Auszug aus: "Vom Unsinn des Sinns oder vom Sinn des Unsinns"

von Paul Watzlawick.

Der vorliegende Text basiert auf zwei aufeinander bezugnehmenden Vorträgen im Wiener Rathaus, am 17. Mai 1989 und am 5. November 1991

VOM UNSINN DES SINNS
ODER VOM SINN DES UNSINNS

(Eine konstruktivistische Interpretation der subjektiven Wirklichkeitssicht. W.H.)

PICUS VERLAG WIEN , Wien 1993

(Hinweis: Die Seitenzahlen befinden sich am Fuß jeder Seite. -
Bisheriger Inhalt: die Seiten 34/35, 45 - 76)



WIENER VORLESUNGEN IM RATHAUS

Band 16 Herausgegeben von der Kulturabteilung der Stadt Wien Redaktion Huber Christian Ehalt
Der vorliegende Text basiert auf zwei aufeinander bezugnehmenden Vorträgen im Wiener Rathaus, am 17. Mai 1989 und am 5. November 1991

PAUL WATZLAWICK
VOM UNSINN DES SINNS ODER VOM SINN DES UNSINNS

Mit einem Vorwort von Hubert Christian Ehalt

PICUS VERLAG WIEN


...

 [zu den Verweisen]

[Auszug]

DIE STRATEGIE DER KLEINEN SCHRITTE

Unser Herangehen an die Probleme - gerade vom Systemischen her - sollte durch einen Grundsatz bedingt sein, den viele Problemlöser heute schon anwenden, besonders, wenn es sich um sehr komplexe Situationen handelt. Das Rezept lautet, sich nicht zu fragen, was wir tun müssen, um die Dinge zu verbessern, sondern sich die äußerst nihilistische Frage zu stellen, was wir tun müßten, um die Lage vollkommen unmöglich zu machen. Dieses scheinbar so negative

34

Denken hat den großen Vorteil, dass wir uns nicht auf weiß Gott welche hohen Ideale einstellen, sondern dass wir uns ernsthaft fragen, welche Systemeigenschaften wir in Betracht ziehen bzw. respektieren müssen, um eine Verschlechterung des Problems zu vermeiden. Der Fehler, den ich sowohl als Therapeut wie auch als Berater von Großfirmen am häufigsten sehe, ist die Annahme, dass ein großes komplexes Problem nur durch ebenso große komplexe Lösungsstrategien angegangen werden kann. Allein schon die Entwicklungsgeschichte des Lebens auf unserem Erdball lehrt uns ein Besseres, denn die unerhörte Komplexität des Lebens entstand aus einfachsten Ausgangsbedingungen und in kleinsten Schritten. Wie wir wissen, waren alle großen Wandlungen in der Evolution katastrophisch. Das Kleine ist möglicherweise bedeutender als das Große. Das ist für viele Weltbeglücker natürlich eine überaus schäbige Idee, mit der man die Massen nicht begeistern kann.

...

35   [zu den Verweisen]

...

DIE FRAGWÜRDIGKEIT UNSERER WAHRNEHMUNG

Ich möchte nun allmählich zum Thema des Radikalen Konstruktivismus überleiten und zitiere zuerst eine Passage aus dem Buch »Laws of Form« (Die Gesetze der Form) des englischen Logikers und Kybemetikers Spencer Brown. Er sagt dort, dass die Welt so beschaffen zu sein scheint, dass sie sich selbst sehen kann:

Um dies jedoch zu erreichen, muss sich die Welt zuerst selbst trennen, nämlich in einen Zustand, der sieht, und in einen anderen, der gesehen wird.

45

In diesem zerschnittenen, verstümmelten Zustand ist das, was sie sieht, nur teilweise sie selbst. Wir dürfen annehmen, dass die Welt sich selbst entspricht (das heißt von sich selbst ununterscheidbar ist), dass sie aber bei jedem Versuch, sich selbst zu sehen, so verfahren muss, dass sie sich von sich selbst unterscheidet und daher sich selbst verfälscht. In diesem Zustand wird sie ihrem eigenen Erfassen stets selbst teilweise entgehen.'

Auch die Physiker betonen immer wieder, dass die Beobachtung in eine andere Wirklichkeit führt. Es ist ja nicht nur so, wie Heisenberg sagte, dass die Beobachtung auf das Beobachtete einwirkt, sondern es ist auch so, dass das Beobachtete auf den Beobachter zurückwirkt.

Der berühmte Biologe Francisco Varela sagt: Der Ausgangspunkt dieses Kalküls der Rückbezüglichkeit ist das Setzen einer Unterscheidung. Mit diesem Urakt der Trennung scheiden wir Erscheinungsformen voneinander, die wir dann für die Welt selbst halten. Davon ausgehend bestehen wir dann auf den Primat der Rolle des Beobachters, der seine

46 [zu den Verweisen]

Unterscheidungen an beliebiger Stelle macht. Doch diese Unterscheidungen, die einerseits unsere Welt erschaffen, enthüllen andererseits aber eben dies, nämlich die Unterscheidungen, die wir machen. Und sie beziehen sich vielmehr auf den Standpunkt des Beobachters als auf die wahre Beschaffenheit der Welt, die infolge der Trennung von Beobachter und Beobachtetem immer unerfassbar bleibt. Indem wir der Welt in ihrem bestimmten So-Sein gewahr werden, vergessen wir, was wir unternahmen, um sie in diesem So-Sein zufinden. Und wenn wir zurückverfolgen, wie es dazu kam, finden wir kaum mehr als das Spiegelbild unserer Selbst in und als Welt. Im Gegensatz zur weitverbreiteten Annahme enthüllt die sorgfältige Untersuchung einer Beobachtung die Eigenschaften des Beobachters. Wir, die Beobachter, unterscheiden uns gerade durch die Unterscheidung dessen, was wir anscheinend nicht sind, nämlich durch die Welt.'

