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Persönlichkeit und Weltanschauung
Richard Müller-Freienfels will in seinem Buch »Persönlichkeit und Weltanschauung« den Nachweis erbringen, dass die persönliche religiöse Weltanschauung, sein künstlerischer Stil und das philosophisches Weltbild eines jeden Menschen sich aus seiner psychologischen Veranlagung ergibt. Das reicht mindestens in alle geistigen Lebensbereiche wie Religion, Kunst und Philosophie. Er gibt dieser Methode den Namen „Psychologischen Relativismus”.
Am Ende des Buches weist er noch auf folgendes hin:
„Auf keinen Fall aber darf man den psychologischen Relativismus als epigonenhaften Verzicht auf eigne Weltanschauung deuten. Im Gegenteil, er schließt die Anerkennung jedes eignen Standpunktes ein, ja die Aufforderung, jede Persönlichkeit nach ihrer Art auszuwirken.”
Auszug aus den letzten zehn Seiten des Buches:
"Persönlichkeit und Weltanschauung"
Psychologische Untersuchung zu Religion, Kunst und Philosophie
von Richard Müller-Freienfels
Verlag von B. G.Teubner in Leipzig und Berlin, 1919
http://openlibrary.org/works/OL10335322W/
http://openlibrary.org/books/OL23411535M/
[264]
...
Das, worauf es uns hier ankam, ist dreierlei. Wir wollten erstens erweisen, und zwar in einem bisher nicht versuchten Umfang, dass die Weltanschauung eines Menschen das notwendige Ergebnis der in seinem Leben sich offenbarenden psychologischen Veranlagung ist.
...
Die Zeit liefert das Problem und das Material zur Weltanschauung: die Individualität bedingt die Verarbeitung und die Lösung, soweit sie sich nicht von sich aus neue Probleme schafft. Mag also z. B. das Problem des Zustandekommens der Erfahrung oder das der Freiheit in der Luft gelegen haben: die Art, wie Kant sie löste, lässt sich durchaus aus seiner Persönlichkeit erklären und verliert auch in den abstaktesten Höhen nicht die persönliche Färbung.
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[265]
...
Mag unser Typensystem im einzelnen noch verbesserungsbedürftig sein, in der Hauptsache glauben wir dargetan zu haben, dass das Vorwiegen bestimmter Anlagen auch das Vorwiegen deutlich erkennbarer spezifischer Züge der Weltanschaung unausweichlich bedingt.
...
Zum dritten aber ist damit eine von der herkömmlichen wesentlich abweichende Auffassung der Geistesgeschichte begründet. Bisher sah man die Geschichte als eine nur zum Teil kausal verknüpfbare Folge von einmaligen Tatsachen an, die man nach den zeitlichen oft fälschlich für ursächliche genommenen Daten zusammenordnete. Die hier dargelegte Geschichtsauffassung hält dafür, dass sich innerhalb der Mannigfaltigkeit dennoch gewisse psychologische Regelmäßigkeiten aufzeigen lassen, und dass deshalb die Geistesgeschichte aufgefasst werden kann als der immer wieder sich erneuernde Kampf bestimmter psychologischer Typen, die für die großen Probleme der Welt von sich aus und oft genug den zeitlichen Verhältnissen entgegen, typische Weltanschauungen ausprägen, deren Verwandtschaft sich über alle räumliche und zeitliche Trennung hinweg unabweisbar aufdrängt. Statt der historischen Methode des Nacheinander führen wir eine Methode des Nebeneinander ein, eines Nebeneinander, das es gestattet, in die Fülle der Tatsachen eine Ordnung zu bringen, die tiefer hinabreicht als die zeitliche Folge.
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[266]
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Denn worauf beruht letzten Endes jener Anspruch auf Absolutheit, der Anspruch, „die” Schönheit oder „die” Wahrheit, nicht eine Schönheit oder eine Wahrheit zu geben? In den meisten Fällen darauf, dass mit großer Suggestionskraft und Überredungskunst die zu[267]fällige Einseitigkeit des Typus willkürlicherweise verabsolutiert wurde und alle andern Arten, die Welt zu erleben, ausgesprochener- oder unausgesprochenerweise verdammt wurden. Wir wollen dies Verfahren nicht ganz verwerfen, sondern auch dies psychologisch verstehen. So wenig es uns geeignet scheint, die Relativität aller Weltanschauungen wirklich zu überwinden, so sehen wir doch in dem unbedingten Glauben an die eigne Art und ihre Ausprägung eine psychologische Notwendigkeit, die oft auch hohe ästhetische und ethische Werte mit sich bringt. Denn nur die leidenschaftliche Überzeugtheit von der Bedeutung der eigenen Art vermag jene Konsequenz der Ausprägung des jeweiligen einseitigen Typus durchzusetzen, der auch wir hohen relativen Wert zusprechen. Aber der Glaube an die Absolutheit ist noch kein Beweis für diese. Und der historische Tatbestand zeigt, dass einzelne Weltanschauungen zwar weite Verbreitung, noch nie aber dauernd allgemeine Gültigkeit erworben haben.
