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Epiktet und seine Ideale

Internet Archive Full text of "Epiktet und seine Ideale: Eine Litterar-ethische Skizze" Google-Copy used Epiktet und seine Ideale. Eine litterar-ethische Skizze. Von Robert Renner, Programm K. hum. Gymnasiums in Amberg 1902/03. Amberg. Druck von H. Böes. 1903. -- HARVARD COLLEGE LIBRARY -- Epiktet und seine Ideale Eine litterar-ethische Skizze. Von Robert Renner, K. Gymnasiallehrer. Programm des K. hum. Gymnasiums in Amberg 1902/03. Amberg. Druck von H. Böes. 1903.


[03]

u den Stoikern," sagt Goethe im 6. Buche von Dichtung und Wahrheit ¹) von sich, dem fünfzehn- bis sechzehnjährigen Jüngling, „hatte ich schon früher einige Neigung gefasst und schaffte nun den Epiktet herbei, den ich mit vieler Teilnahme studierte.” - Wie Goethe so in jungen Jahren an dem grossen heidnischen Idealisten sich erbaute, so möge der eine oder andere der jüngeren Leser durch beifolgende Zeilen veranlasst werden, sich näher mit Epiktet, „einem der grössten Ethiker aller Zeiten, gleich gross als Charakter wie als Denker und Psycholog” (A. Bonhöffer), bekannt zu machen und wenigstens das von H. Stich in Reclams Universal bibliothek (N. 2001) übersetzte „Handbüchlein der Moral” mit Bedacht zu lesen. Im übrigen mögen diese Kapitel, Vorläufer einer eingehenderen Arbeit, inwieweit sokratisch-platonisches bezw. xenophontisches und kynisches Gut in Epiktets Diatriben verarbeitet ist, illustrieren, wie das Verhältnis des Stoikers zu seinen Hauptidealen nicht nur durch Schulrücksichten bedingt, sondern ein freies, mehr selbstgewähltes, persönlich-inniges war. Deshalb wurden vorzüglich die Stellen berücksichtigt, in welchen er seine Vorbilder namentlich citiert.

¹) K. Vorländer, der Epiktet auch als Primalektüre empfiehlt, weist darauf hin in dem Aufsatze: Christliche Gedanken eines heidnischen Philosophen (Preuss. Jahrb., 80. Bd. 1897).

[04=leer]

[05]

In der Moral bedeuten Worte nichts,
die Tat alles.

Longum iter est per praecepta, breve et
efficax per exempla (Sen. ep. b, 5).

zum Anfang/Ende

Kap. 1.

„Ein Hauptfehler, den Epiktet bei seinen Schülern immer wieder zu bekämpfen sucht,” bemerkt Adolf Bonhöffer ¹) in seinem Werke: Die Ethik Epiktets, über den ursprünglichen Kynismus des Stoikers, „ist die Sucht, das in der Schule Gelernte und Gehörte gleich an den Mann zu bringen, anstatt es erst zu verdauen ... In vorzüglicher Weise handelt davon diss. 2, 12, wo er zum Schluss andeutet, dass er früher auch von diesem Bekehrungseifer erfüllt gewesen sei, bis er seine schlimmen Erfahrungen damit gemacht habe, - beiläufig gesagt, ein Wink für uns, dass Epiktet wie der Stifter der Schule (Zeno) vom Kynismus aus zur Stoa überging, was es auch vollständig erklärt, dass er die Idee des Kynikers in idealisierter Gestalt in sein System aufgenommen hat.” Gegen diese Ansicht Bonhöffers wendet sich Theodor Zahn in seiner Prorektoratsrede ²) p. 23 (A. 11) mit den Worten: „In der Tat sagt Epiktet nur, dass er vor seiner Verbannung in Rom nach der Weise des Sokrates ohne Ansehen der Person Seelsorge geübt habe. Davon, dass er vor, nach oder neben dem Stoicker Musonius Rufus einen Kyniker zum Lehrer gehabt, fehlt jede Andeutung.”


¹) von diesem Gelehrten sind bezüglich Epiktets zu vergleichen: Epiktet und die Stoa. Untersuchungen zur stoischen Philosophie. Stuttgart 1890 (I). - Die Ethik des Stoikers Epiktet. Anhang: Exkurse ... Stuttgart 1894 (II).
²) Der Stoiker Epiktet und sein Verhältnis zum Christentum. Erlangen 1894 (2. Aufl. 1895).


[06]

Bezüglich des letzten Satzes darf man wohl fragen: mußte Epiktet unbedingt einen kynischen Lehrmeister gehört haben, um sich kynisch zu gebärden? Dies wäre nur notwendig, wenn er vor Muson Kyniker gewesen wäre, wie Hirzel (siehe später) meint: neben und nach Muson konnte er wohl auch sua sponte dem Kynismus sich zuwenden. Denn musste er nicht auch so in der Stoa hinreichend mit der kynischen Lehre bekannt werden, um sie würdigen zu können? Musste er nicht geradezu als Schüler eines Stoikers der damaligen Zeit, wo der Stoizismus so stark kynische Färbung angenommen hatte, dem Kynismus von vornherein sympatisch gegenüber stehen? und war es ausgeschlossen, dass er neben und in der stoischen Schule mit Kynikern Umgang pflog, auch wenn kein Name uns überliefert ist? Jedenfalls war auch bei Muson Gelegenheit genug gegeben, sich mit der radikaleren Lehre zu befreunden, um schließlich aus dem stoischen Lager zur anderen, immerhin noch nahe genug verwandten Partei abzuschwenken. Der letztgenannte Grund Zahns dürfte nicht stichhaltig genug sein, um ein anfänglich kynisches Auftreten unseres Philosophen zu leugnen.

Richtig aber ist, dass diss. 2, 12 nicht unmittelbar auf Kynismus schließen läßt. Der betreffende Vortrag handelt von dem philosophischen Zwiegespräch , und zweimal wird Sokrates als Autorität, als auch hierin vorbildlich erwähnt. Der Gedankengang mag nicht ohne Interesse sein:
¹) Zur Zahnschen Erklärung dieses temporalen Infinitivs „vor der Verbannung” cf. die Interpretation Schweighäusers (Epicteti Dissertationum ab Arriano digestarum libri IV . . . illustravit Jo. Schweighäuser . . . 4 Bde., Leipzig 1799), der II. p. 448 mit Wolf die Stelle so deutet: Haec ad Epicteti personam refero, ut significet, olim se cum divitubus (nempe qui simul rudes essent literarum et nullis bonae disciplinae principiis imbuti) disputare solitum, _priusquam eorum insolentiam et pugnos esset expertus._ Supra enim dixit Romae hoc non satis esse tutum, quamvis Socraticum. Diese Deutung möchte ich für natürlicher und glücklicher halten als die Zahns; denn bei gedachter Anspielung an seine Verbannung erscheint der Ausdruck: viel zu dunkel gehalten; nichts hinderte, in diesem Falle direkt das Wort Verbannung zu gebrauchen oder deutlicher zu sagen: „bevor ich Rom verliess” oder: „bevor ich hierher kam”. Der Ausdruck scheint doch eine unangenehme Erfahrung zu bedeuten, und eine solche hatte Epiktet gemacht; sie gab seinem Wirken eine andere Richtung. Seine Verbannung aber empfand er seiner ganzen Gesinnung nach nie als drückend und hätte nach Domitians Tod, wenn er gewollt hätte, sicher nach Rom zurückkehren können. Jedenfalls liegt die Beziehung von auf das unmittelbar vorausgehende am nächsten. - Übrigens könnte man (eine dritte Erklärung sei erlaubt) nicht ohne Sinn auch auf seinen gegenwärtigen Beruf beziehen: „bevor ich auf dieses Schulhalten verfiel”, „bevor ich Schulmeister wurde”.

[08]

Aus diesem Zusammenhange geht nun allerdings nicht hervor, dass Epiktet sich irgendwie vom Kynismus leiten liess, als er noch in Rom sich berufen fühlte, als öffentlicher Anwalt der Sitte und Wahrheit jeden, der ihm zu irren schien, anzuhalten, ihn auf sein wahres Heil hinzuweisen, um ihn zu bekehren, durch ernstes Zwiegespräch und gemeinssame gewissenserforschung von seiner Sündhaftigkeit zu überzeugen. Vielmehr macht gerade die zweimalige Anführung des Sokrates als Musters eines Bekehrers gewiss, dass Epiktet ihm folgen und gleich ihm in der breiten Öffentlichkeit fürs wahre Wohl seiner Mitmenschen wirken wollte. Als weiterer Grund dafür, dass er in seinem ersten philosophischen Auftreten gerade des Sokrates Art nachahmte, könnte noch der Umstand sprechen, dass Muson, sein Meister, selbst sokratisch sich fühlte und gab, wie ihn auch Hirzel (Dialog II, p. 239) ¹) geradezu den römischen Sokrates nennen zu dürfen glaubte, der sich mit den Sophisten seiner Zeit habe auseinandersetzen müssen und auch in anderen (m. E. allerdings mehr äusserlichen) Punkten ihm ähnlich sei: so wäre es nur naturgemäss, wenn der Schüler nach Abgang von der Schule zunächst für seine erste Praxis den gleichen Patron sich zur Nacheiferung wählt wie sein Lehrer.

So scheint denn Bonnhöffer aus diss. 2, 12 einen ganz unnötigen, wenn nicht gar falschen Schluss gezogen zu haben.

Und doch dürfen wir nicht so ohne weiteres den anfänglichen Kynismus Epiktets fallen lassen. Wir müssen in Betracht ziehen, was sonst Epiktet vom Kynismus hält, und in welches Verhältnis er sonst sich zu ihm gestellt hat. Man vergleiche vor allem diss. 3, 22 2), und man wird sehen, dass die öffentliche
¹) Rud. Hirzel, Der Dialog. Ein litterar historischer Versuch. II. Teil. Leipzig 1895.
²) Das interessante Kapitel enthält einen Vortrag Epiktets, der durch die Absicht eines seiner Freunde, dem Kynismus sich zu weihen, veranlasst wurde. Epiktet warnt ihn davor und weist auf die Schwierigkeiten und einzigartigen Erfordernisse dieses Berufes hin und rät ihm, erst seine sittliche Kraft reiflich zu prüfen; denn das schwere, verantwortungsvolle Amt verlange von seinem Bekenner: 1. Gottes sichtbaren Beistand, 2. ein reines Innenleben, Verzicht auf alles Äussere, Unzugänglichkeit für jedes , 3. eine kindlich reine Seele, von Schuld und Fehle, von jedem bösen Gedanken frei (seine Unschuld ist die einzige Schutzwaffe in seinem öffentlichen Wirken), 4. eine mächtige Persönlichkeit, geschaffen die Menschen zu bekehren, 5. einen widerstandsfähigen, abgehärteten Körper, 6. auch eine gewisse seelische Widerstandskraft und Unempfindlichkeit gegenüber Beleidigung, 7. unerschütterliches Vertrauen zu Gott, seinem einzigen Herrn und Meister, das selbst in gröbster Misshandlung eine göttliche Prüfung, einen Beweis der besonderen Liebe Gottes zu ihm, seinem Zeugen, erblickt, (das ihn „leiden ohne zu klagen”, lehrt), 8. Verzicht auf Freundschaft, der nur ein ebenbürtiger Tugendheld würdig wäre, 9. völlige Hingabe an den Dienst Gottes, was Ehelosigkeit erheischt [vergleiche dagegen Sokrates, den auch die Ehe nicht abhielt, sein Leben dem Dienste Gottes zu widmen] und peinliche Erfüllung aller Seelsorgepflichten als Gewissensrat, Seelenarzt udn Vater aller Menschen ohne Unterschied, 10. natürliche Anmut und geistige Beweglichkeit, Schlagfertigkeit.


[09]
seelsorerische Tätigkeit des Kynikers eben das in dem Sinne, wie es diss. 2, 12 geschildert ist, als ihres Hauptmittels sich bedient, um mit Erfolg zu wirken, zu überreden und zu bekehren (3, 22, 84: ), dass eben die sokratische Art zu prüfen und zu überführen Epiktet als die eigentliche Aufgabe des Kynikers betrachtet. Der wahre Kyniker ist ihm ein zweiter Sokrates oder Diogenes, ein gottgesandter Apostel der Wahrheit, ein Missionär, der allen den wahren Glauben, die Heilsbotschaft zu künden berufen und von Gott selbst auserwählt ist. Einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen Stoa und Kynismus bezüglich der Hauptlehren erkennt ja Epiktet nicht an: und in der tat, was vom Kynismus ethisch verwertbar war, hatte längst die Stoa in sich aufgenommen und betont gerade in jener Zeit diese kynischen Elemente mehr denn sonst; was sonst noch vom Kynismus übrig blieb, war unnatürlich und Estrem. Ethisch-inhaltlich deckt sich also beides: in doktrinär-moralischem Sinne ist der Kyniker ein Stoiker und umgekehrt; nur graduell unterscheiden sie sich: während jeder normale Mensch Stoiker, d. i. wahrer Philosoph werden kann, bleibt der Kynismus d. i. das Prophetenamt dem genialen, gottbegnadeten, von Natur einzig begabten Manne vorbehalten, ist ein , ein Gottesgeschenk, das nur selten einem Irdischen zu teil wird (cf. Bonhöffer I, 11); der Kyniker muss sich seiner Berufung zum ausserordentlichen Amte eines Lehrmeisters der Menschheit innerlich bewusst, von seiner göttlichen Sendung felsenfest überzeugt sein; denn in ihm sprecht Gott selbst zu den Menschen: dieser hat ihm seinen hohen Lehrberuf angewiesen, er steht ihm bei und verleiht ihm die Stärke, seine Pflichten als Prophet zu erfüllen. Dieser innigen Verbindung mit Gott verdankt er Erfolg und Kraft. So berief auch Sokrates eine [10] göttliche Stimme, sein Leben der bildenden Einwirkung auf die Menschen zu weihen (Plato ap. 33 c.). ¹) Wie Sokrates (diss. 3, 22, 26 Plat. Clitoph. p. 407 a.) soll der Kyniker die Menschen ermahnen und auf ihre Irrtümer aufmerksam machen: wie ein Gott von der tragische Bühne soll er, wenn's nötig, nach Sokrates' Art laut seine Stimme ertönen lassen ²) und rufen: „Wo soll es mit euch hinaus, ihr Menschen? was treibt ihr? (Clitoph.: wisst ihr nicht, dass ihr nichts von dem tut, was ihr sollt, dass ihr vielmehr auf gut und Geld euer ganzes Streben richtet?) Unselige, wie blind irrt ihr hin und her; den rechten Weg habt ihr verlassen und wandelt auf falscher Bahn! Anderswo sucht ihr Ruhe und Glück, wo's nicht zu finden ist, und wollt dem nicht glauben, der den Pfad (des Heils) euch weist!” -

Im Sinne Epiktets waren also Sokrates (man vrezeihe den Anachronismus) und Diogenes die grössten Kyniker, in seinem Sinne wird der Begriff des Kynismus als Schule oder Sekte völlig aufgehoben und nur als singuläre Erscheinung als existenzfähig und -berechtigt anerkannt. Und die Art also, wie Sokrates und Diogenes wirkten, die öffentliche Lehr- und Seelsorgetätigkeit ist der Kynismus, wie ihn Epiktet im eigentlichen und wahren Sinne des Wortes verstanden wissen will, und so läuft es schliesslich auf eines hinaus, ob unser Philosoph in Rom nach des Sokrates oder Diogenes Art Seelsorge übte: er folgt keinem ausschliesslich, sondern was beiden gemeinsam war, die Belehrung und Bekehrung aller Menschen, das wollte er üben.

