[253] Kapitel VIII. Die Selbsterkenntnis. „Bestimmt Erleuchtetes zu sehen, nicht das Licht!" Goethe. 1. Das Problem Indem wir staffelweise immer tiefer in die Welt des irrationalen Erkennens vordrangen, schob sich uns immer stärker jener Faktor in den Vordergrund, von dem der Rationalismus gewaltsam abstrahiert hatte: das erkennende Ich, das Subjekt, dies aber nicht in jenem abstrakten „allgemeinen" Sinne, wie ihn der Rationalismus allein gelten läßt, sondern in einem ganz irrationalen Sinne, als Individualität. Und zwar nicht nur als einzelmenschliche Individualität, sondern zugleich auch in kollektivem Sinne: als völkische, zeitliche oder sonstwie überpersönlich zu nehmende Subjektivität, als „Leben" im ganzen Umfang dieses Begriffes. Da wir dies Subjekt nicht im rationalistischen Sinne als abstrakten Beziehungspunkt, als allgemeines, farb- und charakterloses Mannequin nehmen können, so mußte sich immer stärker die Frage nach seinem Wesen aufdrängen, die Frage: Läßt sich auch dieses Subjekt zum Gegenstand des Erkennens machen oder ist es verdammt, ein ewiges X in der Rechnung zu sein? - Wir sahen bereits oben, daß das Ich neben dem Gegenstand einer der beiden Angelpunkte ist, zwischen denen das Erkennen als lebendige Beziehung sich spannt, zugleich aber gestanden wir ein, daß das Ich selbst - ebenso wie die Außenwelt an sich - etwas Transzendentes sei. Hinsichtlich der Außenwelt gaben wir zu, daß wir sie „an sich" niemals erfassen können, daß wir jedoch ein immer komplizierteres System von Beziehungen zwischen unserem Ich und ihr herstellen können, demzufolge wir nicht nur uns selbst an die Außenwelt, sondern auch die Außenwelt [254] an uns selbst anpassen, so daß das Erkennen selbst schöpferisch wird. Vielleicht aber sind wir dem anderen Pole des Erkennens, dem Ich gegenüber, glücklicher? Ist nicht vielleicht auch im Erkennen jeder sich selbst der Nächste? Und erschließt uns nicht vielleicht dies Ich, mit dem wir unser ganzes Leben lang so vertraut zu sein glauben, einen Zugang zu den Geheimnissen der Welt? 2. Das Organ der Selbsterkenntnis. Prüfen wir zunächst die Möglichkeiten der Selbsterkenntnis! Bei manchen Autoren tritt die Behauptung auf, wir könnten unser Selbst durch eine Art „inneren Sinnes" kennen lernen. Ist mit diesem „inneren Sinne" jedoch ein neben den übrigen Erkenntniswegen bestehender Sonderpfad gemeint, so muß diese Meinung zurückgewiesen werden. Als tatsächlich vorhanden hat ihn noch niemand erwiesen, und alle Analysen zeigen, daß sich das, was als „innerer Sinn" gilt, in besser zu kennzeichnende Tatbestände auflösen läßt. Er ist weder als ein Organ neben anderen zu erweisen, noch finden wir in unserem Bewußtsein Inhalte, die einem reinen, von jeder Außenwelt getrennten Selbst angehörten, vielmehr sind alle seelischen Inhalte zum mindesten zugleich auf die Außenwelt bezogen, obschon man fiktiverweise wohl gelegentlich von diesen Beziehungen abstrahieren kann. Aber selbst dann, wenn wir unsere seelischen Erlebnisse nur als solche, ohne ihren Außenweltsbezug, betrachten, erschließen sie uns niemals das Ich selbst, sondern höchstens eine minimale Teilerscheinung davon und auch diese stets gemischt mit Nichtichhaftem. Wohl hat man versucht, einzelne Arten von seelischen Inhalten dem Ich in besonderem Sinne zuzuschreiben, das Icherlebnis darauf zu basieren. So hat man auf die Körperempfindungen verwiesen (auch Organ-, Gemein-, kinästhetische Empfindungen genannt). Sie unterrichten das Ich über die Zustände seines Körpers. Aber