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384 - Die Zukunft

Alt-Wien.

Sie fahren mit dem Blitzzug von Paris nach Konstantinopel, halten sich zwei Stunden in Wien auf und wollen den genus loci meiner Vaterstadt so gründlich wie möglich kennen lernen. Sie wollen Wien in der kleinen Ausgabe haben, in der Reiseausgabe, Elvezier-Format, Wien in der Westentasche. Sie wollen in diesen knappen zwei Stunden ungefähr Das sehen, genießen und verstehen, wozu ich fünfunddreißig Jahre brauchte. Kein übler Geschmack! Dabei wollen Sie Alles haben. Die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft; die Kunstgeschichte, die Kulturgeschichte. Das Mittelalter, die Barockzeit, die Moderne. Fiakerfahrt, Grabenbummel, süßes Mädel. Bitte! Sie sind gar nicht unverschämt. Sie können haben, was Sie wünschen. Sie sollen sehen, daß ich meine fünfunddreißig Jahre nicht umsonst in dieser Stadt zugebracht habe. Ein Fixkerl wie Sie weiß in weniger als zwei Stunden, wo der Barthel den Most holt. Sie sind mein Mann.

Am Westbahnhof nehmen wir einen Fiaker und fahren bis auf den Graben. Unterwegs trinken wir eine Tasse Kaffee. Einen besseren giebts auf der ganzen Welt nicht; nicht mal in dem wunderschönen Sachsen. Nun sind wir am Graben. Jetzt geben Sie Acht. Hier ist die barocke Dreifaltigkeitsäule von Burnacini, fünfzig Schritt weiter der Siefansdom, tiefes Mittelalter, und eine Viertelstunde weiter die Postsparkasse vom Oberbaurath Otto Wagner, wo Sie sich den Kassensaal anschauen, den Keimpunkt der architektonischen Zukunft. In diesen drei Dingen, Stefansdom, Dreifaltigkeitsäule, Postsparkasse, haben Sie das ganze Wien der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Wenn Sie sich Das einprägen, wissen Sie Alles. Die Stefanskirche, eine steingewordene Legende voll mystischen Dunkels, erfüllt von verwirrenden Gedanken, liebreichen und tröstenden, erschreckenden und spukhaften, Traum und Schatten einer alten Zeit. In den Blättern der Käpitäle zwitschern die Vöglein. Das ist der liebe Wiener Wald mit seinen Blümelein und seinem Gethier. Der kam damals bis in die Kirche, weil es der fromme

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Meister so wollte. Aber der fromme Meister hat auch manchmal schlecht geschlafen, die Trud hat ihn gedrückt oder die Furcht vor dem Höllenfeuer. Und aus seiner erschreckten Phantasie springen die grotesken Unholde hervor, die Grimassen und Fratzen, das bizarre Ungethier, das auf den Steinsockeln hinläuft oder in den schwarzen Nischen kauert. Das ist das Wien von Sankt Stefan, eine große, figurenreiche Geschichte mit mancherlei bösem Zauber und Unheil, aber mit gutem Ende bis herauf zu den Türkenkriegen und wohl noch darüber hinaus, wovon der große Dom ein herrliches steinernes Bilderbuch ist. Jede Zeit, jede Kulturwandlung, jede bedeutsame Persönlichkeit hinterläßt ihren Abdruck; fast scheint es, als wäre der Stein so weich wie Wachs. Wir finden sogar die substanziellen Spuren der guten, dicken Maria Theresia in dem Gotteshaus, verkörpert durch die bauchigen Sakristeischränke der Barockzeit. Es ist ein Sinnbild. Aber die Zeit ist schon lange nicht mehr dafür, unterzuducken und sich im Kirchendunkel zu verkriechen; sie braucht den blauen Baldachin des freien Himmels, sie ist bei aller Heiligkeit sehr lebenslustig und üppig. Sie sucht große, phantastische Formen, ihr Hochgefühl schwebt auf Wolken. Alles, was diese Zeit fühlte und schuf, läßt sich aus der Dreifaltigkeitsäule ableiten. Die frommen Ritter und die Raubritter sind ausgestorben; man kennt nur noch Heroen und Olympier. Nicht mehr Marien und Magdalenen, sondern Halbgöttinnen. Allerdings im Reifrock und in der Allongeperücke. Alles, was in dem herrschaftlichen Wien des achtzehnten Jahrhunderts entstand, die Adelspaläste, die Karlskirche, die Sommer- und Winterresidenzen, stehen künstlerisch im Kontakt mit dieser Säule. Sie ist ein Wahrzeichen der Gottesfurcht, aber sie ist wahrhaftig nicht demüthig. Sie ist Sinnlichkeit, Weltlust, Ruhmesgefühl, Schrankenlosigkeit, in ein religiöses Gleichniß gesetzt. Die neuen Kirchen, die Paläste, die Lustgärten, die entstehen, sind im Wesen eins mit ihr. Man spürt die Allongeperücke und den Reifrock bis auf den heutigen Tag in dem alten Wien. Ein Wenig sogar in den Äußerlichkeiten des modernen Exponenten Wiens, in der Postsparkasse, wenn ich die Posamentirarbeit und die abgebrauchten Allegorien, die als Schmuck dienen, ins Auge fasse. Aber in dem gerühmten Kassensaal spürt man, daß wir nicht mehr Ritter sind, auch nicht mehr Heroen oder Olympier mit Haarbeutel unö Spitzenkrause, sondern ein amerikanisicter Typ Menschen, der ein wohlthuendes Gleichmaß, eine gewisse elegante Behäbigkeit bewahrt hat. So ist der Amerikanismus, die Marke unserer Zeit, ganz gut zu ertragen. Diese drei Kreise schwingen in dem Wien von heute durcheinander. Sie stören einander nicht. Man kann nach Belieben Romantiker sein oder Amerikaner oder Beides zugleich, wie es sich für einen Sohn dieser Zeit und dieser Stadt gehört.