Epiktet hat demnach, aus Musons Schule mit 'glänzendem Erfolge' entlassen und auch persönlich frei geworden, in seinem ersten moralischen Tatendrange, seinem Tugendeifer und Wahrheitsenthusiasmus ein zweiter Sokrates, ein anderer Diogenes werden wollen und im ersten Feuer seines auch später nicht verblichenen, unverwüstlichen Idealismus und Optimismus gleich alle Welt zum Guten zu bekehren versucht. Dass er sich diese sittliche Kraft und geistige Stärke zugetraut, war nicht eitle Selbstüberhebung; denn er besass dieselbe in höchstem Grade, und Stellen wie diss. 1, 9, 29 f. und 3, 8, 7 beweisen, dass sein
¹) Zeller, Grundriss p. 91.
²) In dieser öffentlichen Weise wird Sokrates wohl niemals aufgetreten sein; doch ist damit die Summe seines Wirkens trefflich zusammengefasst und illustiriert. Cf. auch Dio Chrys, or. XIII. p. 223 Plut. de lib. educ. c. 6.


[11]
eigener Lehrer sein Bewunderer war und Silius Italikus, ¹) der Verfasser der 'Punica', ihn geradezu als sittliches Muster erklärte.

Solcher Männer, die zu den Besten ihrer Zeit gehöften, Lob und Urteil konnte in dem Sklaven wohl ein berechtigtes Selbstgefühl erzeugen; ja vielleicht haben diese Männer selbst, seinen Ruhm und seine Unsterblichkeit vorausahnend, in ihm einen zweiten Sokrates gesehen und ihn zu öffentlichem Wirken ermuntert und ermutigt.

Es war also ein Sokratismus oder Diogenismus (der Name Kynismus ist zweideutig, wenn nicht ominös), den Epiktet damals in der Tat beweisen wollte. als aber manches Weltkind, da ein Plutokrat, dort ein Aristokrat, seinen sittlichen Eifer nicht verstehen wollte und seine wohlgemeinten Belehrungsversuche brutal zurückwies, da mochte unser Eiferer doch fühlen, dass es ihm an der patientia, an der nötigen Sanftmut und Fähigkeit, Unbilden zu ertragen, fehle; für eine so rücksichtslose, gemeine Behandlung war er sich denn doch zu gut; sein war nicht so gross, dass er geworden wäre, gegenüber dem , wie er vom Kyniker (diss. 3, 22, 100) verlangt.

Wohl etwas enttäuscht und ernüchtert, gab er seine Missionartätigkeit auf und zog es vor, von nun an gleich seinem verehrten meister Muson in der Stille der Schule im Geiste seines Sokrates und Diogenes weiter zu wirken.

Gerade durch seine öffentliche Tätigkeit aber mag er die Aufmerksamkeit der Regierungskreise auf sich gezogen haben und als philosophischer Heissporn auch politisch verdächtig erschienen sein, so dass auch ihn 95 p. Ch. die Acht mit vielen anderen Philosophen und Rhetoren traf. 2)
¹) Die betr. Stelle Epiktet sagt nur sc. ) bezieht Bücheler Rh. M. XXXV. p. 390 (1880) auf Silius Italikus, den gesingstüchtigen Dichter, Redner und Philosophen, der den Moralisten herauskehre und offenbar der Stoa zugetan sei.
²) Obiges dürfte chronologisch besonderen Schwierigkeiten nicht begegnen: Epiktet mag ca. 60 p. Chr. in Hierapolis in Phrygien geboren sein; kam als Sklave jung nach Rom, wo Epaphrodit, ein Kabinetsekretär Neros, sein Herr wurde; dieser liess ihn später, vielleicht ca. 80 p. chr., in welchem Jahre der Jupitertempel des Kapitols zum zweitenmal innerhalb kurzer Zeit niederbrannte, worauf Epiktet diss. 1, 7, 32 anzuspielen scheint, von Musonius Rufus unterrichten. Der Schul-Verkehr mit Muson und der freiere Umgang mit ihm und anderen gemässigten Philosophen, vielleicht auch mit Euphrates (4, 8, 17) mag mehrere Jahre gewährt haben, bis Epiktet frei wurde und ca. 90 eine selbständige Lehrtätigkeit zu entfalten begann. 95 p. Chr. verbannt, ging er nach Nikopolis in Epirus, wo ihn Arrian ca. 120 hörte (er nennt sich in den Diatriben bereits Greis); auch Hadrian besuchte ihn hier 124 oder 125. Bald darauf dürfte er gestorben sein; denn die Zerstörung von Nikopolis durch ein Erdbeben 130 p. Chr. hätte ihn wohl zu einem Ortswechsel veranlasst, wovon wir jedoch nichts hören (cf. hiezu H. Schenkl. präfatio der Ausgabe. E. Bolla (/Arriano di Nicomedia, Turin und Palermo 1890) rückt die Zeit der Schülerschaft Arrians zwischen die definitive Unterwerfung der Dacier und den Beginn des Partherkrieges).

[Seiten 6 - 11 fehlen bei google!]


[12]

Im dargelegten Sinne kann man mithin mit Bönhöffer immerhin sagen, Epiktet sei früher Kyniker gewesen. Die gleiche Ansicht äussert Hirzel (Dialog II. p. 24G A. 1) mit dem Hinweis auf Diogenes als Ideal Epiktets. Aber er verlegt dessen Kynismus vor seinen Verkehr mit Muson: dieser habe ihn erst für den Stoizismus gewonnen. Die Begründung ist recht dürftig aus der vorlauten Antwort genommen, die Epiktet (diss. 1, 7, 32) dem Muson im logischen Unterricht gibt. ¹) Doch lässt sich diese trotzige Empfindlichkeit dem philosophischen Meister gegenüber nicht ebenso gut aus einem stark ausgeprägten Selbstgefühl, das ihn Syllogismen als nebensächliches Zeug verachten liess, andrerseits aus Mangel an Erziehung, an savoir vivre, aus der Sklavenart begreifen? Eine gewisse Derbheit im Ausdruck, wie sie hier der Sklave verrät, ist auch dem Philosophen geblieben. Auch müsste dann bei Hirzels Meinung jedenfalls vor Epiktets Umgang mit Muson eine nähere Bekanntschaft mit Kynikern fallen. Aber was (bei seiner Auffassung des Kynismus als gesteigerten Stoizismus) verständlich wäre, nachdem er einmal in die stoische Schule getreten und die Freiheit erlangt hat (nämlich dieser kynische Verkehr), erscheint unwahrscheinlich als Beginn seiner philosophischen Laufbahn. Denn der Kynismus, wie ihn Epiktet versteht, konnte nur vom Stoizismus ausgehen, nicht umgekehrt; es spricht nichts dafür, dass er ihn je anders, etwa im Sinne des Volks, auffasste.
Auch ist zu bedenken, dass er damals noch Sklave war: sollte Epaphrodit, sein Herr, dieser charakterlose, ²) feige Höfling,
¹) Dort findet Epiktet nicht das Fehlende in einem Schlusse und Muson tadelt ihn deshalb. Da ruft der Sklave: „Habe ich denn das Kapitol angezündet?” worauf Muson streng erwidert: „Ja, Mensch, was Du hier übersehen hast, ist das Kapitol (ist die Hauptsache).”
²) Ein klassisches Beispiel für den servilen Charakter seines Herrn gibt Epiktet diss. 1, 19, 17 ff.: Epaphrodit hatte einen Sklaven, Schuster seines Zeichens, den er wegen Unbrauchbarkeit wieder verkaufte. Der Schuster aber hatte Glück, kam an den Hof und wurde Leibschuster des Kaisers. Mit einem Schlage war da Epaphrodits Auffassung und Verhalten zu ihm geändert: er beugte sich vor ihm, dem ehemals unfähigen Schuster, gab ihm Zeichen seiner Verehrung und Achtung und er holte sich sogar Rats bei ihm ; kurz, der dumme Schuster war mit einem Male gescheit und weise geworden!


[13]
seinen Sklaven zunächst einem Kyniker oder auch nur dem nächsten besten Stoiker übergeben, ihn offen zum Kynismus sich bekennen lassen, der wie auch der extreme politische Stoizismus politisch anrüchig, als hartnäckige Opposition und staatsgefährlich verschrieen war? (cf. Hertzberg, Gesch. d. röm. Kaiserreichs, Berlin 1880 p. 307.) Natürlicher dürfte die Annahme sein, Epaphrodit habe seinen Sklaven, dessen sittliche Grösse und Charakterstärke auch ihm, dem servilen Hofmanne, Achtung abnötigen musste, dem römischen Ritter Muson, der allgemeines Vertrauen besass (cf. Plinius' Episteln 3, 11) und bei seiner massvollen, loyalen Gesinnung über den Verdacht politischer Intriguen erhaben war, zur rein philosophischen Ausbildung ausschliesslich überlassen. Vielleicht war es auch Muson, der sich bei Epaphrodit für den von ihm bewunderten Sklaven verwandte und durch seine Fürbitte diesem die Freiheit erwirkte: wenigstens lässt diss. 1, 9, 29: sc. dich besser zu behandeln (cf. Zeller III, 1³ p. 735 A. 3), darauf schliessen, dass Muson bereit war, für Epiktet einzutreten.

Hier nun, in der stoischen Schule, war eine Anlehnung an den echten und schlechten Kynismus gegeben, von hier der Übergang natürlich und leicht; als Freigelassener konnte er zudem (eine geheime Neigung vorausgesetzt) offen sich zu jener Sekte bekennen: aber, wie gesagt, sein Kynimus hat nichts zu schaffen mit der philosophischen Bettlergesellschaft, die nur den Namen von Diogenes geborgt, sonst aber mit dem grossen Manne nichts gemein hatte; dazu war er eine viel zu erhabene Persönlichkeit, um auch nur für einen Augenblick (etwa anfangs) für solche Leute ¹) sich erwärmen zu können.
¹) Die gegenwärtigen Kyniker, meint er, schänden das wahre Wesen, die Eigenart des Kynismus: die Hauptsache ist ihnen der Knüttel und Ranzen; auf ihre kräftigen Kinnbacken und nackten, schönen Schultern tun sie sich was zu gute, sind trotz ihres Schmutzes noch eitel und belästigen die Menschen durch unangebrachtes Poltern und Schimpfen (diss. 3, 22, 51); es sind Tischschmarotzer, Türlagerer, die den alten Kynikern in nichts gleichen (diss. 3, 22, 80): ein Verdikt, das an Kraft und Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt! Sie wettern gegen Diebstahl und Unrecht und tragen selbst unter der Achsel verborgen einen gestohlenen Leekerkuchen (3, 22, 98) ; solche Bettler fordern das Mitleid heraus und stosscn beim blossen Anblick schon durch ihren Schmutz ab (3, 22, 89), während der wahre Kyniker zwar ein rauhes Äussere haben darf, dabei aber immer noch reinlich, anziehend, in seiner rauhen Schlichtheit schon sein muss. - So hatte schon, ein Menschenalter bevor Lucian seine giftige Feder gegen die Kyniker (cf. Peregrinus Proteus) in Bewegung setzte, Epiktet ein verdammendes Urteil über die Sekte, die im 2. Jahrhundert n. Chr. besonders üppige Blüten trieb, gesprochen. Dass auch der frivole Spötter Lucian einmal eine idealere Lebensepoche gehabt hat, in der er mehr positiven Geist verrät, zeigt (ausser Nigrinus) besonders,der Kyniker', der dem gesunden Kern, der im Kynismus steckt, voll gerecht wird, und den nach Bernays' (Lucian und die Kyniker, Berl. 1879) und Bielers (Über die Echtheit des Lucianschen Dialogs Cynicus, Hildesheim 1891) absprechendem Urteil Vahlen (ind. lectt. Berol. 1882-83) und Hirzel (Der Dialog II. Leipzig 1895) wieder Lucian zuzuweisen geneigt sind. Beide Schriften, Der Kyniker Epiktets und der Lucians, sind glänzende Rechtfertigungen des Kynismus, die erste vom religiös-moralischen, die andere vom Kulturstandpunkte aus: Epiktet betrachtet ihn als das hohe Priestertum aller Philosophie, Lucian sieht in ihm eine berechtigte Opposition gegen eine verderbliche Überkultur und eine Verteidigung der beleidigten Vernunft, der vergewaltigten Natur.




[14]

zum Anfang/Ende

Kap. 2.

War es Epiktet nicht geglückt, im grossen Stile ein Sokrates oder Diogenes zu werden und durch aggressive, aktive Tätigkeit die Menschen zur Tugend zu bekehren, im kleineren Wirkungskreise der Schule konnte er um so fruchtbringender sein angeborenes Lehrtalent entfalten; hatte er kurze Zeit die Menschen selbst aufgesucht und sie auch wider ihren Willen an ihre bessere Natur, ihr wahres Heil erinnern wollen, jetzt liess er sich aufsuchen und bekehrte diejenigen zum Guten und Wahren, die sich willig bekehren lassen wollten.

Auch von dieser Tätigkeit als Lehrer und Leiter einer Philosophenschule hatte er die denkbar höchste Meinung (cf. diss. 3, 20): Nicht der Nächste beste, ja nicht einmal der weiseste Gelehrte eigne sich immer hiezu; theoretische und rhetorische Tüchtigkeit allein tun es nicht; vielmehr müsse der Erzieher und Leiter der Jugend eine natürliche Lehrbegabung, [15] ein angeborenes pädagogisches Geschick besitzen und von Natur mit besonderen Eigenschaften der Seele und des Körpers ausgerüstet sein, vor allem aber sich zu seinem Berufe innerlich, von Gott bestimmt fühlen, als göttliche Mission ihn betrachten; ¹) denn der Lehrberuf ist etwas Grosses, Geheimnisvolles und darf nicht profaniert, durch leichtsinnige Ausübung gemein gemacht werden; auch Alter und Lebensart kommen in Betracht. Selbstverständlich muss er als Mensch intakt dastehen, in der Tat sich als gebildet erweisen, seine anthropinen Pflichten voll erfüllen, ein sittliches Vorbild sein.