schon diese Feststellung schließt ein, daß das Ich hier als etwas dem Körper Gegenübergestelltes gedacht ist, nicht mit dem Ich identisch sein kann. In der Tat ist, unter [255] diesem Gesichtspunkt betrachtet, der Körper ein Teil der Außenwelt, wie wir ihn ja auch mit unseren äußeren Sinnesorganen (Gesicht, Getast usw.) wahrnehmen können. Er steht gewiß mit dem Ich in näherer Beziehung als die übrige Außenwelt, läßt sich jedoch auch in diese einordnen. Er ist auf keinen Fall identisch mit dem Ich, ist vielmehr nur eine materielle Auswirkung des Ich, dieser metaphysischen Wesenheit, die man (mit dem Vitalismus) als seine „Entelechie" betrachten kann, ein Etwas jedenfalls, das (im Tode) darin gleichsam erlöschen kann, wie das Licht in einer Laterne. Mögen uns also die Körperempfindungen auch einige Beiträge zur Icherkenntnis liefern, das Ich selbst konstituieren sie auf keinen Fall, und daher kann auch ihr Inhalt nicht mit der Selbsterkenntnis gleichgesetzt werden. Und in der Tat hat auch niemand ernsthaft unter „Selbsterkenntnis" den Komplex seiner Körperempfindungen verstanden. Auch die Gefühle und das Willensbewußtsein (die manche freilich als Komplexe von Organempfindungen ansehen) sind - als Wesenheiten eigener Art betrachtet - gewiß näher dem Ich verwandt als äußere Empfindungen oder Denkinhalte, aber auch sie sind nicht das ganze Ich, sondern höchstens Äußerungen des Ich. Indem wir sagen: „ich fühle" oder „ich will", vollziehen wir bereits diese Scheidung zwischen dem Ich selbst und seiner Tätigkeit, und nur diese, nicht das Ich selbst, ist uns im Bewußtsein gegeben. Auch die Gefühle und Wollungen weisen auf das Ich hin, ohne jedoch das Ich in seiner Gesamtheit zu offenbaren. Wir können also keine Betätigung der Seele aufweisen, die uns das Ich als Objekt rein erschauen ließe, sondern stets steckt das Ich bereits als Subjekt in jenen Tätigkeiten, die uns wohl etwas vom Ich, aber nie das Ich selbst offenbaren. Die Problematik des Ichbegriffs habe ich ausführlich aufgerollt in meinem Buche: Philosophie der Individualität, 2. Aufl., 1922, wo gerade auch die Irrationalität der Individualität im Vordergrund steht. Vgl. zu diesem Kapitel ferner: K. Österreich: Phänomene-logie des Ich, 1910; James: Principles of Psychology, I, 1890; Lipps: Leitfaden der Psychologie, 1906; Scheler: Die Idole der Selbsterkenntnis (in Vom Umsturz der Werte, II, 1920). [256] 3. Die Aspekte des Ich. Nun hat man, da man aus einzelnen seelischen Erlebnissen das Ich nicht erschließen kann und ein besonderes Organ der Selbsterkenntnis nicht nachweisbar ist, versucht, in gewissen Summierungen von Inhalten das Ich zu erfassen. So verweist man wohl auf jenes unmittelbare Ichbewußtsein, jenes Ichgefühl, das alle unsere seelischen Erlebnisse begleitet und ihnen die spezifische Ichfärbung verleiht. Gewiß, ein solches spielt als dunkler Orgelton bei allen wechselnden Melodien unseres Bewußtseins mit, aber erschließt sich uns darin das Ich selbst? Abgesehen davon, daß dies unmittelbare Ichgefühl kaum zu greifen ist, beständig wechselt und koboldartiges Versteckspiel treibt, ist es wirklich das Ich selbst und nicht etwa auch bloß eine Äußerung des Ich? Es trifft für dies Gesamtgefühl zu, was wir für jedes Einzelgefühl erwiesen. Und jedenfalls ist es ganz ungeeignet, klare Erkenntnis zu liefern, es sei denn die recht negative Feststellung des Flüchtigen, Ungreifbaren, Wechselnden! Nicht viel besser ergeht es uns, wenn wir in der Gesamtheit der geistigen Inhalte das Ich