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Georg Engel
Johannes Jörgensen in gutenberg.spiegel.de/autor/georg-engel-145
Georg Julius Leopold Engel wurde am 29.10.1866 in Greifswald geboren; er starb am 19.10.1931 in Berlin.

Georg Engel verlebte seine Jugend in Breslau. Nach einem Studium der Philosophie und der Geschichte in Berlin (1887 bis 1890) arbeitete er als Kunst- und Theaterkritiker beim Berliner Tageblatt. Ab 1891 war er als freier Schriftsteller in Berlin tätig.


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206 - (Die Zukunft.)

Georg Engel.

Von Georg Engel ist ein neues Büchlein erschienen („Der verbotene Rausch"), das (ich will nicht sagen: eine ganz neue Art inaugurirt, aber) ein Genre pflegt, das in Deutschland nicht sehr üblich ist und doch verdient, Bewunderer zu finden. Vielleicht könnte man es am Besten als Burleske mit weichem Gemüthston bezeichnen. Man erwartet vielleicht ganz Anderes, wenn man den Titel dieses neuen Buches liest, und kommt auch zu einer falschen Auffassung, wenn man die Umschlagszeichnung betrachtet: einen Bock, der gegen einen Baum anstürmt, auf dessen Ast ein nacktes Frauenzimmer sitzt. Aber diese Umschlagszeichnung ist eben so wenig für das Buch maßgebend, wie sein Titel (zugleich der der ersten Geschichte) Tendenz und Art der Erzählungen wiedergiebt. Es sind sechs Geschichten, von denen zwar die erste, nach der das Buch genannt wird, und eine zweite, „Christin-Dörthes Verlobung", ein ziemlich grober, aber ganz lustig erzählter Schwank, aus dem Rahmen fällt; die übrigen vier dagegen schildern den glücklichen Ausgang einer Liebe, der schwere Gefahren drohen. Bald ist es ein hartherziger Vater, bald ein schwachmüthiger Bräutigam, bald eine zage Frauenseele, bald die Verschiedenheit der Religion, die Schwierigkeiten bereiten; aber überall werden die Hindernisse besiegt. Ich widerstehe nur ungern der Versuchung, diese niedlichen Geschichten mit ihrem humoristischen und gelegentlich gruseligen Beiwerk zu erzählen; aber ich möchte durch solche Berichterstattung den Lesern den Genuß nicht vorwegnehmen, der sie erwartet. Als kleine Meisterstücke bezeichne ich geradezu: „Die verbotene Ehe" und „Das verbotene Stück". Denn wenn auch eine dritte Erzählung, „Onkel Pökel", die Geschichte eines alten, drolligen, aber seelenguten Kauzes, der als Schatzgräber und Heirathvermittler vorgeführt wird, gewiß ihre großen Vorzüge hat, so finde ich die beiden ersten Geschichten doch wesentlich werthvoller: die eine, in der ein junges protestantisches Mädchen, die Tochter einer katholischen Mutter, mit einem jüdischen Schmied sich zusammenfindet, obwohl die Geistlichen aller drei Konfessionen dagegen Protestiren; die andere, in der eine resolute Schmierendirektrice ein dem Wachtmeister bedenklich erscheinendes Stück, „Die Folgen der Liebe", nicht nur zur Aufführung frei bekommt, sondern auch den Wachtmeister heirathet und mit Beihilfe des Landrathes und des Publikums einen renitenten Bäckermeister zwingt, seine schöne Tochter einem Schauspieler zur Frau zu geben. Trotz allen Absonderlichkeiten, die erzählt werden, geschieht doch niemals etwas Unmögliches, bei allen Ausfällen gegen die Träger der religiösen und politischen Gewalt kommt es doch nie zu einer allzu scharfen Wendung, bei aller Neigung zur Burleske finden wir so viel richtige Beobachtung und einen so innigen Gemüthston, daß gewiß Alle an diesen kleinen Erzählungen ihre Freude haben werden.

