Nicht Leben haschen, es festhalten zu wollen wie Knaben einen Schmetterling ...;
dann läßt es wie der Falter das Lied seiner Schwingen,
den holden Hauch seiner fliegenden Freiheit als Staub in deiner Hand.


[Peter Hille 1854-1904 - Heinrich Hart 1855-1906]
------------- ca. 1905 --------------

Die Dichtung, BAND XIV herausgegeben von Paul Remer

PETER HILLE

von

Heinrich Hart

Zweites Tausend
verlegt bei SCHUSTER & LOEFFLER
Berlin und Leipzig

folgende Seiten fehlen:
5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12,
31, 32,
49, 50,
60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68,
75, 76
... ... (8 Seiten fehlen)

Ich selbst würde im Kanonisationsprozess als Zeuge für erlebte Wunder auftreten."


Es war 1872, als ich Peter Hille kennen lernte.*) Wir waren beide Sekundaner des Paulinischen Gymnasiums, mit dem einst Väter der Societas Jesu das "finstre Münster" zu erleuchten, spanisch zu erleuchten suchten. 0 pii patres, euer heiliger Ignaz hat es euch nicht verraten, welche Kuckuckseier noch mal in eurem Nest ausgebrütet werden sollten. Petrus gehörte einem andern Cötus (das liebe Wort kommt von coire und ist synonym mit consilium) der Klasse an, und er war mir bis dahin unbekannt blieben. Eines Abends auf dem Turnplatz, als ich eben am Barren schwebte, trat er an mich heran. Ein schmächtiges, zierliches Kerlchen, feingegliedert, mit hoher, blasser Stirn; eine grüne Sammetmütze krönte das kastanienbraune

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*) Oder war's 73 und wir beide Unterprimaner? Mit Bestimmtheit kann ich die bedeutsame Frage nicht entscheiden. Auch Peter war nicht imstande dazu. Wunder darf das nicht nehmen, da wir sogar die wichtigsten aller Jahreszahlen, die des spanischen Erbfolgekriegs, mit der Zeit vergessen hatten.

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lockige Haar. Gymnasiastisches hatte er nichts in sich. Er sah mehr wie ein junger Künstler aus. Seine Art sich zu geben zeigte eine angenehme Mischung von Keckheit und Scheu. Er kam auf mich zu und sprudelte ohne weiteres hervor: "Du! Ich heisse Hille. Ich möchte Dich um etwas bitten. Kannst Du mir mal Deine Bibel leihen? Ich habe auch eine, aber die katholische, und ich möchte gern die Luthersche Übersetzung kennen lernen. Die soll viel kerniger sein."

Peter war Katholik, ich Protestant, einer von den drei Lutherschen in unserer Klasse. Damals stand die Versöhnung der Konfessionen zur Abwehr des gemeinsamen Feindes, des teuflischen Unglaubens, noch nicht obenan auf der Tagesordnung. Die Schuljungen schimpften sich gegenseitig: "Lutherske Dickköppel ... Katholske Dummköppe!', Und die Alten sagten nicht so, aber dachten meist so. Freilich mehr aus Gewohnheit, als aus Glaubensinbrunst. Von Fanatismus war wenig zu merken; wenn im Wirtshaus die Parteien gegeneinander losschrien, wurden als einzige Munition in diesen Religionskriegen humoristische Kraft-

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worte verschossen, Erst in der Kulturkampfzeit erhitzten sich die Köpfe etwas ernstlicher, mehr als zum Strassenkrakehl brachte es aber die Erregung nicht, trotzdem Kanzel und Zeitungsdonnerer mit Gewalt das schwache Flämmchen anzublasen suchten.

Von diesem Dunst der Niederungen kaum ein Hauch empor in die erhabenen Höhen der Sekunda und Prima. Die meisten der Herren Kommilitonen waren religiös ganz gleichgültig oder prahlten mit ihrer liberalen, antipfäffischen Gesinnung. Zwischen den paar waschecht Klerikalen und uns andern entspann sich dann und wann ein kleines Geplänkel, aber mehr über philosophische und politische, als konfessionelle Themata.

Dass Peter im Bann des Katholizismus aufgewachsen war, davon haben wir damals so gut wie nichts verspürt. Für ihn wie für uns waren Schopenhauer, Strauss, Haeckel wichtiger als alle Kirchenlehrer miteinander. Wir alle waren in der Kindheit mit kirchlicher Frömmigkeit kräftig imprägniert worden. Aber die Liebe hatte sich längst in Hass gewandelt, gierig tranken wir von der neuen Weisheit, gegen die es keinen Damm

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und Deich gab, die uns überall aus verbotenen und um so eifriger gesuchten Büchern entgegenflutete. Täglich tauschten wir gegeneinander aus, was ein jeder an Werken aufgetrieben hatte; der eifrigste im Bücherhandel war schon damals Peter, beim Antiquar waren wir ständige Gäste. Jeder Schmöker, der billig zu haben war, war uns recht.

In wirrem Durcheinander lasen wir Philosophie und Geschichte, Dichtung und Naturwissenschaft, heute Ludwig Büchner und morgen Jacob Böhme, heute Gutzkow und morgen Achim von Arnim. Vor allem aber waren es die beiden grossen -ismen der Zeit, die auch uns unwiderstehlich in ihren Bann zogen: Darwinismus und Sozialismus. An Häckel sowie all Liebknecht schickten wir jungschwärmende Huldigungsdrahtgrüsse. Es war freilich so ein Ding um diesen Knabensozialismus. Auf dem harten Boden des Lebens ,erwachsen war er nicht. Mit dem, was die Partei unter Sozialismus verstand, hatte er wenig zu tun. Blumenblauer Idealismus, Aristogiton und Harmodios, Oppositionsdrang, Mitleids- und Humanitätsseligkeit, Revolutionsgeschichte, das waren so ungefähr die Kom-

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ponenten der Schwärmerei. Einblick in, Verständnis für die Ökonomischen Verhältnisse der Zeit waren schwerlich mit beteiligt. Immerhin trieb uns die Begeisterung, an die Lektüre von Lassalle, Proudhon, Corvey, Marx uns zu wagen.

Schnell lebte sich Peter in den Kreis ein, den mein Bruder und ich zur Ausübung literarischer Jugendstreiche zusammengebracht hatten. Name und Devise des Vereins war "Satrebil". Das Wort hat nichts Mystisches, es steckt nichts von Satanismus darin; wenn man es anagrammatisch liest, kommt das schlichte, brave "Libertas" heraus. Unser Stolz war die Bundeszeitschrift, die freilich nur geschrieben, nicht gedruckt wurde, aber stets eifrige Leser unter den Kommilitonen fand. In ihr hat auch Peter seine Erstlinge veröffentlicht. Eine lange Lebensdauer war ihr nicht beschieden. Als eines Tages ein Exemplar in die Hände eines Lehrers geriet, erliess das Direktorium ein strenges Pressverbot, und wir konnten froh sein, dass gewisse Artikel, die mit Gott und seinen Leuten ins Gericht gingen, nicht an den Verfassern

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böse geahndet wurden. Wahrscheinlich merkten die biederen Zensoren in ihrer eingewurzelten Zuversicht, dass so etwas gar nicht möglich sei, vom eigentlichen Sinn der Verwegenheiten nichts.

Peter Hille war in unserm Kreise - mirabile dictu - der Krösus. Er war der Sohn eines Rentmeisters, der irgendwo um Höxter herum die Schätze irgendeines Feudalherrn verwaltete. Der 11. September 1854 war es, dessen herbstlich zartes Licht unsern Peter an die Sonne hinauslockte. Erwitzen heisst das Nest, in dem er geboren und flügge wurde. Als er auf andern Schulen nicht recht fortkommen wollte, wurde er nach Münster geschickt. So war er der einzige unter uns, der nicht im Elternhause lebte, sondern aufsichtslos und selbstherrlich in gemieteter Stube hauste. Und die Barmittel, über die er sonderlich im Anfang jeden Monats verfügte, gemahnten im Vergleich mit unserm mageren Taschengelde an die Schätze Golkondas. Infolgedessen war er meist der Anführer bei unseren heimlichen Bierfahrten, und die Gelage, die wir auf seiner Bude feierten, sind mir noch in fröhlicher Erinnerung.