Wir sehen, auch der einfache Lehrer der Philosophie hat noch viel mit dem Kyniker, dem paedagogus generis humani (Sen. ep. 89, 13), gemein: er steht sozusagen in der Mitte zwischen diesem und dem praktischen Philosophen, der seine philosophische Bildung irgend einem anderen menschlichen Berufe zu gute kommen lässt. -

Auch hier, in der Stille der kleinen Hafenstadt Nikopolis in Epirus, als Leiter einer stoischen Schule, blieb er seinen erwählten Lieblingsphilosophen, Sokrates und Diogenes, treu: in ihrem Sinne lehrte er seine Jünger, immerdar nach Selbstvervollkommnung, nach innerer Freiheit, wahrer Religiosität und nach Bedürfnislosigkeit zu streben. ²)

Die auffallend starke Betonung des Sokrates und Diogenes hebt auch Zahn hervor, der p. 9 seiner Schrift sagt: „Selbst auf dem Gebiet der logischen Theorie will Epiktet von einer einseitigen Betonung der stoischen Autoritäten nichts wissen (diss. 1, 17, 11). Vollends, wo es gilt das verwirklichte Ideal als Musterbild aufzuzeigen, greift er über die Anfänge der Stoa zurück und nennt regelmässig den Sokrates und mit noch grösserer Bewunderung den Diogenes. ³) Der Stoiker als solcher


¹) Diss. 3, 20, 18:
²) (... zugleich ein Beispiel seiner Vorliebe für asyndetische Häufung synonymer Ausdrücke.)
:
³) Ich möchte eher das Gegenteil behaupten, wofür schon die Zahlen sprächen: Sokrates wird in den verschiedenen Gesprächen 36-, Diogenes nur 12 mal angeführt (im ganzen Sokrates 66-, Diogenes 26 mal genannt).


[16]
ist ein Nacheiferer dieser beiden Männer (3, 24, 40) und das Höchste, was der Mensch erreichen kann, ist nicht Stoizismus, sondern Kynismus (3, 22). Diese Zurückstellung der Meister der eigenen Schule hinter die früheren Heroen des philosophischen Lebens hängt mit der überwiegend praktischen Richtung all seines Lehrens zusammen.”
In der Tat, gegenüber der fortwährenden Heranziehung und Berufung auf seine beiden grossen Patrone kommen die Häupter der Stoa zu kurz, geschweige dass die Grössen der mittleren Stoa irgend berücksichtigt würden.
Boethus, Panätius, Posidonius nennt er nicht einmal; ¹) in Archidem und Antipater sieht er scharfsinnige Gelehrte, die mit rhetorischem Schwunge geschrieben und über logische Probleme gehandelt haben : ihre Schriften hat er sicher nicht gelesen: die Kenntnis ihrer Werke, meint er, können manchen wohl eingebildeter, eitler und geschwätziger machen, aber zu seiner Moral trägt diese Gelehrsamkeit nichts bei (cf. 2, 17, 40; 2, 19, 9; 3, 2, 13; 3, 21, 7). Eine echt Epiktetische Ansicht ist eben, dass man mit aller Gelehrsamkeit sittlich elend und gemein sein kann; diese wissenschaftlichen und rhetorischen Fertigkeiten sind ganz schön als Zutat und Zuwachs ( 1, 8, 9), wenn man bis zu einem gewissen Grade sittlich fortgeschritten ist, ²) wenn man über die erste Stufe, die es mit den Affekten () und dem rechten Begehren und Meiden ( ) zu tun hat, hinaus ist und auf der zweiten Stufe die unvernünftigen Triebe () überwunden und sich über seine Pflichten () und die natürlichen und freiwillig eingegangenen Verhältnisse (), die man zu wahren hat, klar geworden ist. Aber an sich und ohne ständige Beziehung des Gehörten und Gelernten auf die sittliche Praxis ist grosse Belesenheit oder Spezialkenntnis eines Autors oder logische Gewandtheit und rhetorische Kunst mehr von Schaden als Nutzen.
¹) Ein Beweis, dass in der Theorie sich Epiktet unmittelbar an die alte Stoa anschliesst. ²) Natürlich kann auch der Anfänger logischer Schulung nicht völlig entbehren, aber für ihn genügt das Allernotwendigste, ein leichter, propädeutischer Teil (Bonhöffor I, 21).


Die folgenden griechischen Zitate bitte im Orginal nachschlagen: (Extra-Tab)
(s. a. den Hinweis am Ende.)

[17]

Der Gelehrte par excellence ist ihm Chrysipp. Diesen grossen Theoretiker, den zweiten Gründer der Stoa, nennt er einmal (1, 4, 28) einen gottgesandten Mann, ein göttliches Gnadengeschenk, für das die Menschen Gott preisen müssen; denn er habe die Wahrheit ans Licht gebracht und bewiesen, dass die Weisheit, die in der rechten Willensbeschaffenheit ((griechText n22)) den Quell des Glücks und der Seelenruhe findet, wahr und naturgemäss sei. Ein andermal (1, 10, 10) hält er die Beschäftigung mit Chrysipps Werken und philosophischen Fragen für edler und wichtiger als die Ausübung anderer, mehr realer Berufe. 1, 17, 15 und 2, 6, 9 ist es Chrysipp, der uns zum Verständnis des Willens der Natur führt und verlangt, wir sollten unter allen Umständen auch den (griechText n22) gegenüber, d. h. in der Wahl der an sich gleichgiltigen Dinge wie Gesundheit, Gelderwerb, uns naturgemäss verhalten und das Vernünftigere wählen also der Gesundheit vor der Krankheit den Vorzug geben, seine Habe rechtschaffen vermehren, aber anderseits, wenn's so kommt, Krankheit und Verlust des Vermögens willig tragen); 4, 9, 6 werden seine Schriften mit denen Zenos als die Lektüre bezeichnet, mit der sich der ernste Weisheitsfreund beschäftigen solle. Auch vergisst er nicht, einmal (1, 17, 17) festzustellen, dass Chrysipp persönlich seine Theorie vom Willen der Natur in der Praxis befolgte und darauf stolz sein darf, nicht aber auf seine Theorie als solche.

Hohe Lobsprüche ! Und doch klingen sie etwas akademisch, wenn man erwägt, dass ein Vielschreiber wie Chiysipp einem Epiktet nie ganz sympathisch sein konnte, und sieht, wie solch spärliche Äusserungen erdrückt werden von den zahlreichen Stellen, an welchen Epiktet mit wärmster Verehrnug und geradezu leidenschaftlichem Enthusiasmus des Sokrates und Diogenes gedenkt, und in wie wenig schmeichelhaftem Zusammenhang sonst Chrysipps Name vorgebracht wird, oft im Verein mit dem Kleanths, Antipaters und Archedems: ¹) Stellen, an denen er die
¹) 2, 17, 40: Der Jünger der Philosophie muss vor anllem den Dünkel fahren lassen, als ob er etwas wisse: sonst hilft ihm alle Kenntnis der Schriften des Chrysipp samt denen des Antipater und Archedem nichts. - 1, 4, 6 ff.: Nicht der macht wahren Fortschritt, der viele Abhandlungen Chrysipps gelesen und verstanden hat, sondern wer sich sittlich recht verhält (in seinen Begierden, Trieben, Urteilen). - Ench. 49, 3: Die Lehren Chrysipps anzuwenden, ist die Hauptsache, nicht, ihn auslegen zu können. - Ähnlich 1, 17, 13; 4, 4, 16; 3, 21, 7; 3, 2, 13. - 2, 17, 34: Nicht um logische Subtilitäten, wie Chrysipps Ansicht vom,Lügner' (einem Trugschluss), darf es sich beim Studium der Philosophie handeln, sondern um systematisches Fortschreiten und tatsächliches Besserwerden. - 2, 23, 44: Demosthenische Beredsamkeit und dialektische Gewandtheit eines Chrysipp helfen nichts zum wahren Glück.

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ausschlaggebende Bedeutung der sittlichen Praxis nachdrücklichst hervorhebt gegenüber blossem theoretischem Wissen, technischer Fertigkeit auf logisch-dialektischem Gebiete, philologischer Gelehrsamkeit; wie oft wird man dabei an das Goethesche Wort erinnert: „Grau, lieber Freund, ist alle Theorie, doch grün des Lebens goldner Baum.”

Allerdings dürfen wir bei dieser etwas nüchternen, einseitigen Darstellung Chrysipps nicht vergessen, dass Epiktet als Lehrer zu Schülern spricht, dass er in seiner Eigenschaft als Präceptor sich verpflichtet fühlt, die Hörer vor der glänzenden Aussenseite der philosophischen Hilfsdisciplinen zu warnen; sie sollten sich davon nicht verlocken lassen und nicht blendende Technik, die damals von den Rhetorenschulen mit viel Reklame als wichtigstes Bildungsmittel ausposaunt werden mochte, für wahre Bildung halten. Vor dieser Verkennung des eigentlichen Zwecke der Philosophie, die bei äusserlichen Erfolgen stehen bleibt, will der Meister die Jünger bewahren und weist deshalb immer wieder auf die Hauptsache, die ethische Bildung, und malt in diesem pädagogisch anzuerkennenden Bestreben etwas schwärzer als nötig und lässt ohne Zweifel die Wissenschaft als solche zu kurz kommen.

Doch ist Epiktet keineswegs ein Feind der Theorie: er schätzt sie als Lehrer der Moral, wenn ihm auch die Praxis über alles geht, und weiss sie insbesondere als Schulkämpfer zu würdigen (cf. 1, 20, 17 ff.): als solcher hat er sich als überzeugter Stoiker und Verteidiger der stoischen Lehren mit dem groben Materialismus und Hedonismus wie dem krassen Egoismus des Epikur und mit dem unverschämten Eigensinn und Stumpfsinn der Skeptiker (Akademiker) auseinanderzusetzen. ¹)
¹) Hier greift er nicht die Praxis seiner Gegner, der er gelegentlich sogar ein Lob spendet (3, 7, 18), sondern die Theorie mit ihren bedenklieben Folgen an. Er fühlt sich dann ganz als Anwalt der stoischen Glaubens- und Sittenlehre und schlägt als Kämpe eine scharfe Klinge, so dass wir ihn kaum wiedererkennen: seine Menschenliebe, seine Toleranz und Milde hat sich ins Gegenteil verkehrt, in Wut und Hass und Empörung. Seine Gegner haben sich eben an seinem Heiligsten vergriffen und drohen, sein ganzes ethisches Gebäude über den Haufen zu werfen: den festen Gottesglauben, auf dem im Grunde seine ganze Ethik beruht, und die absolute Freiheit des menschlichen Geistes, die Souveränität der Vernunft wollen die einen aufheben, die anderen versuchen die Wahrheit der sinnlichen und geistigen Wahrnehmung und damit den Quell aller Erkenntnis zu bezweifeln und stossen so seinen Sensualismus bezw. Intellektualismus und Dogmatismus um.

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In diesem Kampfe, der ihm Herzensangelegenheit ist, da er sein Teuerstes, ein sittliches Hab und Gut bedroht sieht, da es sich um die ganze moralische Existenz der Menschheit s. E. handelt, braucht er eine Waffe, die, scharf und sicher, im stande ist, die Gegner zu entwaffnen: es ist die Wissenschaft (1, 27, 20), es ist der Scharfsinn des Chrysipp, an den er sich hier wendet (cf. 1, 20, 16 ff.). Huldigt er also als Ethiker mehr der praktischen Weisheit des Sokrates und Diogenes, als Schulkämpfer steht er ganz auf dem Boden der alten Stoa, Chrysipps. Er selbst allerdings kehrt auch hier wieder die praktische Seite hervor und begnügt sich, auf die Staat und Familie untergrabenden Konsequenzen der in die Tat umgesetzten epikureischen Prinzipien und die tragikomischen ¹) Folgen konsequenter Skepsis mit aller Deutlichkeit hinzuweisen; denn ihm selbst fehlt die Gabe eingehender, systematischer Widerlegung und die Zeit: er hat anderes zu tun, was seiner Natur und seiner Mission besser entspricht. Dennoch lässt er das letzte, entscheidende Wort die Wissenschaft sprechen (cf. 1, 27, 20).
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Hier mag die Frage gestreift werden, ob und inwieweit Epiktet in seiner Schule die Schriften Chrysipps benützte. Bonhöffer (II, 2) meint, die Schriften Chrysipps gelten ihm
¹) Ein Beispiel von Epiktets derbem Humor ist folgende Scene (2, 20, 29 ff.): Er macht sich im Geiste zum Sklaven eines Skeptikers, den er recht quälen würde, wenn er auch täglich dafür Prügel erhielte. „Bring Öl ins Bad, Bursche!” ruft der Herr. Der Sklave holt eine Fischsauce und schüttet sie ihm über den Kopf. „Was soll das?” „Wahrlich, Herr, ich hatte eine dem Öl ganz gleichende, davon nicht zu unterscheidende Vorstellung!” „Gib mir den Gerstenbrei!” Der Sklave holt eine mit Essigbrühe gefüllte Schüssel. „Hab' ich nicht Gerstenbrei verlangt?” „Ja, Herr; das ist Gerstenbrei.” „Ist das nicht Essigbrühe?” „Was sonst denn als Gerstenbrei?” „Da nimm und riech, nimm und koste!” „Woher weisst Du es denn, wo uns doch die Sinne trügen?” Drei, vier Komplizen, meint launig Epiktet, würden einen Skeptiker entweder zur Verzweiflung bringen, dass er zum Strick greift, oder ihn bekehren.

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gewissermassen als heiliger Kodex und bilden für seinen Unterricht und seine Homilieen in ähnlicher Weise die Grundlage wie die biblischen Texte für die christliche Predigt. Gegen ihn wendet sich wieder Zahn (p. 21 A. 4) und nennt den Grund für diese Ansicht unerfindlich; er nimmt, wie es scheint, keine bestimmte Grundlage an und meint nur, Epiktet habe in freier, vielfach durch den Augenblick eingegebener Rede die Herzen und Gewissen zu treffen gesucht, auch ohne etwa einen ausgearbeiteten Vortrag vom Konzept zu lesen, manchmal durch äussere Umstände veranlasst, zuweilen an Schülervorträge anschliessend.

Ein direktes Zeugnis für Bonhöffers Behauptung findet sich allerdings in den Diatriben wieder nicht. Aber der Umstand, dass Epiktets freie Erörterungen nicht alles waren, was in seiner Schule getrieben wurde, dass die Schüler auch selbsttätig schriftlich und mündlich sich üben mussten, indem sie gewisse Kapitel ausarbeiteten ((griechText n25) 2, 6, 23) und dann in der Schule vorlasen ((griechText n25)), worauf Epiktet manchmal ein Korrektura ((griechText n25)) gab ¹), dieser Umstand lässt doch darauf schliessen, dass Epiktet seinen Schülern eine feste Grundlage gleichsam als Lese- und Übungsbuch an die Hand gab, auf Grund dessen sie dann selbständig Referate und kleine Aufsätze liefern konnten; und was lag da für Epiktet, der doch überzeugter Stoiker und zwar Anhänger der Altstoa war, näher, als die wissenschaftliche Quelle selbst aufzusuchen und auf diese die Schüler zu verweisen? Und das war in der Hauptsache Chrysipp, während er von Zeno zunächst eine Art Katechismus oder Kompendium der stoischen Lehren benutzt zu haben scheint (cf. 1, 20, 14 f. : (griechText n25)). Und Zeno und Chrysipp nennt er ja ausdrücklich auch die ernste Lektüre des Philosophen; und mit der Lektüre musste natürlich auch eine Interpretation durch den Lehrer verbunden sein.