So erfreulich aber auch dieses neue Buch ist: es giebt noch keine volle Vorstellung von Engels Talent. Will man dieses erkennen, so muß man seine Romane „Hann Klüth") und „Der Reiter auf dem Regenbogen") lesen.

Georg Engel ist ein Greifswalder. Der Vaterstadt, „der lieben, guten, alten Frau", hat er ein stimmungvoües Gedicht gewidmet, das am Anfang des Romanes -----
*) Zweiundzwanzigste Auflage. 2 Mark. **) Achte Auflage. 4 Mark. Concordia, Deutsche Verlags anstatt, Hermann Ehbock, Berlin W. 30.

207 - Georg Engel.

„Hann Klüth" steht. Es schließt mit den Worten: „Vergiß mich nicht, ich werd' Dich nie vergessen!" Getreu diesem Satz läßt er seine Romane in der alten Stadt selbst und in der greifswalder Küstengegend spielen. Seeleute sind seine Helden. Aber nicht kühne Seefahrer, die weite Meere durchschiffen, sondern Küstenbewohner, die an dem Boden kleben und durch Hering- und Fischfang ihre oft kärgliche Nahrung erwerben. Neben dem Dorf mit seinen einfachen, schlichten Bewohnern die Stadt mit ihrem Luxus und ihrer Verführung; ein Gegensatz zeigt sich, wie er bei manchen Bauernschriftstellern, etwa bei Jeremias Gotthelf, hervortritt: die Schädigung, die der Dörfler erlebt, sobald er in die Stadt kommt. Doch fehlt die Pastorale Tendenz, das lehrhaft Moralisirende, das solchen Schriftstellern oft eignet.

Der gewöhnliche Romanleser, der im „Hann Klüth" große Spannung verlangt und entweder ein tragisches Ende des Helden erwartet oder als sein gutes Recht fordert, daß sie „sich kriegen", wird einigermaßen enttäuscht werden; der ästhetisch Empfindende, dem das „Wie" über das „Was" geht, wird sich des Buches herzlich freuen. Der Held ist eine Prachtgestalt. Gewiß, mit seinen plumpen Manieren, mit seinem langsamen Denken und seiner ungefügen Sprache, kein Heros nach der Vorstellung junger Mädchen, aber ein Mensch, bei dem Geist und Herz edel und groß sind, voll Muth in schweren Augenblicken, voll treuer Dankbarkeit für empfangene Wohlthaten, voll inniger Liebe für Alle, die er einmal ins Herz geschlossen hat. Man könnte versucht sein, es dem Dichter als einen Fehler anzurechnen, daß er Hanns Braut, die liebliche, thatkräftige, das Wesen ihres Bräutigams voll begreifende Tochter eines Schulmeisters, die den Beruf einer Krankenschwester erwählt, spurlos verschwinden läßt, namentlich, da er selbst nicht verhehlt, daß diese beiden Menschen, deren zartes Verhältniß und Zusammenleben ungemein poetisch dargestellt sind, trefflich zu einander passen; aber er will gerade zeigen, daß für ein so elementares Wesen wie Hann Klüth nicht die lieblich beruhigende Neigung, sondern die stürmische, verzehrende Leidenschaft das eigentliche Element ist. Ob Line, der eine solche Leidenschaft wird, sie versteht und erwidert: danach hat der Dichter nicht zu fragen; für Hann ist diese Liebe etwas Dämonisches, dem er unterliegt, und die Szenen, in denen das Mädchen die Liebe abweist, entsprechen gewiß mehr ihrem Charakter als die etwas schwächliche Art, in der zuletzt eine Aenderung dieses schier unbeugsamen Wesens vorbereitet zu sein scheint. Und alle Nebenfiguren: ein Riesenpaar, ein taubstummer Fischer mit seiner Gattin, ein verrückter Kapitän, ein lügnerischer Lootse, der mannichsach in die Handlung eingreift, Hanns Stiefvater und seine Mutter, die beiden Brüder, der schon erwähnte Kaufmann und ein Pastor, die Mitglieder eines reichen Fabrikantenhauses in der benachbarten Stadt, ein älteres Fräulein, eine Handarbeitlehrerin, bei der Line eine Weile in Stellung ist, halb Begleiterin, halb Dienerin: all diese Figuren sind vortrefflich geschildert. Wie plastisch stehen die Stübchen vor uns, die hellen Säle und die ärmlichen Hütten; wie wundervoll ist die Landschaft in Sommer und Winter, das Meer in seiner Lieblichkeit und in seiner Wuth.

