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August Julius Langbehn wurde am 26. März 1851 in Hadersleben geboren und starb am 30. April 1907 in Rosenheim. Er war ein deutscher Schriftsteller und Kulturkritiker der Kaiserzeit.
Sein 1890 veröffentlichte Hauptwerk ist "Rembrandt als Erzieher".





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Berlin, den 18. Dezember 1909.

Der Rembrandtdeutsche.

Am ersten Februar 1908 veröffentlichte ich in der „Zukunft" einen Aufsatz „Der Rembrandtdeutsche", in dem ich von meinen Beziehungen zu Diesem erzählte. Veranlassung hierzu war eine Zeitungnachncht, nach der Julius Langbehn, der Verfasser des Buches „Rembrandt als Erzieher", gestorben sei. Ich hatte etwa ein Jahr mit meinem Aufsatz gewartet, da ich annahm, nach seinem Tode würden Mittheilungen über das Leben des merkwürdigen, absichtlich in Vergessenheit sich versenkenden Mannes veröffentlicht werden. Aber es erschien meines Wissens nichts als jene unkontrolirte Notiz.

Meine Frage war: Wer hat Kunde von Langbehn? Wer weiß Genaues von seinem Ende?

Ich habe eine große Zahl von Zuschriften erhalten und bin Denen, die sie mir freunslich sandten, eine Erklärung schuldig, warum ich wieder ein Jahr verstreichen ließ, ohne mit Dem herauszutreten, was ich über Langbehn erfuhr. Denn von allen Seiten kam mir die Aufforderung zu, ich solle dafür sorgen, daß der Literaturgeschichte der Weg zur Erforschung des Lebens einer der merkwürdigsten Erscheinungen im deutschen Schriftthum nicht versperrt werde. Die Welt habe ein Recht, den Verfasser eines Buches zu kennen, das in Anerkennung und Widerstreit einen so bedeutsamen Einfluß auf das deutsche Geistesleben gewann.

Dem gegenüber mußte ich mich fragen, namentlich seit ich genaue Schilderungen der Lebensformen erhalten hatte, in denen Langbehn in späteren Jahren sich bewegte, ob ich ein Recht habe, das von ihm so ängstlich gewahrte Geheimniß zu durchbrechen, so lange wenigstens, wie ich nicht klare Beweise von seinem Tode habe. Und ich hatte bis vor Kurzem guten Grund, anzunehmen, daß die Todesnachricht von 1907 falsch gewesen sei. Denn ich wußte,

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daß Langbehn zum Katholizismus übergetreten und dem neuen Glauben leidenschaftlich ergeben sei. Da mir nun von einem hohen katholischen Geistlichen am neunten Mai 1908 die Mittheilung zuging, daß die Todesnachricht „sicher falsch" gewesen sei und Langbehn noch lebe, legte ich die mir zugegangenen Briefe zunächst in ein Aktenstück zusammen, mit der Verfügung, daß meine Erben es nach Langbehns Tod zu verwerthen berechtigt sein sollten.

In zwei Aufsätzen der Kreuzzeitung vom achten November 1906 (Nr. 524) und dreizehnten August 1908 (Nr 277) sucht ein Herr Dr. —s aus Waidmannslust in der Mark nachzuweisen, nicht Langbehn sei der Verfasser von „Rembrandt als Erzieher", sondern der Theologe v. Dr. Rudolf Friedrich Grau, der 1893 in Königsberg als Universitätprofessor starb. Langbehn sei ein „literarischer Flibustier", der es sich habe gefallen lassen, daß man ihm die Grau gebührenden Verdienste zuschreibe. Ich würde von dem Geschreibe keine Notiz nehmen, wenn nicht Reinhold Seeberg, der berliner Theologe, darauf hingewiesen hätte und wenn nicht Grau thatsächlich ein sehr beachtenswerther Mann von einer Langbehn verwandten Geistesrichtung gewesen wäre. Den in kräftigen Ausdrucksformen für seinen Lehrer kämpfenden Herrn Dr. —s kann ich versichern, daß der Vertrag über die Herausgabe des Buches von der Hirschseldschen Verlagshandlung mit Langbehn abgeschlossen wurde und daß Langbehn die Durchsicht und Umgestaltung der neuen Auflagen selbst besorgte. Dr. —s trägt zwar seine Ansicht mit „Kritik und Akribie", auch mit entsprechender Grobheit gespickt vor, aber wie sich leicht aktenmäßig nachweisen läßt, ist sie leider durchaus falsch.

An der Nachricht von Langbehns 1907 erfolgten Tod ist nicht mehr zu zweifeln: der Bürgermeister von Rosenheim, Hofrath Wüst, hat mir eine Abschuft des Totenscheines geschickt. Daher stehe ich nicht mehr an, zu erzählen, was ich über Langbehns Leben aus Zuschriften erfuhr. Dabei liegt mir fern, eine Würdigung des geistigen Werthes des Verstorbenen hier geben zu wollen. Nicht will ich den Entwickelungsgang seiner Gedanken schildern, nicht Zusammenhänge mit den geistigen Strömungen der Zeit darlegen. Ich möchte nur die Thatsachen mittheilen, die den äußeren Lebensgang des merkwürdigen Mannes schildern, auf die Gefahr hin, daß man mir vorwirft, einen Polizeibericht zu geben. Die Thatsachen sprechen für sich eine ernste Sprache.

August Julius Langbehn ist am sechsundzwanzigsten März 1851 in Hadersleben geboren als Sohn des Dr. phil. Johann Jakob Langbehn und der Maria Magdalena Therese, geborenen Boysen. Der Vater war Lehrer der Lateinschule in der Schmiedegasse in Hadersleben, später Subdirektor. Die Mutter lebte als Witwe seit 1873 in Hamburg und starb dort am neunten Juni 1883 im Alter von sechzig Jahren.