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In die Kneipen aber lockte uns nicht nur der Männertrunk, nicht nur die Lust, bei Schlägerklang und Kommersgesang vorzeitig den Studenten zu spielen. Auch der Minne zehrendes Sehnen und gärender Drang trieb uns zur verbotenen Heimlichkeit von Schenke und Konditorei. Nicht um dort mit Bier oder süssem Schnaps unsern Liebeskummer zu betäuben, sondern um in der Nähe, im heiligen Licht- und Duftkreis der Angebeteten zu weilen. Peter war genau so leicht entzündlich, wie wir alle. Und leichter noch als wir übersprang er, wenn's drauf ankam, die Schranken konventioneller Zurückhaltung. Eines Tages bummelten wir auf dem Markt, wo gerade "Send", Jahrmarkt war, auf und ab. Da sahen wir eine Gruppe junger Damen, die eifrig schwatzend beieinander standen, und unsere Blicke waren gebannt, immer wieder strichen wir katerhaft vorbei und äugelten. Plötzlich riss Peter sich von uns los, stürmte mitten in die Gruppe hinein, umschlang eine der Grazien, küsste sie, und wie ein Wirbel war er wieder auf und davon. Die Mägdlein starrten ihm reglos nach, wir aber grämten uns, dass wir nicht so keck wie er.

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Weltkind, Mystiker, Realist, Romantiker, das alles in buntem, aber doch nicht gerade bizarrem Gemeng, das war Peter schon damals. Von all dem war ja auch ein Stück in uns andern, in jedem waren die Elemente anders gemischt, bei dem überwog dieses, bei dem jenes. Peter gab gern der Welt und ihrer Lust, was ihr gebührte, aber von jeher war doch vor allem stark in ihm die Sehnsucht nach dem Unbekannten, der Drang ins Übersinnliche. Oder vielmehr er machte keine strenge Scheidung zwischen dem Nahen und Fernen; ihm war beides gleich vertraut, er sah auch im Staubkorn Gott, und alle Weltlust trank er wie etwas Göttliches. Alles Reale war ihm voll Romantik und auch das Seltsamste durchaus real.

Das Köstlichste, was mir im Gedächtnis ist, sind unsre gemeinsamen Wanderungen durch die weiten Heiden des Münsterlandes. Eine Landschaft, äusserlich so arm und innerlich so reich, so ganz zur Versenkung geschaffen und doch auch wieder ins Unendliche hinausdeutend. Überströmend von Erregungen berührten sich unsre Seelen immer enger, bis sie ineinander fluteten. Am liebsten

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gingen wir in den Spuren unserer angebeteten Annette von Droste, wie körperlich empfanden wir ihre Nähe, wenn wir nach Rüschhaus pilgerten, wo sie dereinst gedichtet und geträumt. Und wir fühlten uns priesterlich geweiht. Oder wir zogen hinaus nach Angelmodde, wo zur Goethezeit Adelheid Amalie Galizyn einen Kreis von Freunden um sich versammelt hatte, eine neue platonische Geistesrepublik, christkatholisch gemodelt. Die eigenartigste Persönlichkeit jenes Kreises war Hamann, der Magus aus Norden. Frühzeitig fühlte sie Peter dem Magnus verwandt, oft stand er an seinem Grabe, und er bekannte gern, das ihm der Tiefsinner ein geistiger Nähr- und Pflegevater geworden sei.

Es war spät geworden, als wir eines Nachts von Angelmodde heimgingen. Der Mond leuchtete, wie blauer Glast lag es auf der Heide, die Erde wie verklärt, sich selbst entrückt. Durch das grosse Schweigen hallte nur dann und wann von fern der gespenstische Ruf der Rohrdommel. Peter starrte wie gebannt in das Licht, dann drehte er sich ekstasisch wie ein Derwischtänzer im Wirbel

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um sich selbst und stiess allerlei Tollheiten hervor. "Ich bin der Magus, ich bin der Mondtänzer, ich bin der graue Jäger der Dawert,*) der den Mädchen das Blut aussaugt, ich bin Endymion." Und er warf sich in die Knie und murmelte: "0 Selene-Luna-Diana, zieh mich hinauf zu Dir, lass mich als Trabant Dich umschweben, ganz von Deinem Licht durchleuchtet ..." So ungefähr klang's. Und es war ihm ernst, kein Scherz. Wir waren jung, sehr jung und fast beständig in Ekstase.


Kein Wunder, dass Peter zur Schule kein rechtes Verhältnis fand und die Schule nicht zu ihm. Seine Lehrer wussten nichts mit ihm anzufangen. Für sie war der Träumer ein willkommenes Objekt, ihren mageren Sarkasmus an ihm auszulassen. Besonders höhnisch trieb es der Ordinarius H-n, ein wohlgenährter Kleriker; noch lange Jahre hernach, wenn einmal die Rede auf den Mann kam, sprach Peter den Namen mit grimmigem Abscheu aus. Nur einer, der

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*) Ein Forst in der Nähe von Münster, in dem aller Spuk zu Hause ist.

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Professor Buschmann, der gegenwärtig, wenn ich nicht irre, Gymnasialdirektor in Warendorf ist, hatte Verständnis für Peters Art. Als ich vor ein paar Jahren wieder einmal in Münster war, traf ich mit dem feinsinnigen Manne zusammen, und es war ihm eine besondere Freude, sich über Peter mit mir zu unterhalten. Aber auch unserem Peter machte ich eine Freude, als ich ihm erzählte, was für ein treues Andenken ihm der verehrte Lehrer bewahrt hatte. Aber Buschmann war eine Ausnahme, und die Pedanten waren die Regel. So wurde ihm das Gymnasium, die alte Jesuitenschule, zu einer wahren Marteranstalt. Unter den Lehrern, Klerikern und Laien waren ein paar hellere Köpfe, die vom hl. Geist der Neuzeit wenigstens angeblasen waren. Aber das waren weisse Raben. Um die Mehrzahl war's traurig bestellt. Gutmütige Trottel die einen, boshafte Trottel die andern, eine weitere Wahl gab's nicht. Schon im Äusseren, in Rock und Wäsche, verrieten viele von ihnen die geistige Angehörigkeit zu einer Zeit, in der Schulmeister und Pedant gleichbedeutend war. Die weiland Patres societatis Jesu, die

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sicherlich keine Pedanten waren und Vornehmheit für kein Laster hielten, hätten über ihre Lehrnachfolger wahrscheinlich ebenso gelächelt, wie wir Schüler über sie lachten.

Der Führer dieser Herde, der Direktor, war das Prototyp eines Pedanten. Den Homerunterricht - ich sage absichtlich Unterricht, denn eine Erbauung war's nicht - pflegte der würdige Mann mit einem Gebet einzuleiten, in dein er Gott den Allmächtigen anflehte, dafür zu sorgen, dass es dein Heiden Homer nicht gelingen möge, die christlichen Jünglinge in ihrem Glauben wankend zu machen. Diese Angst war ganz ohne Grund. Der Homer des Herrn Direktors war ein öder Schulfuchs, der die Ilias einzig zu dem Zwecke verfasst hatte, künftigen Schulbuben das Wesen des äolischen Dialekts klar zu machen. Es war ihm durchaus unmöglich, irgendwelchen Einfluss auszuüben, weder guten noch bösen ... Erst zur Kulturkampfszeit blies ein kräftiger Wind in das verstaubte Nest hinein und fegte den Kehricht aus. Aber das erlebte Peter nicht mehr.