Das charakteristische Merkmal des Verfassers ist die Mischung von Realismus und Romantik. Der alte ChronoS wird, zum Beispiel, in der Gestalt eines Mistkutschers symbolisirt. Das erscheint zuerst lächerlich oder nur verwegen; ist aber so gut durchgeführt, daß man die Absonderlichkeit bald fast für nothwendig hält. Und diese Mischung von Romantik und Realismus zeigt auch der zweite

208 - Die Zukunft.

Roman. „Der Reiter auf dem Regenbogen": der Titel stammt daher, daß der Held Gust Petersen selbst einmal eine Romanze mit dieser Aufschrift dichtet, in der er sich stolz als einen kühnen Reitersmann darstellt, der bei dem gefährlichen Ritt sich seine Geliebte erobert. In Wirklichkeit aber ist dieser Held ein Eroberer nur in der Phantasie (wie denn überhaupt Engels Männertypen meist schwächer sind als seine Frauentypen), ein Träumer, dem das wirkliche Leben nur Enttäuschungen bietet. Er ist ein hochbegabter Mensch, dem Mutter und Freunde, auch junge Damen eine große Zukunft voraussagen. Aber das Abiturientenexamen kann er nicht machen, weil er, von seinem Freiheitstreben verführt, Catilina als Retter des Vaterlandes preist und auch, da der Direktor ihm die Möglichkeit gewährt, den Aufsatz nochmals zu schreiben, unbeugsam bei seiner Ansicht beharrt. Diesem einen Unglück folgen manche andere. Ein Mädchen, das er schwärmerisch liebt und das ihm auch eine zarte Neigung weiht, die Tochter eines verabschiedeten Marineoffiziers, muß er aufgeben, da er vom Vater aus dem Haus gejagt wird. Er macht einen Selbstmordversuch; wird aber gerettet. Auch die Stellung in einem Antiquitätengeschäft, in der er zu den schönsten Hoffnungen berechtigt, verläßt er nach einer gemeinsam mit einer Cousine unternommenen Flucht zu einem Schmierendirektor, der eine sofortige Enttäuschung folgt. Er hungert und wird dann Sekretär eines Landrathes, eines Jugendfreundes, der die Jugendliebe geheirathet hat. Auch in dieser Stellung, obgleich er große Gewandtheit und Begabung zeigt, harrt er nicht aus. Endlich scheint er das Feld zu großer Thätigkeit gefunden zu haben. Durch Briefe der Cousine, die einen Schutztruppenunteroffizier in Afrika geheirathet hat, und durch allerlei Lecture läßt er sich zu dem Glauben verleiten, für die gefährdeten Fischer in Wisby sei in Afrika ein lohnendes Feld zu finden. Er überredet sie nach vielen Mühen zur Auswanderung; ihr Führer aber kann er nicht werden, denn er erkrankt und stirbt, bevor er das Land der Verheißung gesehen hat. In der Krankheit pflegt ihn die Jugendgeliebte, die inzwischen Witwe geworden ist und die zarte Neigung für den ehemaligen Freund bewahrt hat.

Auch hier sind es nicht die Vorgänge und der Held, die dem Leser die Hauptfreude bereiten, sondern die Art der Schilderung, die Charakteristik der Orte und der Menschen. Keine gewöhnliche Schulgeschichte, wie man sie jetzt so oft liest; aber die Kontrastirung der Persönlichkeiten, des strammen Schablonendirektors und des idealen Oberlehrers, der seine Schüler zu eigener Entwickelung bringt, ist so gut gelungen, daß sie zugleich typisch wirkt. Sehr lustig sind auch die Inhaber des Antiquitätengeschäftes, die Brüder Kladow, geschildert; der Eine ein geschickter Restaurator, der Andere ein Meister der Kleinkunst. Und die alte Stadt, mit ihren Ecken und Winkeln, ihrem Hafen und ihrer Umgebung, die Insel Wisby in Sonnenglanz und Sturmnacht, ihre Bewohner in träumerisch resignirtem Nichtsthun, in stummer Verzweiflung und in Heller Auflehnung gegen die Obrigkeit: Das Alles ist ganz lebendig geworden.