Langbehn hatte Geschwister. Ein älterer Bruder, am neunten Oktober

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1847 in Hadersleben geboren und 1884 unverehelicht gestorben, hieß Johannes Justus Hermann Theodor und war zuletzt Postsekretär in Hamburg. Langbehn hat mir gegenüber von diesem Bruder gesprochen, der ihn unterstützt habe. Aber es schien mir, als wenn die Beziehungen am Ende seines Lebens doch getrübt gewesen sein. Ein zweiter Bruder war 1884 noch am Leben und wohnte in Colorado Springs in Nordamerika. Ein dritter war jung verstorben. Langbehn besuchte die Schule in Kiel, wurde aber schon im Dezember 1869 Konkneipant der Burschenschaft Teutonia. Als der französische Krieg ausbrach, trat er in das Magdeburger Füsilier-Regiment Nr. 36 in Halle ein, kämpfte mit ihm vor Metz, um Orleans und Le Mans, erhielt die Qualifikation zum Reserveoffizier, studirts nach der Rückkehr in Kiel Naturwissenschaft und Mathematik und wurde in jene Burschenschaft aufgenommen. Als er jedoch Kiel verlassen hatte, kam er bald in schwere Konflikte mit der Burschenschaft, die erst in den achtzehnhundertneunziger Jahren durch diese wieder geregelt wurden.

Von Kiel aus bezog er im Sommersemester 1875 die Universität München, wo er bis 1880, also zehn Semester, inskribirt war. Jedoch war er die beiden letzten Wintersemester vom Belegen von Vorlesungen dispensirt. Er hörte bei Brunn, Saniere, Meßmer, Bursicm, Prandl, Helm, Riehl und Julius. Bei Brunn acht, bei Meßmer drei Semester; und zwar machte er durchaus die Schule des klassischen Archäologen durch. Am vierundzwanzigsten Januar 1880 wurde er auf Grund seiner Dissertation über „Griechische Flügelwssen" zum Doktor promovirt. Brunn und Bursian berichteten sehr günstig über die Arbeit, die später auch im Druck erschien. Es ist eine treffliche, durchaus archäologisch wissenschaftliche Arbeit, in der sich Langbehn in den Bahnen seines Lehrers Brunn bewegt. Später führte er den Doktortitel nicht. Ich habe über seine Dissertation von ihm nie Etwas gehört. Erst später erfuhr ich durch Zufall von ihr. Wohl aber erinnere ich mich, daß er es als eine „Dummheit" bezeichnete, die er damit begangen habe, daß er promovirte.

In München wohnte er die längste Zeit bei einer Frau Wedekind und zog mit ihr von der Unteren Gartenstraße Nr. 10 in eine Wohnung in gleicher Straße Nr. 63 um. Daß er ein flotter Student war, ergiebt sich daraus, daß er 1880 mit dreißig Mark wegen Sachbeschädigung polizeilich bestraft wurde.

Der münchener Kreis, in dem Langbehn 1875/76 lebte, bestand in seinem Kern aus schleswig-holsteinischen Medizinern, die freilich meist jünger waren als der schließlich im zwanzigsten Semester stehende Langbehn. Eine gewisse Führung in dem zu freiem Verkehr sich zusammenfindenden Kreis junger Männer hatte Dr. Strenge, jetzt Sanitätrath in Neumünster in Holstein. Neben ihm trat der Holsteiner Dr. Rauert, der Preuße Dr. Harttung, der Rheinländer Dr. Leibl hervor. Auch Schriftsteller, wie Cajus Möller und dessen Vetter Konrad Möller, Karl Starkajan und Andere, gehörten dem Kreis an. Durch

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Leibl wurden ihm Künstler zugeführt, darunter dessen Bruder, der Maler Leibl, der mehrere „Charakterköpfe" des Kreises malte. So Rauert und auch Langbehn, dessen Bild ich 1887 sah. Er brachte es in meine Wohnung, um es mir zu zeigen. Erinnere ich mich recht, so war es halbe Figur, etwa achtzig Centimeter hoch, eine ausgezeichnete Arbeit, an der Langbehn sehr hing. Trotzdem war er damals geneigt, sie zu verkaufen. Ich habe mit ihm und dem Kunstfreund Kommerzienrath Zschille über den Preis verhandelt. Aber damals war Leibl noch nicht „verkäuflich". Das Bild soll später in den Besitz des Malers Momme Nissen gekommen sein. Von Malern verkehrten noch in dem Kreise Sperl und Haider, wohl auch Hans Thoma, der noch in späterer Zeit Beziehungen zu Langbehn hatte. In Brunns Vorlesungen lernte er den Maler Vorländer, jetzt Professor in Münster, kennen, mit dem ihn enge Freundschaft verband. Die Verehrung für den Maler Leibl war nachhaltig. Aber auch mit ihm blieb er, wie mir Professor Sperl schreibt, nicht in dauernder Verbindung.

In diese Zeit fällt auch seine Reise nach Italien und seine Thätigkeit in einer Hamburger Privatgalerie, über die ich Nachrichten nur aus Langbehns eigenem Munde habe. Doch war er ja nie mittheilsam und habe ich Manches vergessen Im Juli 1883 wohnte er in Hamburg, Valentinakamp 77 III. Auch in Frankfurt am Main und Lübeck hielt er sich auf. Er stand dort, wie mir scheint, in geselligen Beziehungen nur zu dem Direktor des Hamburger Gewerbeschulwesens, Jessen, und durch Diesen mit Dr. Peter Jessen, dem jetzigen Bibliothekdirektor des berliner Kunstgewerbemuseums.

Auch zu Theodor Mommsen scheint Langbehn in einem Verhältniß gestanden zu haben. Ich höre, er sei eine Weile sein Assistent gewesen, was freilich mir nicht recht glaubhaft scheint. Doch wohnte er im Frühjahr 1885 in Charlottenburg. Trotz Allem, was Langbehn über Mommsen geschrieben hat, stand er aber noch um 1900 mit ihm in brieflichen Beziehungen. Mommsens Korrespondenz ist bekanntlich für lange Zeit nicht zugänglich, also von dieser Seite Auskunft nicht zu erlangen.