erblicken wollten, in der Summe seiner Vorstellungen, Gedanken, Gefühle usw. Gewiß, in sehr weitem Sinne kann man sie alle zum Ich rechnen, aber sind sie wirklich das Ich selbst, wie manche konszientialistischen Philosophen wollen? Ist dies wirklich nur eine Summe von Vorstellungen und Gefühlen? Nein, zur Vorstellung als Inhalt muß stets das Vorstellen als Funktion vorausgesetzt werden, das nicht selbst Inhalt ist, sondern Voraussetzung dazu. Und zu allen Gedanken muß ein Denken als Akt und zu jedem Akt ein Subjekt gedacht werden, das den Akt vollzieht, kurz, auch dieser Versuch, das Ich zu finden, ist umsonst. So wenig die Fracht, die ein Schiff befördert, das Schiff selber ist, so wenig kann das Ich aus den Inhalten begriffen werden, die es in sich aufnimmt, obwohl natürlich alle diese Inhalte etwas von seiner Färbung tragen. Vielleicht aber wird man, wenn nicht in der Summe der Inhalte, in der Summe der Funktionen das Ich zu [257] greifen hoffen, in jener Gesamtheit der Funktionen, die man auch die Seele nennt. Aber blicken wir genauer hin, so sind uns diese Funktionen nicht etwa unmittelbar gegeben, sondern sie sind erschlossen, oder besser noch, sie sind rein fiktive Unterlagen, die die Psychologie braucht, um in die Fülle der seelischen Erscheinungen einige Ordnung zu bringen. Sie sind uns keineswegs „gegeben", sondern hypothetische Hilfen, das wirkende Ichsubjekt zu spezifizieren, die es aber zugleich in hohem Grade rationalisieren und damit schematisieren. Es wird noch davon zu sprechen sein, daß es wertvoll ist, das Ich in dieser Weise zu rationalisieren: zugleich aber, daß auch eine solche Betrachtung nur Äußerungen des Ich, niemals dieses selbst ergreift. Nun wird man jedoch einwenden, es habe jeder Mensch einen „Begriff" von sich selbst, es müsse also doch ein rationales Erkennen des Ich möglich sein. Gewiß hat jeder einen ungefähren Begriff, besser: eine vage Gesamtvorstellung von sich. Aber erstens ist diese in jedem Falle nachweisbar inadäquat, zweitens erschließt auch sie keineswegs das Ich selbst. Sie ist ein Konglomerat von vagen Vorstellungen des Körpers, von Stimmungen und Neigungen, von allerlei sozialen Beziehungen und Zuständen, die im „Namen" gemeinsam etiquettiert sind, aber dies unbestimmte Etwas kann unmöglich das Ich selber sein, sondern es weist in einer, zudem sehr unzulänglichen Weise auf das Ich hin. Und noch weniger schließen jene Begriffe, die sich andere Menschen von unserem Ich machen, eine sichere Erkenntnis unseres Ich ein. Auch sie halten sich nur an allerlei Äußerungen, die oft scharf erfaßt werden, aber doch weit davon entfernt sind, etwa jenen innersten Kern unseres ganzen Lebens, den wir mit dem Ich meinen, zu ergründen. Bleibt noch eine letzte Möglichkeit, das Ich aus seinen Objektivierungen zu erschließen. Diese Methode wenden wir bekanntlich historisch gewordenen Menschen gegenüber an: so, wenn wir die Gestalt Shakespeares oder Beethovens aus ihren Werken zu erkennen suchen. Aber so gewiß auch diese [258] Ausstrahlungen des Ich seine Farbe und seinen Charakter tragen, das Ich selber sind sie nicht. Ich habe an anderer Stelle ausführlich die sieben Aspekte (Ichgefühl, Leib, Seele, geistiger Bestand, Innenbild, Außenbild, Objektivierung) erörtert, in denen das Ich der Betrachtung erscheint, ohne jedoch jemals ganz greifbar zu sein. Gerade in dieser Ungreifbarkeit und Unbestimmbarkeit, hinter der wir dennoch eine transzendente Bestimmtheit spüren, liegt die Irrationalität des Ich, diese allerdings im positiven Sinne genommen, als Lebensrichtung, als individualisierter Lebenswille. 