So wurde Peter Hille, der geborene

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Humanist, ein Humanistenhasser, er der echteste Gymnasiast im Sinne der Renaissance, ein Gymnasienfeind, der sich schüttelte, wenn er der hohen Schule gedachte. Aus diesem Zwiespalt heraus hat er den "Sohn des Platonikers" gedichtet. Er selbst ist Giovanni, der Sohn Petrarcas, auch in ihm verkörpert sich der immer wiederkehrende Gegensatz stürmender, drängender Jugend zur konventionell gewordenen Klassik. Der Gegensatz des jungen Feuergeistes, der Ernst machen will mit dein, was er glaubt und fühlt, Schönheitsglauben in Leben, Liebesfühlen in Tat umsetzen will, zum glatten Akademiker, der nur Worte macht und Phrasen. Der Gegensatz des Wesensmenschen zum blossen Forminenschen, dein die Form nicht um der Schönheit willen, sondern das Schöne um der Form willen existiert.

Dieser leere Formalismus, dem der Geist ausgetrieben ist, führt denn auch schliesslich zu einer Homerlektüre, die es in der Stunde zu drei Versen bringt, weil jedes Wort als Erläuterung zu einer grammatikalischen Regel dienen muss. 0 Zeus und Apollo, wir haben das durchgemacht!

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Freilich, eine Siegernatur ist Peter Hilles Giovanni nicht. In ihm schreitet die Jugend nicht trutzig über das zu Boden gestürzte Alte hinweg. Um so einen Sieger zu schaffen, dazu war Peter zu weich. Giovanni stirbt an dem "herzlosen Brief des Vaters. Und Peter ist gestorben an der Herzlosigkeit der Welt, die nur den Petrarcas ein weiches Bett bereit hält.


Was Peter gelernt hat, das hat er nicht durch, sondern gegen die Schule gelernt. Wie wir andern auch. Und er war ein unermüdlich, eifrig Lernender. Für die exakten Wissenschaften, Mathematik, Physik, Chemie hatte er wenig Sinn. Aber die Sprachen lernte er wie spielend und alles, was enger mit der Sprache zusammenhängt. Poetik, Rhetorik, Literatur, Prosodie, Philosophie, darin lebte und webte er. Er war Philologe im besten und feinsten Sinne des Worts. Das Wort war für ihn in der Tat der Logos, der die Welt erlöst, alles Dunkle aufhellt, alle Rätsel durchschaut. Was die Dinge, mit Wage und Retorte erfasst, bedeuten, interessierte ihn nicht allzusehr. Er war kein Realist,

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sondern Nominalist, Humanist, Platoniker die Welt war für ihn das fleischgewordene Wort, die in Gestalt umgesetzte Idee.

Mit der Sprache den Dingen zu Leibe zu gehen, mit dem Wort in ihre tiefsten Beziehungen, in ihr innerstes Weben und Wesen hineinzuleuchten, daran hat er sein ganzes Leben gesetzt. Daher war er ein beständig Lauschender, der immerzu sein Ohr an die Dinge gelegt hielt, so nahe wie möglich, um auch das Leiseste zu hören, was sie zu sagen haben. Ich wüsste von keinem Zweiten, der sein Leben so ausschliesslich lauschend und das Erlauschte niederschreibend, sein Leben so unaufhörlich dichtend zugebracht hat. Das Notizbuch kam eigentlich nie aus seiner Hand, oder vielmehr das Notizpapier, denn wenn er kein Schreibheft auftreiben konnte, genügte ihm jeder Fetzen Zeitung, der einen leeren Rand hatte.

Selbst beim Schmausen, selbst beim Zechen, wenn er mit verklärten Zügen einen guten Tropfen kostete, fiel ihm alle Minuten etwas ein, was er aufzeichnen musste. Es sollte mich wundern, wenn er nicht auch im Schlafe Notizen gemacht hätte. Sicherlich

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könnte man allein mit dem, was er in dieser Weise zu Papier geworfen, wollte man alles drucken lassen, eine stattliche Bücherei zusammenbringen.

Es lässt sich nicht alles drucken, unmöglich. Vieles ist in der Welt verstreut, unauffindbar. In Hamburg, Leipzig, Rom hat Peter Kisten mit Manuskripten zurückgelassen. Als Pfand, oder weil er kein Geld hatte, den Transport auf der Eisenbahn zu zahlen. Aber das, was in Zeitschriften und Handschrift erhalten ist an aphoristischen Notizen, bildet immer noch eine strotzende, überschwängliche Fülle. Und welche Wunder von Bildern, Gleichnissen, Gedanken- und Anschauungssätzen, von Wortneubildungen, die wie ein konzentrierter Extrakt ganzer Vorstellungsreihen sind, stecken in diesen Aufzeichnungen. Wahllos setz ich einiges hierher, denn diese Blätter sollen nicht nur von Peter zeugen, sein Geist soll selbst aus ihnen sprechen.

Sterne sind Gottestänzer.

Suche die Erde im Himmel, so wird Dein Leben ein Paradies, und Dein Wille schafft sich jubelnde Himmel.

Eine schlafende Verklärung kann Gott nicht brauchen,

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nur ringende Himmel von Ewigkeit zu Ewigkeit, Kämpfe, die Frieden sind.

Nur Starke dürfen sich dem Innenleben zuwenden. Seelenkräppel bilden müde Kirchen.

Gott ist der ewige Geisterfrühling.

Götter müssen grausam sein, wollen sie selbst leben.

Der Mensch ist ein atmendes Gesetz.

Was sich von der Welt in uns verliebt, das wird Schönheit.

Ich bin, also ist Schönheit.

Auch die leuchtende Flamme trägt düsteren Rock.

Bin mir selbst zuviel und muss die Welt in weiten Armen haben.

Fast noch bezeichnender für Peters Schaffens- und Ausdrucksweise sind die ganz flüchtig hingeworfenen Einfälle, die manchmal nur ein Wort geben, das der Leser nach- und ausdeutend durchsinnen mag.

Moral: Neid der Tugend.

Ehemann: Philister des Herzens.

Götter: Verkleinerung des Weltübels.

Shakespeare: Herzenstummler.

Johannes Schlaf: Kosmisches Kranken, erbitterte pflanzliche Sehnsucht.

Peter Hille: Feuer hinter Dorn und Riegel.

(Konrad Ferdinand) Meyer: ein Trochäus.

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Was Peter mit diesem Extraktwort meinte, das hat er uns einmal in einer Stunde mit tausend Worten erläutert, und da kam so viel Feinsinniges zutage, dass man schliesslich begriff, wie man Meister Konrad Ferdinand ein trochäisches Wesen nennen kann.


Anschaulichkeit, innerste, konzentrierteste Anschaulichkeit, darauf geht Peters Schaffen von Anfang an hinaus. Stets ringt er nach dem bestimmtesten, prägnantesten Ausdruck; um der Bestimmtheit, Klarheit, Farbigkeit willen treibt er das Bild getrost bis ins Seltsame, Wunderliche und scheut auch den Anschein des Disparaten und Komischen nicht. Jeder seiner Sätze ist wie eine Leidenschaft, das Aussending ganz zu umfangen und zu umschliessen, es auszuschöpfen, das letzte aus ihm herauszupressen. Nicht immer arbeitet bei ihm in dieser Richtung nur der Poet, auch der Verstand ist oft beteiligt, um irgendeine Lücke, die der Phantasie, der dichterischen Versenkung gesperrt blieb, auszufüllen. So kommt es, dass dann und wann mitten in die grünende, blühende Wiese eine

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liche Verklärung, Fleischeslust der Himmel. Hingeträumte Göttergestalten liegen die Berge da. Die nächste aber hat vor sich in der Tiefe einen kleinen Spiegel: der ist rot von der Freude an all der himmlischen Schönheit ..." Nur Peter konnte gleich hintereinander Waldberge mit Gesellschaftsroben und Göttergestalten vergleichen, nur er konnte und durfte es.