In der Folgezeit hat Langbehn auch in Frankfurt an der Oder im Hause des Dr. Harttung als Gast gewohnt, ohne jedoch sich mit dessen junger Frau und der zu lebhaft praktischem Eingreifen gestimmten Lebensart seines Freundes stellen zu können. Der Bruder Harttungs, der bekannte breslauer Mediziner Professor Willy Harttung, und der öfter von Berlin herüberkommende junge Wildenbruch waren in dem Kreise die leitenden Köpfe. Mit Wildenbruch kam Langbehn in heftigen Streit. Doch erinnerte sich in späteren Jahren der Dichter, den ich danach fragte, der Angelegenheit, selbst der Person Langbehns nicht mehr. Bald setzte Dieser seinen Wanderstab weiter.

Nach Dresden ist er im März 1885 gekommen. Bald darauf besuchte er mich, eingeführt durch einen Brief des Dr. Peter Jessen. Daß er außer mit

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mir, dem Musiker Reinhold Becker und später mit Woldemar von Seidlitz mit Anderen verkehrt habe, glaube ich nicht; wenigstens hat er mir nie davon erzählt.

Gewohnt hat Langbehn erst im Vorort Gruna, später, um 1891, Seidnitzerplatz 1 III. Dort hat ihn unter Anderen Peter Gast besucht.

Bei Becker suchte Langbehn, der selbst unmusikalisch war, Aufklärung über das Wesen des Volksliedes. Er saß oft bei dem feinsinnigen, liebenswürdigen Künstler, um dessen Spie! zuzuhören und mit ihm seine Ansichten über Musik durchzusprechen.

Meine Beziehungen zu Langbehn endeten im Frühjahr 1887. Im Hause meiner Eltern verkehrte er noch länger, folgte ihnen als Gast in ihren Sommeraufenthalt Naundorf bei Schmiedeberg ins Erzgebirge. Meine Mutter sorgte für seine Leibwäsche und half ihm sonst, so weit als Das ohne Kränkung seines Stolzes möglich war.

In die letzte Zeit meiner Beziehungen zu Langbehn fällt der Beginn des Verkehrs mit Seidlitz, der 1885 nach Dresden als Rath in die Generaldirektion der Museen berufen worden war. Ich hatte schon vorher vielfach Langbehn gedrängt, eine Anstellung zu suchen; eine solche zu erlangen, war der Zweck seiner persönlichen Anfrage bei Seidlitz, zu der ich ihn wiederholt rieth. Aehnliche Versuche, ihm ein sicheres Brot zu schaffen, haben mehrere seiner Freunde gemacht. So der Maler Vorländer, der ihn für die durch Lückes Berufung nach Dresden freigewordene Professur für Kunstgeschichte an der Düsseldorfer Akademie vorschlug. Seidlitz besuchte er öfter, verkehrte auch in dessen Haus. Durch Seidlitz scheint Langbehn auch in Beziehungen zum Kunsthistoriker Wilhelm Bode gekommen zu sein. Man erzählte mir, daß Seidlitz und Bode einen Einfluß auf die Herausgabe des Rembrandt-Buches ausgeübt hätten; nicht auf den Inhalt, wohl aber auf das Verlagstechnische.

Wer Langbehn in jener Zeit kennen gelernt hat, mußte in ihm den geistig angestrengt arbeitenden Mann erkennen, der sich mit großen Gedanken trug. Daß er dabei nicht „Gesellschaftmensch" war, konnte nicht auffallen. Er war nahezu ein Vierziger, ohne daß es ihm bisher gelungen war, sich eine Stellung in der Welt zu erringen, weder nach der sozialen Seite noch durch einen wissenschaftlichen oder sonstigen Erfolg. Seine Verhältnisse waren gedrückt. Man konnte es sehr gut verstehen, daß er die Gesellschaft Derer mied, die die neuen Bekannten zunächst auf die Frage ansehen, ob er eine „Situation" habe. Langbehn mußte, bei seinem starken Selbstgefühl, das Zusammentreffen mit Menschen scheuen, die durch eine harmlose Frage ihm lästig werden konnten. Aber er war nicht menschenscheu. Er ging der Begegnung mit Freunden nicht grundsätzlich aus dem Wege. Am Liebsten scheint ihm zu jener Zeit der Umgang mit Leuten gewesen zu sein, deren Bildungsgrad ein Nachforschen nach seinem geistigen Entwickelungweg ausschloß. Ich merkte Das sehr

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wohl und vermied grundsätzlich Alles, was wie ein Ausfragen erscheinen konnte; ich bin überzeugt, daß sich auch Seidlitz so verhielt. Thatsächlich habe ich auch, so lange ich Langbehn unter den Lebenden wähnte, alle Nachforschungen unterlassen, so lebhaft auch die Erinnerung an ihn mich dauernd beschäftigte. Wußte ich doch von seinen Verhältnissen, obgleich ich selbst mich immer, meiner Natur gemäß, dem Freunde rücksichtlos offenbarte, bis vor einem Jahr herzlich wenig über sein Leben. Ein klares Vertrauen war eben von ihm nicht zu erringen. Wohl empfand er als Pflicht des Freundes, dem Freunde zu helfen. Er selbst scheint sich Anderen, der Hilfe Bedürftigen, gegenüber nicht geschont zu haben. „Brich, brich, brich!" schrieb er an Vorländer, dem Verwandte nicht so unterstützten, wie Langbehn es für deren Pflicht hielt.

Seine äußere Lage war damals recht ungünstig. Die Zeiten in seinem Leben, in denen er reichlichere Einnahmen hatte, scheinen nur kurz gewesen zu sein. Sein Jahreseinkommen schätzte er selbst auf 550 Mark. Einiges verdiente er sich auch als Schriftsteller, und zwar meist durch Vermittelung der münchener Studienfreunde. Ich erinnere mich, daß er den Druckabzuz eines Aufsatzes überbrachte, der in einer westfälischen Zeitung erschienen war, wenn ich nicht irre: einer dortmunder. Andere, über norddeutsches Wesen und die Ziele einer künftigen Entwickelung Deutschlands, erschienen im „Hamburgischen Korrespondenten". Beide sind später in das Rembrandtbuch mit hineingearbeitet worden, das in der Zeit, wo sie geschrieben wurden, im Grundplan bereits festgestanden haben dürfte. Langbehn gab sie sichtlich nur aus Noth an die Oeffentlichkeit, weil er damit die Wirkung seines Buches zu beeinträchtigen glaubte, von der er die größten und wie, sich später herausstellte, hellsichtigsten Hoffnungen hatte.