4. Mystische Icherkenntnis (Yoga). Nun steht vielleicht noch ein weiterer Weg zur Erkenntnis des reinen Ich offen. Wir hatten oben gesehen, daß alle scheinbare Icherkenntnis niemals das „reine Ich" erschließt, sondern nur Beziehungen dieses Ich zur Außenwelt, daß also alle Icherkenntnis verquickt ist mit Außenwelterkenntnis. Wie nun, wenn wir gewaltsam diese Außenweltelemente zurückdrängten? Wenn wir alle Tore versperrten, durch die das Außen hereindringt, wenn wir alles auslöschten, was in uns von Erinnerungen, Vorstellungen, Gedanken an diese Außenwelt lebt, wenn wir uns nur konzentrierten auf unser innerstes Selbst, den Mittelpunkt unseres Lebenskreises? In der Tat ist auch dies Verfahren zur Erkenntnis des reinen Ich öfters eingeschlagen worden. Ich will es das mystische Verfahren nennen. Ich nehme dabei das vieldeutige Wort Mystik in seinem ursprünglichen Sinne, der von [griechisches Wort] „die Augen schließen" herkommt, als Abblendung aller äußeren Erkenntnismöglichkeiten. Dieses Verfahren wird am bewußtesten, konsequentesten, methodischsten in Indien in der sogenannten Yoga-praxis geübt, die darin besteht, daß man in mühsam zu erringender Technik den Geist ganz auf sich selbst zurückwendet, ihn abschließt gegen jeden Ton, der aus der Außenwelt in die Stille der Seele dringen könnte. Die „Stufen", auf denen der Yogi emporsteigt zu dieser weltentrückten Sphäre, sind teils physischer, teils psychischer Art. Auf der ersten Stufe wird das Begehren [259] ausgeschieden, auf der zweiten auch alle geistigen Funktionen, die dritte Stufe ist die völliger „Indifferenz". So gelangt man zuletzt in den Zustand des „Samadhi", einen dem Verstand unerreichbaren Seinszustand, wo „wir losgelöst sind vom Endlichen und seinem Widerspruch von Gut und Böse, identisch mit dem Atman, der Weltseele". - Ähnlich lauten die Äußerungen der meisten anderen Mystiker, einerlei, ob wir sie in Indien oder Griechenland, im islamitischen Vorderasien oder im Abendlande suchen: merkwürdig übereinstimmend, was immerhin darauf schließen läßt, daß diesem Zustand jedenfalls ein Erlebnis zugrunde liegen muß. Versuchen wir nun das Ergebnis der mystischen Praxis denkend zu bestimmen, so schauen wir in ein großes geheimnisvolles Dunkel. Es liegt mir fern, den ästhetischen Zauber dieses Dunkels zu leugnen, es mag auch durchwittert sein von religiösen Schauern, aber Erkenntnis in irgendeinem greifbaren Sinne ist das nicht, weder in irgendeinem rationalen noch in unserem irrational-aktivistisehen Sinne. Denn alle Ratio und alle Aktivität sind ja ausgeschaltet. Das Merkwürdigste aber ist, daß bei dieser Konzentration auf das reine Ich das Ich selbst entschwindet, daß gerade das, worauf die geistige Einstellung zielte, sich auflöst, daß das Ich eins scheint mit dem Nichtich. Mag dieses Ergebnis, so gewonnen, auch nebulos genug erscheinen: wir buchen es hier nur, da wir später auf anderen Wegen doch zu einem Ergebnis gelangen, das zum mindesten manche Ähnlichkeiten damit aufweist. Zunächst weist aber uns auch die Analyse des mystischen Schauens wieder auf den Weg zurück, den wir schon vorher fanden: daß wir das Ich nur in seinen Beziehungen zur Außenwelt zu erkennen vermögen, daß wir auch die Wirklichkeit des Ich nur in seiner Wirksamkeit feststellen und ein wenig spezifizieren können. Das heißt, das Ich ist nur „wirklich" in Korrelation mit der Außenwelt. Wir erkennen das Ich nur, indem wir seine