So tief sich einbohrend, so ringend und umschlingend und ausschöpfend sind auch seine Charakteristiken, seine Gesichte vom Menschen. An Michel Angelo klammert er sich mit den Worten: .So lass mich mit Dir ruhen, Du kulturherber Stein, Du Leib der Stärke, der Du türmst und wälzest alle Wucht des Leibes und der Seele, auf dem starken Nacken Tempel trägst zu Ehren des Allmächtigen!"

Von Kleist träumt er in den Versen:

Blutende Eiche.

Blumen sind hervorgebrochen,
Die zittern voll Blut
Und können nicht sagen,
Was da war ...
Klagende Farben ...
Blutende Eiche.

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Nicht alles, was Peter niederschrieb, ist wurzelhaft original. Ebenso wie Shakespeare, wie Goethe, war er keineswegs zag, sich Fremdes anzueignen. Er brauchte seine Lektüre genau wie die Natur und nutzte sie aus. Aber was er erbeutete, das verzehrte er, durchsäftete es, bildete es um, bis es doch sein Eigentum wurde, sein Fleisch und Blut. Und er hat sich durch Berge von Literatur hindurchgelesen. So leicht war ihm kein Buch zu gering. Auch im dürftigsten fand er noch einen Keim der Anregung, den er in sich weiter wachsen liess. Auch im Dürrsten entdeckte er noch Tropfen von Süssigkeit, auch im Schlichtesten noch einen Anhauch von Grösse. Nur eins vertrug er nicht: das gespreizt Feierliche, die auf Stelzen schreitende Pathetik. Nie habe ich Peter über irgend einen lebenden Dichter aburteilen hören; sie waren ihm nicht alle gleich sympathisch, er liebte den einen mehr als den anderen. Aber er hatte doch seine Freude an allen möglichen Eigenarten.

Ja, er war ein immer Lernender und immer Lesender. Ein Leser im Buche der Natur und in den Büchern der Denker und

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Dichter. Die Schule war ihm ein Greuel, und er schwänzte sie, so oft es nur eben anging. Nie fühlte er sich wohler und seliger als an den Tagen, um die er die Schule betrog: er war ein berufener, geborener Schwänzer. Und er hat sich auch später nie in Zwang- und Werktagsarbeit finden können. Er hat die Lebensschule wie die Lernschule geschwänzt. Aber ihm hat das nichts geschadet. Ihm, der so recht ein Mann nach dem Herzen des Nazareners war, über dessen Leben als Devise das Wort leuchten könnte: "Sorget nicht f ür euer Leben, was Ihr essen und trinken werdet; auch nicht für Euren Leib, was Ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr denn die Speise? Und der Leib mehr denn die Kleidung? Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheuern, und Euer himmlischer Vater nähret sie doch. Und warum sorget Ihr für die Kleidung? Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich aber sage Euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist wie dieser

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eins. Darum sorget nicht für den andern Morgen, sondern trachtet nach dem Reich Gottes, so wird Euch solches alles zufallen."

Peter Hille war in der Tat einer von denen, die die Sorge nicht kannten, eine wilde Blume auf dem Felde, ohne Angst um den morgigen Tag. Und wahrlich, das Reich Gottes ist ihm zugefallen und alles andere mit ihm.


Wie aber nicht anders zu erwarten, rächte sich die Schule an dem Schwänzer. In ihrer Weise. Als der Herbst kam, wurde Peter nicht versetzt. Und da griff Vater Hille ein und rief den Sohn heim, Peter inusste eine Zeitlang in der dumpfen Enge eines Bureaus schwitzen; als Gerichtsschreiber lernte er die Glückseligkeit schätzen, die dem königlich preussischen Staatsdiener vorbehalten ist. Geistig aber blieb er mit uns in regem Verkehr und war ein liebevoller Mitarbeiter an all den Zeitschriften, mit denen wir seit 1877 die Welt zu reformieren suchten. In unsrer "Deutschen Dichtung" veröffentlichte er seine ersten Poesien. Das eine dieser Gedichte "Vergissmeinnicht" - es leitet jetzt die von seinen Freunden herausgegebenen "Gesammel-

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ten Werke" ein - ist schon ganz ein Vorspiel zu jenen zarten, blumenhaften Poesien, die wie "Brautehe" das Empfinden des jungen aufknospenden Weibes auf- und ausklingen lassen, wie es feiner und inniger keinem andern Poeten, keinem weiblichen noch männlichen geglückt ist. Es war ein gut Teil Weibliches, Mädchenhaftes in Hilles Natur, ohne dass darüber das Männliche und Mannhafte zu kurz kam.

Peter als Lyriker geht vom Volkslied aus. Seine Poesie hat all das Schlichte, Gemütshafte, mild Inbrünstige, Treuherzige, Gläubige oder Schelmische, das dem Volkslied eigen ist. Und sie ist wurzelhaft deutsch, auf Heimatgrund erwachsen. Dann und wann gibt sie sich einfach als Um- und Neustimmung eines Volkslieds, wie z. B. "Der fahrende Scholar" aus dem "So viel Sterne wie da stehen" erblüht ist.


So viel Masslieb, als da prangen,
So viel Dohnen, als gestellt
Muntren Vöglein, die da sangen,
Grüne Jäger auf dem Feld;
Wie dem Bächlein Wellen rinnen,
So viel mal hab' ich mein Sinnen,
Liebste mein, auf Dich gestellt ...

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Nur selten aber ist die Beziehung zwischen dem Dichter und dem Volkslied so unmittelbar; was er geschaffen, ist wohl meist aus denselben Quellen entflossen, wie das Volkslied, aber es ist doch zwischen beiden wesentlich nur eine physische Verwandtschaft, eine Bluts- und Gefühlsverwandtschaft. Seelisch und geistig dringt das Hillesche Dichten überall über das Volksliedhafte hinaus. Wie sich eine ganz volksmässige Stimmung doch so mit Hilles Subjektivität durchsetzt, erfüllt, bereichert, bis etwas durchaus Eigenartiges zutage tritt, das erhellt sehr deutlich aus Gedichten wie "Brautseele" oder auch "Page und Prinzess".

Page: 0 Prinzessin,
Eine Flamme,
Eine bange Flamme
Steigt mein Herz
Auf zu Dir.
Sieh, ich weiss,
Das wird nicht lange dauern,
Es muss ja sein.
Dann, dann - o, ich sterbe gern für Dich.
Sieh, dann betest Du
Aus dem schönen, schönen Buche,
Das dir der Mönch gemalt hat
Denn du kannst ja lesen

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Und ich bin - so glücklich,
Wenn ich das nur weiss.
Sieh mal, liebe Prinzessin,
Wie Du nun die Hand mir auf die Locken legst,
Das macht mich - so stolz.

Denn wie Du nun sanft mir tust,
Dass es mir die Seele durchschauert,
Ja da greift dann der Henker herein,
Wenn er soweit ausholt
Und einen Streich zieht, der dann
Ganz von Blute wird.
Und nun liege ich da auf der Heide,
Wie lauter Blumen,
Die ich früher gepflückt.
Und Du, Prinzessin,
Musst Dir die Stelle gut merken, Weisst Du!
Die Blumen, die ich Dir brach!
Die musst Du Dir dann selbst wohl brechen. Nicht?
Das tust Du doch?
Siehst Du, ich habe sie ja alle
So recht von Herzen
Mit meinem Blute getränkt Für Dich!

Man erfüllt ja einen letzten Wunsch.
Nicht erst in den Kerker,
In das dumpfe Grab meines jungen Lebens:
Ach nein, so gleich hinaus
In die eben erst erwachte Sonne,

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Die golden lächelt
Wie der Kronreif, der so fein Dein Haupt umkränzt.
Hier in den klaren Morgenwind,
Unter die arglosen Lieder der Vögel,
Denen wir früher zusammen so gerne zugehört,
Und dann für Dich in den Tod. -

Du brauchst mich nicht so traurig anzusehn,
Glaub' mir nur, ich sterbe sehr gern,
Ich liebe den Tod. -
Ich sehe ja in seinem Gesicht
Deine Augen.
Und so kann ich hinabgehen.
Ist das nicht schön?