Aber selbst wenn ich von der Berechtigung seines Selbstgefühles die höchste Meinung hatte, konnte ich mich und konnte nach mir wohl auch Seidlitz sich nicht der Empfindung erwehren, daß dieses Gefühl sich in überstiegenen Formen äußere: in dem Wunsch, daß sich Einer, der sein Freund sein oder bleiben wolle, ihm unterordnen müsse. Nicht nur in dem Sinn, daß er Langbehns geistige Ueberlegenheit anerkenne, sondern vielmehr so weit, daß er jeden Widerspruch aufgebe. Von seinem Freunde, den Maler Vorländer, mit dem er lange Jahre in einem Verhältniß wechselseitigen Aushelfens mit ihren kleinen Geldmitteln lebte, verlangte er sogar, daß Dieser schriftlich Langbehns Superiorität anerkenne und sich völlig seiner geistigen Ueberlegenheit unterwerfe. Als Vorländer hierauf nicht einging, kam es zum Bruch. Schon vorher hatte Dieser den Eindruck, daß Langbehn einen solchen herbeizuführen wünsche.

Gegen Ende der achtziger Jahre, also kurz vor Erscheinen des Rembrandtbuches, hatte er von Vorländer eine Zeichnung erbeten mit dem Thema: „Wenn man mit dem Weltgeist allein ist, so ziemt es sich nicht, daß man die

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Nase durch die Thür steckt, um nachzuspüren, was er treibt." Er brauche dieses Blatt. Vorländer zeichnete es mit der Feder, doch der „Weltgeist" erschien Langbehn nicht „affektlos" genug; sonst aber erklärte er die Zeichnung für „gut". Wer in seinem Sinne der Weltgeist war, ist wohl nicht mißzuverstehen.

Im Anfang 1890 erschien dann, mit dem bekannten Erfolge, das Buch „Rembrandt als Erzieher". Ueber die verlagstechnischen Fragen, in die Langbehn mit großer Entschiedenheit eingriff, hoffe ich später authentische Nachrichten geben zu können.

Mit dem Erscheinen und den wachsenden Auflagen seines Buches scheint für Langbehn eine neue Zeit der Bewegungfreiheit eingetreten zu sein. Hiermit beginnt auch das ununterbrochene Fortarbeiten an seinem in immer erneuten Auflagen erscheinenden Buch und seine Bemühung, ihm in die weitesten Kreise Eingang zu schaffen. Der literarische Lärm war gewaltig. Bald begann ein emsiges Herumrathen, wer der Verfasser sein könne.

Die wissenschaftliche Kritik stellte sich im Allgemeinen auf den Standpunkt der „Vornehmheit". Das heißt: sie erklärte, Langbehns Buch sei, ähnlich wie Nietzsches Schriften, eine „Modeerscheinung", an deren Erfolg man nur mit Bedauern den tiefen Geistesstand des deutschen Volkes erkennen könne. Es erschienen Brochuren, die das Buch theils bekämpfen, theils verulken wollten. Und es ist bezeichnend, daß auch sie viele Auflagen erlebten. So kenne ich eine siebente Auflage des Schriftchens „Est, est, est, Randbemerkungen eines niederdeutschen Bauern", eine zweite von „Der heimliche Kaiser oder der Dampfbau oder der wildgewordene Bliemchenkaffee". Andere traten mit Wärme für Langbehn ein, so namentlich Max Bewer, der mit dem Verstande des Herzens Menschen und Dinge beurtheilte. Die Großen, Kuno Fischer, Anton Springer und Andere, lehnten das Buch glattweg ab.

Aber das Erscheinen von neunundvierzig Auflagen und das immer wieder erneute Zurückgreifen auf den Gedankeninhalt des Buches hat doch bewiesen, daß in Langbehns Werk, trotz aller Eigenart und allen „Fehlern" in seiner Anlage, ein starker, dauernder Kern steckt, daß es als Weckruf zur Individualität für alle Zeiten in der Geschichte des deutschen Geisteslebens eine wichtige Rolle spielen wird.

Die Hoffnung der Freunde Langbehns, daß der Erfolg die Last von seiner Brust nehmen werde, war irrig. Nun setzte sein Kampf um die Anonymität ein und aus diesem heraus seine wachsende Vereinsamung.

Wer zuerst der Welt Langbehns Namen verrieth, weiß ich nicht. Nach einer Zeit des Herumrathens wurde es ziemlich allgemein klar, wer der Autor sei. Nur kannten nicht eben Viele den Mann selbst. Dieser wehrte sich, so weit es die Wahrheit zuließ, mit Ableugnungen. Als ich kurz nach dem Erscheinen des Buches in einer Besprechung andeutete, daß ich den Verfasser kenne, warnte

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er mich durch ein Eingesandt an die Redaktion, frühere Beziehungen zum Bruch seines Geheimnisses zu benutzen. Als in den Zeitungen die Nachricht erschien, der Autor heiße Langbein, ließ er, die falsche Schreibung des Namens benutzend, diese Nachricht dementiren.