Engels Romane und Novellen ragen hoch über das Mittelmaß der gewöhnlichen Erzählungliteratur empor. Man begrüßt einen Dichter, der nicht abenteuerliche Geschichten auftischt, sondern Menschenschicksale mit reifer Kunst gestaltet.

Professor Dr. Ludwig Geiger.

Eine Probe aus dem „Verbotenen Rausch":



Die scheue Marik
Eine Geschichte vom Bodden

Ich habe die Geschichte von der alten Kase Stöwesand, und Kase hörte sie von Marik Grapentin selbst. Deshalb ist sie wahr, denn Kase Stöwesand sprach nie ein unwahres Wort, wenn sie auch gegen dreißig Jahre gelähmt an ihrem niedrigen Fenster saß und die kleinen Kinder das „Grugeln“ lehrte, sobald sie ihnen mit ihrem gelben, zerrissenen Antlitz Gesichter schnitt. Und das einzige, was an Kase ein wenig unverständlich war, bestand darin, daß sie häufig ganz unvermittelt die Worte vor sich hinsprach: „Es ist halb acht.“ Das war aber auch ganz in Ordnung, denn Kase hatte vor vierzig Jahren ihren Bräutigam durch den Seetod verloren, und nun erinnerte sie sich häufig an die Zeit seines schweren Scheidens, und dann murmelte sie die Stunde eben vor sich hin.

Es tobte ein schweres Schneewetter, und über den gefrorenen Bodden fegte der Sturm, daß die glatte Bahn unter dem Lärm stöhnte. Ringsherum konnte man gar nichts erkennen als graue Dämmerung. Da stand ich in Kase Stöwesands Stübing, in dem eine kleine Petroleumlampe brannte, und sagte: „Ich möcht' nu heiraten.“

„Ja,“ nickte sie, „dann mußt du auch einen Weihnachtsbaum anstecken, denn ein Weihnachtsbaum hat eine Macht.“

„Wieso, Kase?“

„Ja, und dann darf es auch keine Scheue sein, sonst geht es dir wie Jasper Grapentin, dem Steuermann mit seiner Marik. Das war so:

‚Marik, – Mariking, komm, kuck,‘ rief der Steuermann Jasper Grapentin, während er in den Flur seines schmucken Häuschens trat, und dabei schüttelte er sich den Schnee ab. ‚Kuck, Marik, hier bring ich dich eine Tanne. Ich hab sie im Dangerower Holz geschlagen, und wenn du sie auch nicht hast putzen wollen, heut is Heiligabend, da is so was schön. Nu steck da ein paar Lichter dran, Wachs habe ich auch mitgebracht – hier – und dann setzen wir uns drunter und denken uns was.‘

Damit pflanzte der große, frische, kräftige Kerl, der schon in den Dreißigern stand, die dunkle Tanne vor seinem Weibe auf, das viel jünger war als er, und zart und rank und schlank wie ein ganz junges Mädchen. Das war sie eigentlich auch, da sie kaum die Achtzehn erreicht hatte.