Beziehungen zur Außenwelt erforschen, genau wie wir die Außenwelt nur in ihren Beziehungen zum Ich zu ergründen [260] vermögen, ein Ich „an sich" ist so wenig Gegenstand der Erkenntnis als eine Außenwelt an sich. Indem wir aber das Erkennen als Beziehung zwischen Ich und Außenwelt deuten, soll damit nicht gesagt sein, daß beide im Erkennen stets in gleicher Weise beteiligt wären. Das Ich kann sich, wie wir bereits bei Analyse des rationalisierenden Erkennens sahen, selbst zurückdrängen, es kann sich seiner Besonderheiten bis zu einem sehr hohen Grade entäußern, es kann sich „rationalisieren", ohne jedoch darum aufzuhören, ein Ich zu sein. Es kann jedoch auch seine Tätigkeit voranstellen und die Außenwelt ganz dieser Tätigkeit unterordnen. 5. Rationalisierende Icherkenntnis in der Psychologie Die Selbsterkenntnis, die in dem bekannten delphischen Spruche kategorisch von jedem Menschen gefordert wird, ist also in Wahrheit eine der allerschwierigsten Aufgaben, die es gibt. Gilt es doch nichts anderes, als daß ein Licht sich selber erleuchte, eine Hand sich selbst ergreife! Trotzdem hat man das unablässig versucht und zwar so, daß man die auf die Außenwelt anwendbaren Denkformel auf die Innenwelt einfach übertrug, d. h. indem man das Ich rationalisierte, wie man die Außenwelt rationalisiert hat. Daß auch dies Verfahren berechtigt, ja notwendig ist, soll nicht bestritten werden, nur muß man sich bewußt sein, daß man dabei das Ich ebenso vergewaltigt wie man die Außenwelt im rationalen Verfahren vergewaltigt, ja sogar in noch höherem Grade, da es im Ich noch weniger Anhalte für die Rationalisierung gibt als in der Außenwelt. Die das Ich rationalisierende Wissenschaft ist die Psychologie. Ihr Verfahren ist dies: sie sucht aus den tausendfältig ineinander verrinnenden Wellen des Bewußtseinsstromes gewisse Gleichmäßigkeiten heraus, die sie zusammenordnet und mit Namen bezeichnet. So unterscheidet sie die verschiedenen Empfindungen, Vorstellungen, Gefühle, Wollungen usw. nicht nach ihren Inhalten, sondern nach formalen Qualitäten. Damit ist sie jedoch nicht zufrieden. Sie ordnet diesen relativ gleichen [261] Inhalten gewisse Akte oder Funktionen zu, als deren Wirkungen jene Inhalte erscheinen, und nennt die Gesamtheit dieser Funktionen die „Seele", die als einer der wichtigsten Aspekte des Ich, womöglich als dieses selbst gilt. Aber es ist ein Irrtum, wenn man glaubt, mit diesem schematischen Ichbegriff nun das wirkliche Selbst erfaßt zu haben. Man hat nur ein Schema, nicht die tatsächliche Wirklichkeit. Man erfaßt damit das Ich nur insofern, als es mit anderen Ichen unter einen gemeinsamen Begriff zu bringen ist, also nicht seine Individualität, sondern gerade das allen Individuen Gemeinsame. Das wird auch nicht durch das Verfahren der „differentiellen" Psychologie behoben, die an Stelle des allen Gemeinsamen das einzelnen Gruppen Gemeinsame setzt, ohne doch je auf das Reinindividuelle zu stoßen: dies ist ein Grenzbegriff, der begrifflich nie zu erreichen ist. Mit alledem ist der Wert der Rationalisierung des Ich so wenig bestritten, als wir den Wert der Außenweltsrationalisierung in Zweifel zogen: beides dient der Ordnung unübersehbarer Mannigfaltigkeiten zu praktischen Zwecken und bewährt sich auch nach dieser Richtung. Absolute Erkenntnis aber geben beide Methoden nicht. 