Prinzessin (weinend, küssend und umarmend):
Liebster! -

In den Hymnen Hilles ist das Volksliedhafte nur noch ein leise mitklingender Unterton. Das Physische hat sich bis auf jenen Rest, ohne den eine ästhetische Wirkung überhaupt nicht mehr möglich ist - denn ganz aus der Sinnlichkeit heraus kann keine Kunst - vergeistigt, verklärt.


Weltenatmender, der Du Geister,
Urfunken der Liebe,
Mit dem Brandmal der Geburt
In Leiber schliessest
Und schleuderst fort den Schlüssel.
Und so finden sie sich,

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Und Du fühlst sie ...
Wie sollen wir zählen
All Deine ragenden Wipfel?
An allem lebst Du empor!
Wie sollen wir Dich halten?
Fassen wir dieses:
Entschwebt nachlachend uns andres ...

Shelleys und Hölderlins Einfluss macht sich in solchen Gedichten geltend, ohne jedoch irgendwie und irgendwo Hille aus seinem eigenen Wege zu drängen. Auch die Antike klingt an, in Worten wie "nachlachend,', "wehlachend", "mit angetürmtem Nacken", "fremdbekümmert", "zypressendichter Schlaf" tönt ein leises Erinnern an Homer, Sappho, Pindar, Sophokles herauf. Nirgends verliert sich der Dichter ins leer Abstrakte; mag er sich noch so hoch ins Ideelle, Geistige erheben, so hält er sich doch dichterisch stets im Konkreten, sinnlich Anschaulichen. Man lese nur: "Weltenatmender", "Urfunken in Leiber geschlossen", "Brandmal der Geburt", "Schlüssel fortschleudern".

Das eigentlich Besondre aber an Hilles Poesie ist das urwestfälische Blut, das in ihr pulst und klopft. Seine Dichtung mutet an die Waldberge seiner Heimat an. Nichts

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Glattes, Poliertes, Ebenes ist an ihr, immer auf und ab geht der Weg, an rieselnden Brunnen vorbei, durch rauschenden Wald, über moosige Steine und Wurzelknorren, die beinahe ins Stolpern bringen, dann und wann auch an einem schattenlosen, dürren Sandhang empor, bis zur sonnigen, windumwehten Höhe mit unendlicher Aussicht ringsum. Ausdauer und liebende Versenkung verlangt diese Dichtung.

Was sie zum Teil so schwer fassbar, unwegsam, wunderlich macht, das hängt mit dem innersten Wesen des Dichters zusammen. Seine heisse Gier nach konkreter Anschaulichkeit türmt zyklopische Wortgebilde auf, die man erst zerschlagen, auflösen muss, um die ganze Folge von Vorstellungen, aus denen sie aufgebaut sind, zu durchschauen. In Betracht kommt weiterhin die traumhafte Schaffensweise des Dichters, der Solipsismus seiner Kunst. Blitzartig tauchen Bilder auf, ohne durch Nebengänge verknüpft zu sein; oft sind die Einzelheiten dem Dichter wichtiger, als das Ganze, und deshalb verliert, verwirrt er sich oft in Einzelheiten, springt mit einem kühnen Salto von

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einer zur andern; jeden Zug zu motivieren, hat er durchaus keine Neigung. Vielleicht war diese Schaffensweise in Peters Organisation begründet. Wenigstens erzählte er mir einmal, ein Londoner Phrenologe habe seinen Schädel untersucht und ihm gesagt, dass eine Lücke in seinem Hirn sei, die ein zusammenhängendes Auffassen hindere. Allzuviel hat diese Lücke zum Glück nicht zu bedeuten gehabt. Immerhin ist Peter auch als Künstler wesentlich Aphorist. Und es kommt hinzu, dass der Denker in ihm ebenso stark war wie der Dichter; auch dadurch ist das Gepräge seines Schaffens wesentlich bestimmt. Dass hier und da eine Trivialität sich eindrängt, eine sandige Stelle das saftige Grün unterbricht, das kann nicht weiter Wunder nehmen. Peter kam eben im Grunde aus dem Dichten und Schreiben nie heraus, so war es natürlich, dass er vieles nur flüchtig hinwarf, vieles nicht ausreifen liess und neben tieferen auch oberflächlichen Eindrücken Einlass vergönnte. Da aber, wo er seinen ganzen Reichtum ausbreitet in vollendeter Fassung, da hat seine Dichtung etwas von dem, was mit keiner Schätzung hinreichend

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zu messen ist. Ein Engel redet, nicht ein Mensch, - möchte ich anklingend an das Wort, das auf Franz von Assisi gemünzt ist, sagen.


Die Lyrik hat mich weit abgeführt vom Leben Peters. Im Fegefeuer der Gerichtsschreiberei brauchte unser Freund nicht allzulange zu schwitzen. Kaum erfuhr er, dass wir, mein Bruder und ich, in Bremen hausten und uns dort als Redakteure und Theaterrezensenten riesiger Einnahmen erfreuten einhundertundfünfzig Reichsmark im Monat - da riss auch er sich los und kam ebenfalls nach der Hansastadt, um fortan als freier Literat, Freimensch und Freiherr von eigenen Gnaden zu leben.

Damals veröffentlichte er in unseren deutschen Monatsblättern den Essay "Zur Geschichte der Novelle", sowie den anderen: "Die Literatur der Erkenntnis und der Humor". Beide sind mit geistvollen Einfällen, Betrachtungen, Charakteristiken bis zum Rande gefüllt; sie sind ein köstliches Zeugnis dafür, dass in Hille der Dichter mit dem feinsinnigen Kritiker und Ästhetiker aufs innigste verschwistert war.

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Von dem Russen Turgenjeff sagt er: "Turgenjeffs Schöpfungen sind einem Novembertag vergleichbar. Wie die Blätter von den Bäumen fallen die Illusionen. Wie der blassblaue Himmel mit milchigem Sonnenerguss den Seidenbast der Birke und das mürbe Goldblatt am Boden verklärt und zwischen dem leeren Geäder der Buche hindurchschimmert, das fallende Blatt unhörbar zu den übrigen fällt, so dass die Gegend wie erstorben in einer feierlich wehmütigen, fast durchsichtigen Beleuchtung steht, gleicherweise mutet die milde Unerbittlichkeit des Russen an . . . Wie Lichter den Sarg, umgeben die Vorzüge des Verfassers den traurigen Gegenstand ... Turgenjeff hat die Figur des Heilands und kann nicht erlösen . . . T. hat ein Gefühl, das auch die zarteste, unmerklich in die Poren ziehende Stimmung zu deuten weiss ... Ein nervöser Anatom."

Von Bret Harte: "B. H. ist muskulös, wo Turgenjeff Nerven hat. jener gleicht an Schlaffheit der Sierra, dieser hat den gesponnenen Schimmer der Steppe . . . Der Humor nimmt den Grund unter seinen Füssen

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fort, um ihn zu Äther um sein Haupt zu gestalten. Er löst die Erde in den Himmel auf, umfasst das Leben und erzieht zur Ewigkeit. Der Humor ist die Weltform, also auch die Dichtungsform (griechisch); er ist positiv, real und praktisch, die Tragik ist negativ, ideal und unpraktisch."