Dagegen entwickelte sich unter der Deckadresse der leipziger Verlagsbuchhandlung oder postlagernd ein Briefwechsel mit seinen Verehrern, denen er aber nicht seinen Namen, nicht einmal seinen Wohnort nannte. Für seine alten Freunde verschwand er nun vollständig. Briefe, von denen er fürchtete, daß sie ihn verrathen könnten, forderte er zurück. Der Kampf um die Anonymität mehrte seine Vereinsamung. Er behielt seine Wohnung am Seidnitzerplstz. Aber er hielt sich nachts nicht dort auf. Wo er schlief, wußte Niemand. Er beschäftigte einen Schreiber, wechselte ihn aber oft, damit Keiner Einblick in sein Thun erlange. Seine Wirthin mußte an ihn adressirte Briefe abweisen. Er sei verzogen. Die Wirthin sorgte sich seiner Nervosität und Hypochondrie wegen. Ja, er wurde ihr unheimlich. Aller Verkehr früherer Bekannter mit ihm hörte auf. Selbst der mit Hirschfelds Verlagsanstalt trübte sich bald. Schon 1900 war die Firma gezwungen, amtliche Recherchen bei allerlei Behörden anstellen zu lassen, da er jeden Verkehr abgebrochen hatte, auch amtliche Briefe ihn nicht erreichten, seine Adresse nicht zu finden war. Noch einmal trat er 1890 hervor, als Nietzsche erkrankt war. Man kennt aus der Nietzscheliteratur sein eigenartiges Eingreifen in die Behandlung des Philosophen. Langbehn kannte Nietzsches Werke, hielt sich aber von einer Beeinflussung durch ihn fern, da er sich nicht als Schüler Nietzsches fühlte und nicht dafür gehalten werden wollte. Seine Berechtigung, in die Pflege des kranken Geistesgenossen einzugreifen, entnahm er aus seiner Erfahrung in diesen Dingen. War doch seine Mutter, wie mir berichtet wird, im Irrsinn gestorben. 1891 erschienen bei Glöß in Dresden seine „Vierzig Lieder von einem Deutschen", auf die er große Hoffnungen gesetzt hatte. Er übergab dem Verlag eine Gedenktafel, die die Thatsache festhalten sollte, daß die Gedichte in ihrer Offizin gedruckt worden seien. Die geringe Notiz, die die Welt von den Gedichten nahm, hat ihn tief verstimmt. Nicht minder, daß die Staatsanwaltschaft eine Untersuchung wegen angeblicher Unsittlichkeit der Verse eröffnete. Später wurde das Verfahren eingestellt. Obgleich sonst die Verbindungen zwischen uns abgeschnitten waren, ließ Langbehn mir einen Abzug des Buches zugehen.

Nun beginnt eine unaufgeklärte Zeit der Reisen. Die Nachricht, daß Langbehn hier oder da gesehen worden sei, daß er aber einer Ansprache ausgewichen sei, tauchte unter feinen Freunden vielfach auf. Aus späterer Zeit sind mir Andeutungen zugegangen, als wenn die Reisen mehr zu Wallfahrten geworden seien. Dabei scheinen sie in weite Fernen gerichtet gewesen zu sein. Eine Spur weist auf die spanisch-französische Grenze (Lourdes?), die andere

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auf Jerusalem. Von dem Fortgang seiner geistigen Entwickelung werden vielleicht noch seine unter Deckadressen versandten Briefe an Verehrer zu erzählen haben. Der mystische Zug in seinem Wesen gewann unverkennbar immer stärkeren Einfluß auf sein Denken. Vor mir liegt einer dieser Briefe. „Ruhe ist die erste Geistespflicht", sagt er dort. „Der Mensch soll sich stets und überall in nächster Beziehung zum Weltgeist, dem Geist des Ganzen, fühlen". Und dieser Weltgeist hatte aus ihm gesprochen. Er zog sich zurück von der Welt, der er als Organ des Weltgeistes gedient hatte: dieser Gedankenweg wies auf die großen Mystiker des Mittelalters; er dürfte ihn zum Katholizismus hingelenkt haben. Es besteht kein Zweifel darüber, daß er in aller Form zum Katholizismus übergetreten ist. Das dürfte in den neunziger Jahren geschehen sein. Wäre er nicht Katholik gewesen, so hätte ihn der katholische Pfarrer von Fürstenfeldbruck nicht auf dem katholischen Kirchhof zu Puch begraben dürfen.

Ob Langbehn in irgendeiner Richtung auch später produktiv thätig war, weiß ich nicht. Er hat nach meinen Nachrichten stets „fleißig studirt". Daß es sich dabei lediglich um ein Aufnehmen gehandelt habe, ist schwer glaublich für Den, der seinen inneren Drang zum Aeußern des in ihm fertig Gewordenen kennen gelernt hat. Ich würde also keineswegs erstaunt sein, wenn stark mystisch gefärbte Arbeiten zum Vorschein kämen, in denen er seine in katholischem Sinn gewandelten Anschauungen niederlegte.

Im Juni 1900 lebte Langbehn in Würzburg, anscheinend in auskömmlichen Verhältnissen. Er bewohnte zwei schöne, große Zimmer und hielt ein drittes für einen zu erwartenden, jedoch nie eingetroffenen Freund frei. Der Wirthin machte er einen so unheimlichen Eindruck, daß sie sich um Rath und Hilfe an Verwandte wendete. Schon seine inständige Bitte, ihn nicht polizeilich anzumelden, machte sie stutzig. Andere Beobachtungen ließen sie zu der Ansicht kommen, daß sie nicht, wie sie anfangs glaubte, einen Verbrecher, wohl aber einen Irren beherberge. Er sah sich von Mördern verfolgt, von Teufeln bedroht Eine Reihe von Beobachtungen, die seine Hausgenossen an ihm machten, lassen ihre Furcht, einen Kranken zu beherbergen, leider nicht unbegründet erscheinen. Im Sommer lebte er in Lohr am Main, dort allgemein für einen Irrsinnigen von ausgesprochen katholisch religiöser Färbung, gehalten. Man wies scheu auf den Mann, der in einem weiten, orientalischen Beinkleid, mit stets aufgespanntem, den Blick Vorbeigehender abhaltenden Schirm auf der Straße erschien, vor jedem Madonnenbild im Gebet niedersank, den Rosenkranz nie aus den Händen kommen ließ. Man erfuhr von seinen Wirthsleuten, wie sonderbar er es zu Haus treibe, wie ängstlich er sich vor feindsäligen Angriffen schütze, selbst den harmlosesten gegenüber, wie eigentümlich seine (wie es scheint, ganz vegetarische) Ernährung war, welchen Werth er auf die Anderen bedeutunglos erscheinenden Dinge legte, die ihn im Haushalt um-

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gaben. Den lorcher wie den Würzburger Wirthsleuten begann es zu grauen, so daß sie ihm kündigten. Ungern verließ er die Stadt mit ihren schönen Waldungen im Spessart. Man trieb den Scheuen weiter. Er zog nach Koblenz. Aber dort, wie sonst, habe ich keine Spur mehr von ihm auffinden können. Zuletzt wohnte er in einem kleinen Gasthof in München.