...
Indem jene Persönlichkeiten ihren Typus überschritten, vermochten sie wohl noch dem einen oder dem andern fremden Typus mehr gerecht zu werden, niemals jedoch allen. Ja, oft genug [268] verlieren sie sogar mehr, als sie gewinnen; solche Versuche, den eigenen Typus zu erweitern, führen meist zur Unsicherheit und büßen an der ursprünglichen Überzeugungswucht ein, die gerade der einseitige Typus oft besitzt. Es scheint also, dass das Verfahren der Verschmelzung der Gegensätze ebenfalls nicht geeignet ist, eine absolute Weltanschauung zu finden.
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[269]
...
Eine Typik seelischer Grundmöglichkeiten würde wenigstens insoweit, als die historischen Tatsachen psychologisch verwurzelt sind, erlauben, den einzelnen Fall mit andern, aus gleicher Bedingtheit erwachsenen zusammenzuordnen und so zu Erkenntnissen zu gelangen, die die reine Singularität der Tatsachenfeststellung überschritte und, wenn auch nicht eine völlig erfassbare Gesetzmäßigkeit, so doch eine hohe Regelmäßigkeit aufdeckte.
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[270]
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Unsre Anschauung ist nicht Skeptizismus; denn dieser leugnet, dass irgendeine Weltanschauung absolute Gültigkeit haben könne. Wir dagegen erkennen jeder der Konsequent entwickelten Weltanschauungstypen ein relatives Recht zu. Infolgedessen erscheint uns die Geschichte des menschlichen Denkens allerdings nicht als ein einheitliches Fortschreiten zu einer einzigen Wahrheit, sie ist uns aber auch nicht eine [271] Kette von Irrtümern: sie ist uns vielmehr die gemeinsame Arbeit verschiedener Typen, die Welt zu begreifen, vielleicht also, bildlich gesprochen, nicht ein Fortschritt in gerader Linie, eher ein Näherkommen an ein ideales Ziel, ein Einkreisen desselben von verschiedenen Seiten. Eine solche Auffassung der verschiedenen Weltanschauungstypen aber ist keine Verneinung, sondern gerade die weitestgehende Bejahung. Wir halten nicht jede Einzelerkenntnis für richtig, aber die prinzipiellen Haltungen der Welt gegenüber scheinen uns jede in ihrer Art unwiderlegbar. Innerhalb jeder einzelnen gibt es zwar Irrtümer, in ihrer Gesamtheit aber sind alle typischen Haltungen der Welt gegenüber prinzipiell gleichberechtigt.
...
Wir behaupten in unserm psychologischen Relativismus nicht etwa, eine Weltanschauung zu erbringen, die alle andern ausschlösse. Im Gegenteil, sie setzt das Bestehen aller andern voraus; Sie verlangt nur, dass sie neben den andern anerkannt werde, weil nur durch ihre Anerkennung die psychologische Einseitigkeit spezifischer Gesichtspunkte vermieden wird. Auch behauptet unsre Lehre keineswegs, selber die absolute Wahrheit zu sein. Mit sochen billigen Unterschiebungen pflegen die weniger intelligenten Absolutisten immer gegen den Relativismus zu arbeiten. Sie übersehen nur den Unterschied zwischen absoluter und allgemeiner Erkenntnis. Die Feststellung, dass es nur relative Weltanschauungen geben könne, behauptet bloß die allgemeinste Erkenntnis zu sein, deren wir fähig sind. Aber auch sie ist durchaus relativ, da sie nicht absolut gelten will, sondern nur für Menschen. Ob es für hypothetische Subjekte, für Gott etwa, eine absolute Erkenntnis gibt, können wir nicht wissen: für uns Menschen jedenfalls ist alle Erkenntnis relativ, auch die allgemeinste, zu der wir gelangen können, die also: dass es für uns eben keine absolute Wahrheiten gibt, sondern nur relative, was durch die Tatsache der beständigen Ablösung und gegenseitigen Bekämpfung der verschiedenen Weltan[272]schauungen untereinander vollauf bestätigt wird.
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Die ideale Forderung der Absolutisten, dass es eine absolute Wahrheit oder Schönheit geben müsse, ist nur ein Scheintrost und höchstens fürs Gefühl, nicht für logische Erwägung wertvoll. Im übrigen beweisen die absolutesten Philosophen, dass sich eine relativistische Weltanschauung sehr wohl ertragen lässt. Denn es ist leicht nachzuweisen, dass alle theoretischen Absolutisten im Leben Relativisten sind. Jeder Philosoph braucht für die Praxis des Lebens die Weltanschauung des gemeinen Mannes, mag er auch theoretisch ganz andere Weltanschauungen vertreten. Ebenso müssen die Anhänger aller Religionen sich für das Alltagsleben des naiven Realismus bedienen, und auch der eigenartigste Künstler, der in seinen Werken die Welt nur im Lichte seiner Besonderheit sieht, muss sich in der Praxis des Lebens den allgemeinen Konventionen beugen. Damit aber erkennt jeder der Aufgeführten neben seiner theoretischen oder künstlerischen Weltanschauung noch für das Leben eine zweite an: den naiven Realismus. Indem er aber zwischen beiden Weltanschauungen wechselt, ist er tatsächlich Relativist.