Sicher aber hat Epiktet unter den vielen, oft recht ungleichwertigen Schriften Chrysipps eine engere, für die Schule geeignete Auswahl getroffen und vorzugsweise die seinen praktischen Zielen entsprechenden Werke für die Schule verwendet;
¹) Cf. Bruns J., de schola Epkteti (Kiel 1897) cap. I

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das wären vor allem die Schriften (griechText n26)(cf. 1, 4, 44, wo ein Schüler spricht: (griechText n26)), dann (griechText n26) und (griechText n26) (4, 4, 16), Schriften, die seinen zwei ersten Stufen des sittlichen Fortschritts entsprechen ; die fortgeschrittenen Schüler mochte er dann immer noch auf die logischen Abhandlungen Chrysipps verweisen. ¹)

Keineswegs aber möchte ich mit Bruns soweit gehen (cap. III) zu behaupten: ,discipulos eius huic maxime studuisse, ut et intellegerent Chrysippum et quam plurimorum huius disciplinae scriptorum scientiam aquirerent.' Die Stellen, die Bruns anführt, Z. B. 1, 47: (griechText n26); können sich doch eben so gut auf den Usus anderer Philosophenschulen beziehen, den Epiktet nicht nachahmen will. Auch glaube ich nicht, dass Epiktet die Lehren Epikurs, der Peripatetiker, der Akademiker mit den Schülern eingehender behandelt hat; für den Zweck seiner Widerlegungen genügte ein Auszug ihrer Lehren.

Das (griechText n26) (2, 9, 19) braucht sich nicht auf wirkliche Verhältnisse seiner Schule zu beziehen, kann wieder einen sonst üblichen Brauch illustrieren, und das (griechText n26) in 2, 19, 22: (griechText n26); welches sich auf das vorausgehende: (griechText n26), bezieht, kann wieder eine Anspielung auf die vielen theoretischen Stoiker sein, denen Epiktet seine Schüler gerne als die praktischen Stoiker gegenüberstellen möchte. - Und gesetzt auch, die Schüler neigten zur Vielleserei und Vielwisserei, so entspricht es nur dem ganzen übrigen Verhalten Epiktets, diese Sucht zu dämpfen, und es fragt sich sehr, ob derjenige valde errat (wie Bruns p. 15 meint), der daraus schliesst, dass die Schüler wider Willen des Lehrers sich mit soviel Lektüre beschäftigten; jedenfalls darf man die Behauptung: immo praeivit ipse, als ob Epiktet selbst das Beispiel einer möglichst umfangreichen, vielseitigen Beschäftigung mit Chrysipp gegeben habe, in Zweifel ziehen. Dass er aber von den bedeutendsten Schriften des Altstoikers bei seinen Schulübungen ausging und wieder dahin zurückkehrte, ist sicher. Und dies galt speziell
¹) So schliessen sich wohl diss. 1, 7; 1, 8; 1, 17 an eine logische Unterrichtsstunde an.

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für die Schüler; er selbst erquickte sich noch an einem andereren Quell; für seine eigenen Vorträge, die den besonderen Zweck verfolgten, von der Theorie zur Praxis überzuleiten, auf den Willen, nicht mehr auf die Einsicht der Hörer zu wirken, sie zur Umsetzung der verstandenen Lehren in die Tat zu bewegen durch ständigen Hinweis auf Verwirklichung ihres Ideals in Männern wie Sokrates und Diogenes: für ihn waren Platos und Xenophons Werke, soweit sie des Sokrates Wirken zum Gegenstand ihrer Darstellung hatten, und die Schriften, welche des Diogenes Worte und Taten überlieferten, der heilige Kodex, auf den er sich immer wieder beruft, in dem er nicht müde wird zu lesen, dessen schönste Stellen er seinem Gedächtnisse eingeprägt hat. Zunächst kommen hier natürlich Xenophons Memorabilien und Platos Apologie in Betracht, aus denen er unmittelbar schöpft; aber auch Kriton und Phädon kennt er gut, und auf das Symposion verweist er als gewinnbringende Lektüre, und Theätet, Sophist, Protagoras, Gorgias, Philebus, Alkibiades (I) ¹) Staat und Gesetze hat er sicher gelesen und benützt.

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Wie von Chrysipp erwähnt Epiktet von Kleanthes, dass er sich mehrfach mit subtilen logischen Problemen abgegeben habe (2, 19, 5, wo auch der Babylonier Diodor und Panthoides genannt werden). Wiederholt zitiert er dessen Schicksalsvers, der seinem Fatalismus besonders zusagen musste: (griechText n27) (cf. ench. 53, 1) 4, 1, 173 führt er von ihm die hübsche Antithese an, die Gnom. Vat. ed. Sternbach 295 dem Zeno zugeschrieben wird: (griechText n27) ((griechText n27) Gnom.)

Als Lehrer wird er seines Ernstes halber mit Sokrates und Zeno (3, 23, 32: Nicht um rhetorisches Zierat, sondern um sittliche Besserung der Schüler war es ihnen zu tun), als Mensch wegen
¹) An diesen scheint sich z. B. diss. 1, 11 geradezu anzuschliessen; an der Echtheit des Buches hat das Altertum nicht gezweifelt.

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seiner strengen Lebensweise (2, 26, 23 (griechText n28)) mit Sokrates und Diogenes gerühmt. Wir sehen, das Persönliche, das bei Chrysipp hinter dem Gelehrten ganz verschwunden ist, tritt bei Kleanth ein wenig mehr, wenn auch nur in schwachen Umrissen hervor.

Schon deutlicher kommt das menschlich - persönliche Moment in der Heranziehung Zenos zur Betonung, dem die Stoa bekanntlich ihren Ursprung und die erste Fixierung der Hauptlehren verdankt: ihn hat Gott der (griechText n28) des Berufes zu lehren und Lehrsätze aufzustellen, gewürdigt (3, 21, 19); er ist wie Kleanth ein ernster Lehrer, wie Chrysipp eine ernste Lektüre, wie Sokrates ein Vorbild für den Verkehr mit Machthabern (ench. 33, 12): er konnte Antigonus furchtlos und unbefangen gegenübertreten; er wollte ja dem König nicht gefallen noch etwas profitieren, und dieser konnte ihm keinen wahren Nutzen verschaffen; dem Philosophen gegenüber ist der sittlich unfreie Herrscher der ängstlich Befangene. Wenn man bedenkt, dass Epiktet mit seiner Lehre von der innern Freiheit gerade den äusserlich Bedrückten und unschuldig Verfolgten, von der Ungerechtigkeit der Machthaber Gepeinigten (cf. 1, 29, 22 flf.; 1, 19, 7 if.; 1, 18, 17) Trost und Halt geben wollte, so gewinnt Zeno als diesbezügliches Vorbild erhöhte Bedeutung.

Aber auch er ist nicht scharf genug gezeichnet und zu selten erwähnt, um als volles Idealbild Epiktets gelten zu können.

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Im ganzen sind Epiktet die Häupter seiner Schule wohl grosse Männer, aber als Menschen werden sie durch die sittlichen Heroen, Sokrates und Diogenes, in den Schatten gestellt. Sie gelten ihm als wissenschaftliche Autoritäten, die ihm die begründeten und entwickelten Normen und Lehrsätze an die Hand geben, und an sie wendet er sich, wo er Beweise benötigt und seinen Ausführungen den Stempel streng erwiesener Wahrheit, wissenschaftlicher Gültigkeit geben will (so 1, 4, 28), oder er geht von einem von ihnen bewiesenen Satze aus und knüpft selbst ethische Erörterungen daran (so ist eine oft gebrauchte Wendung: (griechText n28) 1, 9, 1; 1, 18, 1; 2, 1, 1 cf. 1, 11, 28; 4, 4, 18; 1, 4, 1 fangt an: [24]
(griechText n29) oder 1, 3, 1 : (griechText n29). ¹)

Bewiesen aber glaubt er die Wahrheit stoischer Weisheit durch sie hinlänglich und hält weitere Beweisführungen für kein dringendes Bedürfnis (1, 29, 55 f.: (griechText n29):

„Der Worte sind genug gewechselt, Lasst mich auch endlich Taten seh'n!”


Dies bildet gleichsam das Klage-Motiv in den reichen Tonfolgen seiner ethischen Mahnweisen.
¹) Dass Epiktet bei Anführung eines stoischen Lehrsatzes so selten des Namen Chrysipps oder Zenos gebraucht, sondern meist allgemein von (griechText n29) spricht, könnte zur Vermutung führen, dem Unterricht sei eine aus Zeno, Kleanth und Ghrysipp kompilierte Sammlung altstoischer Weisheit zu Grunde gelegt worden.



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zum Anfang/Ende

Kap. 3.

Fürs Leben also, für die sittliche Praxis, worauf es unserem Philosophen in erster und letzter Linie ankommt, brauchte er grosse Menschen, Vorbilder, die unbedingt zur Nachfolge reizten; misst doch Epiktet dem persönlichen Vorbild überhaupt eine grössere Wirkung bei als aller Lehre und Ermahnung (cf. Bonhöffer II, 71). Die stoischen Schulgrössen mochten mit ihren Theorien, ihrer Gelehrsamkeit seinen Geist fesseln; seine Seele verlangte nach mächtigeren Gestalten, die erhaben und ideal, unantastbar, wie Riesen der Tugend über die gewöhnlichen Sterblichen sich erhebend, etwas Göttliches offenbarend und doch menschlich genug, um dem Herzen nahe zu bleiben, Geist und Gemüt gleicherweise anzogen, in persönlicher Sympathie fesselten, zu bedingungsloser Bewunderung hinrissen.

Solche Vorbilder waren ihm Sokrates und Diogenes, göttliche Menschen, deren Grösse eben darin bestand, Menschen zu sein, und doch über den Menschen zu stehen; in ihnen sieht der Idealist sein sittliches Ziel, das Vergöttlichung des Menschen bedeutet, (2, 14, 12 : (griechText n30); L. Diog. 3, 78 : (griechText n30)) verwirklicht : und beide Männer können in der Tat als die sittlich-freiesten Gestalten Altgriechenlands gelten, und ihr einzigartiger Wandel war wirklich geeignet, sie mit einem gewissen Nimbus zu umgeben, der um so heller erscheinen mochte, je grösser die zeitliche Entfernung (Epiktet und Sokrates trennen 500 Jahre), je ärmer die eigene Zeit an Idealen war.

So sind dem Stoiker beide Männer Typen menschlicher Vollkommenheit geworden, für alle vorbildlich nach Lehre und Leben, Männer, die mit ihrem Leben uns zugleich die beste Sittenlehre gegeben haben, harmonische, geschlossene Erscheinungen, sittliche Grössen, durch einzige Naturanlage und unermüdliche Selbstveredlung und gemeinnütziges Wirken einander ebenbürtig, Lehrer der Jugend, Bildner der Menschheit (griechText n30); sie sind ihm die lichten Sterne in des Lebens Irrsal und Dunkel, zu denen er mit [26] unbegrenztem Vertrauen und hingebender Verehrung aufblickt, an deren Glänze er sich erbaut, deren leuchtendes Vorbild ihm die tröstende Gewissheit gibt, dass sittliche Vollendung möglich, dass die unentwegte Arbeit an sich selbst nicht vergebens, dass, wer ausharret im Kampfe mit sich selbst und seinen sündhaften Neigungen, am Ende gekrönt wird mit dem köstlichsten Preise, der Tugend selbst.

So schwebt ihm ihr Name wie der von Schutzheiligen beständig auf den Lippen, ihre Worte, ihre Handlungen, ihre persönlichen Vorzöge sind ihm als höchster Beleg für seine Ausführungen immer zur Hand: In Sokrates sieht er den wahrhaft religiösen, in Diogenes den wahrhaft bedürfnislosen Mann; ¹) beide aber gelten ihm als Verkörperungen des geistig und sittlich freien Menschentums.

Epiktet selbst ist eine ihnen innerlich verwandte Natur, ein sittlicher Kern- und Kraftmensch von ausgeprägter Willensstärke, ein reiner, primitiver, ursprünglicher Charakter. Und sein ethisches Programm, welches das Glück der Menschen seiner Anschauung nach verbürgt, ²) können wir obiger Teilung entsprechend ebenfalls als ein dreifaches bezeichnen: er preist als Sänger der wahren Freiheit (cf. insbesondere diss. 4, 1) die von allem Äusseren unabhängige Gesinnung als höchstes sittliches Gut und vereint die beiden charakteristischen Züge seiner Helden, wenn er einerseits den Urgrund aller Sittlichkeit in dem Glauben (1, 12) an einen allmächtigen, allgütigen, all weisen Gott findet und in der Ergebenheit in dessen Willen, andrerseits Bedürfnislosigkeit (4, 9, 2: (griechText n31)) als das Hauptförderungsmittel wahren Glückes betrachtet.


¹) Dass schon Sokrates Bedürfnislosigkeit als ethische Forderung aufgestellt hatte, beweisen die Worte (Xen. Mom. 1, 6, 10): (griechText n31); doch tritt bei ihm diese Eigenschaft weniger als typisches Merkmal hervor.
²) Dass Epiktet gerade in späterer heidnischer Zeit als Befreier und Erlöser galt und als des Glückes und der Freiheit Künder, drückt bezeichnend eine griechische Inschrift einer Felswand Pisidiens aus, die mit dem Wunsche schliesst: Möchte doch auch heute ein solch göttlicher Mann wie Epiktet geboren werden: ein grosser Segen und eine grosse Freude für alle nach wahrer Freiheit dürstenden Seelen (Vorländer, Preuss. Jahrb., 89. Bd. p. 196; Schenkl. praef. d. Ausg. p. XVIII).


[27]
So sind ihm Sokratos und Diogenes gleichsam zu einem Ideal, einem Doppelvorbild, einem Dioskurenpaar der Tugend zusammengeflossen, in ihren sittlichen Forderungen einander ergänzend, zu einem Vollbilde göttlich-menschlichen Ringens und Siegens: sie haben immer strebend sich bemüht und sind - auf Erden! - erlöst worden von all dem Leid, das die sittlich Unfreien drückt und elend macht. Und als Doppelideal nennt er sie oft miteinander, als gehörten sie zusammen: 4, 9, 6: Wie Chrysipp und Zeno unsere ¹) Lektüre, so sollen Sokrates und Diogenes unsere sittlichen Muster sein, die wir bewundern, ²) die wir nachahmen müssen (3, 24, 40); beide sind von Gott berufen, der eine zu überführen, der andere wie ein König zu schelten (3, 21, 19: (griechText n32)); auch in ihrem Äusseren fesselnde, anmutige Erscheinungen (4, 11, 9), sind sie die wahren Philosophen, die die höchste Lebensaufgabe erfüllten, die als Frucht ihrer Philosophie die innere Freiheit erlangten, die man sich nie klagend über den Verlust irgend welcher Aussendinge vorstellen könnte (2, 16, 35 f.); sie bewiesen, dass weder Ehe noch Ehelosigkeit am wahren Glücke, der inneren Freiheit, hindert (4, 1, 152); nicht masslos, sondern als innerlich unabhängige Männer liebten sie ihre Freunde, Sokrates speziell auch seine Familie, als etwas Verlierbares, Sterbliches: über ihre irdische Liebe ging ihnen die himmlische, ihre göttliche Mission (3, 24, 60; 64). Doch auch äusserlich suchten sie frei zu werden, durch Mässigkeit und Verzicht auf irdische Güter und zeigten, dass man dürftig und doch gesund, vernünftig, philosophisch leben könne (3, 26, 23); sie sind Typen des sittlich Guten: nur das Urteil solcher Männer, wie sie waren, hat eigentlich Wert und Bedeutung (4, 7, 29); sie bezeugten, dass Wissen frei, stark und mutig macht; ihre Kenntnis des wahrhaft Guten und Schlechten machte sie furchtlos und freimütig den Machthabern gegenüber (2, 13, 24). -
¹) Der häufige Gebrauch der ersten Person im folgenden möge nicht stören! er erleichtert die Darstellung und versetzt besser in den Geist Epiktets. ²) Cf. Bekenntnis des Denionax, eines Schülers Epiktets: (griechText n32) (Lucian, Demon. 62.). Auch Demonax neigte in seinen Ansichten den Sokratikern zu, während er in seinem Äussern den Sinopeer nachzuahmen schien. (Demon. 5.)