Und damit sind wir an dem Punkt angelangt, wo die ganze Frage des »Außen« überaus relativ wird und wir uns mit der Frage des Wahrnehmens beschäftigen müssen. Dazu will ich eine

47 [zu den Verweisen]

orientalische Geschichte erzählen, die in ihrer Struktur bereits das Wesentliche, das ich aufzeigen möchte, enthält. Es ist die Geschichte von einem Vater, der mit seinem kleinen Sohn an einem sehr heißen Tag auf einer staubigen Landstraße unterwegs ist. Der Vater führt den Esel, auf dem der Kleine reitet. Es kommt ihnen eine Gruppe von Menschen entgegen, und der Vater hört ihr Gespräch: »Schaut euch mal das an! Der Vater geht zu Fuß und der Bub sitzt auf dem Esel. Wie der Vater diesen Kerl verwöhnt! Was soll denn aus dem mal werden?« Als der Vater das hört, nimmt er den Sohn vom Esel herunter, steigt selbst auf, und sie gehen weiter. Da kommt wieder eine Gruppe daher, die sagt: »Schaut euch bloß mal das an. Er reitet und der Kleine muss an einem solch heißen Tag zu Fuß gehen. Hat er kein Mitleid mit dem Kind?« Darauf holt der Vater den Sohn zu sich auf den Esel. Nach einiger Zeit kommt ihnen eine dritte Gruppe entgegen, die spricht: »Zu zweit reiten sie auf dem armen Tier. Haben die kein Herz?« Darauf steigt der Vater ab, nimmt den Jungen vom Esel und beide beginnen, den Esel zu tragen. Es kommt eine weitere Gruppe aus der Gegenrichtung und ... Ich überlasse es Ihnen, sich vorzustellen, was die sagen.  

48 [zu den Verweisen]

DIE UNTERSCHEIDUNG ZWISCHEN WAHRNEHMUNG UND SINNZUSCHREIBUNG ALS BASIS DES RADIKALEN KONSTRUKTIVISMUS

Nehmen Sie nun an, Sie werden Zeuge folgenden Vorfalls: Sie sehen einen Mann ins Wasser springen, um einen Ertrinkenden zu retten. Was, denken Sie, sind die Beweggründe dieses Menschen? Die Tatsache, dass Sie den Mann ins Wasser springen sahen, wird Ihnen von Ihren Sinnesorganen, hauptsächlich den Augen, über Ihr Zentralnervensystem mitgeteilt. Die Bedeutung aber, die Sie diesem Gesehenen zuschreiben, hat keine objektive, klare, eindeutige Gültigkeit mehr. Hat er das getan, um als Held zu erscheinen? Sieht er das als Einzahlung auf sein himmlisches Bankkonto? Oder wusste er, dass der Ertrinkende ein Millionär ist? Es gibt nur Zuschreibungen von Sinn, über die man endlos debattieren kann. Das ist keineswegs eine neue Einsicht.

49

Epiktet stellte schon im ersten nachchristlichen Jahrhundert fest: »Es sind nicht die Dinge, die uns beunruhigen, sondern die Meinungen, die wir von den Dingen haben.«

Ich möchte vor allem darauf verweisen, dass wir es eigentlich mit zwei Wirklichkeiten zu tun haben. Das ist eine für mich wichtige Unterscheidung, die sich auch der Radikale Konstruktivismus zu seiner Basis gemacht hat. Es gibt erstens einmal die Wirklichkeit, die uns unsere Sinnesorgane vermitteln. Ich möchte gar nicht darauf eingehen, dass die Wahrnehmung der Wirklichkeit über unsere Sinnesorgane das Ergebnis einer phantastisch-komplexen Konstruktion unseres Zentralnervensystems ist. Da draußen gibt es nämlich keine Farben, sondern nur elektromagnetische Wellen. Wir sehen die Farben lediglich deswegen, weil wir Augen haben. Und ich pflege meine Kollegen von der Physik zu ärgern, indem ich sage: »Ihr lieben Leute, da draußen gibt's nur elektromagnetische Wellen, weil ihr Apparate gebastelt habt, die auf etwas ansprechen, das ihr dann >elektromagnetische Wellen< nennt.« Damit ist die Sache nur weitergeschoben, aber nicht geklärt.

50 [zu den Verweisen]

Aber zurück zur Unterteilung in zunächst einmal die direkte Wahrnehmung via Sinnesorgane und darauf folgend die Zuschreibung von Sinn, Bedeutung und Wert an diesen Wahrnehmungen. Die Wirklichkeit erster Ordnung wäre also die direkte Wahrnehmung, die Wirklichkeit zweiter Ordnung ist dann eben die Zuschreibung von Bedeutung, Sinn und Wert. Und es gibt keine objektive Klarlegung oder Festlegung der Richtigkeit dieser Zuschreibung. Aber wir alle haben die merkwürdige Idee, dass die Art und Weise, wie wir die Welt sehen, die Welt in ihrem objektiven So-Sein widerspiegelt. Und wir legen uns nicht darüber Rechenschaft ab, dass wir es sind, die dieser Welt Bedeutung zuschreiben.