Meine Nachrichten über diese Tage Langbehns habe ich von einwandfreien Leuten, die freilich damals nicht wußten, wer der sonderbare Fremde sei, die auch nur sein Treiben zu beobachten Gelegenheit hatten, nicht aber ihm geistig näher traten. Aber sie berichten auch, daß er zu jener Zeit noch in brieflichem Verkehr mit hervorragenden Männern stand, und zwar nicht blos mit hohen katholischen Geistlichen, sondern, zum Beispiel, mit Theodor Mommsen. Dessen Briefwechsel ist jedoch für fünfzig Jahre gesperrt.

Der Direktor a. D. Roloff in Freiburg im Breisgau theilte in der münchener Zeitschrift „Hochland" mit, daß Langbehn in dem bayerischen Städtchen Rosenheim im Gasthof „König Otto" an Magenkrebs plötzlich gestorben und auf seinen Wunsch in Puch bei Fürstenfeldbruck vom dortigen Pfarrer Grastl am dritten Mai 1907 begraben worden sei. Auf einer Reise nach Tirol war er am zwanzigsten April nach Rosenheim gekommen, krank, begleitet von dem münchener Maler Momme Nissen. Dieser hielt ihn streng verborgen. Der Arzt wurde erst am dreißigsten April vormittags gerufen. Er fand Langbehn bereits als Leiche.

Auf dem Kirchhof zu Puch steht eine alte hohle Linde, in der einst eine Heilige, Edigna, gehaust haben soll Unter dieser Linde wollte Langbehn begraben sein. Ein einfaches Eisenkreuz bezeichnet das Grab, das die Zeichen trägt

I. A. L.
geb. 1851 † 1907.

Wozu diese Inschrift? Hunderttausende liegen in deutscher Erde begraben, ohne daß ein Zeichen an ihren Namen erinnert. Wollte Langbehn ein solcher Vergessener sein?

„Wenn Ihr nur wüßtet, wer ich bin!" sagte er so oft. Das selbe Räthselspiel noch im Tode. Hinter dem krankhaften Verstecken die stille Sehnsucht, durch alle die Geheimnisse hindurch doch entdeckt zu werden.
Die Frage drängt sich mir auf, ob ich Recht that, die Einzelheiten des Lebens eines Mannes zu erforschen und zu erzählen, der selbst die Spuren seines Daseins zu verwischen eifrig bemüht war. Ich will dabei die Entschuldigung nicht hervorheben, daß Andere das Selbe gethan hätten und daß die Literaturgeschichte im Allgemeinen es sich nicht nehmen lassen wird, die „Eiserne Maske", so weit sie kann, zu lüften; daß spätere Geschlechter unserer Zeit

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einen Vorwurf daraus machen würden, wenn sie sich um einen Mann nicht kümmerte, dessen Geist sie so stark in Anspruch nahm. Die Dreiheit Lagarde, Nietzsche, Langbehn wird in der Geistesgeschichte unseres Volkes stets eine Bedeutung behalten und gewiß wird noch manchen klugen Kopf die Frage nach dem Entstehen der individualistischen Geistesrichtung beschäftigen, die durch sie einen Freiheitkamps gegen öde Wissenschaftlichkeit siegreich durchführte. Wer heute „Rembrandt als Erzieher" in die Hand nimmt, wird schon die heftige Ablehnung, die das Buch einst fand, kaum noch verstehen. Es vollzog sich an ihm, was Lagarde auch von seinen Schriften wünschte, daß sie später für selbstverständlich gehaltene Wahrheiten enthalten. Unter diesen Wahrheiten ist eine der stärksten die vom Werth des Persönlichen in jedem geistigen Schaffen: die Gedanken nicht nur an sich, sondern als Erzeugnisse eines bestimmten denkenden Kopfes. Daher die Verehrung geistiger Helden.

Dem Absatz des Buches hat die Geheimhaltung des Verfassernamens wohl genützt; der Beurtheilung und dem Verständnis aber hat sie sicher geschadet. Denn dem Vorkämpfer für die Bedeutung des „Ich" im Geistesleben fehlte eben dieses Ich. Viele Schmähworte sind gegen seine Anonymität im Lauf der Zeit gefallen. Nach meiner Ansicht hatte die Welt ein Recht, zu fordern, daß der Mann heraustrete, der Andere so scharf angriff. Sie hatte ein Recht, Dem, der den Muth der Persönlichkeit feierte, einen Vorwurf daraus zu machen, daß er die seine verstecke. Aber mir schien es ein Unrecht gegen den Freund, seinem Wunsche entgegenzutreten, als ich erkannte, daß er ernstlich die Absicht hatte, verborgen zu bleiben. Aus dem Umstand, daß Dies nicht gelang, sah ich, daß Andere anders hierüber dachten. Als er mit mir über sein damals noch nicht erschienenes Buch sprach, hat er mich zwar nie zur Verschwiegenheit verpflichtet. Aber ich habe sie über zwanzig Jahre lang gehalten. Ich schwieg, so lange er lebte. Nun scheint mir die Zeit gekommen, in der zu reden eine Pflicht gegen das deutsche Volk und auch gegen Langbehn selbst ist. Denn mir fehlt es nicht an Zeugnissen, daß er selbst unter seiner Anonymität litt. „Wüßten Sie, wer ich bin, Sie würden mir anders gegenübertreten!" sagte er oft den schlichten Leuten, die in den neunziger Jahren mit ihm zu thun hatten. Er litt darunter, daß sie es nicht wußten und daß sie es auch nicht verstanden, wenn er es ihnen sagte.

Nochmals bitte ich Alle, die Langbehn kannten, mir Nachrichten zugehen zu lassen. (Unter der Adresse, Dresden, Kaitzerstr. 26). Die Presse ersuche ich, die Theile aus dem vorliegenden Aufsatz, die ihr für ihre Leser geeignet erscheinen, abzudrucken und meine Bitte um Benachrichtigung hinzuzufügen.