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Denn auch diese psychologische Tatsache muss nochmals hier hervorgehoben werden, weil sie eine Voraussetzung der hier vertretenen Lehre ist: wir können den Standpunkt wechseln! Bei aller Verschiedenheit der Persönlichkeiten geht diese doch nicht so weit, dass keine Brücke von Mensch zu Mensch führte. Man trifft sich nicht nur auf dem gemeinsamen Markt des konventionellen naiven Realismus, man kann sich auch auf den besonderen Standpunkt anderer Individuen [273] stellen. Die ganz starren Einseitigkeiten sind sehr selten. Die meisten Menschen vermögen durchaus, auch typusfremde Kunstwerke nachzuerleben und sich in fremde Weltanschauungen hineinzudenken. Den Willen dazu aber setzen wir voraus.
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Wir wollen mit alledem nicht gesagt haben, dass wir den psychologischen Relativismus für aller Weisheit letzten Schluss ansehen. Es scheint uns nur, dass seine Anerkennung eine Vorbedingung für jede Art der Weltanschauung ist. Welche Weltanschauung ein Mensch auch zu fördern strebt, er muss wissen, dass sie nur eine einseitige Möglichkeit neben andern ist: der Wert seiner Arbeit wird damit auch für die Allgemeinheit nicht herabgesetzt.
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[274]
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Auf keinen Fall aber darf man den psychologischen Relativismus als epigonenhaften Verzicht auf eigne Weltanschauung deuten. Im Gegenteil, er schließt die Anerkennung jedes eignen Standpunktes ein, ja die Aufforderung, jede Persönlichkeit nach ihrer Art auszuwirken.
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Auszug aus dem Buch
„Persönlichkeit und Weltanschauung”
Psychologische Untersuchung zu Religion, Kunst und Philosophie
von Richard Müller-Freienfels
Verlag von B. G.Teubner in Leipzig und Berlin, 1919
(die letzten zehn Seiten)
http://openlibrary.org/works/OL10335322W/
[264] ...
Das, worauf es uns hier ankam, ist dreierlei. Wir wollten erstens erweisen, und zwar in einem bisher nicht versuchten Umfang, dass die Weltanschauung eines Menschen das notwendige Ergebnis der in seinem Leben sich offenbarenden psychologischen Veranlagung ist. Wir zeigten, dass, wo auch immer zeitliche oder sonstige äußere Verhältnisse gewisse Probleme aufzwangen, diese doch sich ummodelten nach der Anlage des sie Übernehmenden. Wir zeigten also, dass mehr und tiefer als die äußeren historischen Gegebenheiten die nichtzeitlichen, psychologischen Faktoren in Betracht kommen. Die Zeit liefert das Problem und das Material zur Weltanschauung: die Individualität bedingt die Verarbeitung und die Lösung, soweit sie sich nicht von sich aus neue Probleme schafft. Mag also z. B. das Problem des Zustandekommens der Erfahrung oder das der Freiheit in der Luft gelegen haben: die Art, wie Kant sie löste, lässt sich durchaus aus seiner Persönlichkeit erklären und verliert auch in den abstaktesten Höhen nicht die persönliche Färbung.
Zum zweiten zeigten wir aber, dass man wenn man die Weltan[265]schauungen auf die Persönlichkeiten zurückführen will, keineswegs einer unübersehbaren, chaotischen Fülle von unfassbaren Größen gegenübersteht, sondern dass es - bei aller Wahrung irrationaler Elemente - dennoch möglich ist, innerhalb dieser Mannigfaltigkeit gewisse immer wiederkehrende Regelmäßigkeiten festzustellen und daraus in den von uns eingeführten Typen Allgemeinbegriffe abzuleiten, die es gestatten, das Mannigfaltige zu überschauen, zu ordnen und damit zu beherrschen. Mag unser Typensystem im einzelnen noch verbesserungsbedürftig sein, in der Hauptsache glauben wir dargetan zu haben, dass das Vorwiegen bestimmter Anlagen auch das Vorwiegen deutlich erkennbarer spezifischer Züge der Weltanschaung unausweichlich bedingt. Was wir im zweiten Teile vorgbereitet hatten, die Parallelität des psychologischen Typus und bestimmter Welterlebnisformen, fand in dem dritten Teil unsres Buches, wo wir jene Typenbegriffe auf bestimmte Individualitäten anwandten, volle Bestätigung.