Dazu ein passendes Beispiel aus der Geschichte, das von Plutarch aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert stammt. Plutarch beschrieb, dass in der kleinasiatischen Stadt Milet eine Selbstmordepidemie unter jungen Frauen ausgebrochen war. Diese nahm solche Ausmaße an, dass die Stadtväter, dem Rate eines weisen Mannes folgend, einen Erlass herausgaben, wonach die nackten Körper dieser Selbstmörderinnen

51

öffentlich auf dem Marktplatz ausgestellt werden mussten. Dadurch hörte die Selbstmordepidemie praktisch über Nacht auf. Daran sieht man, wie bedeutungsvoll die Zuschreibung von Sinn oder die Einführung eines neuen Gesichtspunktes in einer bestimmten Situation sein kann.

 

ABSAGE AN DIE ANNAHME EINER OBJEKTIVEN WIRKLICHKEIT

Die Idee einer dem menschlichen Geist zugänglichen, objektiv existierenden Wirklichkeit ist philosophisch seit mindestens 200 Jahren unhaltbar. Schon Giambattista Vico soll gesagt haben, dass wissenschaftliches Arbeiten darin bestehe, »die Dinge in eine schöne Ordnung zu setzen«. In ganz ähnlichem Sinn äußerte sich Kant: »Aller Irrtum besteht darin, dass wir unsere Art, Begriffe zu bestimmen oder abzuleiten oder einzuteilen, für Bedingungen der Sachen an sich halten.« Und Jaspers sagte: »Das Unheil menschlicher Existenz beginnt, wenn das wissenschaftlich Gewusste für das Sein selbst gehalten wird, und wenn alles, was nicht wissenchaftlich wissbar ist,

52 [zu den Verweisen]

als nicht existent gilt.« Das sind sehr bedeutende Überlegungen, die von der Philosophie kommen. Aber interessanterweise kommen nicht nur von der Philosophie, die ihrerseits eine Konstruktion ist, Bestätigungen. sondern auch aus einer Richtung, aus der man das nicht erwarten würde, nämlich von der theoretischen Physik. Einstein soll in einem Gespräch mit Heisenberg schon 1926 gesagt haben: »Es ist unmöglich, nur beobachtbare Größen in eine Theorie aufzunehmen. Es ist vielmehr die Theorie, die entscheidet, was man beobachten kann.« Und Heisenberg schreibt dann selbst in seinen gesammelten Werken:

Die Wirklichkeit, von der wir sprechen können, ist nie die Wirklichkeit an sich, sondern eine gewusste Wirklichkeit oder sogar in vielen Fällen eine von uns gestaltete Wirklichkeit. Wenn gegen diese letztere Formulierung eingewandt wird, dass es schließlich doch eine objektive, von uns und unserem Denken völlig unabhängige Welt gebe, die ohne unser Zutun abläuft oder ablaufen kann und die wir eigentlich mit der Forschung meinen, so muss diesem zunächst so einleuchtenden Einwand entgegengehalten werden,

53

dass schon das Wort »es gibt« aus der menschlichen Sprache stammt und daher nicht gut etwas bedeuten kann, das gar nicht auf unser Erkenntnisvermögen bezogen wäre. Für uns gibt es eben nur die Welt, in der das Wort »es gibt« einen Sinn hat.

 

DIE GRENZE ZWISCHEN NORMALITÄT UND WAHNSINN

Sie sehen also, dass die Annahme einer wirklichen Wirklichkeit auch im Bereich einer scheinbar absolut objektiven Wissenschaft wie der theoretischen Physik nicht haltbar ist. Aber in der Psychiatrie wird an dieser Annahme weiterhin festgehalten. Das Kriterium menschlicher, geistiger und seelischer Normalität ist die Wirklichkeitsanpassung eines Menschen. Wer die Wirklichkeit wirklich so sieht, wie sie ist, der ist normal, und das sind »natürlich« vor allem wir Therapeuten ... Aber das Fehlen einer klaren Definition der Normalität, die auf einem so anfechtbaren Grundsatz aufbaut, macht es der Psychiatrie unmöglich, Pathologien zu definieren.

54 [zu den Verweisen]

Der Spezialist jedes anderen medizinischen Faches ist wesentlich besser dran, denn dort hat der Arzt eine weitgehend klare Idee vom normalen Funktionieren des menschlichen Körpers oder des betreffenden Organs. Es ist daher sinnvoll, in der Medizin von Pathologien zu sprechen, eben weil die Normalität erkannt oder einigermaßen klar ist. Aber im Falle der Psychiatrie haben wir es mit dem Wesen Mensch zu tun. Und was der Mensch ist, ist letzten Endes eine metaphysische Frage, für die es keine Beweise gibt.

