht erwiesen, welche Art der Unterstützung des Kreditbedarfs volkswirthschaftlich werthvoller ist: die Sättigung des Immobiliarverkehrs mit Betriebskapital oder die Anlage in Effekten und Industrie. Geldüberfluß (in dem heute geltenden Sinn) nützt nur der Börse und erleichtert die Schaffung fiktiven Kapitals. Geldmangel entsteht, wenn die Betriebsmittel der Industrie und des Gewerbes nicht ausreichen, um mit den vorhandenen Kräften die Nachfrage zu befriedigen. Da man die Leistungfähigkeit der Werkstätten und Fabriken über die Grenze des unbedingt Nothwendigen hinauszuschieben pflegt, entsteht oft eine übermäßige Anspannung der Kredit gebenden Faktoren, die sich in hohen Zinssätzen äußert. Aber schließlich kommts dabei zu greifbarem Kapital, während die Ausläufer der Geldabundanz oft ins Land der Illusion hineinreichen. Deshalb wirkt Geldüberfluß manchmal deprimirend, Knappheit dagegen als ein Zuversicht erweckendes Symptom.

Ladon.

Herausgeber und verantwortlicher Redakteur: M. Harden in Berlin. — Vorlag der Zukunft in Berlin.
Druck von G. Bernstein'in Berlin.


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