Zum dritten aber ist damit eine von der herkömmlichen wesentlich abweichende Auffassung der Geistesgeschichte begründet. Bisher sah man die Geschichte als eine nur zum Teil kausal verknüpfbare Folge von einmaligen Tatsachen an, die man nach den zeitlichen oft fälschlich für ursächliche genommenen Daten zusammenordnete. Die hier dargelegte Geschichtsauffassung hält dafür, dass sich innerhalb der Mannigfaltigkeit dennoch gewisse psychologische Regelmäßigkeiten aufzeigen lassen, und dass deshalb die Geistesgeschichte aufgefasst werden kann als der immer wieder sich erneuernde Kampf bestimmter psychologischer Typen, die für die großen Probleme der Welt von sich aus und oft genug den zeitlichen Verhältnissen entgegen, typische Weltanschauungen ausprägen, deren Verwandtschaft sich über alle räumliche und zeitliche Trennung hinweg unabweisbar aufdrängt. Statt der historischen Methode des Nacheinander führen wir eine Methode des Nebeneinander ein, eines Nebeneinander, das es gestattet, in die Fülle der Tatsachen eine Ordnung zu bringen, die tiefer hinabreicht als die zeitliche Folge. Gewiss haben auch die Historiker der letzten Jahrzehnte sich der psychologischen Betrachtung genähert: woran es bisher fehlte, war ein psychologisch begründetes Begriffsystem, das zu gleicher Zeit einfacher und fester zu umreißen war als die bisher verwandten Allgemeinbegriffe wie Nationalcharakter, Bildungsgrad usw. Ein solches System und den Erweis seiner Anwendbarkeit hoffen wir im Prinzip hier erbracht zu haben.
[266]
Schluss: Der psychologische Relativismus.
So sehr wir uns in Auswahl und Ausmalung der unsre Typenbegriffe illustrierenden Beispiele beschränken mussten, eins dürfte auf jeden Fall sich ergeben haben, dass im Prinzip die psychologische Verankerung auch der scheinbar abstraktesten Gebilde und objektiviertesten Gestaltungen nicht angezweifelt werden kann. Schon mit den Mitteln der heutigen Forschung läßt sich eine gewisse Gesetzlichkeit dieser Zuordnung dartun. Systematisches Fortschreiten in gleicher Richtung wird alles noch mehr festigen und vertiefen. Hier kam es uns vor allem auf jene prinzipielle Klarstellung an.
Wie aber? Birgt dieses Ergebnis nicht Dynamit in seinem Schoß? Bedroht es nicht die Fundamente alles Wissens? Bedeutet es nicht Chaos und Anarchie im Reiche des Geistes? Heißt es nicht, alle Kunst, alle Religion, alle Philosophie zu willkürlichen Ausgeburten zufälliger individueller Anlagen herabwürdigen? Und bedeutet das nicht den Verzicht auf jede allgemeingültige, jenseits aller individuellen Besonderheiten fest verankerte Weltanschauung?
Wir glauben mit gutem Gewissen diese Frage verneinen zu dürfen. Nicht auf Zufälligkeit und Willkür laufen unsere Ergebnisse hinaus: im Gegenteil, indem wir die zeitlos bestehenden und in immer neuen Formen sich gebärenden typischen Weltanschauungen allgemein-menschlichen Typen zuordneten, glaubten wir gerade die Zufälligkeit und Willkür aufzuheben. Ja, darüber hinaus scheint es uns, dass auch die psychologischen Typen in ihrer relativen Berechtigung und gegenseitigen Ergänzung über die bloße Zufälligkeit emporgehoben werden und sich zu einem geschlossenen Kreise runden, der nach den Möglichkeiten der menschlichen Begabung die Welt allseitig umspannt. Weit entfernt in ein Chaos zu führen, hoffen wir mit dem hier aufgezeigten Wege gerade zu einer allgemeingültigen Erkenntnis zu gelangen, die wirklich sich über individuelle Bedingtheit erhebt.
Gerade umgekehrt müssen wir denjenigen Weltanschauungen, die bisher mit dem Anspruch auf Absolutheit auftraten, den Vorwurf der Willkür machen. Denn worauf beruht letzten Endes jener Anspruch auf Absolutheit, der Anspruch, „;die”; Schönheit oder „;die”; Wahrheit, nicht eine Schönheit oder eine Wahrheit zu geben? In den meisten Fällen darauf, dass mit großer Suggestionskraft und Überredungskunst die zu[267]fällige Einseitigkeit des Typus willkürlicherweise verabsolutiert wurde und alle andern Arten, die Welt zu erleben, ausgesprochener- oder unausgesprochenerweise verdammt wurden. Wir wollen dies Verfahren nicht ganz verwerfen, sondern auch dies psychologisch verstehen. So wenig es uns geeignet scheint, die Relativität aller Weltanschauungen wirklich zu überwinden, so sehen wir doch in dem unbedingten Glauben an die eigne Art und ihre Ausprägung eine psychologische Notwendigkeit, die oft auch hohe ästhetische und ethische Werte mit sich bringt. Denn nur die leidenschaftliche Überzeugtheit von der Bedeutung der eigenen Art vermag jene Konsequenz der Ausprägung des jeweiligen einseitigen Typus durchzusetzen, der auch wir hohen relativen Wert zusprechen. Aber der Glaube an die Absolutheit ist noch kein Beweis für diese. Und der historische Tatbestand zeigt, dass einzelne Weltanschauungen zwar weite Verbreitung, noch nie aber dauernd allgemeine Gültigkeit erworben haben. Selbst die wirkungstiefsten Kunststile, selbst die verbreitetsten Religionen und die umfassendsten Philosophien haben immer Gegner gefunden und werden wohl auch fürderhin Gegner finden, die mit Ernst und guten Gründen sie ablehnen, weil sie ihrer Persönlichkeit eben nicht genugtun.