‚Na fix, Mariking.‘

Die Junge sah ihn mit ihren großen, blauen Augen einen Moment erstaunt an, sagte aber weder ja noch nein, sondern nickte rasch und begann, sich an dem Baume zu beschäftigen. Doch dieses stumme Nachgeben war gerade das Schlimme an ihr. Es war schlimm, daß sie so zeitig geheiratet hatte, und daß sie keinen eigenen Willen besaß, und vor allem, daß sie so scheu war. Woher das kam? Je, sie war als eine Waise bei dem Hafenmeister erzogen worden, und man hatte sie streng gehalten und viel gescholten, und zuletzt wurde sie als halbes Kind dem Steuermann Jasper Grapentin zugeführt, weil er ein frischer Kerl war und Freude am Geld zeigte und außerdem versprochen hatte, sie auf den Damm zu bringen. Und das tat er auch auf seine Art, ganz gutmütig und recht nachsichtig, und er wartete ehrlich, bis ihr nicht mehr alles so fremd wäre, ihre Pflichten und das enge Beieinander und sein Vergnügen an ihr. Allein sie taute nur langsam auf – sehr, sehr langsam.

„Ja, ja, nimm dir keine Scheue,“ meinte die alte Kase.

„Aber nun flimmerte es doch von der dunklen Tanne, es duftete nach Harz, und auf dem weißen Tischtuch lagen die Geschenke, die sich die Gatten gegenseitig einbeschert hatten. Nur praktische Gegenstände durften es sein, für die Frau Stoff zu einem neuen Kleide, für den Mann ein Paar Fausthandschuhe, auch war keine Überraschung damit verbunden, weil alles vorher so bestimmt war. Aber nun standen sie doch vor dem weißen Tisch, und es ging wie ein Behagen durch den kleinen Raum.

‚Schnell, Mariking,‘ sagte Jasper, ‚nun mach die Laden vor den Fenstern zu. Dann wird es noch stiller. Und dann sind wir beide ganz allein.‘

Folgsam ging sie, wobei sie ihn mit ihren großen Augen ein wenig von der Seite maß, was er wohl mit seinen Worten bezwecke, und als das grüne Holz nun fest an den Scheiben lag und nur der Schnee, der zuweilen an die Scheiben pickte, die Stille unterbrach, da sagte Jasper, händereibend: ‚Nu komm, Mudding‘ – es war das erstemal, daß er sie so nannte, ‚nu wollen wir uns hier auf das schöne, neue, schwarze Ledersofa setzen und uns was von dem Tannenbaum erzählen.‘

Damit zog er sie neben sich, und die Scheue saß ganz still bei ihm mit verhaltenem Atem, denn es zog etwas gegen sie heran, etwas Leises, Heimliches, Wohltuendes, was sie sich nicht erklären konnte.

‚Was willst du?‘ flüsterte sie nur ganz sacht, und es schien, als ob sie sich wundere, daß sie überhaupt gesprochen habe.

‚Ja, Mudding,‘ fuhr er fort, und es war wohl nur zufällig, daß er mit seinem Arm ein wenig den ihren streifte. ‚Nu sitzen wir hier zusammen, und es is recht still bei uns. Aber wart man, mir kommt es so vor, als wenn es nu bald lauter bei uns werden könnt, nicht?‘ Dabei ließ er wieder einen seiner Seitenblicke über sie hinfliegen.

Jedoch kaum hatte er das Wort hervorgebracht, da schreckte Marik zusammen, wurde totenblaß und später wieder siedendrot und hob die Hände gegen ihn, als ob sie sich wehren wolle.

‚Mein Gott,‘ stammelte sie.

‚Wieso?‘ lachte Jasper und griff herzhaft nach ihrer Hand. ‚Mudding, was is dabei zu schämen? Das is doch das, was der liebe Gott will. Das einzige, was schad dabei is, das besteht darin, daß du ...‘ Jedoch er unterbrach sich und klopfte ihr auf den Rücken und rief in seinem muntersten Ton: ‚Nu, Mudding, so viel haben wir lange nicht zusammen gesprochen. Wahrhaftig, so viel, daß mir davon ganz trocken in der Kehl' geworden is. Wie wär's, wenn du jetzt was zu trinken gäbst? Aber du hast wohl bloß wieder deinen Kaffee?‘

‚Nein,‘ flüsterte sie rasch, ‚ich hab' für dich Grog gemacht.‘

‚Grog?‘ wiederholte der Steuermann, über ihre Aufmerksamkeit völlig verblüfft. ‚Wahrhaftig, Mudding, richtigen Grog? Daran hast du gedacht? Oh, paß mal auf, Mudding, es wird noch, es wird noch allens richtig – es steckt so viel Gutes in dich.‘ Dabei war er aufgesprungen, nahm ihr den Grog mit dem warmen Wasser ab, und nun brachte sie Gläser herbei mit Zucker und Rum drin und goß ein.