Dresden, Cornelius Gurlitt.


1910 - Die Zukunft - S. 95/96

95 - Der Rembrandtdeutsche.
...
Der Rembrandtdeutsche.

In dem Aufsatz des Herrn Cornelius Gurlitt über den Rembrandtdeutschen sind einige tatsächliche Irrthümer, die Sie gewiß im Interesse der objektiven Wahrheit gern berichtigen werden. Es ist richtig, daß ein zweites Werk des Verfassers des Rembrandtbuches unter dem Titel: „Vierzig Lieder von einem Deutschen" in meiner Druckerei erschien. Nicht richtig aber ist, daß aus Anlaß dieser Drucklegung zugleich eine Gedenktafel an meinem Haus angebracht wurde. Diese Mittheilung macht den Eindruck, als ob ich als Drucker die Ausgabe des Werkes in meiner „Offizin" mit einer übertriebenen Kundgebung hätte begleiten wollen. Die Tafel ist vielmehr erst angebracht worden, als auf Anzeige eines Rechtsanwaltes in Schleswig-Holstein ein Verfahren wegen Verbreitung unsittlicher Schriften gegen mich als den Veröffentlicher dieses Werkes eingeleitet worden war. Es ist nicht richtig, daß das Verfahren eingestellt wurde. Diese Strafanzeige überraschte mich um so mehr, als mir das Manuskript der „Vierzig Lieder" von dem Bismarck-Schriftsteller Max Bewer übergeben wurde, zu dem ich damals unbedingtes literarisches Vertrauen hatte und noch habe. Um nun den sittlichen Angriff auf die bürgerliche Ehre meines Hauses abzuwehren und zugleich der dresdener Staatsanwaltschaft kundzuthun, daß es sich hier um kein pornographisches Werk handle, wurde die Tafel an meinem Haus angebracht, die nur die einfache Inschrift trägt: „In diesem Haus wurden die ,Vierzig Lieder von einem Deutschen' im Jahr 1891 gedruckt." Bis zur gerichtlichen Entscheidung war sie, um ihren Eindruck zu verstärken, von einem Trauerflor umgeben. Der Verfasser von „Rembrandt als Erzieher" wartete die Gerichtssitzung über sein Werk nicht ab, sondern verließ Deutschland. Mit schriftlichem und künstlerischem Material von ihm und mit literarischen Vertheidigungsgründen von Bewer unterstützt, habe ich dann ohne Anwalt die mehrstündige Verhandlung allein durchgefochten. Ich verlangte nicht nur die Vorlesung der drei inkriminirten Gedichte, sondern aller vierzig Lieder und hatte nach Vorlegung meines Materials und nach einer eindringlichen Gegenrede den Erfolg, daß das Buch als „ästhetisches Kunstwerk" freigegeben wurde. Hierauf erließ der Verfasser von „Rembrandt als Erzieher" in den Zeitungen eine öffentliche Erklärung, daß der schleswig-holsteinische Antragsteller mit seinem Sittlichkeit-Strafantrag gegen ihn in Dresden abgewiesen worden sei, worauf Dieser wiederum gegen mich als den Unterzeichner dieser Zeitungerklärung eine Beleidigungsklage anstrengte, die in Erster Instanz abgewiesen wurde, in der Berufunginstanz eine Geldstrafe von hundert Mark herbeiführte. Ich bemerke, daß ich die „Vierzig Lieder" nur in nominellen Verlag nahm, für dessen Kosten der Verfasser von „Rembrandt als Erzieher"

96 - Die Zukunft.

sich kontraktlich bei mir verpflichtete. Er ist bis heute, also seit mehr als achtzehn Jahren, dieser Verpflichtung nicht nachgekommen. Ich habe nur das Recht, die noch vorhandenen, gebundenen Exemplare zum Preis von einer Mark abzugeben; ein Recht auf eine weitere Drucklegung besitze ich nicht, so daß ich nicht weiß, ob das Werk nach Erschöpfung der noch bei mir lagernden Exemplare weiterhin unter der beziehbaren Literatur fortleben wird. Den selben Druckauftrag erhielt ich vom Verfasser von „Rembrandt als Erzieher" für ein drittes Werk, das im folgenden Jahr in meinem Haus, unter dem Titel „Der Rembrandtdeutsche von einem Wahrheitfreund", zu dem von ihm festgesetzten Preis von einer Mark erschien und von dem auch noch ein Vorrath von Exemplaren nach Verkauf meiner Druckerei in meinen Händen ist. Es enthält eine Abhandlung des jetzigen Bischofs von Rottenburg Dr. Kepler aus den „Historisch-Politischen Blättern" von Jörg über das Rembrandtbuch und gegen die Gegner dieses Werkes mehrere Hundert Aphorismen, die mir in der Handschrift des Rembrandtdeutschen übergeben wurden.

Dresden. F. W. Glöß.

Buch-Text:

➷ Projekt Gutenberg-DE
➷ UNI Paderborn
➷ archive.org

Artikel z. Thema aus heutiger Sicht:
Zeitgeistbeschreibung in der ➷ Neuen Züricher Zeitung.

Die Deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern (DGDB) (Digitalisierte Quellen zur deutschen Geschichte von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart.)
➷ (DGDB)

Hier beispielhaft der Anfang des Artikels aus der Wochenzeitschrift "Die Zeit"
➷ ZEIT Nr. 02/1990 - Der Rembrandtdeutsche - Von Reinhard Osteroth

Auf Flohmärkten wird er noch angeboten: "Rembrandt als Erzieher" – ein Bestseller, der vor hundert Jahren das Bürgertum begeisterte, eine ideologische Brücke vom Kaiserreich zum "Dritten Reich": Der Rembrandtdeutsche

Pünktlich zur Entlassung Bismarcks: Ein Kursbuch für den deutschen Stammtisch

5. Januar 1990, 8:00 Uhr
Aus der ZEIT Nr. 02/1990
Der Rembrandtdeutsche

Von Reinhard Osteroth

Gott hat mir einen Engel gesandt, schreibt Nietzsches Mutter im Winter 1889 an ihre Tochter. Der Engel war brieflich an sie herangetreten und hatte sich erboten, ihren dem Wahn verfallenen Sohn durch eine Art Gesprächstherapie zu heilen. Nachdem der Herr Dr. (Kunsthistoriker) aus Dresden ihr einen zwölfseitigen Brief voll rührenden Sinnes geschrieben hat, hält sie ihn für den richtigen Mann, täglich meinen Fritz ins Freie zu bringen. Auch Peter Gast, Vertrauter Nietzsches und jetzt Beistand der Mutter, ist bald begeistert: Ein ausgezeichneter Mensch, ein gewisser Dr. Langbehn aus Schleswig.