Gibt es nun nicht vielleicht eine Synthese, in der sich alle jene Gegensätze aufhöben, ein Synthese also, die alle Verschiedenheiten in sich verschmölze? Auch diese Möglichkeit scheint uns durch die Geschichte widerlegt. Wohl konnten wir im Laufe unsrer Untersuchung Persönlichkeiten nennen - und gerade bei den gefeiertsten Namen fanden wir sie - die ihre Einseitigkeit empfanden und durch Eroberung auch der entgegengesetzten Art sich zu Totalität zu ergänzen strebten. Wir sahen so z. B., dass Dürer über sein pluralistisches Sehen hinaus zur großen, vereinheitlicheden Form strebte, wir sahen, wie Goethe über seine Speziellsehende Art hinaus nach dem klassischen Typenstil rang, wir sahen, wie Kant über seine angeborene rationale Art hinaus auch der sinnhaften Gegebenheit gerecht zu werden strebte und so Rationalismus und Sensualismus zusammenbog; indessen so genial solche Lösungen scheinen mögen: das Absolute wurde damit nicht erreicht. Neben jedem verschmolzenen oder verhüllten Gegensatz klafften andere auf. Jene Synthesen waren nur erweiterte Einseitigkeiten, keine Allseitigkeiten. Indem jene Persönlichkeiten ihren Typus überschritten, vermochten sie wohl noch dem einen oder dem andern fremden Typus mehr gerecht zu werden, niemals jedoch allen. Ja, oft genug [268] verlieren sie sogar mehr, als sie gewinnen; solche Versuche, den eigenen Typus zu erweitern, führen meist zur Unsicherheit und büßen an der ursprünglichen Überzeugungswucht ein, die gerade der einseitige Typus oft besitzt. Es scheint also, dass das Verfahren der Verschmelzung der Gegensätze ebenfalls nicht geeignet ist, eine absolute Weltanschauung zu finden.
Aus dieser Erkenntnis, dass eine absolute Weltanschauung, die alle andern entweder ausschlösse oder in sich aufhöbe, ein Ding der Unmöglichkeit sei, ist nun jene Betrachtungsweise erwachsen, die prinzipiell der Verabsolutierung entsagt und sich darauf beschränkt, die Mannigfaltigkeit der Weltanschauungen zu registrieren: der Historismus oder der historische Relativismus. Um nicht eine chaotische Fülle aufzustapeln, ordnet er die mannigfachen Weltanschauungsformen unter dem Gesichtspunkt des chronologischen Auftretens und ihrer Verknüpftheit nach Einflüssen und Wirkungen. Niemand wird die Verdienste dieser Forschungsweise geringschätzen, ein schier unübersehbares Material ist zusammengetragen, ist gereinigt von Trübungen, behauen und zu stattlichen Gebäuden gefügt. Und trotzdem ist ein gewisser Überdruss an der historischen Forschungsweise bemerkbar. Die Gründe dafür sind sehr verschieden. Nur einige Hinweise auf Mängel dieser Methode können hier gegeben werden. Zunächst verbirgt sich hinter dem scheinbaren Relativismus der Historiker oft ein versteckter Absolutismus. So sind viele Historiker der Kunst ganz im Banne des klassischen Ideals; so wird die Geschichte der Philosophie von dem einen Forscher unter hegelschem, von einem andern unter positivistischem Gesichtspunkt geschrieben. Dadurch aber wird der Relativismus einer unparteiischen Wertung unmöglich. Tiefer noch trifft ein anderes Bedenken. Das Ordnungsprinzip des Historismus, die chronologische Verknüpfung, ist unter höherem Gesichtspunkt „;zufällig”;, haftet an Äußerlichkeiten. Dass Goethe Shakespeare, dass Nietzsche Schopenhauer kennen lernte, von ihnen beeinflußt wurde, mögen historische Tatsachen sein und sind gewiß als solche interessant: aber nur als historische Tatsachen betrachtet, bleiben sie zufällig, entbehren jener inneren Notwendigkeit, die von jeder wirklichen Wissenschaft gesucht wird. Aus diesem - und noch manchem andern Grunde - erklärt sich wohl jener Überdruss an der Historie, der sich in den letzten Jahrzehnten immer stärker bemerkbar macht.