6. Überindividuelles im Ich. Die größte Schwierigkeit bei aller Ichbetrachtung aber liegt darin, daß dies Ich, worauf wir schon mehrfach verwiesen, gar nicht zu isolieren ist. Was immer es sein mag: das jedenfalls ist sicher auszumachen, daß es in jedem Ich neben rein Individuellem auch vielerlei Überindividuelles gibt, ohne daß eine Scheidung möglich sei. Ich spreche sowohl von einem „Es im Ich" wie einem „Wir im Ich" wie von einem „Du im Ich". Das heißt, es gibt Unpersönliches wie Überpersönliches und Anderpersönliches im Ich. Selbst wenn wir unsere Gefühle und Wollungen als ichhaft im Gegensatz zu den außerichhaften Empfindungen oder Denkinhalten ansehen, so ist keineswegs gesagt, daß darin stets unser ganz individuelles Ich sich auswirkte; im Gegenteil: in unseren Gefühlen und Willensantrieben [262] äußert sich oft ein Subjekt, das wir in einem gewissen Gegensatz zu unserer Individualität erleben, als etwas Unpersönliches, oder etwas Überpersönliches (etwa Nationales, oder Zeitliches oder Ständisches) oder auch, wir fühlen und wollen von ganz bestimmten fremden Ichen her suggeriert, ohne daß wir überall eine Scheidung machen können, ja ohne uns im Augenblick dessen bewußt zu sein, und erst spätere Reflektion läßt uns erkennen, daß wir gar nicht aus unserem eigenen Selbst heraus gehandelt haben, sondern unter ichfremdem Einfluß. Es soll das keineswegs getadelt werden: im Gegenteil, alles soziale Leben beruht darauf, daß das Individuum in dieser Weise in inneren Konnex mit Gemeinschaften und anderen Ichen tritt, mag dabei auch seine Individualität bis zu gewissem Grade ausgeschaltet werden. Alles Gemeinschaftsleben ist nur möglich, weil das Ich sich nicht immer als Individualität fühlt, sondern aus einer kollektiven Subjektivität heraus handelt. Sei es die Familie, der soziale Stand, das Volksganze, die Zeitströmung, mit denen das Ich sich bewußt oder unbewußt in Eins setzt, für die Entfaltung des Lebens, des einzelnen wie des kollektiven, sind diese überindividuellen Subjektbildungen von unabsehbarer Wichtigkeit. Auch für das Erkenntnisleben, das wir (außer unter anderen Aspekten) auch als soziales Phänomen ansehen wollten! Indem ich erkenne, erkenne ich nicht nur aus mir, für mich, sondern stets zugleich aus überindividuellen Gesichtspunkten heraus im Interesse überindividueller Gemeinschaften. Daß diese nicht ohne weiteres, wie der Rationalismus unkritisch annimmt, gleich die Gesamtheit aller denkenden Subjekte umspannt, ist genügend hervorgehoben und ergibt sich bei jeder unbefangenen Betrachtung der Geistesgeschichte. Gerade das mannigfache Widerspiel der Subjektkreise, ihr Kampf und ihre Ergänzung machen ja das Leben des Geistes aus, und eine Erkenntnis des Erkennens wird diese Gegensätze nicht vertuschen, sondern möglichst klar zu sondern und in höherer Synthese zu überbrücken suchen. Das aber heißt ja Irrationalismus, daß nicht nur das Erkennen als Beziehung zwischen Objekt und Subjekt, auch [263] nicht bloß das zu erkennende Objekt, nein auch das erkennende Subjekt in seiner Irrationalität erfaßt wird, eine Irrationalität allerdings, die nicht Chaos und Willkür, sondern vitale Notwendigkeit ist. 7. Schöpferische Icherkenntnis. Fassen wir das bisher Gefundene zusammen, so ergibt sich zunächst, daß ein besonderes Organ der Icherkenntnis nicht besteht, daß wir das Ich zwar als Voraussetzung in allen Erkenntnisakten mitdenken müssen, daß wir es jedoch niemals rein daraus erschließen können, daß wir aber im negativen Sinne wenigstens sein höchst wechselvolles Wesen festzustellen vermögen. Daraus aber folgt weiter, daß ein Begriff im rationalen Sinne vom Ich nicht zu bilden ist, weil der erste Grundsatz des