[28]
Noch mehr wird das Folgende zeigen, dass Epiktet die Vertiefang ¹) in den Lebensinhalt beider Männer zum seelischen Bedürfnis geworden ist: es ist nicht bloss das Herkommen der stoisch - kynischen Schule, das ihre Verehrung und Nacheiferung verlangt, nicht nur pädagogisch - didaktische Erwägung, die mit der Vorführung der populärsten Weisen als Muster den Schüler persönlich angenehm berühren und reizen will, es ist sichtbar subjektives Interesse, individuelle Vorliebe: Sokrates und Diogenes waren ihm selbst in seiner sittlichen Entwicklung und Weiterbildung als Vorbilder lieb und wert, ja unentbehrlich geworden, er mochte ihrem Beispiele persönlich viel, unendlich viel verdanken ...
¹) So sagt Epiktet 4, 5, 2 selbst: (griechText n33) (sc. nie zu streiten) (griechText n33).




[29]

zum Anfang/Ende

Kap. 4.

Die Stoa birgt bekanntlich insbesondere in ihrer Ethik viel sokratisches Gut und hat sich stets als getreueste Hüterin sokratischen Erbes betrachtet, und es ist nur natürlich, dass Epiktet das Sokratische zunächst aus ihren Händen in stoischer Form übernimmt; aber unverkennbar tritt in den Diatriben das Bestreben des Philosophen hervor, immer unmittelbar an den hochverehrten Meister anzuschliessen, und so verblasst bei ihm das spezifisch Stoische und nimmt seine Philosophie eine mehr sokratische Färbung an, wenn wir von den diogenisch-kynischen Elementen für den Augenblick absehen wollen.

Im besonderen berührt sich die Epiktetische Lehre mit der Weisheit des Sokrates, bei dem Lehre und Persönlichkeit so untrennbar sind, in folgenden Einzelheiten:

1. Mit allem Nachdruck betont auch Epiktet, das rechte sittliche Verhalten beruhe auf Wissen. ¹) Daraus folgt, dass der Sünder aus Unwissenheit und Irrtum, also unfreiwillig fehlt (1, 17, 14; Soph. p. 223 c; Protag. 395 d.). ²) Damit verbindet Epiktet (2, 22, 36) die Forderung der Toleranz, der duldenden Nächstenliebe: man muss den sittlich Ungebildeten ertragen, mild und sanft gegen ihn sein, als Unwissendem ihm verzeihen. Wie Sokrates den Kerkermeister (1, 29, 65; Phaedo. p. 116 d), so soll der Philosoph die grosse Menge wie unwissende Kinder behandeln; ihren naiven Ansichten eher beipflichten als sie schelten: sie sind eben höherer Einsicht nicht fähig.

2. Das Wissen selbst besteht wieder in Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis: Wie Sokrates macht sich Epiktet das pythische (griechText n34) zum Wahlspruch und knüpft daran die sokratische


¹) Seine diesbezüglichen Induktionsbeweise nimmt Epiktet wie Muson nach Sokrates' Art aus den Gebieten praktischer Tätigkeit (cf. Xen. Mem. 3, 3, 9; Pl. Gorg. p. 460 und diss. 2, 9, 10; 3, 21, 4; 2, 14, 10 etc.); der (griechText n34) der (griechText n34) der (griechText n34) der (griechText n34) spielen eine Rolle.
²) Auch der Sünder will das Gute, das ihm Zuträgliche. Xen. Mem. 3, 9, 4: (griechText n34). Diss. 1, 27, 6: (griechText n34).


[30]
Forderung, (griechText n35)' (1, 26, 18; Plat. Apol. p, 38 a). Die Befolgung dieser Devise führt uns zur fortwährenden Kritik unseres sittlichen Verhaltens, zunächst zur Erkenntnis unserer Schwäche und damit zur Philosophie (cf. 1, 11; Plat. Alcib. I). während des sittlichen Prozesses aber zu einem unseren Kräften angemessenen Gang und systematischen Betrieb des theoretischpraktischen Studiums (1, 26, 15 f.; 3, 21, 1 ff.), endlich zur Prüfung unserer Vorstellungen (3, 12, 15), die wir erst dann gebrauchen dürfen, wenn wir sie auf ihren Wert geprüft haben.

3. Mit der Kenntnis seiner selbst ist eng verbunden die Kenntnis der Begriffe; nach Sokrates' Vorgang macht Epiktet von der Logik besonders das Kapitel von der Begriffsbildung und -Definition für die Ethik fruchtbar: wer die Bedeutung der (griechText n35) recht erkennt, ist sich schon über seine Hauptpflichten klar geworden (1, 17, 12; 2, 10: (griechText n35)): als (griechText n35) weiss er sich als bevorzugtes Wesen und erkennt im freien Willen (im freien Wahlvermögen = in vernünftiger Selbstbestimmung, (griechText n35)) sein höchstes Gut; als (griechText n35) ist er Bürger der grossen und der kleinen Welt: als Weltbürger begreift er die göttliche Weltregierung und zieht daraus die Konsequenzen; als Staatsbürger nimmt er ebenso stets aufs Ganze Rücksicht und fügt sich als gehorsames Glied willig ein; als (griechText n35) bringt er den Eltern immer Liebe und Gehorsam entgegen; als (griechText n35) zeigt er den Geschwistern gegenüber willfähriges Entgegenkommen und führt eine liebreiche Sprache und tritt in allen (griechText n35) (den äusseren, von unserm Willen nicht abhängigen Dingen) zurück; ein entsprechendes Verhalten zeigt er als (griechText n35) u.s.w.

4. Aus der rechten Kenntnis seiner selbst ergibt sich schon das rechte Verhalten den Aussendingen ((griechText n35)) gegenüber d. h. den äusseren Gütern, wozu Leib, irdisches Gut, Familie und Freunde gehören, und den Übeln des Lebens gegenüber wie Krankheit, Tod, Armut, Gefängnis, Verbannung; nach Epiktet und der Stoa sind sie alle an sich für unser sittliches Wohl gleichgiltig ((griechText n35)), aber wie man sich mit ihnen abfindet, ist von Bedeutung; ¹) wir müssen die Güter als von Gott verliehen,
¹) 2.5,1 ff.: Epiktet vergleicht hier das Leben mit einem Spiel; die Steinchen, die Würfel, der Ball sind an sich gleichgiltige Dinge, der Wurf aber von Wichtigkeit; so ist's auch im Leben. Ein geschickter Spieler in diesem Sinne war Sokrates (2, 5, 18 tf.): er spielte vor Gericht mit Leben und Tod (siehe, wie er dem Anytos seinen Götterglauben beweist, PI. Ap. p. 27 c. d.), aber sein Spiel verrät Kunst und Geschick ((griechText n36)).

[31]
die Übel als von ihm verhängt ansehen und erstere auf sein Verlangen gern zurückgeben, letztere willig entgegennehmen.

Insbesondere an Sokrates sucht Epiktet wieder darzutun, dass er die Aussendinge richtig bewertet und vor allem dem Leib keine grössere Bedeutung beigelegt hat; er teilt ganz die Ansicht, die Sokrates im Phaedo entwickelt: der Philosoph müsse (griechText n36) (diss. 4, 1, 172 Phaed. p. 64 a), müsse als höchsten Lebenszweck das Sterbenwollen erkennen. Ja, er verlangt (1, 8, 10 ff.) schon von den Jüngern der Philosophie eine solche Gesinnung, die den Leib nur als hindernde Fessel betrachtet, diese abzuwerfen verlangt und nach einer Vereinigung mit der Gottheit, von der wir stammen, sich sehnt. Diese Stelle wie überhaupt der enge Anschluss Epiktets an Sokrates machen es wahrscheinlich, dass jener von der Unsterblichkeit der Seele das Gleiche denkt wie dieser. ¹) - Auch andere Parallelen mit Sokrates liessen sich noch finden, die das Verhältnis des Menschen zu den Aussendingen berühren; so ist z. B. Phaedo p. 64: ,Es ist nicht Sache des Philosophen, sich um sinnliche Vergnügungen zu bemühen, um Speise und Trank oder sinnliche Liebe, und auf Schmuck und Luxusartikel Wert zu legen', ganz im Sinne Epiktets gesprochen.

5. Wie Sokrates (Xen. Mem. 1, 4 ; 4, 3) erkennt unser Stoiker Gott und die mit ihm identische waltende Vorsehung aus der (griechText n36) (1, 6, 2): Die Zweckmässigkeit der Einrichtungen und Geschehnisse in der Welt, das so komplizierte und doch harmonische Gefüge des Ganzen weist mit aller Notwendigkeit auf einen Schöpfer und Erhalter hin, der alles um des Menschen willen auf Erden so gut und so schön geschaffen, den Menschen selbst aber durch das Gnadengeschenk der Vernunft über die Tierwelt erhaben und zum Herrn der Erde und
¹) Über das Fortleben bezw. die Art des Fortlebens der Seele nach dem Tode spricht sich Epiktet nicht bestimmt aus; da die Seele ein (griechText n36) (l, 14, G), so ist ihre Rückkehr zu Gott und ihre Unsterblichkeit wohl garantiert; ob aber damit eine individuelle, persönliche, bewusste Fortdauer verknüpft ist, möchte man nach Epiktets Äusserungen und pantheistischen Anschauungen eher verneinen als bejahen. Cf. Zeller III, 1³ p. 746 A. 3; Bonböffer II, p. 28. Sokrates will bei Plato Apol. 40 C. (cf. Xen. Cyrop. VIII, 7, 19 ff.) die Unsterblichkeit nicht mit Sicherheit behaupten, hält sie aber für wahrscheinlich (Zeller II, l³ p. 149).

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in gewissem (geistigen) Sinne zum Ebenbild seiner selbst gemacht hat. Sokrates und die Stoa bekennen sich also zum Utilitätsglauben, gegen den im Altertum bekanntlich Karneades (213 - 129 v. Chr.) so energisch Front machte, indem er auf die vielen Übel in der Welt hinwies; gegen den unter den neueren Gegnern auch Goethe sich wandte (cf. Eckermanns Gespräche mit Goethe, 2. Bd., Gespräch vom 20. Februar 1831).¹) -

6. Der Glaube an diese Vorsehung fordert vom Menschen Dankbarkeit, Gehorsam gegen Gott und Ergebung in seinen Willen.
a) Wenn Epiktet von der schuldigen Dankbarkeit der Kreatur gegenüber dem Schöpfer redet, findet er die schönsten Töne, die wärmsten Worte, so z. B. 1, 16, 15 ff.: „Welche Rede wäre im Stande, die Wunderwerke der Schöpfung würdig zu preisen und zu nennen? Wahrlich, hätten wir Verstand, nichts anderes müssten wir tun, offen und im geheimen, als Gott lobsingen, mit Andacht nennen, ihm Dank erweisen! Mit dem Spaten, beim Pfluge, beim Mahle, stets sollten wir das Loblied auf die Gottheit singen: ,Gross bvst du, o Gott, der uns diese Werkzeuge gegeben, durch die wir die Erde bebauen sollen. Gross bist du, Gott, der uns die Hände verliehen, die Fähigkeit zu schlingen, zu verdauen, die Kraft unbemerkt zu wachsen und selbst im Schlafe zu atmen.'” Solche Stellen erinnern lebhaft an des Sokrates Mahnungen, der Gottheit für die vielen Wohltaten gebührenden Dank auch durch äussere Verehrung abzustatten (namentlich Xen. Mem. 1, 4), und sicher schwebten Epiktet solche vor Augen.
b) Auch den Glauben des Sokrates an die allgegenwärtige, allwissende Gottheit teilt Epiktet (1, 12, 3); hatte Sokrates (Xen. Mem. 1, 1, 19) gesagt: „Die Götter wissen alles, was gesagt und getan und im Stillen gedacht wird, und sind allerorts gegenwärtig,” so mahnt gleicherweise die Stoa (2, 14, 11): ,(griechText n37)
¹) Vergleiche dagegen, wie sehr Goethe in seiner Auffassung des Verhältnisses von Gott und Mensch mit der Stoa übereinstimmt (a. a. O. Gespräch vom 28. Febr. 1831): „Ich frage nicht, ob das höchste Wesen Verstand und Vernunft habe, sondern ich fühle, es ist der Verstand, es ist die Vernunft selber. Alle Geschöpfe sind davon durchdrungen, und der Mensch hat davon soviel, dass er Teile des Höchsten erkennen mag.” - Epiktet diss. 1, 14, 6 f.: Unsere Seelen sind Teile und Stücke Gottes, und so vermögen wir die göttliche Weltregierung und einzelne göttliche Dinge zu begreifen. 2, 8, 2 : Gott ist (griechText n37).