Wer wird der Erbe sein? Noch ist nicht endgültig entschieden, wer [269] Sieger bleiben wird. Mehrere Bewerber sind im Streit. Dennoch scheint uns, dass die psyhologische Methode die meisten Aussichten hat. Auf allen Gebieten menschlicher Forschung, in Jurisprudenz, Medizin, Theologie, Pädagogik, Ästhetik, ja auf dem Gebiete der Geschichtswissenschaft selber gewinnen psyhologische Methoden Raum. Was diesen Erfolg bedingt, scheint uns einerseits der Umstand zu sein, dass Psyhologie die relative Betrachtungsweise in neuer Form aufnimmt, andrerseits aber auch gestattet, die obenerwähnte Zufälligkeit des Historismus durch eine innere Notwendigkeit zu ersetzen. Der vorliegende Versuch einer weitgehenden Anwendung der psychologischen Methode sucht das zu erweisen. Gewiss sind nicht alle Rätsel gelöst, wenn man die psychologische Nezessitierung der geistigen Kultur in gewissen typischen Veranlagungen ermittelt hat, auch jenseits dieser Nezessitierung türmen sich neue Probleme; immerhin aber wäre ein Erfolg in dieser Richtung ein ansehnlicher Schritt ins Unbekannte hinaus, der uns dem Ideal einer notwendigen Verknüpftheit alles Geschehens beträchtlich näher bringen würde. So sehr auch die Einzelerkenntnis noch gefestigt werden müsste, prinzipiell bleibt doch eine solche Forschung auf dem Boden der Erfahrung, indem sie Zusammenhänge aufdeckt, die dazu beitragen sollen, die Erfahrungstatsachen zu erklären und zu deuten, und die stets auch dort, wo sie die Erfahrung durch notwendige Hypothesen überschreiten, doch an der Erfahrung verifiziert werden können. Ein weiterer Ausbau der Methodik wird die Sicherheit der Zuordnung von Weltanschauungsformen zu psychologischen Typen noch beträchtlich erhöhen.
Damit aber würde es möglich sein, vermittelst der hier vorgezeichneten Wege einem Ziele näherzukommen, das seit langem von der Wissenschaft heiß ersehnt und als unmöglich aufgegeben wurde: dem Ziele, allgemeine Erkenntnis auch in der Geschichte zu finden. Freilich würde unsre Methode jene Regelmäßigkeit nicht in den äußeren Geschehnissen, sondern in ihrer psychologischen Bedingtheit suchen. Eine Typik seelischer Grundmöglichkeiten würde wenigstens insoweit, als die historischen Tatsachen psychologisch verwurzelt sind, erlauben, den einzelnen Fall mit andern, aus gleicher Bedingtheit erwachsenen zusammenzuordnen und so zu Erkenntnissen zu gelangen, die die reine Singularität der Tatsachenfeststellung überschritte und, wenn auch nicht eine völlig erfassbare Gesetzmäßigkeit, so doch eine hohe Regelmäßigkeit aufdeckte. Dass solche Erkenntnisse naturgemäß sich auf den hier [270] herangezogenen Feldern der Geistesgeschichte besser gewinnen lassen als an der militärischen und politischen Geschichte, lieft daran, dass die seelische Bedingtheit dort viel reiner und stärker am Werke ist. Religionen, Kunststile, Philosophie lassen, wie wir gezeigt haben, der Spontaneität der Seele den weitesten Raum; nicht-psychologisch bedingte Tatsachen sind zwar dabei ebenfalls wirksam, jedoch längst nicht in dem Maße wie in Kriegs- oder Staatsgeschichte. Es ist daher unendlich viel leichter, ein Kunstwerk oder eine Philosophische Erkenntnis auf die Psychologie ihrer Urheber zurückzuführen als eine gewonnene Schlacht oder eine diplomatische Handlung aus der Psychologie des Feldherrn oder Politikers zu erklären, vor allem auch darum, weil auf diesem Gebiete gewöhnlich viele Menschen zusammenwirken. Trotzdem dürften auch die Bereiche der militärischen und politischen Geschichte sich nicht prinzipiell der psychologischen Erhellung verschließen. Das jedoch wäre eine Erweiterung, die wir vorläufig nicht ins Auge fassen. Für unsre Gebiete jedoch scheint uns die Erschließung einer überindividuellen Regelmäßigkeit durchaus möglich zu sein; diese wird jedoch niemals „;rein objektiv”; ausfallen, sondern immer auf psychologische Tatsachen zurückzuführen sein. Auch wo sich scheinbar rein objektive Regelmäßigkeiten ergeben, wie etwa in der Aufeinanderfolge der Stile oder der Erkenntnisse, muß die Erklärung, die ursäüchliche Fundierung, stets in der Psychologie gefunden werden. Eine rein objektive Gesetztlichkeit in der Welt des Geistes ist stets eine Abstaktion, die in der Luft schwebt.