Rationalismus, der Satz der Identität, nicht darauf anzuwenden ist, da sich das Ich uns als beständig wechselnder Strom darstellt, ohne wirkliche Konstanz und feste Grenzen. Indem aber das Ich als variable, wenn auch nicht chaotische Größe in alle Erkenntnisgleichungen eingeht, finden wir auch von dieser Seite, was wir hinsichtlich der ebenfalls beständig variablen Außenwelt fanden, daß Erkenntnis niemals etwas Statisches sein kann, sondern ein unablässiges Anpassen sein muß, stets bereit, sich zu modifizieren, sobald es die Umstände erfordern, das heißt, das Wirken im Dienste des Lebens, eines Lebens, das nicht nur die Individualität, sondern auch überindividuelle Subjekte mit ihren tausendfachen Bedürfnissen der Erhaltung und Entfaltung in sich schließt. Indem wir aber wieder auf das Wirken als den Sinn alles Erkennens verweisen, können wir ruhig zugeben, daß wir ob der Unmöglichkeit einer rational-theoretischen Selbsterkenntnis nicht zu verzweifeln brauchen. Der Sinn des Satzes „Erkenne Dich selbst" hat auch niemals ein solches Erkennen gemeint, der Sinn war stets auf ein Wirken gerichtet und lautete in Wahrheit: Arbeite an Dir selbst, vollende Dich selbst! Nur insofern, als sie der Arbeit am Ich und der Vollendung des Ich dient, wird die Selbstbetrachtung zur Selbsterkenntnis. [264] Und daß solche Arbeit am Ich möglich ist, ist vor allem die Voraussetzung jeder Ethik. Wir sollen unsere Schwächen erkennen, nicht um sie theoretisch zu beschauen, sondern um sie abzustellen. Wir sollen unsere Individualität, nicht erkennen, um sie in Isoliertheit zu bewahren, sondern sie in Beziehung zu setzen mit den überindividuellen Kreisen des Lebens, in denen sich erst das menschliche Dasein voll entfalten kann. Das Ich ist Gegenstand, aber nicht Ziel der aktiven Selbsterkenntnis. Es gibt aber auch auf dem Erkenntnisgebiet eine Arbeit am eigenen Ich, die der Prüfstein und Sinn aller Selbsterkenntnis sein soll. Es gilt die Grenzen, allerdings auch die Möglichkeiten des Erkennens zu prüfen. Der Rationalismus meint, es genüge, die „Sätze an sich" im Hirn zu verfrachten, um ein Erkennender zu sein, er fragt nicht nach der persönlichen Assimilation, für ihn gibt es schlechterdings keine Grenzen menschlichen Erkennens, da er ja von absolutem Erkennen fabelt, bei dem Grenzen jeder Art den Begriff selbst aufheben würden. Der Irrationalismus in meinem Sinne ist sich der Ichbedingtheit alles Erkennens bewußt und schließt darum auch eine Erkenntnis dieser Ichbedingtheit ein. Er muß dazu führen die kulturellen, zeitlichen, individuellen Bedingtheiten aller Lehrsätze und Systeme einzusehen, nicht um diese ad absurdum zu führen, sondern um ihre Grenzen ins Bewußtsein zu erheben und womöglich zu ergänzen. Insofern ist also Erkennen niemals ein rein objektives Besitzen, ein Ansammeln von Inhalten, sondern es schließt, wie wir immer betonten, die Subjektivität und die Erkenntnis dieser Subjektivität mit ein. Gewiß können wir nicht, sowenig wir die „reine" Objektivität erkennen, Erkenntnis der reinen Subjektivität gewinnen, wohl aber umfaßt alles Erkennen zugleich Subjekt und Objekt, es ist eine funktionale Beziehung zwischen beiden, eine Beziehung, die kontrolliert wird nicht durch abstrakte, rationale Maßstäbe, sondern durch das Wirken im Dienste des Lebens: denn Erkennen ist nicht außerhalb des Lebens in raum- und zeitloser Weltferne schwebendes, reines Gelten, sondern ein Teilfaktor des Lebens. [265] 8. Ich und Welt; das Erkennen als Lebensprozeß. Zu überraschendem