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(griechText n38), und Epiktet (1, 14, 13 f.) erinnert: „Wenn ihr die Türen schliesst und drinnen dunkel macht, besinnt euch und sagt nicht: ,Wir sind allein!' denn ihr seid es nicht, vielmehr ist Gott bei euch drinnen und euer Dämon (Genius = das in uns lokalisierte Göttliche). Diese Gewissheit und die blosse Dankbarkeit fordern vom (griechText n38), Gott seine Einsicht, seinen Willen zu unterwerfen (1, 12, 7). Grundfrage aller philosophischen Bildung (1, 12, 8) ist : (griechText n38); im Gehorsam gegen die Götter gipfelt alle Ethik. So hatte auch Sokrates (Xen. mem. 4, 13, 16) durch Wort und Beispiel gelehrt, dass Ehrfurcht vor den Göttern und Sittlichkeit unzertrennlich sind, und dass wir von den Göttern um so mehr Gutes zu erwarten haben, je mehr wir ihnen gefallen d. h. gehorchen.
c) Wie Sokrates soll man sich des innigen Zusammenhanges der Menschheit mit der Gottheit bewusst sein. Mit Recht hat jener den Menschen im Hinblick auf seine Gottverwandtschaft einen Weltbürger genannt: sind wir alle Kinder Gottes, so sind wir untereinander Brüder (1, 9, 1; cf. Gic. Tusc. disp. 5, 37 Plutarch (griechText n38) p. 600 f.; Muson. bei Stob. flor. 40, 9). ¹) Gott, unser aller Vater, hat uns ferner auf einen bestimmten Posten gestellt, den wir nicht eher verlassen dürfen, als bis er selbst uns ein Zeichen gibt, und Gott müssen wir mehr gehorchen als den Menschen (Plato Apol. 29 c, 28 e; diss. 1, 9, 22 - 24). Darauf gründet Epiktet seine Lehre vom Selbstmord, den er unter der eigentümlichen Bedingung gestattet, dass wir einen deutlichen Wink Gottes verspüren müssen wie Sokrates (1, 29, 29), ²) der
¹) Zeller II, 1³ p. 140 A. 6 meint, erst ein späterer kosmopolitischer Philosoph habe ihm diese Äusserung in den Mund gelegt.
²) Wenn also Seneka ep. 104, 21 sagt: Socrates te docebii mori, si necesse erit, Zeno, antequam necesse erit, so ist der erste Teil des Satzes ganz im Geiste Epiktets gesprochen und auch der zweite Gedanke widerspricht wohl nicht seiner Auffassung vom erlaubten Selbstmord; der Sinn ist wohl der: beide schieden freiwillig, Sokrates von Gründen der Moral bewogen, Zeno, weil er in seiner Gebrechlichkeit ein Anzeichen des nahenden Endes sah, das er nur beschleunigen wollte, und auch das ist Pflicht des Stoikers nach Epiktets Worten (2, 6, lO): (griechText n38) (hier also (griechText n38)) (griechText n38), Sokrates aber starb „notwendigerweise”, weil er ohne Einbusse an sittlicher Würde nicht hätte weiterleben können, während Zeno ruhig bis ans Ende hätte ausharren können, ohne an seiner Sittlichkeit erheblichen Schaden zu nehmen, mit seinem freiwilligren Tode aber seine vollkommene Freiheit bewies (cf, Bonhöffer II, 38)


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auch gewissermassen freiwillig aus dem Leben geschieden ist, insofern er nicht verurteilt worden wäre, wenn er nicht die Richter gereizt hätte, und auch später hätte entfliehen können. Wie hätte aber ein Sokrates die Richter bitten können ! er mnsste sie herausfordern, um seine sittliche Würde voll zu behaupten, und er sagte im Grunde nur die Wahrheit! Seine herrlichen Worte: (griechText n39) (Crito p. 43 d) sagen alles, und wir müssen sie ebenso wie die Lapidarsätze: ,Meine Feinde können mir Tod, aber keinen Schaden bringen* (Euch. 52, 3 ; Plato Apol p. 30 c) ¹) und : „Immerdar folge ich der vernünftigen Erwägung” (Crito p. 46 b) ²) uns zu eigen machen. -

Seine Gottergebenheit liess Sokrates so heiter und ungebrochen in den Tod gehen ; ³) er sah im Tode nichts Schlimmes (1, 29, 16 f.; 2, 2, 15); er konnte ihm ja nichts anhaben: was er rein erhalten wollte, seine Seele, was er behaupten wollte. Wahrheit und Würde, war von Leib und Tod unabhängig. Mit ihm muss man Tod oder Krankheit (griechText n39) 4), Schreckgespenster, nennen: Wie eine fürchterliche Maske den Kindern, so ei'scheinen diese Dinge Erwachsenen schrecklich, und doch steckt nichts dahinter, beides sind ganz natürliche Vorgänge; das Gleiche gilt von Verbannung oder Gefängnis oder Marter: sie treffen unsere Seele nicht, haben mit unserem Glücke nichts zu schaffen. Solche Heiterkeit der Seele liess Sokrates im Kerker noch einen Hymnus auf Apollo dichten (2, 6, 26; Plato Phaedo p. 60; L. Diog. 2. 42); mit solcher Gesinnung nimmt man alles Ach und Weh aus dem Leben (1, 4, 23 f.), man wird freudig und willig alle Widerwärtigkeiten des Daseins tragen, an jedem Orte sich wohl fühlen.

7. Pflichtgefühl und Frömmigkeit sind eng verwachsen: wie Sokrates müssen wir in treuer Pflichterfüllung die Befolgung
¹) (griechText n39)
²) (griechText n39) (dem vernünftigen Grunde) (griechText n39) (cf. ench. 51, 3; diss. 3. 23, 21).
³) Sokrates (4, 1, 169) lehrte uns göttlich sterben und hat mit seinem Todo der Menschheit einen grösseren Dienst erwiesen als durch sein Leben.
4) 2, 1, 15; Plato Phaedo p. 77 e.: (griechText n39).


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göttlichen Gebotes sehen; ¹) insbesondere kann uns der Bürger und der Lehrer Sokrates in dieser Beziehung als Muster dienen. Er tat, was der Staat verlangte, ²) und zog willig in den Krieg, wenn's so kam, und jammerte nicht um die sonnigen Spaziergänge im Lyceum: er sah auch in solcher Notwendigkeit den Willen Gottes (4, 4, 21). Streng blieb er seinem ihm von Gott gestellten Lehrberufe treu und liess sich durch Misserfolge, die die undankbare Aufgabe mit sich brachte, nicht abschrecken (3, 1, 19 ff.): es war ja nicht geschäftige Neugier und Aufdringlichkeit, ³) dass er sich ums sittliche Wohl seiner Mitmenschen bekümmerte, sondern die Pflicht des aussergewöhnlichen, gottbegnadeten Menschen, der mit sich fertig war und es unternehmen konnte und musste, andere zu belehren. Eine Hauptaufgabe sah er darin, den Menschen den Dünkel ((griechText n40)) zu nehmen, als wüssten sie alles und bedürften keiner Seelsorge (3, 14, 9).

8. Auch die ausgeprägte Autarkie der epiktetischen Ethik darf auf Sokrates 4) unmittelbar zurückgeführt werden, dem er ?, 8, 25 die Worte in den Mund legt: „Wenn mir noch jemand scaden kann, so ist mein Tun umsonst; wenn ich von einem andern noch Nutzen erwarte, bin ich nichts wert: denn ich muss mich doch elend fühlen, wenn ich etwas wünsche und es geht nicht in Erfüllung.” Sich selbst genügen und mit dem von Gott gegebenen sich zufrieden geben, ist die Hauptforderung Epiktets: verlässt uns alles, Gott verlässt uns nicht (3, 26, 27 ff.), und so bleibt uns der herrliche Trost des Sokrates (Plato Apol. 41 d): (griechText n40).
¹) Epiktets Philosophie ist so recht eine Pflichtenlehre. Das erkannte auch Pascal (Gedanken 1, 8. Übers. Leipzig, Reclani) an; aber er tadelt, dass Epiktet die sittliche Kraft des Menschen übertrieben, die Seele zu einem Teil der göttlichen Substanz gemacht; das sei Irrtum und Hochmut.
²) Ungerechten, unsittlichen Forderungen aber, wie dem Verlangen der Tyrannen nach Auslieferung des Salaminiers Leon, setzte er auf Gefahr des Lebens entschlossenen Widerstand entgegen (4, 1, 160).
³) 3, 1, 21: (griechText n40) 3, 22, 97, wo vom Kyniker gesagt ist: (griechText n40). Zeller macht (Sitz.-Ber. d. Preuss. Ak. 1893: Über eine Berührung des jüngeren Kynismus mit dem Christentum auf 1. Petri 4, 15 aufmerksam: das Wort (griechText n40) drückt den Vorwurf der Einmischung in fremde Angelegenheiten aus.
4) Stob, Flor. 5, 37 führt von Sokrates das Wort an: (griechText n40).


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9. Das rechte Wissen führt den Menschen also schliesslich dazu, nicht auf das Leben selbst. sondern auf das rechte Leben den höchsten Wert zu legen (Plato Crito p. 48; diss. 2, 6. 1: (griechText n41)

„Das Leben ist der Güter höchstes nicht, Der Übel grösstes aber ist die Schuld.”


Und dieser Satz führt (cf. Crito p. 49 b) auch zur Gerechtigkeit gegenüber dem Staate und den Mitmenschen und verbietet allzuunrecht Handeln und jede Rache. Unrecht mit Unrecht za vergelten ist schon wider unsere ganze Natur (2, 10, 24 ff); denn der Mensch ist (Plato Sophist. 222 b) ein (griechText n41), (diss. 4, 5, 10) (griechText n41). Das Unrecht schadet ja nicht dem, der erleidet, sondern nur dem Übeltäter (4, 5, 10: (griechText n41). Crito 49 b: (griechText n41). Gorgias 14: (griechText n41)).

10. Im besonderen stellt Epiktet noch sein Vorbild vor Augen

a) den sittlich noch Schwachen, im Portschritt begriffenen ((griechText n41)),
b) den Machthabern,
c) den rhetorischen Afterphilosophen.

ad a) Der sittlich Unfertige soll einerseits nach ihm sein eigenes Benehmen und Tun prüfen und richten, messen und bestimmen (2, 18, 21; 3, 23, 32), andererseits im Kampfe mit sich selbst daran denken, dass auch Sokrates nicht mühelos es zu solcher Grösse gebracht, dass auch er gekämpft und gerungen, dafür ist aber auch ein Sieg über sich selbst, seine Leidenschaft und sündhaften Gedanken so viel wert wie ein Olympischer (?, 18, 20 ff.); mit Sokrates (Xen. Mem. 1, 6, 14; Prot. p. 318): soll er sich freuen, nicht wenn er äussere Güter erworben oder sein technisches Können und theoretisches Wissen vermehrt hat sondern wenn er täglich einen sittlichen Fortschritt an sich bemerkt (3, 5, 14). Auch braucht und kann nicht jeder ein Sokrates werden, ein (griechText n41) (1, 2, 30); es genügt für den mit geringerer sittlicher Kraft ausgerüsteten ((griechText n41)), wenn er nach Vermögen immer strebend sich bemüht und so einen gewissen Grad moralischer Vollkommenheit erreicht. Ebensowenig ist es möglich, dass jeder die Kraft des Sokrates hat und einen sittlich [37] Ungebildeten zu sich emporzieht und zu bessern vermag: der (griechText n42) muss in solchem Umgang vorsichtig sein; er wird leicht von dem Schlechteren hinabgezogen, da dieser seine schlechte Sache wenigstens mit Überzeugung vertritt, während der gewöhnliche, scheinbar Gebildete seine gute Sache zwar mit den Lippen bekennt, aber mit dem Willen und in der Tat zu matt verficht (3, 16, 5).

ad b) Ein Machthaber sollte seinen Untergebenen ein Vorbild wie Sokrates sein und ihnen als Mensch Achtung und Liebe einflössen, dann werden sie ihm willig gehorchen (1, 19, 2 ff.); sls tugendhafter Mensch nur darf er sie richten und regieren, und wie Menschen muss er sie behandeln, nicht wie Tiere oder Sklaven, dann werden sie gerne ihren Willen dem seinen unterwerfen (3, 7, 33 ff.). Epiktet will damit jedenfalls auch auf die Sokratische Weisheit als politisches Bildungsmittel überhaupt hinweisen und den Machthaber mahnen, mit Sokrates sich zu beschäftigen. Sokrates hat bekanntlich gerade mit seiner philosophischen Tätigkeit dem Staate nützen wollen, indem er (Zeller II, ?³ p. 140) „tüchtige Leute zur politischen Wirksamkeit aufforderte, Beamte zum Nachdenken über ihre Obliegenheiten veranlasste (Xen. Mem. 3, 2 - 7) und ihnen zur Verwaltung ihrer Ämter Anleitung gab, und hat diesen politischen Charakter seiner Bestrebungen bezeichnend ausgedrückt, wenn er alle Tugenden in dem Begriff der Herrscherkunst ((griechText n42) Mem. 2, J, 17) zusammenfasste”.

ad c) Die Scheinphilosophen leben von der Eitelkeit, vom Lob der Menge: sie sollten sich die Bescheidenheit des Sokrates zum Muster nehmen, der nicht Philosoph scheinen, sondern in der Tat sein wollte (4, 8, 23: (griechText n42); 3, 23, 22 f.) und auf das Blendwerk der Redekunst als unwürdige Spielerei verzichtete (3, 23, 25): prodesse volunt, non delectare philosophi. Überhaupt liebt es Epiktet, der neuen sophistischen Rhetorik, die es auf den Schein abgesehen hatte, die wahre Philosophie gegenüber zu stellen und so ganz im Geiste des Sokrates zu wirken. So hat Kralik (Sokrates, Wien 1899, p. 598) nicht Unrecht, wenn er Epiktet den neuen kosmopolitischen Sokrates nennt, der gegen eine neue Sophistik auftritt. -

In mehrfacher Hinsicht haben wir somit Epiktet als einen Sokratiker kennen gelernt. Damit soll er nicht in Gegensatz zur übrigen Stoa gestellt werden, sondern nur behauptet werden, dass [38] er das Abhängigkeitsverhältnis ¹) mehr als andere betont: hatte die alte Stoa Sokrates als Grundlage betrachtet, auf der sie zu neuer Spekulation fortschreiten konnte, so kehrte Epiktet, aller Spekulation abgeneigt, zur Urquelle zurück, ohne die neugewonnenen stoischen Vorstellungen und termini irgend zu verleugnen; vielmehr veranlasste ihn sein Stoizismus, zuweilen dieselben auf seinen Helden zu übertragen, so 4, 5, 1 f.: Sokrates mied Streit und ertrug hitzige Naturen; denn er wusste, dass niemand über das (griechText n43) des anderen Herr sei; er wollte nur (griechText n43) (sein Eigen) bewahren, d. h. inmitten der verkehrten Reden und Handlungen anderer sich selbst (griechText n43) verhalten; immerhin tat er das Seine, um auch die anderen zu einem naturgemässen Verhalten zu bewegen, der Erfolg aber stand ausser seiner Macht, war (griechText n43).

Am gewaltigsten imponierte ihm Sokrates vor Gericht, den tiefsten Eindruck erhielt er von dem gefangenen und sterbenden Sokrates; daher hinterlassen auch die betreffenden Schriften Piatos die meisten Spuren in seinen Diatriben. Persönlich aber steht er dem Sokrates am nächsten als Morallehrer: Wenn er 2, 26, 4 ff. die Bedeutung und Macht des Menschen preist, der Dank seiner Redegewalt ((griechText n43)) und seiner Gabe (griechText n43) im stande sei, andere von ihrer Sündhaftigkeit zu überzeugen, auf den Quell und Ursprung ihrer Sünden, auf den Widerstreit ((griechText n43)), in dem sie sich mit ihrer wahren Natur befinden, hinzuweisen, ihnen ihr bisheriges, vermeintlich korrektes Tun als Irrtum und Wahn zu enthüllen und so zur Besserung und zu sittlichem Handeln ((griechText n43)) zu bewegen ; und wenn er als solch ausserordentlichen Menschen Sokrates bezeichnet, so hat er damit niemand besser charakterisiert als sich selbst: auch er war ein Meister der protreptischen Rede, und der Eindruck seiner Worte ist sehr wohl mit der Wirkung der sokratischen Rede, wie sie
¹) So kommt der Eudämonismus des Sokrates (cf. Zeller, Grundriss p. 97 und oben p. 29 A. 2) gerade bei Epiktet wieder zum schärfsten Ausdruck: „Die Triebfeder alles Handelns ist die Vorstellung eines Nützlichen, Zuträglichen, das dadurch erreicht, oder eines Schädlichen, Nachteiligen, das dadurch abgewendet werden soll. Diese Vorstellung des Nützlichen oder Schädlichen wirkt nach Epiktet mit zwingender Notwendigkeit: so wenig der Mensch einer Sache (innerlich) beistimmen kann, die ihm nicht als wirklich erscheint, so wenig kann er etwas begehren, was er nicht für zuträglich hält, und etwas nicht begehren, was ihm nützlich scheint” (Bonhöffer II p. 4; diss. 1, 18, 2: (griechText n43)).