Fast genau vor einem Jahr hatte sich im Allgemeinen Krankenhaus der toskanischen Stadt Grosseto ein merkwürdiger Zwischenfall ereignet. Eine hochgradig schizophrene Frau sollte nach Neapel gebracht werden, um dort psychiatrisch behandelt zu werden. Als die Fahrer des Ambulanzwagens in das Spital kamen, wurden sie in ein Zimmer geschickt, in dem die Frau angezogen, die Handtasche bereit, auf dem Bett saß. In dem Moment jedoch, in dem man sie bat mitzukommen, wurde die Patientin offensichtlich wieder schizophren, denn sie leistete Widerstand, depersonalisierte und musste schließlich mit einer Spritze beruhigt werden.

55

Als das Rettungsauto bereits unterwegs war, stellte man fest, dass es sich um eine Verwechslung handelte. Die Dame in der Ambulanz war eine Frau aus Grosseto, die einen Verwandten besuchen wollte.

Der Grund, weshalb ich dieses Beispiel erwähne, ist nicht die Tatsache, dass hier ein bedauernswerter Fehler bzw. Irrtum begangen wurde. Für unser Thema ist interessant, dass der Irrtum eine Wirklichkeit schuf, in deren Rahmen jegliches Verhalten der Betreffenden weiterer Beweis für ihre Geistesgestörtheit war. Denn als die Frau behauptete, jemand anderes zu sein, wurde das als typische Depersonalisierung betrachtet, etc.

1973 veröffentlichte der amerikanische Psychologe David Rosenhahn ein entsprechendes Forschungsergebnis. Acht seiner Mitarbeiter hatten sich freiwillig in verschiedene psychiatrische Anstalten einweisen lassen, indem sie angaben, Stimmen zu hören, die sich eigentlich auf die drei Worte »hohl«, »dumpf« und »leer« beschränkten. Diese Worte waren gewählt worden, da sie einem deutungsfreudigen Therapeuten ein

56 [zu den Verweisen]

weites Feld tiefer Sinnmöglichkeiten bieten. Sofort nach ihrer Aufnahme behaupteten alle acht, dass die Stimmen nun verstummt seien und verhielten sich in einer Weise, die außerhalb der psychiatrischen Klinik als völlig normal gegolten hätte. Sie wurden nach einer Behandlungsdauer von 9 bis 53 Tagen alle mit der Diagnose Schizophrenie in Remission entlassen. Auch hier war es also gleichgültig, wie normal sich die Betreffenden gaben. Im Rahmen einer einmal erzeugten Wirklichkeit war jedes Verhalten weiterer Beweis für ihre geistige Gestörtheit. So machten sie sich z. B. im Tagesraum sitzend ausführliche Notizen von ihrem Klinikaufenthalt, und der diensthabende Pfleger oder Arzt vermerkte dann im Bericht: »Patient ist wieder mit seinen endlosen Kritzeleien beschäftigt.«

Ein weiteres schönes Beispiel ist ein Handbuch, DSM genannt (Diagnostisch-statistisches Handbuch), das in Amerika existiert und nun auch auf Europa übergreift. Von diesem Handbuch bestehen bereits vier aktualisierte Ausgaben, und bei der dritten Auflage gab man dem gesellschaftlichen Druck nach und strich die Homosexualität von der Liste der seelischen

57

Erkrankungen. Das war der größte therapeutische Erfolg, der jemals erzielt wurde, denn mit einem Federstrich waren Millionen von Menschen von ihrer »Krankheit« geheilt.

Die Zuschreibung von Normalität ist natürlich auch kulturspezifisch. Als ich in Bombay wohnte, wurde ich gewissen Swamis vorgestellt. Das sind heilige, weise Männer, die dort hohe Verehrung genießen, während hingegen im Westen auf sie ohne weiteres die Diagnose der katatonen Schizophrenie zuträfe.

 

SINN ODER UN-SINN UNSERER WIRKLICHKEITSVORSTELLUNG

Es gibt jedoch ein grauenhaftes Beispiel für die Folgen, die aus der Annahme, die Wahrheit erfasst zu haben, entstehen können. Der Graf Friedrich von Spee (1591-1635), der vielen Hexenprozessen beigewohnt hatte, wollte die Behörden darauf aufmerksam machen, dass es aufgrund der von ihnen gewählten gerichtlichen Verfahrensweise unmöglich war, dass ein der Hexerei Verdächtigter oder eine der Hexerei Verdächtigte

58 [zu den Verweisen]

es waren ja meistens Frauen-jemals als unschuldig erkannt werden würde. Er schrieb daher das Buch »Cautio criminalis«, in dem er folgende Beispiele brachte: Eine Annahme war, dass Gott eine Unschuldige von Anfang an schützen und aus dieser Lage retten würde. Die Tatsache, dass Gott die betreffende Hexe nicht rettete, war bereits ein Beweis für die Schuld der Frau. Eine weitere Annahme bestand darin, aus dem Vorleben einer Verdächtigen zu erkennen, ob sie rechtschaffen war oder nicht. War das Vorleben nicht rechtschaffen, so war das ein weiterer Grund für den Verdacht. War das Leben dieser Betreffenden jedoch rechtschaffen, dann bewies das nur, dass sie wahrscheinlich eine Hexe war, denn Hexen können bekanntlich den Eindruck rechtschaffener Menschen erwecken. Im Gefängnis verhielt sich die Hexe entweder furchtsam oder aber furchtlos. Beides war wiederum Beweis ihrer Schuldhaftigkeit. War die Frau nicht furchtsam, dann deshalb, weil Hexen sich darauf verlassen, dass der Teufel sie retten wird. Ich will mit diesen Beispielen zeigen, dass sich aus den Annahmen, die wir der Wirklichkeit zuschreiben, entsetzliche Folgen ergeben können.