Von der Novelle: "Die Novelle ist das Sublimat des Dramas. Sie spinnt die Regungen von aussen, wo das Drama vor verschlossener Pforte stehen bleibt, nach innen hinein in die Seele bis zum tiefsten Grunde. Da sie so nervös ist, verläuft sie am liebsten ungestört, ohne Steigerung und Krisis. Die Novelle ist Janusantlitz zur Lyrik, ist objektive Empfindung ... Eine Untrennbarkeit besteht zwischen Natur- und Seelenstimmung, wie zwischen Auge und Spiegelung. E i n e Begabung ist daher selten ohne die andre, der tiefen Weltanschauung entspringt die Kenntnis vom Weltauge. Vom Novellisten zu Gott ist nur ein Schritt, der von der Einsicht zur Allmacht ... II

Leider dauerte das Bremer Schlaraffenleben kaum ein Jahr. Wir wurden weiter in die Welt geschleudert und landeten nach

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mancherlei Irrfahrten in Berlin. Peter ging, wie ich glaube, zunächst nach Leipzig und kehrte darauf noch einmal zu den väterlichen Laren und Fleischtöpfen zurück. Bald hernach starb sein Vater, Peter erbte ein kleines Vermögen, und flugs breitete er die Flügel aus, um einen Weltflug zu machen. Von da an wurde er der wandernde Derwisch und nahm die Gestalt an, in der ihn die meisten seiner Freunde kennen. Chronologisch vermag ich die Stationen seines Zickzackfluges nicht festzulegen; ob er hier früher, dort später war, das ist mir für ein ganzes Jahrzehnt seiner Pilgerfahrten nicht klar.

Was er aber in der Ferne erlebte, das hat er mir oft genug des langen und breiten erzählt. Genaueres darüber berichtet auch sein Roman "Die Sozialisten"; die Erlebnisse Viktors sind zum grossen Teil Peters Erlebnisse. Zwei Jahre trieb er sich in London herum, meist hauste er in einer der dunklen Höhlen Whitechapels, mit Niggern und Chinesen zusammen. Bei einem der Söhne des Himmels nahm er Unterricht im Chinesischen. Viel verkehrte er auch in den Kreisen der Anarchisten und Sozialisten; schon in Bremen

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war er mit den modernen Weltumstürzlern in Berührung getreten, da mein Bruder Julius zeitweilig Leiter des Bremer Sozialistenblattes war. Peter war Sozialist im idealen, humanen Sinne des Worts. Er glaubte an eine Entwicklung, die ein immer feineres und reineres Zusammenleben der Menschen, ein veredeltes Gemeinschaftssein langsam aber sicher herbeiführen werde. Nur war er überzeugt ganz im Sinne Platos -, dass aller Fortschritt nur unter Führung der besten, der feinsten und erlesensten Geister zu erreichen sei. Vor der Menge und ihrem Radikalismus, vor allem Parteiwesen hatte er eine heilige Scheu, vielleicht die zu grosse Scheu einer sensitiven, mimosenhaften Seele. Frühzeitig hatte er zu einer reifen Abgeklärtheit sich emporgerungen. Das politische Getriebe war ihm etwas menschlich Niedriges, ein Profanum, das er sich gern meilenweit vom Leibe hielt.

Wie überlegen er gleichwohl über die Tagesfragen urteilte, wie klar er das Getriebe durchschaute, das verrät sein Roman an hundert Stellen. Nicht nur in seinem Ernst, sondern auch in seiner Satire. Über das Verhältnis zwischen Bier und Staats

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aber er hatte einmal A gesagt und liess sich ausziehen bis zum Z. In einem Kapitel der "Sozialisten", "Gaukler, Schauspieler und Blutsauger!" betitelt, hat er mit fröhlicher Selbstironie den Plünderungsfeldzug geschildert. Der Deutsche - heisst es da - "war Kompagnon, weil er Freund war." "Verrückt, nicht?" "Na ob!" "Das meine ich auch." Solange Peter die ideale Forderung aufrecht erhielt, kam keine Katze ins Theater. Die nachbarliche Schnapskneipe war ein stärkerer Magnet. Erst als der Harlekin einzog, fanden sich wenigstens die Damen der Halle ein. Aber die meisten Bänke blieben doch leer, und eines Tages schrien Spatzen und Strassenjungen: Bankrott, Bankrott! "Dieses war das Ende eines Kampfes um die Tugend. Tugend kann nur mit einem grossen Kapital bestehen." "Der Deutsche verscholl. Auf einem Bett ohne Laken hatte er halbe Tage verschlafen. Von seiner Wandbettstelle aus sah er des Morgens als angenehme Aussicht auf sein weiteres Dasein einen Galgen auf Pappe, woran drei Raubmörder hingen, welche die Zungen pfeilförmig und schrecklich zum Mund

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herausstreckten. Er lag oft bis zur Dunkelheit auf dem Lager, denn die Mutlosigkeit ist kein Frühaufsteher. Er ass sein Brot, trank seinen Kaffee unten bei seinem ehemaligen Kompagnon. Mit einem ganzen Bund Schlüssel, im Mantel seines Kompagnons, es wurde kalt, die Sonne glitzerte gar geistreich und spielte mit ihren krausen Antithesen wie eine Katze mit ihren Pfötchen, ging er abends spät hierher, geisterhaft widerhallten die Bohlen des Saals. Oft setzte er sich an das verstaubte, natürlich tief verstimmte Klavier, das demnächst abgeholt werden sollte, und griff so misstönig in die Saiten, dass alle Hunde, diese grossen Musikkenner, heulten wie um ihr Leben. Das Auge des Gesetzes ward überhört,*) bis es sich mit einer Vorladung meldete. Eine Katze kroch zu dem eminenten deutschen Industriellen, schmiegte sich unter seine Decke und labte sich an den Wursthäuten, die er ihr mitbrachte. Gelb und welk wie ein Exekutor schaute die Sonne in dies Öde, lange schon ausverpfändete Gemach. Ge-

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*) Auge überhört - o Peter!

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rümpelkörbe standen umher. Im Garten schnurrte eine letzte Sonnenblume zusammen. Mit einer Flasche Helenawein und Zolastudien aus Delikatessenläden versüsste sich hier der Exkompagnon die letzten Nächte. Was er nicht mochte, legte er auf das Fach über sich in seinem Wandbette. Da sprang dann die Katze danach und umseufzte und gierte um ihre Bissen, selig verzückt" ... Gibt es im ganzen Dickens eine Szene, die mehr Humor atmete, tränenlächelnden Humor?

Ohne einen Pfennig, ausgebeutelt bis auf die Knochen, verliess Peter die gastlichen Niederlande. Den einzigen Gewinn, den er eingeheimst hatte, war ein bisschen Malaiisch. Von einer zitrongelben, jungen Schönheit lernte er, dass tabeh, tuani guten Tag, mein Herr! heisst, und er lernte schliesslich soviel, dass er die Holde seine Turteltaube burung kukur nennen und ihre inatamata, Augen, ihre pipi, Wangen, und ihren kusslichen mulut preisen konnte. In seinen Mussestunden schrieb er an einer malaiischen Literaturgeschichte.


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Eines Morgens tauchte er plötzlich wieder in Münster auf, halbverhungert, aber doch kreuzvergnügt. Als meine Schwester ihn fragte, ob er etwas essen wolle, meinte er: "Nur ein Krüstchen oder zween." "Soll ich den Tisch decken?" "Nein, ich speise lieber in ambulando." Schmausend liess er dann mehr als ein Dutzend feister Schinkenbrote in die Tiefe gleiten. Begleitet war er von einem blutjungen holländischen Meisje; ängstlich schmiegte sich Libbeth an ihren "Pitter". Zu Fuss war er mit ihr von Holland über Köln nach Westfalen gewandert; in der heiligen Rheinstadt war er keck ins erzbischöfliche Palais gegangen und hatte den würdigen Seelenhirten um einen Ehrensold für einen deutschen, katholischen Dichter ersucht. Gütig drückte der Mann ihm einen Taler in die Hand. In Münster schwur Peter, dass er seine Libbeth vom Fleck weg heiraten werde. Da man ihm jedoch klar machte, dass das deutsche Gesetz die Ehe mit einer Fünfzehnjährigen nicht zuliess, so liess er es freundwillig geschehen, dass das Meisje auf die Bahn gesetzt und heimgeschickt wurde. Bald hernach kam Peter

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nach Berlin. Wir trafen uns öfters, aber ich war in jenen Tagen als Bräutigam, später als angehender Ehemann nicht in der Lage, eifrigen Verkehr mit Freunden zu pflegen. War Peter in Nöten, so fand er damals in Wilhelm Arent den freundlichen Helfer.