Ringe also schließt sich unser Forschungsweg. Wir waren ausgegangen, die Außenwelt in ihren Weiten und Tiefen zu ergründen und fanden uns allenthalben auf das Ich zurückgewiesen, das als wesentlicher Faktor in alle Erkenntnis einging. Und nun, da wir uns zu diesem Ich zurückwenden, finden wir, daß es ebenfalls nirgends „an sich", sondern stets 'nur in seinen Äußerungen, seinen Beziehungen zur Außenwelt zu ergründen ist, so daß alle Icherkenntnis zugleich Bestandteile der Außenwelt einschließt, ja daß jede Art Icherkenntnis in engster Korrelation mit einer entsprechenden Art, die Außenwelt zu denken, steht. Wir können noch einen weiteren Schritt wagen: Wenn wir die Außenwelt nur im Ich und das Ich nur in der Außenwelt erkennen, so liegt die Frage nahe, ob die beiden wirklich überhaupt so geschieden sind, wie es die Ausgangsposition annahm. Wir fragen: steht das erkennende Ich wirklich der Außenwelt gegenüber wie ein Spiegel seinem Objekt? Oder müssen wir vielleicht von einem höheren Standpunkt aus diese Gegenüberstellung aufheben? Das Erkennen selbst wäre dann nicht ein von außen an die „Welt" herangetragener Prozeß, sondern ein im Innern der Welt sich abspielender notwendiger Vorgang, in dem das Weltgeschehen, dessen Sinn und Ziel wir nicht kennen, seinen Weg geht. Wir müssen uns bewußt sein, daß die Grenze zwischen Ich und Außenwelt nur fiktiverweise besteht, daß in Wahrheit Ich und Welt zusammengehören. Das gilt im Psychischen genau wie im Physischen. Wie wir physisch ein Teil der Erde und des Weltalls sind und unsere Existenz nur in lebendigem Zusammenhang damit besteht, so auch psychisch. Wir können wohl die Stelle des Erdbodens wechseln, aber wir können uns nie von der Erde loslösen, wir sind, so sehr uns das mißfallen mag, Teile der Erde, von der wir nicht loskommen. Unablässig treten Bestandteile der Außenwelt in uns hinein, werden Teile des Ich, und andere verlassen uns wieder. Gase, Flüssigkeiten, feste Substanzen strömen in uns ein und werden abgesondert, und nur in [266] diesem Wechsel besteht unser Leben. Und mit unserem Bewußtsein ist's ähnlich; auch dieses besteht nur in beständigem „Stoffwechsel". Wenn man einem ganz Anästhetischen Augen und Ohren schließt, so schläft er ein, das Bewußtsein erlischt. Das aber heißt, körperliches wie seelisches Leben ist realiter nicht isolierbar, es besteht nur in ununterbrochener Wechselwirkung mit dem Nichtich. Ganz konsequent durchgeführt müßte auch die Yogapraxis zum Erlöschen des Geistes führen, das Ergebnis würde nicht ein höchstes Leben, sondern ein Erlöschen des Lebens sein, weil das Ich nicht isolierbar, sondern nur in Zusammenhang und Widerspiel mit dem Nichtich besteht. Und doch können wir diese Erkenntnis der untrennbaren Einheit von Ich und Nichtich, die uns am Anfang stand und zu der wir wieder zurückkehren, auch in der mythologischen Sprache der Mystik so aussprechen, daß Atman und Brahman, Ich und Welt, im tiefsten Eins sind, aber wir meinen das nicht im indischpassiven Sinne des Verschwimmens der Grenzen, sondern im abendländisch-aktiven des lebendigen Aufeinanderbezogenseins von Ich und Welt, nicht als Aufhebung, nein, als höchste Bejahung des Lebens. Leben und Erkennen sind uns nicht absolute Absonderung des Ich von der Welt, sondern auch in der Sonderung und gerade durch sie innigstes Aufeinanderbezogensein. Nichts ist drinnen, nichts ist draußen, Denn was innen ist, ist außen. So ergreifet ohne Säumnis Heilig offenbar Geheimnis! - Kapitel IX. Irrationalistische Philosophie.