Jasper mußte zusehen, wie sie alles bereitete, und als sie den Arm hob, da sah er auch, wie fein und kindlich er war! ‚Mudding,‘ rief er plötzlich, nachdem er das erste Glas gekostet, ‚du bist wie ein Weihnachtspüpping. Und der Mut – ja, ja, der wird dir auch schon noch kommen. Nu trink!‘

Da trank sie wirklich, und als ihr das Blut davon in den blassen Wangen zu schimmern begann, und als in den blauen Augen dunkle Flämmchen zuckten, da fuhren tolle Gedanken durch Jaspers Seele, bis er plötzlich ihre Hand ergreifen mußte, um ihre Finger mit einer schnellen Bewegung seinem Ohr zu nähern.

‚So, Mudding, da kneifst du nu mal rein, und in den Bart da zupfst du mich auch. Du mußt nu endlich merken, daß du eigentlich der Stärkste hier bist. Ja?‘

Wirklich spürte er ihre Finger an seiner Haut, und trotzdem sie nur immer bat ‚o Jasper‘, ließ er nicht ab.

‚Nu lach' auch, mein Kinding,‘ bettelte er förmlich. Da geschah etwas Wunderbares. Hell und jung lachte sie plötzlich. Und es war ein so ungewohnter Ton, daß der Steuermann in die Höhe fuhr, als wollte er erforschen, woher der Laut gedrungen sei.

‚Das kannst du?‘ kam es ungläubig von seinen Lippen, ‚das kannst du?‘

‚Makt up!‘ klang von draußen aus dem Schneewetter eine Stimme dazwischen.

Aus seinen Träumen gerissen, öffnete Jasper. Auf dem Flur stand der Postbote, der ihm einen Brief entgegenschob. ‚Aus Wismar,‘ brummte er. Dann klingelte die Glocke an der Haustür, und der Eindringling war wieder verschwunden.

Wieder waltete Stille. Der Steuermann saß am Tisch und las. Die Lichter des Baumes waren fast herabgebrannt, und Jasper war so vertieft, daß er kaum merkte, wie aufmerksam und gespannt dieses junge Kind, das sein Weib war, sein Tun verfolgte.

Endlich löste sich eine Frage von ihren Lippen, kurz und gepreßt:

‚Jasper, nimmst – nimmst du nun doch den Vorschlag an?‘

Er hob sein Haupt, seine Augen leuchteten ihren eigenen stählernen Glanz, den sie stets wiesen, wenn von Geldeswert die Rede war.

‚Marik,‘ entgegnete er gedämpft, ‚zweihundert Taler den Monat – und zum Schluß tausend Mark zum Geschenk. Das wird mir nie wieder geboten.‘

‚Und wie lange bleibst du?‘

‚Oh,‘ meinte er leichthin – ‚knapp zwei Jahr'. Und dort oben in die Eisgegenden kann ich alles sparen. Oh, paß auf, Mudding, ich komm' als ein reicher Mann wieder. Und dann zahl' ich an auf einen eigenen kleinen Dampfer, und dann büst du Frau Kapitän. – Du sagst ja gar nichts?‘

Aber sie schwieg. Und das war wieder das Schlimme, daß dies laut pochende Herz nicht reden konnte.

Sie setzte sich in eine Ecke, und während er sich von neuem über das Schreiben beugte, schaute sie in die verendenden Lichter hinein und lauschte auf das Hämmern in ihrer Brust und hörte, wie auf dem Bodden das Eis knackte, scharf und brechend wie ein Wehlaut.

... Nach vier Jahren kehrte Jasper Grapentin heim. Sein Schiff war dort oben eingeeist gewesen, so daß man nichts von ihm gehört hatte.