Über Nacht war er wieder verschwunden; ob es in jener Zeit war, dass er nach Rom wallfahrtete oder ob er anderwärts unterkroch, weiss ich nicht. 188" kam er von neuem nach Berlin. Wir sassen in Moabit am gedeckten Abendtisch. Frau Eckert, unsre sorgende Wirtin, hatte gut aufgetragen, denn einer ihrer Zimmerherren hatte unvermutet einen gemünzten Goldbarren erhalten, und dieser Reichtum kam allen zugute. Der Tisch war beladen mit Brot, kerniger Butter, Bücklingen und Wurst; in der Mitte prangte duftend der "alte Mann", der beliebteste, weil billigste und ausgiebigste Käse. Da klingelte es. Es wurde aufgemacht. Und Peter wankte herein, ganz verwildert, abgezehrt, blass und hohläugig. Lächelnd aber überblickte er den Tisch, setzte sich mit heran, und bei Grog und Butterbrot taute

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er rasch auf. Für die Nacht musste er zunächst mit einem Kanapee vorlieb nehmen. Mein Bruder und ich waren noch in die Stadt gegangen und kehrten erst spät heim. Als wir zu Peter ins Zimmer traten, lag er ohne Decke da und war doch ganz verhüllt wie in einem Sack. Mit uns hauste ein Chemiker, ein Riese von Gestalt. Peter hatte sich da die Hose des Riesen vom Riegel gelangt, war in die eine Beinhülle hineingekrochen und hatte die andere in breiten Windungen sich um Rumpf und Hals geschlungen ...

Eine eifrige Schaffenszeit begann nun. Zunächst gab Peter eine Zeitschrift heraus, im eigenen Verlag, auf eigene Kosten. Er trieb immer wieder einiges Geld auf, meistens bei seinem Bruder, der als katholischer Priester eine Zeitlang Generalpräses der katholischen Arbeitervereine Berlins war und später als Professor nach Bochum ging. jede Nummer der Zeitschrift umfasste vier Seiten. Peter war Redakteur und sein einziger Mitarbeiter. Als Titel wollte er erst "Kritische Schneidemühle" wählen. Aber das war ihm noch nicht konkret genug, die Stadt Schneide

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mühl kam ihm in den Sinn, und so entstand der Titel "Kritisches Schneidemühl". Wenn ich nicht irre, brachte es das Blatt bis zu zwei Nummern. In dieser Zeit entstanden aber auch die "Sozialisten" und zugleich jenes Werk Peters, das am meisten ausgereift ist, "Der Sohn des Platonikers". Vieles andere plante und entwarf er.

Zwischeninne lud er uns dann und wann zu einer Flasche Chierwein ein. Als er das gelegentlich wieder einmal tat, teilte er uns zugleich mit, er werde an diesem Abend seine Verlobung feiern und wünschte uns zu Zeugen des festlichen Akts. Mein Bruder wanderte mit, und Peter führte ihn zu einen Weinkeller, in dem eine schwarzäugige Polin die Gäste bediente. Das war die Erkorene. Bedauerlicherweise hatte sie gar keine Ahnung von Peters Liebe. Und als er ihr mutig den Verlobungsreif anbot, lehnte sie dankend ab. Peter nahm die Absage mit heroischer Ruhe hin; eine Stunde später hatte er ganz vergessen, was ihn hergeführt; im Banne des griechischen Weins entschwebte er zu den elysischen Gefilden jener himmlischen Gestalten, "sie fragen nicht nach

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Mann und Weib, und keine Kleider, keine Falten umgeben den verklärten Leib." Peter war alles andre als ein Schürzenjäger und Don Juan. Sobald er sich jedoch einmal verliebte, dachte er gleich ans Heiraten. Noch kurz vor seinem Tode versicherte er .mir, er habe nunmehr die ihm Bestimmte gefunden, die Schwester der Frau Hr. Er werde mit einigen Verlegern feste Kontrakte abschliessen und dann im Herbst mit der Geliebten sich vereinigen. Vielleicht ahnte das Fräulein von dieser Bestimmung ebenso wenig wie die Polin. Peters gläubiger Optimismus war unverwüstlich.

Einige Tage darauf kehrten wir von einem Spaziergang heim. An einer Anschlagssäule sahen wir ein Plakat, das den Berlinern verkündete, die Witwe Päpke in Moabit sei ermordet worden. Für die Ergreifung des Mörders war ein Preis ausgesetzt und ein Signalement des mutmasslichen Verbrechers angehängt. Hagere Gestalt, Vollbart, fadenscheiniges Jackett, grünliche Hose. Peter las, sah an sich herab, alles stimmte. Und plötzlich tanzte er um die Säule herum und schrie laut: "Ich bin der Mörder! Kinder, ich bin

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der Mörder!" Rief's, stob davon, lief nach Hause und schrieb noch in der Nacht die Skizze: "Ich bin der Mörder". Otto Erich Hartleben hat sie, soviel ich weiss, in irgend einem Blatte veröffentlicht.


Einige Jahre lang ist dann Peter für mich so gut wie verschollen gewesen. Er ging zu seinem Bruder, der ihn bereden wollte, ein Epos "Windthorst" zu dichten. Windthorst in Hexameternl Über einen mageren Anfang ist das Werk nicht hinausgediehen. Später muss er noch an anderen Orten in Westfalen und Rheinland gelebt haben, wie ich aus einem Gedenkblatt Ludwig Schröders ersehe. Auch in Hamburg hat er Station gemacht und mit Lilieneron verkehrt. Endlich aber trieb's ihn wieder nach Berlin. Hier fand er an Peter Baum und der' Familie Baum eine kräftige Stütze; vor hungerndem Elend war er von nun an bewahrt. Aber auch selbst sorgte er jetzt dafür, sich ein Existenzminimum zu erringen. Er war mittlerweile zu einer kleinen Berühmtheit herangewachsen; besonders in den jungen Künstler- und Poetenkreisen fand der philosophische Poet eifrige

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und liebevolle Verehrer. In den Strassen Berlins sah jedermann nach ihm um, wenn er sinnend, verträumt dahin schritt. Für die Leute war er wie eine Erscheinung aus einer andern Welt. Mit dem mächtigen, ungepflegten Bart, dem wallenden Haupthaar, die hagere Gestalt stets umhüllt von einem breitspurigen Havelock, auch im Sommer, so gemahnte er äusserlich mehr an einen der kynischen Philosophen Athens, als an einen Literaturmann des 19./20. Jahrhunderts. Ihn neu zu equipieren, hatte wenig Sinn; das Neue geriet unverweilt in die Fächer des Versatzamtes.