Weil die zwei Stunden, die sich der Weltreisende für Wien vorgenommen hat, noch nicht um sind, kann ich ihm den Rest erzählen. Viele haben sich bemüht, den Geist dieser Stadt zu erhaschen, die Essenz, das Parfüm dieser Dinge, das ein Bischen von Weihrauch, ein Bischen von höfischem Courtisanenthum hat, von Diebsgelüst und Heilsbegehr, einzufangen und auf Flaschen zu ziehen wie Lavendelsalz. Keinem ist es bisher gelungen. Den beißenden Ammoniak spürt man, aber der Lavendel fehlt. Zu den jüngsten Versuchen gehört „Alt-Wien" von Ludwig W. Abels (bei Marquardt & Co. in Berlin), mit dem vielversprechenden Untertitel "Die Geschichte seiner Kunst" Aber bei Herrn Ludwig W. Abels sieht Alt-Wien aus wie im Ramschbazar oder wie bei einem vorstädtischen Althändler. Ein Allerlei von Bildern und im Text eine ermüdende, schwunglose Aufzählung von

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Namen und Daten. In Wien sagte mir ein Buchhändler: „Die Stimmung ist günstig für Alt-Wien: wir wollen helfen, Herrn Abels zu vertreiben." Ich that naiv und fragte: „Meinen Sie das Buch?" Er verstand mich nicht und erwiderte rasch: „Das Buch, natürlich." Selbst mein guter Adalbert Stifter hat es nicht vermocht, diesen genius loci bei einem seiner vielen Rockschöße zu erwischen. Die „Zwölf Studien aus dem alten Wien", die im Inselverlag erschienen sind, gehören zwar der Biedermeierzeit an und sind gewissermassen Dokument, aber sie sind fast unerträglich durch Pedanterie und Langeweile. Der Biedermeier, den wir lieben, ist eine moderne Erfindung, verehrter Freund. Wer Wien durch Adalbert Stifter kennen lernen will, thut besser, seine Dichtungen zu lesen, die Studien, auf denen der Glanz dieser Luft liegt wie Edelreis. Trotzdem: den „Gang durch die Katakomben" und die „Aussicht und Betrachtungen von der Spitze des Stefansthurmes" kann man sich gefallen lassen. Und dabei muß ich Ihnen gestehen: in jungen Tagen war Stifter mein Gott. Er hat mich sehen gelehrt. Später hat mich der Wein sehen gelehrt; aber die Liebe hat mich zur selben Zeit blind gemacht. Da draußen, am Fuße des Kahlenberges, wächst Beides, junge Liebe und alter Wein. Der liebe Herrgott winkt mit einem Reissigbuschen aus jedem Thor in seine verschwiegenen Hausgärten hinein, winkt: Komm nur; wozu Hab' ich denn Beides geschaffen! Ich war nicht der Mensch dazu, mir Das zweimal sagen zu lassen. Auf diese Weise habe ich den genius loci kennen gelernt; so, zum Beispiel, Herrn Ludwig van Beethoven, Schubert, Grillparzer, Hebbel, Brahms. Die haben schon gewußt, warum sie dageblieben sind . . . Nun, Sie Mann aus Niniveh, die zwei Stunden sind bald um und Sie haben noch kein Wort geredet. Jetzt sagen Sie doch, wie es Ihnen gefallen hat!

Aber mein Besuch fing zu schimpfen an: „Eure verfluchte Dreikellnerwirthschaft, Eure unverschämten Droschkenpreise, Eure verdammt kostspielige Alt-Wienerei! Ihr habt ja nicht einmal einen Taxameter! Nee, da bleibe ich lieber in meinem scheenen Sachsen!"

„Schimpfen Sie nur", sagte ich. „Ueber nichts habe ich so viel geschimpft wie über Wien. Dennoch gefällt mirs; mehr noch, denken Sie, als Dräsden!

Dresden-Blasewitz, - Joseph August Lux.



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