59

Andererseits gibt es keinen Zweifel, dass ein Leben ohne eine Annahme über die Wirklichkeit, das heißt ohne einen Sinn, unerträglich ist. Die Langeweile ist die verdünnteste Form von Angst und Leere. Daher unsere dauernde Suche nach dem Sinn. Wir lesen schon in den Psalmen: »Wie der Hirsch nach dem Wasser, so schreit meine Seele nach Dir, oh Herr.« Denken Sie an die wunderbare Bildhaftigkeit der Idee der blauen Blume von Novalis, die irgendwo im Verborgenen blüht und deren Finden dem Leben endgültige Bedeutung und Sinn verleiht. Diese Idee ist hochinteressant, weil sie nur zwei Möglichkeiten offenlässt. Entweder ich suche und suche endlos, denn es gibt endlos viele mögliche Fundorte. Oder aber ich komme zur Einsicht, dass es die blaue Blume nicht gibt. In dem Fall ist mein Leben sinnlos und untragbar.

Eine weitere Komplikation tritt dann auf, wenn wir an einem erhofften Ziel ankommen. Wir sind wie gesagt immer auf der Suche nach dem von uns für die Erfüllung gehaltenen Ziel. Ein junger Mann will zum Beispiel Arzt werden. Für ihn ist das Erreichen der Doktorwürde die Erfüllung. Nur muss er dann feststellen, dass das

60 [zu den Verweisen]

Ankommen am Ziel keineswegs der wunderbaren Stimmung, der Erwartung entspricht. Das ist ein sehr ernüchterndes Erlebnis und es gibt dafür ein schönes japanisches Sprichwort: »Es ist besser, hoffnungsvoll zu reisen als anzukommen.«

Und Oskar Wilde sagt in »Lady Windermeres Fächer«: »Es gibt im Leben zwei Tragödien. Die eine ist die Nichterfüllung eines Herzenswunsches. Die andere ist seine Erfüllung. Von den beiden ist die zweite die bei weitem tragischere.« Auch Ernst Bloch schrieb über dieses merkwürdige Phänomen der »Melancholie der Erfüllung«.

Es gibt noch eine weitere Variante des Verhaltens nach Erreichen des angestrebten Zieles, die Leuten meines Faches sehr wohl bekannt ist. Nehmen wir eine Liebesbeziehung, die zunächst einmal alles zu versprechen scheint. Dann kommt es zu ihrer Verwirklichung, z. B. durch die Heirat, und auf einmal ist die Sache ihrer Wunderbarkeit beraubt. Die Beziehung bricht auseinander. Sofort stellt sich das Phänomen des verlorenen Paradieses ein. Dann ist dieselbe Beziehung, weil nicht mehr existierend, plötzlich wieder der Inbegriff alles zu Erhoffenden. Und

61

es kommt eventuell zur Wiederverheiratung und zu genau demselben Ablauf. Hier also begegnen wir dem »Unsinn des Sinns«.

Vielleicht meinte Rilke etwas Ähnliches, als er in seiner ersten Duineser Elegie sagte: »Denn das Schöne ist nur des Schrecklichen Anfang, den wir gerade noch ertragen. Und wir bewundem es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.«

 

»SINN ODER NICHTSEIN, DAS IST HIER DIE FRAGE«

Das bisher Gesagte wird jedoch durch eindrucksvolle Ausnahmen dementiert, die älteren Menschen zweifellos bekannt sein dürften. Es ist nämlich so, dass die Sinnfrage sehr sekundär, ja unbedeutend wird, wenn unser physisches Überleben in irgendeiner Weise bedroht scheint. Orwell sagte bereits in einem seiner Essays: »Menschen mit leeren Bäuchen verzweifeln nicht am Universum, ja, sie denken nicht einmal daran.« Ich kann das aus meinen Erinnerungen bestätigen. Ich arbeitete in den unmittelbaren Nachkriegsjahren

62 [zu den Verweisen]

in Triest, das damals 180.000 Einwohner und ungefähr 70.000 Flüchtlinge hatte, mit all dem Elend, dem Fehlen von Wohnungen, der Ungewissheit über den Verbleib der Familienangehörigen usw. Damals hatten wir im Jahr 14 Selbstmorde. Als ich Triest Ende 1950 verließ, war der Marshall-Plan längst angelaufen, die Leute hatten Arbeit gefunden und sich Häuser gebaut, man saß in Cafés und in Restaurants, und viele Familien hatten sich wiedergefunden. Zu diesem Zeitpunkt betrug die Selbstmordrate bereits zwölf pro Monat. Das werde ich kaum jemals vergessen. Das ist auch das Problem der sogenannten Wohlstandsgesellschaften. Wer überhaupt keine Sorgen zu haben braucht, wie bei uns die jungen Leute, der wird wahrscheinlich äußerst unzufrieden leben, denn er wird nach einem Sinn suchen und wahrscheinlich annehmen, dass mehr Geld und mehr Luxus diesen Sinn erfüllen könnten. Ich hatte Gelegenheit, beruflich auch mit Millionären zu arbeiten und konnte immer wieder feststellen, dass das vierte Luxusauto oder der dritte Pelzmantel der Gattin doch nicht den Sinn des Lebens darstellen.  