[39]
Alkibiades in Platos Symposion so trefflich schildert, zu vergleichen. Arrian bezeugt von seinen Vorträgen, sie hätten ihren Zweck erreicht, die Gesinnung der Hörer zum Besseren zu lenken (diss. praef.), und Simplicius, der Kommentator des Handbüchleins, der ca. 500 p. Chr. lebte, nennt sie (praef. 7) so wirkungsvoll, dass, wer von ihnen nicht ergriffen wird, nur vom Gericht der Unterwelt gebessert werden kann. Und heute noch, nach achtzehnhundert Jahren, kann man sich bei der Lektüre der Diatriben dem tiefen Eindruck nicht entziehen, den die schlichte Grösse der Gedanken, die kraftvolle, wuchtige Sprache, der grosse Zug und ideale Schwung des Ganzen hervorbringt: der Sklave von Hieropolis hält noch heute die Seelen im Banne! -



[40]

zum Anfang/Ende

Kap. 5.

Diogenes im besonderen gilt Epiktet als der rücksichtslose, alle sozialen Fesseln abwerfende, ganz seinem Missionarberufe lebende, sittlich freie und vollkommene Mensch, der um so energischer wirken konnte, je weniger er an Haus, Familie und Staat gebunden war. Seinem Wirken hat er den Begriff des Kynikers entnommen, den man mutatis mutandis wohl als das heidnische Urbild des christlichen Priesters und Missionars betrachten kann. ¹)

Im Vergleich mit dem historischen Diogenes hat er sein Vorbild allerdings stark idealisiert (cf. Bonhöffer I p. V.); doch ist sein Diogenes deshalb noch kein Phantasiebild; Anführungen seiner eigenen Handlungen und Worte geben immer wieder den historischen Rückhalt. Was man ihm Schlechtes nachgesagt hat, das dünkt Epiktet wohl eben so erlogen, wie das (griechText n45) und (griechText n45) das Aristophanes in den ,Wolken' dem Sokrates angedichtet hat (4, 11, 20 f.): es liebt eben „die Welt das Strahlende zu schwärzen und das Erhabene in den Staub zu zieh'n”.

Diogenes, der wahre Kyniker, hat in der Tat bewiesen, das Bedürfnislosigkeit und Abhärtung, Ascese, Quell und Bürge echten Glückes sind (3, 22, 47: (griechText n45)): Das macht ihn frei von Schmerz und Furcht und Begierde, lässt ihn mit Gott und den Menschen in Frieden leben, verleiht ihm ständige Heiterkeit und macht ihn (moralisch) zum Herrn selbst über die Machthaber (3, 22, 48 ff.); er ist der wahre Herrscher, ²) so dass man sagen kann: er hat sich erniedrigt und ist erhöht worden. Trotz seiner äusseren Unfreiheit imponiert er den Seeräubern, flösst seinem


¹) Ähnlich, wie schon Justus Lipsius (/manuductio ad Stoicam philosophiam 1, 13) die Kyniker mit den Kapuzinern verglich, und wie auch Wilamowitz den Kyniker Teles (philol. Unters. IV, 292 ff.), den Wanderprediger, den ältesten kenntlichen Vorfahrendes geistlichen Redners nennt; dagegen wendet sich allerdings Säpfle? (Archiv f. G. d. Philos. IV. p. 418 ff.) und meint, diese Bedeutung komme mit mehr Recht dem geistreichsten aller Kyniker, dem ernsten Krates zu.
²) Dlog. L. 6, 29: Als Diogenes verkauft werden sollte, antwortete er auf die Frage, welche Arbeit er verstehe: Männer zu beherrschen.


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Herrn Respekt ein, der ihn zu Korinth kaufte und gewissermassen Sklave des Sklaven wurde, und nötigt Philipp und Alexander Bewundemng ab.

Die Tatsache, dass Diogenes nach der Schlacht bei Chäronea zu Philipp als Kundschafter kam (cf. L. Diog. 6, 43), wird von Epiktet seiner Gewohnheit gemäss wieder ethisch verwendet (3, 22, 24; 1, 24, 6 ff.): er kundschaftete überhaupt das Terrain des Lebens aus und rekognoscierte furchtlos, was den Menschen feindlich und freundlich gesinnt ist, und fand, dass alles in Wahrheit voll Friede sei; niemand konnte ihn ja verletzen, vor nichts ergriff er die Flucht. Was die Menschen für feindliche Mächte halten, ist Täuschung: der Tod, sagt Diogenes, ist weder Übel noch Schande; guter und schlechter Ruf ist nur das Gerede wahnsinniger Menschen, und in ähnlicher Weise urteilt er über Mühsal, Lust und Armut.

Und mit der Kraft und Schönheit seines Körpers, der die Augen der Menge auf sich zog (L. Diog. 6, 81), hat er bewiesen, dass das strenge Leben unter freiem Himmel nicht nur nicht schadet, sondern für Leib und Seele gesünder ist als die Verweichlichung beim Besitze äusserer Güter (3, 22, 88).

Wie die sorglose Heiterkeit des gerichteten Sokrates bewundert Epiktet die männliche Haltung des am Fieber erkrankten, an der Strasse nach Olympia liegenden Diogenes (cf. Hieronym. adv. Jov. 2, 14); beide Männer hatten gelernt, nicht nur zu leiden, ohne zu klagen, vielmehr mit Freuden zu leiden; sie hatten eben den Begriff des Leides bei sich ganz aufgehoben! „Wie hätte auch ein Mann wie Diogenes,” sagt. Epiktet 3, 22, 59, „auf Gott schelten können, als leide er Unverdientes! er, der doch in schweren, harten Lagen sich gefiel,” er, der (4, 1, 30) als einziges Mittel, für gewisse Fälle der Not seine äussere und innere Freiheit zu retten, das Sterben mit Freuden, ohne Widerstreben empfiehlt.

Aber nicht nur eiserne Willenskraft, auch Esprit, schlagenden, beissenden Witz besass Diogenes, der ihm nie versagte und in manchen Situationen die Lacher und damit den Erfolg auf seine Seite brachte, so Alexander, so einem vorlauten Menschen gegenüber (3, 22, 91); dieser hatte ihn gefragt: „Bist Du Diogenes, der an keine Götter glaubt?” worauf Diogenes erwidert: „Wieso, wenn ich Dich doch für einen gottverhassten Menschen halte?” Seine geistige Kraft zeigte er auch mit seiner Menschenkenntnis, [42] die ihn die gute oder schlechte Gesinnung eines Menschen sofort erkennen liess. Diese Unterscheidungsgabe fordert er auch von anderen und verwirft deshalb die Empfehlungsschreiben (2, 3.) So überführte er auch einen Scheinphilosophen seiner sittlichen Schwäche, indem er durch Ausstrecken des Mittelfingers (einem äusseren Zeichen der Verachtung bei den Alten) den Mann in rasende Wut versetzte.

Seine moralische Freiheit, gesteht Diogenes selbst, verdankt er Antisthenes (3, 24, 67 f.), der ihn als ebenbürtigen Tugendgenossen seiner Freundschaft würdigte (3, 22, 63) (wie später Diogenes wieder den Krates), und der ihn lehrte, was sein Eigen und was nicht, dass nur die (griechText n47) das Gut sei, das dem Menschen nicht entrissen werden könne, dass alles andere, Besitz, Angehörige, Verwandte, Freunde, guter Ruf, geliebte Orte, gewohnte Beschäftigung, ein fremdes, uns nur geliehenes, dem Wechsel und der Veränderung unterworfenes Gut sei.

Ausser in dieser Verbindung mit Diogenes erwähnt Epiktet den Antisthenes namentlich noch dreimal: Er habe von Sokrates die Schätzung der Begriffsentwicklung, die ihm als Anfang aller Bildung gelte, übernommen und darüber geschrieben; ¹) beiden Männern seien darin dann die Häupter der Stoa gefolgt (1, 17, 12) 2, 17, 35 bemerkt er, Antisthenes' Stil sei eigenartig gewesen und wie der Platos oder Xenophons von kleinlichen Gelehrten, die sonst nichts Besseres zu tun hatten, nachgeahmt worden. Endlich wird von ihm (4, 6, 20) noch der schöne Satz angeführt: „Königlich ist es, Gutes zu tun, Schlimmes zu erfahren” ((griechText n47)), Worte, die auch M. Aurel 7, 36 zitiert.

Die Person des Antisthenes, ²) sieht man, tritt bei Epiktet nicht hervor; der grössere Schüler hat als Mensch den grossen Meister ganz verdunkelt. -
¹) (griechText n47) (D. Laert. 6, 17).
²) Die Kyniker wechseln in ihren Idealen: früher war Odysseus das mythologische, Antisthenes (neben Sokrates) das philosophische Vorbild; später tritt Herakles einerseits, Diogenes und Krates andrerseits (cf. kynische Briefe) in den Vordergrund. Odysseus wird von Epiktet (1, 12, 3) als fromm und gläulig (3, 24, 13) als vielgeprüfter, weitgereister Mann, (3, 26, 32) als standhaft im Unglück, einmal mit Sokrates, zweimal mit Herakles (cf. ausserdem fr. 174 Schwgh.), also als Ideal erwähnt. Krates, dessen philosophische Gattin 3. 22. 7. mit Bewunderung ein zweiter Krates genannt wird, wird weiter nicht angeführt.





[43]

zum Anfang/Ende

Kap. 6.

Durch Diogenes war Epiktet noch auf ein anderes Idealbild hingewiesen, das weit in die graue Vorzeit zurückreicht: Herakles, Dieses Vorbild stammt eben aus der kynischen Schule. Zeller sagt davon II, 1³ p. 261: „Die Mühe und Arbeit, wovor sich die meisten fürchten, ist nach Ansicht der Kyniker ein Gut, weil sie allein dem Menschen die Tüchtigkeit verschafft, durch die er unabhängig wird (L. Diog. 6, 2); und eben deshalb ist Herakles (von dem auch ein Tempel neben dem Kjmosarges stand) der Schutzheilige und das Vorbild der Kyniker, weil kein anderer ein so arbeitsvolles und mühseliges Leben mit soviel Mut und Stärke zum Besten der Menschheit durchgekämpft hat.”

Diogenes sagt selbst (L. Diog. 6, 71) von sich: (griechText n48) und bekennt sich damit offen zur Nachfolge des Halbgotts. So ist es ganz natürlich, wenn auch Epiktet, der wieder Diogenes (neben Sokrates) zu seinem Vorbilde erkoren hatte, Herakles nicht mit Stillschweigen übergeht; andererseits wird überhaupt in der Stoa mit der Verehrung des Diogenes auch der Kult dieses Heros mit manchem anderem teueren Erbstück und Requisit der kynischen Diatribe übernommen worden sein.

Ob Epiktet an seine Existenz geglaubt oder in ihm nur eine mythologische Figur der Göttersage gesehen hat, muss dahin gestellt bleiben; er hat ihn wohl, wie auch den Theseus, als Repräsentanten der Helden und Kulturpioniere betrachtet, die für die erwachende Kultur mit rückständiger Roheit gekämpft haben. Der Zweck seiner wiederholten Erwähnung ist rein ethisch: Herakles ist wieder ein klassisches Beispiel dafür, dass der Mensch nur durch Mühsal gross wird, nur ,per aspera ad astra', zu den Sternen eingeht, dass (griechText n48) -

So will 1, 6, 22 ff. Epiktet an Herakles nachweisen, dass auch die Übel des Lebens für den Menschen ihr Gutes haben, ja geradezu notwendig seien, da sie seine Kraft stählten, ihn nicht rasten und rosten liessen; Herakles ist erst im Kampf mit roher Gewalt und Ungerechtigkeit zum Herakles geworden, hat im Aufblick zu Gott solche Taten vollbracht und im Vollgefühle seiner [44] durch Müh und Arbeit gestählten Kraft sich für Gottes Sohn gehalten, der er auch tatsächlich war ¹) (2, 16, 44 f.).

Wie Herakles den Ungeheuern, so sollen wir mutig den Übeln des Lebens begegnen (4, 10, 10) und im Vertrauen auf Gott und getreu seinen Geboten die Hauptübel endlich aus der eigenen Brust vertreiben!

Auch Herakles hat ganz seiner Mission gelebt, Frevel getilgt und Recht und Gesetz eingeführt (in diesem Sinne erwähnt Epiktet 2, 16, 45 auch Theseus) und von der Erfüllung seiner höheren Pflicht sich durch nichts, weder durch Freunde noch durch seine Familie, abhalten lassen; er liess ja die Kinder nicht als Waisen zurück, sondern in der besten Hut, im Schutze Gottes, des fürsorglichen Vaters aller; dieses unbegrenzte Gottvertrauen liess ihn so grosse Kulturtaten vollführen und überall, auch in der Fremde glücklich sein (3, 24, 13 ff.). Zeus hat ihm, dem eigenen Sohne, nicht die Königsherrschaft von Argos und Mykenä gegeben, sondern liess ihn Diener des Königs Eurystheus sein und schwere Arbeit verrichten; und doch war Eurystheus, der König, nicht einmal Herr über sich selbst, Herakles aber gebot durch seine Kraft über Land und Meer (3, 26, 31 f.): so müssen auch wir uns in den Willen des Allmächtigen schicken; er will unser Bestes selbst in der härtesten Prüfung; je grösser die Mühe und Gefahr, desto grösser der sittliche Gewinn (4, 10, 11); Feigheit und Furcht dürfen wir wie Herakles nicht kennen ; im äussersten Fall nimmt Gott uns zu sich. -


¹) Zahn (a. a. O. p. 18) hat gemeint, dass Epiktet wie in anderem so in dieser seiner Auffassung” des Herakles von christlichen Ideen beeinflusst gewesen sei: „Das ist nicht mehr der altbekannte Herakles am Scheidewege, der Jüngling, der den Weg der Tugend wählt. Das ist der Gottes- und Menschensohn, der die Welt von der Sünde befreit und als Erlöser beherrscht. Und was ist das anders, als ein Echo des Evangeliums in der Seele eines Heiden?” Dagegen hat K. Vorländer (christliche Gedanken eines heidnischen Philosophen. Preuss. Jahrb., 89 Bd. 1897, p. 212) mit Recht bemerkt, das Ideal des Weisen in gewissen historischen oder mythologischen Gestalten (Sokrates, Diogenes, Herakles) zu verkörpern, ist nichts spezifisch Christliches; eine solche Idealisierung derselben war vielmehr längst in der Stoa gebräuchlich; die Gottessohnschaft, das Leben voll Entbehrungen für ihn selbst und Wohltaten für die Menschheit sind zwar parallele Züge zwischen Herakles und Christus, aber gehören doch dem altherkömmlichen Heraklesideal erb- und eigentümlich zu; andererseits hat Epiktet gerade für ein Gegenbild sehr geeignete Züge nicht berücksichtigt und genug ganz menschliche Eigenschaften von ihm erwähnt und, möchte ich hinzufügen, für solche Absicht viel zu selten ihn angeführt. -




[45]

zum Anfang/Ende

Kap. 7.