Gesetzt nun, alle Weltanschauungen ließen sich auf seelische Typen zurückführen und seinen nur einseitige Spiegelungen der Welt, die nicht verschmolzen werden können, sondern in ihrer Besonderheit anerkannt werden müssen: heißt das nicht, sich einem negativen Skeptizismus verschreiben? Heißt es nicht alle Wahrheit leugnen, wenn man bestreitet, daß es eine allgemeingültige Wahrheit gäbe? Heißt es nicht, alle Schönheit entwerten, wenn man leugnet, daß es eine für Menschen gültige Schönheit gibt? - Wir verneinen auch diese Fragen. Unsre Anschauung ist nicht Skeptizismus; denn dieser leugnet, dass irgendeine Weltanschauung absolute Gültigkeit haben könne. Wir dagegen erkennen jeder der Konsequent entwickelten Weltanschauungstypen ein relatives Recht zu. Infolgedessen erscheint uns die Geschichte des menschlichen Denkens allerdings nicht als ein einheitliches Fortschreiten zu einer einzigen Wahrheit, sie ist uns aber auch nicht eine [271] Kette von Irrtümern: sie ist uns vielmehr die gemeinsame Arbeit verschiedener Typen, die Welt zu begreifen, vielleicht also, bildlich gesprochen, nicht ein Fortschritt in gerader Linie, eher ein Näherkommen an ein ideales Ziel, ein Einkreisen desselben von verschiedenen Seiten. Eine solche Auffassung der verschiedenen Weltanschauungstypen aber ist keine Verneinung, sondern gerade die weitestgehende Bejahung. Wir halten nicht jede Einzelerkenntnis für richtig, aber die prinzipiellen Haltungen der Welt gegenüber scheinen uns jede in ihrer Art unwiderlegbar. Innerhalb jeder einzelnen gibt es zwar Irrtümer, in ihrer Gesamtheit aber sind alle typischen Haltungen der Welt gegenüber prinzipiell gleichberechtigt. Und ebenso ist's mit der ästhetischen Weltbetrachtung. Auch hier gibt es nicht „;eine”; Schönheit, sondern viele Arten, deren jede ihre Berechtigung hat. Nicht also Unterdrückung der Mannigfaltigkeit zugunsten einer Besonderheit, auch nicht Verschmelzung des Mannigfaltigen zu einer Einheit lehren wir, sondern Anerkennung der Vielheit und Ergänzung der verschiedenen Standpunkte - unter Wahrung jeder Besonderheit - zu einer Gesamtheit. Erst als Glieder einer solchen Gesamtheit erhalten die einzelnen Weltanschauungen ihren letzten Sinn.
Wir behaupten in unserm psychologischen Relativismus nicht etwa, eine Weltanschauung zu erbringen, die alle andern ausschlösse. Im Gegenteil, sie setzt das Bestehen aller andern voraus; Sie verlangt nur, dass sie neben den andern anerkannt werde, weil nur durch ihre Anerkennung die psychologische Einseitigkeit spezifischer Gesichtspunkte vermieden wird. Auch behauptet unsre Lehre keineswegs, selber die absolute Wahrheit zu sein. Mit sochen billigen Unterschiebungen pflegen die weniger intelligenten Absolutisten immer gegen den Relativismus zu arbeiten. Sie übersehen nur den Unterschied zwischen absoluter und allgemeiner Erkenntnis. Die Feststellung, dass es nur relative Weltanschauungen geben könne, behauptet bloß die allgemeinste Erkenntnis zu sein, deren wir fähig sind. Aber auch sie ist durchaus relativ, da sie nicht absolut gelten will, sondern nur für Menschen. Ob es für hypothetische Subjekte, für Gott etwa, eine absolute Erkenntnis gibt, können wir nicht wissen: für uns Menschen jedenfalls ist alle Erkenntnis relativ, auch die allgemeinste, zu der wir gelangen können, die also: dass es für uns eben keine absolute Wahrheiten gibt, sondern nur relative, was durch die Tatsache der beständigen Ablösung und gegenseitigen Bekämpfung der verschiedenen Weltan[272]schauungen untereinander vollauf bestätigt wird. Was gewöhnlich an Beispielen für absolute Erkenntnisse erbracht wird, vor allem die mathematischen Wahrheiten, sind in unserm Sinne überhaupt keine Erkenntnisse, d. h. Erfassungen der Welt durch eine menschliche Seele, sodern sie sind freie Konstruktionen des Geistes, als solche sehr wertvolle Hilfsmittel zur Erkenntnis, aber nicht selber Erkenntnis der Welt.
Auch der Einwand, dass ein solcher Relativismus unbefriedigt lassen müsse, besteht nicht zurecht. Jede Weltanschauung, so absolut sie sich auch gebärden möge, ist unvollkommen, und diese Unvollkommenheit ist eine Tatsache, die ertragen werden muss. Die ideale Forderung der Absolutisten, dass es eine absolute Wahrheit oder Schönheit geben müsse, ist nur ein Scheintrost und höchstens fürs Gefühl, nicht für logische Erwägung wertvoll. Im übrigen beweisen die absolutesten Philosophen, dass sich eine relativistische Weltanschauung sehr wohl ertragen lässt. Denn es ist leicht nachzuweisen, dass alle theoretischen Absolutisten im Leben Relativisten sind. Jeder Philosoph braucht für die Praxis des Lebens die Weltanschauung des gemeinen Mannes, mag er auch theoretisch ganz andere Weltanschauungen vertreten. Ebenso müssen die Anhänger aller Religionen sich für das Alltagsleben des naiven Realismus bedienen, und auch der eigenartigste Künstler, der in seinen Werken die Welt nur im Lichte seiner Besonderheit sieht, muss sich in der Praxis des Lebens den allgemeinen Konventionen beugen. Damit aber erkennt jeder der Aufgeführten neben seiner theoretischen oder künstlerischen Weltanschauung noch für das Leben eine zweite an: den naiven Realismus. Indem er aber zwischen beiden Weltanschauungen wechselt, ist er tatsächlich Relativist. Mag einer noch so sehr die Außenwelt als bloße Vorstellung seines Subjekts ansehen, wenn er Zahnschmerzen hat, läuft er doch zum Zahnarzt, ganz als ob solche Dinge wie Körper und Zahn und Zahnarzt nicht bloß „;Schöpfungen des Ich”;, sondern Realitäten wären!