63

DIE MENSCHLICHE IMAGINATION ALS GESTALTENDE LEBENSKRAFT

Ganz anderes berichtete dagegen Viktor Frankl in seinem Buch »Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager«, wo er beschreibt, welche enorme Bedeutung der Sinn für das Überleben eines Menschen haben kann.

Wer an seine Zukunft nicht mehr zu glauben vermag, ist im Lager verloren. Wer über das rein physisch ÜberlebenWollende hinaus keinen Sinn mehr sieht, der ist im Lager verloren. Mit der Zukunft verliert er auch den geistigen Halt, läßt sich innerlich fallen und verfällt sowohl körperlich als auch seelisch. Dies geschieht zumeist sogar ziemlich plötzlich in Form einer Art Krise, deren Erscheinungsweisen dem halbwegs erfahrenen Lagerinsassen geläufig sind. Gewöhnlich sah das so aus, dass der betreffende Häftling eines Tages in der Baracke liegen blieb und nicht dazu zu bewegen war, sich anzukleiden, in den Waschraum zu gehen und auf den Appellplatz zu kommen. Nichts wirkt dann mehr, nichts schreckt ihn noch. Keine Bitten, keine Drohungen, keine Schläge.

64 [zu den Verweisen]

Alles vergeblich, er bleibt einfach liegen."

Ein Mithäftling Frankls verlor seinen Lebenswillen, als seine eigene, im Traum erlebte Voraussage nicht eintraf und damit zur negativen Selbsterfüllung wurde. Er sagte zu Frankl:

»Du, Doktor, ich möchte dir gern etwas erzählen. Ich habe da neulich einen merkwürdigen Traum gehabt. Eine Stimme hat mir gesagt, ich dürfe mir etwas wünschen. Ich solle nur sagen, was ich gern wissen möchte, sie wird mir jede Frage beantworten. Und weißt du, was ich gefragt habe? Ich möchte wissen, wann der Krieg für mich zu Ende sein wird. Das heißt, ich wollte wissen, wann wir, wann unser Lager befreit wird, wann unsere Leiden aufhören werden. Und leise, geheimnisvoll flüsterte er mir zu: >Am 30. März.< «

Als aber der Tag der prophezeiten Befreiung bevorstand und die Alliierten noch weit vom Lager entfernt waren, nahmen die Dinge für Frankls Leidensgenossen, den Häftling F., einen schicksalshaften Verlauf. Und ich zitiere wieder:

Am 29. März erkrankte F. plötzlich unter hohem Fieber. Am 30. März, also an jenem Tage,

65

an dem der Prophezeiung gemäß der Krieg und damit das Leiden für ihn zu Ende sein sollte, begann F. schwer zu delirieren und verlor schließlich das Bewusstsein. Am 3]. März war er tot. Er war an Fleckfieber gestorben.

Als Arzt war es Frankl klar, dass sein Kamerad F. daran starb, »dass seine schwere Enttäuschung über das Nichteintreffen der pünktlich erwarteten Befreiung die Abwehrkraft seines Organismus gegen die bereits schlummernde Fleckfieberinfektion plötzlich absinken ließ. Sein Zukunftsglaube und sein Zukunftswille erlahmten und so erlag sein Organismus der Krankheit und so behielt schließlich seine Traumstimme recht.«

Das genaue Gegenteil finden wir in einem Gebiet der Medizin, das in den letzten 20, 30 Jahren sehr eingehend untersucht wurde, nämlich in der Frage der Placebowirkung. Ein Placebo ist eine inerte Substanz, von der der Kranke aber annimmt, es sei eine besonders wirksame Medizin zur Bekämpfung seiner Krankheit. Es ist erstaunlich, dass diese Annahme den Zustand des Kranken enorrn verbessern kann.  

66 [zu den Verweisen]

DER RADIKALE KONSTRUKTIVISMUS: SEINE AUSSAGEN ...

An dieser Stelle möchte ich wiederum auf den Radikalen Konstruktivismus zurückkommen und die Untersuchung jener Prozesse, durch die wir unsere individuelle, familiäre, gesellschaftliche, politische, wissenschaftliche und ideologische Welt schaffen, dann aber naiverweise annehmen, dass die Welt wirklich so ist. Dass wir die Wirklichkeit nicht finden, sondern erfinden, ist für viele Menschen schockierend. Und das Schockierende daran ist, dass wir - nach der Auffassung des Radikalen Konstruktivismus von der wirklichen Wirklichkeit (wenn es die überhaupt gibt) immer nur wissen können, was sie nicht ist. Im Zusammenbrechen unserer Wirklichkeitskonstruktionen erst erfahren wir, dass die Welt so nicht ist.

Der Konstruktivist Ernst von Glasersfeld schreibt in seiner Einführung in den radikalen Konstruktivismus:

Wissen wird vom lebenden Organismus aufgebaut, um den an und für sich formlosen Fluß des Erlebens so weit wie möglich in

67

wiederholbare Erlebnisse und relativ verlässliche Beziehungen zwischen diesen zu ordnen. Das heißt, dass die »wirkliche« Welt sich ausschließlich dort offenbart, wo unsere Konstruktionen scheitern. Da wir das Scheitern aber immer nur in eben jenen Begriffen beschreiben und erklären können, die wir zum Bau der scheiternden Strukturen verwendet haben, kann es uns niemals ein Bild der Welt vermitteln, die wir für das Scheitern verantwortlich machen könnten."