Es war ein älterer Mann, der da eines Morgens an die Tür klopfte, ein wenig geneigt, mit Furchen auf der Stirn und mit einem langen Vollbart, der an den Spitzen einen silbernen Saum aufwies. In der Hand trug der Mann eine winzige kleine Tanne.

‚Guten Morgen,‘ sagte der Eintretende und stutzte, als ein kräftiges, biegsames Weib mit einem etwa dreijährigen Mädchen vor ihm stand: ‚Bist du Marik?‘

Sie antwortete, während sie ihn befremdet musterte, mit lauter, klarer Stimme: ‚So heiß ich, aber was wollen Sie hier? – ich brauche keinen Weihnachtsbaum.‘

‚Ja, Marik,‘ erwiderte der Ankömmling kleinlaut. ‚Heut is ja wieder Weihnachtsmorgen, und ich hab' den Baum im Dangerower Holz geschlagen. Du aber bist kräftig und schön geworden,‘ setzte er langsam hinzu, und seine Stimme, die er im ewigen Eise selten gebraucht, klang schüchtern und bewegt, ‚und nu leg die Arme um meinen Hals, denn sieh', ich bin Jasper.‘

Da trat die Frau einen Schritt zurück und riß ihr Kind mit sich, daß es aufschrie. Dann sprach sie abweisend: „Wenn du Jasper bist, so freut es mich, daß du am Leben geblieben. Und dies hier ist dein Kind. Aber die Arme mag ich nicht um deinen Hals legen, denn ich kann mich in dich kaum finden, so anders siehst du aus. Solche Zärtlichkeit ist mir auch ungewohnt. Aber während du fort warst, da hab ich alles so gehalten, wie es war, und die Arbeit hat mir gut getan. Nun setz dich nieder und trink einen Schluck Warmes.‘

Der Mann ließ sich nieder und schüttelte das Haupt. Dann zog er eine Brieftasche hervor und zählte mehrere Tausendmarkscheine auf den Tisch. Aber das Weib, das geschäftig hin und her ging, wandte keinen Blick danach. So blieb's den ganzen Tag. Sie sprachen kein überflüssiges Wort. Nur als der Steuermann einmal zaghaft über den Blondkopf des kleinen Mädchens streichen wollte, mußte er wieder befangen das Haupt schütteln und zog wie beschämt seine Finger zurück. Am Nachmittag ging er fort. Als er abends heimkehrte, da brannte die kleine Tanne, die er im Dangerower Holz geschlagen, und nebenan im Alkoven schlief das kleine Mädchen, denn es war schon spät.

Das Schweigen aber endete nicht. Still saßen die beiden auf dem schwarzen Ledersofa und sahen auf den Baum. Aber wie waren beide durch die Jahre verwandelt: Sie, aufrecht, erblüht, bewußt – und er müde, verarbeitet und bedrückt; ein Mann, der scheu und zaghaft geworden in der ewigen Stille der Eiswelt; nur die Geldtasche hielt er in seiner Hand wie eine Entlastung.

Lange, lange Zeit saßen sie so.

Als er jedoch daran denken mußte, wie er damals von dannen gegangen war, lieblos, gerade in dem Augenblick, als die scheue Seele neben ihm sich öffnen wollte, da schnitt ihm etwas durch die Brust, und schwer neigte sich seine Stirn, bis sie auf dem rotbuchenen Tische ruhte, und durch seinen derben Körper zuckte etwas wie ein Schluchzen, wenn er sich auch nicht rührte.

Und wieder verging eine lange Spanne Zeit. Die Tanne duftete und die Lichter flackerten im Luftzug, und so merkte der Versunkene nicht, wie eine Hand ganz leise sein Ohr berührte und dann auch seinen Bart zupfte, und wie dabei um die Lippen des kräftigen Weibes ein ganz eigentümliches, überwundenes und doch sieghaftes Lächeln spielte.


„Ja, ja, die Scheuen,“ meinte die alte Kase, „sie haben so vieles, was man gar nicht enträtseln kann – das kannst du glauben.“


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