Glücklich war Peter über jedes Zeichen der Verehrung. Eine rechte Freude war es für ihn, als Louis Corinth ihn malte und das Bild auf der Ausstellung lebhaftes Aufsehen erregte. Es begeisterte ihn zu einer Humoreske, in der er erzählt, wie ein junger Poet am Weihnachtsabend auf den Gipfel der Misere gerät. Er hat nichts mehr zu knabbern, und seine Wirtin droht, ihn zu exmittieren. Drüben aber, gegenüber im Hause des Bankiers blitzen die Fenster im Schimmer der Weihnachtslichter. Der junge Poet ist gemalt

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Mehr weiss ich von den Freudennächten, die uns hier blühten. Vormittags war Peter selten zu erblicken; meist schlief er dann oder las oder schrieb. Wenn wir jedoch unter seinem Fenster Holz hackten oder uns sonstwie laut machten, wurde er stets sichtbar, lächelte von oben herab und ergriff sofort die Gelegenheit, uns die neueste Szene, an der er eben dichtete, vorzulesen. Meist aber sahen wir ihn erst, wenn der Gong dröhnend zum Mittagessen rief. Auch dann kam er selten, ohne ein Blatt mit seinem Neuesten mitzubringen, das alsbald die Runde an den Tischen machte. Ans Essen machte er sich meist ohne viel Begier; er war ein Feinschmecker; wenn es etwas Besonderes, Exotisches" gab, zeigte er, dass er die gute Gottesgabe ernst zu würdigen wusste. Ein guter Trunk war ihm aber doch noch lieber. Abends fuhr er gewöhnlich nach Berlin und kam erst spät nachts oder früh morgens heim.

Nur wenn ein Zechen für den Abend geplant war, hielt er es in Schlachtensee aus. Und er tat recht daran, denn an andern

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Abenden war jeder in seiner Stube bei der Arbeit, Peter aber brauchte des Nachts Gesellen.

0 ihr Schlachtenseer, ihr ambrosischen, dionysisch-apollinischen Nächte! Köstlicher wart ihr auch nicht, ihr Symposien des sokratischen Athens. Was Götter und Menschen irgendwie erregen kann, davon redeten wir, und die Götter waren mitten unter uns. Sie blieben und gingen nicht, so lange noch eine Flasche Rheinwein, eine Flasche Burgunder im Keller lag. Ach, es kam die Nacht, wo die letzte hinaufgetragen wurde. Und dann wurde es still in Schlachtensee. Peter erlebte diese Nacht der Trübsal nicht mehr. So lange er mit uns war, tat der Keller seine Schuldigkeit. Und je weiter die Nacht vorrückte, desto enger wurde der Kreis, desto näher rückten wir zusammen, desto näher rückten sich die Herzen. Alles wie dereinst in Athen: "die einen schliefen, andere waren fortgegangen, und nur Agathon und Aristophanes und Sokrates waren noch wach und tranken aus einem grossen Krug und reichten ihn immer wieder nach rechts herum." Allmählich erlosch das Gespräch.

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Dann setzte sich Moritz Rinckleben an den Flügel, den vorsintflutlichen, dessen Saiten erächzten, wie der Nachtwind, wenn er durch Felsklippen stöhnt. Und es hub ein Singen an, stundenlang. Alle Lieder, die uns nur einfielen, mussten heran. Peter verlangte jedesmal "Eine feste Burg" . . . Manchmal raffte auch er sich zu einem Solo auf. "Es ruht eine Krone im dunklen Rhein" brummte er. Gott lass sie selig ruhen. Ein Sänger war Peter nicht. Ehe es drei schlug, sank stets sein Haupt auf den Tisch, und er schlief ein. Wenn wir dann aber ein neues Lied anstimmten, zuckte er jäh empor und flüsterte: "Heinrich, hol' noch eine herauf." Und Heinrich holte noch eine, die unweigerlich letzte. Sie wurde geleert, und dann führten wir Peter hinaus bis zur Tür seiner Residenz. Ringsum stand dunkel der Wald, und die Sterne funkelten und brannten.


Als Peter zu uns kam, war seine Gesundheit längst unterwühlt. Ein Lungenemphysem marterte ihn immer wieder mit Husten und Atemnot. Zum Glück gönnte es ihm lange Pausen der Erholung. Peter wusste, wie

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krank er war. Und oft träumte er davon, in ein Südland auszuwandern, um die Lunge zu heilen. Er wollte, dass wir alle mit ihm gehen sollten, um irgendwo da unten in Sizilien, Tunesien oder auf den Balearen eine neue Gemeinschaft zu bilden.

Das Nachtleben Peters wirkte natürlich vergiftend auf ihn. Er wurde schwächer und schwächer. Immerhin ahnte niemand unter uns, dass es bereits zum äussersten mit ihm gekommen war.

Eines Abends war er wieder einmal nach Berlin gefahren. Nachts um Elf traf ihn Frau H., eine unsrer Schlachtenseerinnen, auf dem Bahnsteig in Zehlendorf; er sass blutend auf einer Bank. Frau H. nahm ihn mit nach Hause. Schon am andren Tage war er wieder auf den Beinen und wanderte im Garten umher. Ein Ohnmachtsanfall aber zeigte, wie bedenklich es um ihn stand. Damit er die rechte Pflege finde, liess ihn mein Bruder ins nächstgelegene Krankenhaus bringen. Als wir ihn dort besuchen wollten, wurde uns gesagt, er liege bewusstlos. Zwei Tage später erhielten wir die Nachricht, er sei gestorben.

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Ob ihm in jener Nacht ein Abenteuer zugestossen, wir wissen es nicht. Peter hat nichts davon erzählt, wie er zu der Wunde gekommen ist. Die Zeitungen fabelten von einem Mordanfall. Aber es bedurfte keines äusseren Stosses, um dies Leben zu zerstören.

Ohne Zweifel war Peters Sterben wie das Sterben des alten Herrn Huschen, von dem er in den "Sozialisten" erzählt. "Ihm war so hell und leicht, als habe er alles Gewicht aus den Gliedern verloren, als könne er sich aufschwingen, ja mehr als das, als könne etwas von ihm in der ganzen Welt zugleich sein. Zugleich war es in seinem Geiste so licht, als ob ein jetzt schweifender Blick nicht mehr des mühsamen Weges durch das Labyrinth des Wissens und der Studien bedürfe, um nach langen Windungen als Phantasie unzuverlässig in die Welt hinauszugelangen. Ihm war, als wären flüsternde Geister nahe, die er gleich sehen würde, sehen müsse. Dies selbe Licht geht durch die ganze Welt nah geheimnisvoll. Und in diesem stillen Sonnenlichte fühlte er sich erlöst ... "

Begraben wurde Peter mit all der Feier-

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lichkeit, die der katholischen Kirche zu Gebote steht. Sein Bruder, den wir aus Bochum herbeigerufen, hatte dafür gesorgt. Und Peter hätte es sicher gebilligt. So fern er dem kirchlichen Dogma stand, so bewahrte er doch dem Glauben seiner Kindheit ein liebevolles Gedenken.


Es wäre nun meine Pflicht, darüber nachzudenken, welchen Platz in der Literaturgeschichte Peter Hille zu beanspruchen hat, unter welcher literarischen Rubrik er am besten unterzubringen ist. Aber Pflicht hin, Pflicht her. Über die Frage mögen sich andre den Kopf zerbrechen. Vielleicht erinnert Peter in diesem oder jenem Stück an Hamann den Magus, an Jean Paul, oder an Grabbe, Hölderlin, Shelley. Aber als Ganzes war er eben Peter Hille, ein Selbst für sich, so eigenartig wie nur je eins war. Literatenhaftes hatte er nichts an sieh. Er gehörte nicht zu den Talentlein, die wie geprägte Münzen genau nach Metall- und Tauschwert abzuschätzen sind. Er war ein Stück Natur, wie die Natur selbst; alles war in ihm wie in ihr, Himmel und Erde, Berg und Tal,

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75... 76... (2 Seiten fehlen) PETER HILLE Die Erinnerung ist eine Flamme, leicht verzehrt sie alle Schwächen dessen, den wir lieben. Alle Schlacken sind verglüht, wir sehen nur noch das geläuterte Gold. Peter Hilles irdische Gestalt aber bedarf der Flamme nicht, um verklärt zu erscheinen. Er hatte wenig Teil an der groben Materie, die uns Menschen festeren Gefüges beschwert. Schon da, als er unter uns noch lebte, war sie fast ganz im Spirituellen verglüht, gelöst. Schon von dem Lebenden habe ich einmal geschrieben: "Was fehlt ihm noch, dass er ein Engel sei."

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