Etwas bildhafter wäre folgende Analogie: Ein Kapitän hat in einer stürmischen, dunklen Nacht eine Meeresenge zu durchfahren, die er nicht kennt, für die er keine Seekarten besitzt und die keine Navigationshilfen wie Leuchtfeuer usw. hat. Unter diesen Umständen sind nur zwei Dinge möglich: Entweder er fährt auf eine Klippe auf und verliert Schiff und Leben. Im letzten Augenblick seines Lebens wird ihm klar, dass die Wirklichkeit dieser Meeresenge nicht so war, dass sein Kurs nicht den Gegebenheiten dieser Meeresenge entsprach. Oder aber er erreicht das offene Meer, dann weiß er nur, dass sein Kurs passte, aber nicht mehr. Er weiß nicht, ob es nicht einfachere,

68 [zu den Verweisen]

kürzere Durchfahrten gegeben hätte als die, die er blind gewählt hat. Und er weiß auch nicht, wie die wirkliche Beschaffenheit der Meeresenge war.

 

... SEINE ANWENDUNGSBEREICHE

Solange unsere Wirklichkeitskonstruktionen passen, leben wir ein erträgliches Leben. Wenn die Wirklichkeitsauffassungen zusammenbrechen, kann es zu jenen Zuständen kommen, für die sich die Psychiatrie zuständig betrachtet, also Wahnsinn, Verzweiflung, Selbstmord und dergleichen mehr. Ich bilde mir nicht ein, dass ich den Menschen, denen ich helfen kann, die Wahrheit vermittle. Ich kann ihnen nur eine andere Konstruktion vermitteln, die eventuell besser passt. Das ist alles, was ich kann.

Interessanterweise ist dieses Problem nicht nur ein menschliches. Einer meiner Leser hat mir ein entzückendes Beispiel mitgeteilt. Er schrieb mir, dass er einen Dobermann besitze, der die Nacht jeweils im Haus verbringt und dann am Morgen in den Garten hinausgelassen wird, wo er zu einem bestimmten Baum rennt, um sein

69 [zu den Verweisen]

Geschäft zu verrichten. In der Zwischenzeit bereitet sein Herrchen in der Küche eine Schüssel Milch vor, die der Hund trinkt, sobald er aus dem Garten zurückkommt. Dieses Ritual wiederholt sich jeden Morgen. Eines Morgens jedoch war keine Milch im Haus. Als der Hund in die Küche stürmte, stand er fassungslos vor der leeren Schüssel. Und was tat er dann? Er lief zurück in den Garten, hob wieder sein Bein - ohne Erfolg - und stürmte in die Küche zurück. Ich glaube, es ist nicht allzu anthropomorphisch gedacht, wenn wir annehmen, dass auch Tiere mit einem ganz bestimmten Bild der Wirklichkeit arbeiten und ebenso das Grauen des Zusammenbrechens einer solchen Wirklichkeit erleben können.

 

... SEINE MÖGLICHKEITEN

Wenn Sie den Steppenwolf, jenen berühmten Roman von Hermann Hesse, kennen, erinnern Sie sich vielleicht an die Szene im Magischen Theater. Der Steppenwolf ist ein am Leben verbitterter, älterer Mensch, der im Laufe des Romans von Pablo in eine ganz neue Welt einge

70 [zu den Verweisen]

führt wird. Eines Nachts gerät er ins Magische Theater, wo ihm Pablo erklärt, dass dieses Theater aus vielen Logen bestehe und sich hinter jeder Logentür eine von ihm frei gewählte Wirklichkeit befinde. In der Loge, die der Steppenwolf daraufhin betritt, erklärt ihm ein Schachmeister:

»Die Wissenschaft hat insofern recht, als natürlich keine Vielheit ohne Führung, ohne eine gewisse Ordnung und Gruppierung zu bändigen ist. Unrecht dagegen hat sie darin, dass sie glaubt, es sei nur eine einmalige, bindende, lebenslängliche Ordnung der vielen Unter-Ichs möglich. ( ... ) Wir ergänzen daher die lückenhafte Seelenlehre der Wissenschaft durch den Begriff, den wir Aufbaukunst nennen. Wir zeigen demjenigen, der das Auseinanderfallen seines Ichs erlebt hat, dass er die Stücke jederzeit in beliebiger Ordnung neu zusammenstellen und dass er damit eine unendliche Mannigfaltigkeit des Lebensspieles erzielen kann. Wie der Dichter aus einer Handvoll Figuren ein Drama schafft, so bauen wir aus den Figuren unsres zerlegten Ichs immerzu neue Gruppen, mit neuen Spielen

71

und Spannungen, mit ewig neuen Situationen. « ( ... ) Dann strich er mit heiterer Gebärde über das Brett, warf alle Figuren sachte um, schob sie auf einen Haufen und baute nachdenklich, ein wählerischer Künstler, aus denselben Figuren ein ganz neues Spiel auf, mit ganz anderen Gruppierungen, Beziehungen und Verflechtungen. Das zweite Spiel war dem ersten verwandt: es war dieselbe Welt, dasselbe Material, aus dem er es aufbaute. Aber die Tonart war verändert, das Tempo gewechselt, die Motive anders betont, die Situationen anders gestellt.