Denn auch diese psychologische Tatsache muss nochmals hier hervorgehoben werden, weil sie eine Voraussetzung der hier vertretenen Lehre ist: wir können den Standpunkt wechseln! Bei aller Verschiedenheit der Persönlichkeiten geht diese doch nicht so weit, dass keine Brücke von Mensch zu Mensch führte. Man trifft sich nicht nur auf dem gemeinsamen Markt des konventionellen naiven Realismus, man kann sich auch auf den besonderen Standpunkt anderer Individuen [273] stellen. Die ganz starren Einseitigkeiten sind sehr selten. Die meisten Menschen vermögen durchaus, auch typusfremde Kunstwerke nachzuerleben und sich in fremde Weltanschauungen hineinzudenken. Den Willen dazu aber setzen wir voraus. Nur so kann unsre Lehre auch praktisch wertvoll werden. Wenn wir uns bemühen, die Einseitigkeiten zu ergänzen, so kann das nur geschehen, wenn jeder geneigt ist, wenigstens prinzipiell die Berechtigung fremder Persönlichkeiten zuzugeben. Was wir wollen, ist nicht gewaltsame Unterdrückung der fremden Besonderheiten noch eine Verschmelzung mehrerer oder gar aller, sondern volle Anerkennung einer jeden von ihnen in ihrer typischen Eigenart! Eine solche Duldsamkeit ist kein verwaschener Eklektizismus, gerade das Gegenteil davon: denn die Anerkennung der fremden Standpunkte schließt auch die Berechtigung des ganz persönlichen ein, und jeder, der fremde Weltanschauungen bereitwillig gelten lässt, darf für sich das Recht fordern, seine Art konsequent auszuwirken. Eine Notwendigkeit, sich fremdes Kulturgut kritiklos einzuverleiben, ist damit nicht gefordert.
So würden sich die verschiedenen Weltanschauungstypen zu einer Totalität ergänzen, deren Subjekt vielleicht niemals ein einzelner Mensch sein kann; aber vielleicht dürfen wir die Gesamtheit aller Individualitäten, also die Menschheit, als Subjekt ansehen. In diesem Sinne können wir uns eine Äußerung Goethes zu eigen machen, der in seinen späteren Jahren sehr oft den Standpunkt des psychologischen Relativismus eingenommen hat. Er sagt: „;Die Natur ist deswegen unergründlich, weil sie nicht ein Mensch begreifen kann, obgleich die ganze Menscheit sie wohl begreifen könnte. Weil aber die liebe Menschheit niemals beisammen ist, so hat die Natur gut Spiel, sich vor unsern Augen zu verstecken.”;
Wir wollen mit alledem nicht gesagt haben, dass wir den psychologischen Relativismus für aller Weisheit letzten Schluss ansehen. Es scheint uns nur, dass seine Anerkennung eine Vorbedingung für jede Art der Weltanschauung ist. Welche Weltanschauung ein Mensch auch zu fördern strebt, er muss wissen, dass sie nur eine einseitige Möglichkeit neben andern ist: der Wert seiner Arbeit wird damit auch für die Allgemeinheit nicht herabgesetzt. Vielleicht aber wird es dann innerhalb des Rahmens des Relativismus möglich sein, die relativen Werte der einzelnen Weltanschauungen von einem, wenn auch nicht absoluten, doch überindividuellen Standpunkt aus gegeneinander abzuwägen und [274] so über den Relativismus von innen heraus in gewissem Sinne hinauszukommen.
Auf keinen Fall aber darf man den psychologischen Relativismus als epigonenhaften Verzicht auf eigne Weltanschauung deuten. Im Gegenteil, er schließt die Anerkennung jedes eignen Standpunktes ein, ja die Aufforderung, jede Persönlichkeit nach ihrer Art auszuwirken. Möge so auch Gegensatz und Streit entstehen: auch diese können zur Klärung und Förderung führen. Auf diese Weise wird die Menschheit zu einem möglichen Reichtum an Weltanschauungen gelangen und das hypothetische Objekt immer fester umkreisen. Und da wir Menschen in unserem Ich nicht in Einzelhaft gefangen sitzen, sondern die Möglichkeit haben, uns auch auf fremde Standpunkte zu stellen, so ist jener Reichtum auch dem einzelnen nicht verschlossen, und die Möglichkeit einer überindividuellen Weltanschauung, unter Anerkennung jedes individuellen Sonderstandpunktes, ist damit gegeben.
Erstellt am 26.10.2010 - Letzte Änderung am 08.05.2011.