Kurz darauf kommt es zu einer ersten Begegnung zwischen Langbehn und dem kranken Nietzsche in der psychiatrischen Anstalt in Jena. Als die Mutter das Gespräch auf Venedig bringt, ist das Eis gebrochen: Es ist eine wahre Freude, die beiden zu hören. Nietzsche zitiert kleine Verse; Langbehn verspricht, sich dem Königskind zu widmen.

Julius Langbehn hatte kurz vor seiner Mission nach Jena ein Manuskript abgeschlossen, nach dessen Veröffentlichung Anfang 1890 er auf einen Schlag bekannt werden sollte. Sein "Rembrandt als Erzieher" wurde ein spektakulärer, heftig umstrittener Bestseller. Dreißig Neuauflagen erschienen noch im ersten Jahr.

Hinter dem Titel verbirgt sich ein Kompendium nationaler Erweckungssehnsucht, das heute wie ein ideologischer Brückenschlag zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert anmutet. Im "Dritten Reich" galt Langbehn immerhin als "Vorkämpfer der deutschen Volkwerdung", wie es im Titel einer Dissertation von 1938 heißt. Die Arbeit bescheinigt Langbehn, er entspreche "in vielem dem Bild des Nordischen, das die moderne Rassenpsychologie aufstellt".

Den Geist des Ganzen beschwört Langbehn: gegen den zerfasernden mikroskopischen Blick, gegen den Spezialismus der modernen Wissenschaften, gegen den Mangel an Philosophie. Sein Weg zum erkrankten Nietzsche war zugleich ein Feldzug gegen die Schulmedizin, der er schon in seinem Rembrandt-Manuskript den Hypnotismus entgegensetzte. Für Langbehn war diese rein geistige Suggestion mit rein körperlicher Folgewirkung die Medizin der Zukunft. Die Heilung des exklusiven Patienten Nietzsche, der gewissermaßen die Krankheit der Zeit in sich trug, wäre für Langbehn ein furioser Sieg gewesen, den er als Fanal einer neuen Epoche hätte feiern können.

Aber die hoffnungsvollen Auspizien in Jena verdüsterten sich bald. Langbehn wächst die Sache über den Kopf, er wird furchtbar empfindlich und flüchtet sich in Invektiven gegen die Ärzte. Als Nietzsche ihm Ende November 1889 in einem Tobsuchtsanfall einen Tisch vor die Füße schmeißt und rasend die Sitzung verläßt, kehrt Langbehn zurück nach Dresden und entschuldigt sich mit der Lektüre der Druckfahnen zum Rembrandt-Buch. Trotzdem fordert er schon bald kategorisch die Vormundschaft über den Philosophen. Der Rembrandtdeutsche – Seite 2

Erst Ende Februar 1890 beendet das entschlossene Eingreifen des Nietzschefreundes Franz Overbeck die Affäre endgültig. Nietzsches Mutter aber schreibt noch im September: Ich trauere doch noch immer um den schrecklichen Langbehn, dessen Art mit Fritz zu verkehren und seinen Geist zu wecken, viel für sich hatte. Langbehn blickt erleichtert und später voller Pathos auf seine mißlungene Mission zurück: Ich habe in Nietzsche einen Bruder verloren. Gott sei der armen Seele gnädig.

Die Episode ist bezeichnend. Langbehn war ein Vagabund, im Leben, in den Bibliotheken und im Schreiben, ein Wandervogel zwischen Theorie und Praxis. Seine Biographie erinnert nicht wenig an manche Führergestalten der Jugendbewegung, die er nachhaltig beeinflußt hat. 1851 wird er in Hadersleben in Nordschleswig geboren. In Kiel und München studiert er Philologie und Naturwissenschaften. 1870 unterbricht er sein Studium, um sich als Kriegsfreiwilliger zu melden. 1873 bricht er zur italienischen Reise auf: Venedig, Verona, Florenz. In München studiert er Archäologie und verfaßt 1880 seine Dissertation über "Die Flügelgestalten der ältesten griechischen Kunst". Aber in dieser Zeit beginnt bereits seine Abneigung gegen die Zunftgelehrsamkeit. Weitere Reisen folgen, Rom und verschiedene deutsche Städte. Schließlich läßt er sich 1885 in Dresden nieder und bleibt dort für fünf Jahre.

"Rembrandt als Erzieher" ist das Konzentrat all dieser Studien und Reisen, ein "exzentrisches Dokument aus Panik, Antimodernität und nationalistischem Berufungswahn" (Joachim C. Fest). Als das Buch 1890 erscheint, verbirgt sich Langbehn hinter der Wendung Von einem Deutschen. Paul de Lagarde, dessen "Deutsche Schriften" 1880 Furore gemacht hatten, Hinzpeter, der Erzieher des Kaisers, ja sogar Nietzsche wurden gerüchteweise als Verfasser gehandelt. Der Anonymus hatte gut gepokert, der Schrift bekam die Suggestion einer Verschwörung zur Rettung der Nation denkbar gut. In den ersten zwei Jahren erschienen 40 Auflagen, 1936 die 85. Auflage!

Wie kein anderer hatte Langbehn den Tonfall eines Krisenbewußtseins gefunden, das kulturkritische Erweckungsschriften immer bereitwilliger aufnahm. Aus der Rede vom Fin de siècle nährte sich die Vorstellung vom Neuanfang und Wiedererstarken der Nation. Die aber habe sich, dozierte Langbehn, auf ihre Wurzeln zu besinnen: auf die Deutsche Kunst.
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