Und so baute der kluge Aufbauer aus den Gestalten, deren jede ein Stück meiner selbst war, ein Spiel ums andre auf, alle einander von ferne ähnlich, alle erkennbar als derselben Welt angehörig, derselben Herkunft verpflichtet, dennoch jedes völlig neu."

Es ist hochinteressant, dass Hermann Hesse schon in den dreißiger Jahren diesen Schachmeister einen Aufbaukünstler nennt; also jemand, der Welten, Wirklichkeiten konstruiert, wie wir heute sagen würden.

Ein anderes Beispiel ist aus dem Roman von John Fowles, »Der Magus«.

72 [zu den Verweisen]

Der Magus ist ein reicher Grieche namens Conchis, der sich auf der imaginären griechischen Insel Phraxos die Zeit damit vertreibt, die Wirklichkeitsauffassungen der an der dortigen Schule jeweils ein Jahr lehrenden englischen Lehrer von Grund auf zu erschüttern. Wie er an einer Stelle dem jungen Englischlehrer »erklärt«, nennt er es das »Gottspiel«, »weil« das Spiel kein Spiel ist und »weil« es keinen Gott gibt. Und in seiner Besprechung des Romans stellt Ernst von Glasersfeld unter anderem fest:

Fowles kommt dort zum Kernpunkt der konstruktivistischen Epistemologie, wo er Conchis die Idee der Koinzidenz erklären lässt. Er erzählt Nicholas zwei dramatische Geschichten, die eine von einem reichen Kunstsammler, dessen Chateau in Frankreich eines Nachts mit all seinem Besitz abbrennt, die andere von einem besessenen Bauern in Norwegen, der als Einsiedler seit Jahren auf die Ankunft Gottes wartet. Eines Nachts hat er die erwartete Vision. Conchis fügt hinzu, dass dies dieselbe Nacht war, in der das Chateau in Flammen aufging. Nicholas fragt:

73

»Sie wollen doch damit nicht sagen ... « Conchis unterbricht ihn. »Ich will damit gar nichts sagen. Zwischen den beiden Ereignissen bestand kein Zusammenhang. Kein Zusammenhang ist möglich. Oder anders gesagt, ich bin der Zusammenhang. Ich selbst bin die Bedeutung des Zusammenhangs. «

Glasersfeld fügt hinzu:

Dies ist eine auf den Alltag bezogene Paraphrase von Einsteins revolutionärer Einsicht, dass es in der physikalischen Welt keine Gleichzeitigkeit ohne einen Beobachter gibt, der sie erschafft.

 

... UND SEINE ZIELSETZUNG

Für viele Menschen ist der Radikale Konstruktivismus unannehmbar, ja geradezu skandalös. Sie halten ihn für eine aufgewärmte Form des Nihilismus. Ich behaupte, wenn es Menschen gäbe, die wirklich zu der Einsicht durchbrächen, dass sie die Konstrukteure ihrer eigenen Wirklichkeit sind, würden sich diese Menschen durch drei besondere Eigenschaften auszeichnen.

74 [zu den Verweisen]

Sie wären erstens frei, denn wer weiß, dass er sich seine eigene Wirklichkeit schafft, kann sie jederzeit auch anders schaffen. Zweitens wäre dieser Mensch im tiefsten ethischen Sinn verantwortlich, denn wer tatsächlich begriffen hat, dass er der Konstrukteur seiner eigenen Wirklichkeit ist, dem steht das bequeme Ausweichen in Sachzwänge und in die Schuld der anderen nicht mehr offen. Und drittens wäre ein solcher Mensch im tiefsten Sinne konziliant. Natürlich gibt es solche Menschen sehr, sehr selten. Ich habe in meinem Leben zwei getroffen, die vermutlich an dem Punkt angekommen waren.

Aber wir alle erleben gelegentlich kurze Momente, die irgendwie eine ganz besondere Bedeutung für uns haben können. Das Gesicht einer Katze. Oder die erste dünne Mondsichel am Abendhimmel. Oder ein Klavierkonzert. Ich glaube, das sind Wahrnehmungen oder Erlebnisse, in die wir nichts hineinlesen können, denn sie sprechen für sich. Wir sind plötzlich mit einer anderen Wirklichkeit als unseren Zuschreibungen von Wirklichkeit konfrontiert.

Und dann stellen Sie sich die Wirkung vor, die das folgende Gedicht des Dichters Mombert

75

z. B. auf einen Lebensmüden haben kann: »Es ist ein ewiger Gesang von Vögeln in den Urwäldern. Stirb fünfmal und erwache wieder. Sie singen doch noch immer. Drum ist das Sterben nicht der Mühe wert und führt dich nicht zu dem, wonach du suchst. Ich binde mich an eines Berges zinnenen Gipfel zwischen silberne Gestirne. Wenn Müdigkeit mich überfallen sollte, will ich doch in der Höhe sein.«

[zum Anfang]

Zurück - [zur bildlichen Darstellung]

Aus der Erkenntnis der mentalen Krankheiten beim Menschen kann man schließen, dass die Wirklichkeitserkenntnis von der subjektiven Verfassung abhängt, und unsere sogenannte objektive Wirklichkeit (Wissenschaft etc.) von unserer Einschätzung dessen abhängt, was wir als einen "normalen" Menschen bezeichnen, also auch subjektiv und wie Wazlawick sagt, konstruiert ist. W.H.