Nicht alle Ideale musste Epiktet der Vergangenheit entnehmen, auch die eigene und kurz vorausliegende Zeit bot ihm Männer, an deren sittlichem Charakter er sich erbauen konnte: es sind die bekannten politischen Oppositionsmänner, der Stoa angehörig, deren starres, unbeugsames Festhalten an den politischen Freiheiten des Römervolks, deren republikanische Gesinnung den späteren julischen und den flavischen Kaisern soviel zu schaffen machte; es sind Pätus Thrasea, Agrippinus, der Kyniker Demetrius, Lateranus, die unter Nero, und Helvidius Priskus, der unter Vespasian offen dem Kaiser opponierte. Epiktet feiert sie mit der Stoa als politische Märtyrer, die bei der allgemeinen Korruption, als alles unter despotischer Willkür seufzte und kroch, allein lauten Protest erhoben und mit herrlichem Bekennermute für die sittlichen Güter der Menschheit eingetreten sind und freudig für ihre Überzeugung den Tod erlitten haben. Epiktet ist seiner ganzen Gesinnung nach Anhänger der libera respublica, das fühlt man aus allem heraus; ein tiefer Groll über die herrschenden Zustände, über die Tyrannis, ein herber Pessimismus zieht sich durch seine Reden, der zuweilen in heftigen Vorwürfen und bitteren Anklagen gegen die korrupte höhere Beamtenschaft sich entlädt, die ihr Amt nur der Bestechung und servilem Schmeicheln, nicht aber ihrer Tüchtigkeit verdanke (cf. 3, 7, 31); und von geringer Cäsarenfreundlichkeit zeugt es, wenn er (4, 1, 60) sagt, niemand fürchte den Kaiser, sondern nur die Strafen, die er verhängen kann, niemand liebe den Kaiser, wenn er nicht persönlich viel wert sei, sondern nur die Amter und Güter, die er verleihen kann. So bildet seine politische Unzufriedenheit einen schreienden Kontrast zu seinem sonstigen Optimismus, und es besteht kein Zweifel, dass der Mann, der (1, 1, 23 f.) sagt: „Mein Geheimnis lasse ich mir nicht entreissen, und wenn ich sterben sollte”, und der (1, 2, 29) lieber seinen Kopf verlieren will als seines Bartes, des äusseren Zeichens seiner Männlichkeit und seiner philosophischen Würde, beraubt werden, dass Epiktet gegebenen Falles ebenso standhaft und mutig dem Tode [46] entgegengesehen hätte wie seine politischen Vorbilder. Doch es kamen mildere Zeiten : die zwei Mächte, die sich so lange und so grimmig befehdet, die ideale und die reale Macht, Philosophie und Cäsarentum, fingen damals an, einander sich zu nähern, bis schliesslich ein Mann beide Würden sogar in sich vereinte.


Merkwürdigerweise hat sich gerade Epiktets Meister, Musonius Rufus, von der politischen Schroffheit der meisten seiner philosophischen Schulkollegen nicht anstecken lassen: er blieb massvoll; sein praktisches Römertum siegte über philosophisch-idealistische Utopien. Zwar entging auch er unter Nero der Verbannung nicht, aus der ihn dann wohl Galba zurücklief; aber Vespasian schonte ihn und auch Domilian scheint ihn, vorausgesetzt, dass er damals noch lebte, ausgenommen zu haben.

Abgesehen von der Verschiedenheit politischer Schattierung besteht auch sonst zwischen Muson und seinem grossen Schüler ein gewisser Gegensatz, Jeder ist in der Verarbeitung und Verwertung des Stoffes, den ihnen die alte Stoa gab, in seiner Art selbständig und originell: Muson behält einen patriarchalischen, konservativen, gut bürgerlichen Zug bei, Epiktet ist radikaler, schärfer. Hatte Muson wieder auf Sokrates unmittelbar zurückgegriffen, so betont Epiktet noch lebhafter, was man diesem und Diogenes verdanke. Und wie schon aus den Lemmaten Musons bei Stobäus hervorgeht, liebte es Muson, sozial-nationale Themen zu erörtern, wie die Frauenfrage, die Forderungen der Ehe und Erziehung, während Epiktet diesen Fragen im ganzen kühler gegenübersteht und allgemeine, religiös-moralische Betrachtungen vorzieht. Ja, man ist versucht, Musons Ausführungen lehrreich für Frauen und Ehemänner und solche, die es werden wollen, Epiktets Reden geeignet speziell für künftige Lehrer der Philosophie zu nennen.

Im besonderen tritt Muson für geistige Gleichberechtigung der Frau, für gleiche Erziehung und Bildung derselben mit dem Manne ein und ist so in seiner Art ein begeisterter Frauenrechtler: auch die Frau müsse philosophieren, um all ihre Pflichten als Hausfrau, Gattin und Mutter mit Bewusstsein voll erfüllen zu können. Doch was ist Muson die Philosophie? Nicht das unfruchtbare Theoretisieren, sondern nur das Nachdenken über seine allgemeinen und besonderen Pflichten und die praktische Ausübung derselben.

[47]
Philosophie deckt sich mit Lebensweisheit ((griechText n52)), und Philosophin ist die vernünftige, gebildete Frau. Daher verwahrt er sich nachdrücklichst dagegen, als ob die Frauen durchs Philosophieren Blaustrümpfe würden, im Gegenteil! Durchs Philosophieren würden sie erst die richtigen Frauen. Durch die Vernunft, führt Muson ecl. 2, 31, 126 aus, ist die Frau dem Mann auf logischem Gebiet, durch die Empfindungen und den Leib auf physischem, durch ihre natürliche Neigung zur Tugend auf ethischem Gebiet ebenbürtig; ihre allgemeine sittliche Aufgabe ist wie die des Mannes, sittlich schön ((griechText n52)) zu leben, ihre Pflichten im besonderen bestehen zunächst darin, die Hausvirtschaft verständig zu führen, was sehr wohl ins Gebiet der Philosophie einschlägt wie jede Pflicht im Leben, dann besonnen (griechText n52), nebenbei bemerkt, der Lieblingsausdruck Musons für das Weise- und Gutsein) und massvoll zu sein d. h. keine unreine Liebe, Begierde und Lust zu empfinden, nicht auf Streit, Üppigkeit und Putz bedacht zu sein; drittens rechtlich, billig gesinnt zu sein, um eine untadlige Lebensgefährtin, gleichgesinnte Gelülfin, gewissenhafte Pflegerin für Mann und Kinder und von allem Egoismus frei zu sein, so dass sie lieber unrecht leidet als tut, ihre Kinder mehr liebt als ihr Leben! endlich muss sie doch mannhafter Art und Gesinnung sein, d. h. den Tod nicht fürchten, Mühsal willig tragen, immer selbsttätig und arbeitsam sein.

Damit haben wir zugleich eine Quintessenz der Musonischen Ethik gegeben, zu der noch ergänzend die Forderung körpericher Abhärtung, strenger Mässigkeit tritt; auch hier gibt er detaillierte Vorschriften über Kleidung, Nahrung, Wohnung und Gerätschaften, erklärt (griechText n52) und Schuhe für entbehrlich, empfiehlt rein vegetarische Kost, da der Genuss des Fleisches (fl. 17, 42) tierisch und zu schwer, dem Denken hinderlich sei, und verwirft Gold und Silber bei den Geräten, wofür Eisen und Ton zu verwenden sei. ¹)

Derartiges finden wir nun bei Epiktet nicht näher ausgeführt; doch folgt er persönlich der kynischen Einfachheit, begnügt sich mit einem eisernen und, als ihm dieser entwendet wurde, mit einem irdenen Leuchter und hatte sicher auch sonst keinerlei
¹) Die Parole: zurück zur Natur! verleitete die Kyniker, die äusseren Errungenschaften der Kultur und ihren Wert zu unterschätzen.

[48]
Komfort, obgleich es ihm an vornehmen, vermöglichen Schülern und damit an freigebigen Anerbietungen wohl nicht gefehlt hat auch rät er ja bei jeder Gelegenheit Bedürfnislosigkeit und Enthaltsamkeit an; zu eingehenderen, diesbezüglichen Mahnungen aber bot das üppige Rom direkteren Anlass als das simple Provinzstädtchen.

Auch dass Epiktet das soziale Moment weniger herauskehrt lässt sich leicht aus der verschiedenen Persönlichkeit, bürgerlichen Stellung und Nationalität beider Männer erklären: Muson ist Römer, Ritter, Gatte und Vater, Epiktet Grieche, Sklave und - Junggeselle. Als Römer und Grossstädter schwärmt Muson auch fürs Landleben und hält für den glückseligsten Beruf, Bauer und Philosoph zugleich zu sein; für Epiktet, den Krüppel und besitzlosen Sklaven und Freigelassenen, war auch zu dieser Schwärmerei kein Anlass gegeben.

Doch diese Unterschiede gehen nicht tiefer; im ganzen zeigen die Bruchstücke Musonischer Philosophie nicht nur in der allgemeinen ethischen Färbung, sondern auch in einzelnen Nuancen grosse Übereinstimmung mit den Diatriben Epiktets, so in der Betonung des sokratischen und kynischen Elements und in der Hervorhebung der Pflichten; Strenge gegen sich selbst und Milde gegen die Mitmenschen fordert Epiktet ebenso laut wie Muson und beider Philosophien durchweht ein sanfter Zug; von der berüchtigten Kälte und Schroffheit der alten Stoa ist kein Hauch zu spüren, und was dort mehr Sache des Verstandes gewesen, ist jetzt mehr Angelegenheit des Herzens geworden, eine solche Wärme strömt uns aus den Worten beider Ethiker entgegen; der sittliche Egoismus hat sich mit dem Altruismus unzertrennlich gepaart, fällt mit ihm zusammen, kommt in ihm zum Ausdruck, wie Epiktet 1, 19, 13 so schön ausspricht: ,Gott hat unsere Natur so eingerichtet, dass wir kein uns eigentümliches Gut erlangen können, ohne zugleich gemeinnützig zu sein!' Dem andern nützen und wohltun ist der natürliche Ausdruck der sittlicher Fürsorge für sich selbst. -

Stimmen so die Lehren beider Stoiker im allgemeinen überein, noch mehr gleichen diese sich als Lehrer der Philosophie, und sicher hat Epiktet seinen Meister in manchen Einzelheiten kopiert und ist ihm in der Lehrabsicht und Lehrweise, dem äusseren Unterrichtsbetrieb gefolgt. Als mehr primitive, aber starke sittliche Naturen von bedeutender Willenskraft, lauterster Gesinnung [49] und treffendstem sittlichen Urteil (cf. Zeller III, 1³ p. 735) sind sie geneigt, die praktische Ethik, das rechte Handeln als einzigen Zweck aller Philosophie zu erkennen und der Wissenschaft als solcher eine untergeordnete Rolle zuzuweisen, worin Muson noch weiter zu gehen scheint als Epiktet. Keiner wollte eben spekulativer Philosoph sein, sie begnügten sich rein ethisch zu wirken, die Hörer im Innersten zu treffen und Scham und Reue in ihnen zu erwecken und so zur sittlichen Umkehr zu bewegen; und beide wollten selbst mit gutem Beispiel vorangehen und verlangen mit aller Energie die Übereinstimmung von Lehrbekenntnis und Leben (fl. 48, 6, 7 Schl. diss. 2, 9, 17; 3, 16, 7); sie wollten bessern, nicht des Beifalls wegen unterrichten; darum war ihnen die Form des Vortrags Nebensache, die moralische Wirkung die Hauptsache (Gell. 5, 1 diss. 3, 23, 29); sie wollten einen Stachel in der Seele des Hörers zurücklassen. Und dass dies ihnen gelang, dass sie damit als Schulleiter die grössten Erfolge errangen, das bezeugt Epiktet von Muson (3, 23, 29), Arrian von Epiktet (praef.), und Lucian berichtet das Gleiche von Demonax, einem Schüler Epiktets (Dem. 7). So erklärt sich, dass sie das, was sie vortrugen, einer Aufzeichnung nicht für wert hielten und überhaupt nichts schrieben, ja, eher Gegner der schreibseligen Philosophen sind (cf. Epiktets Verhältnis zu Chrysipp und was er über Epikurs Vielschreiberei sagt; dann Musons Äusserung fl. 56, 18: Die Philosophie brauche nur wenig Lehren und Beweise, aber diese müssten treffend und schlagend sein); die Überlieferung ihrer Lehren verdanken wir ihren Schülern Lucius-Pollio bezw. Arrian. Musons Vorträge sind wie manchmal auch die Erörterungen Epiktets zum teil Gelegenheitsgespräche, dann überhaupt Moralpredigten in freierer, nicht wissenschaftlich streng gebundener Form, aber eindringlich und wirkungsvoll; doch ist im Beweisen Muson systematischer und klarer, übersichtlicher als Epiktet, bei dem der Zusammenhang oft recht lose ist ; Muson disponiert gerne, gliedert und stellt gegenüber und begründet das Einzelne (cf. fl. 6, 23). Der Stil ist bei beiden einfach, natürlich, nicht gekünstelt, klar und kräftig, jedoch bei Epiktet um vieles wuchtiger, energischer wie die ganze Persönlichkeit: strömt Musons Rede breit und ruhig dahin wie ein Strom in der Ebene, geordnet und gelassen, so glauben wir bei Epiktets Worten das Dröhnen und Rauschen eines reissenden Gebirgsflusses zu vernehmen, der alles mitfortziehen will; wir fühlen auch, dass Epiktet seine [50] Muttersprache spricht, während Musons ¹) griechische Diktion den römischen Ursprung des Autors verrät. Reichlich verwendet Epiktet die rhetorische Frage, das vorzüglichste Mittel, den Hörer zu fassen, zu bannen und seine Aufmerksamkeit zu fesseln, und auch Muson zeigt in einigen Fragmenten (fl. 1, 209; 29, 78; 40, 9 u. a.) eine leichte Vorliebe dafür; damit wird zugleich dem Ganzen eine dialogische Färbung verliehen. Eigentliche Dialoge aber sind Epiktets Gespräche so wenig wie die Musons: die Rolle des Partners beschränkt sich auf gelegentliche Zwischenfragen und kurze, seltene Antworten; doch tritt bei Muson die Person des Berichteratatters (Lucius) mehr hervor, da er mehr vom eigenen Standpunkt aus referiert, während Arrian als Referent vollständig zurücktritt; dort haben wir ein Referat, hier den Vortrag selbst. Indes nimmt bei Epiktet „das Schattenspiel des Dialogs” (Hirzel ?) der fingierte Dialog eine bedeutsame Stelle ein: eine zusammenhängende Erörterung wird plötzlich unterbrochen, eine angesprochene, gedachte Person antwortet, in schnellem Wechsel folgt Rede und Gegenrede, oder es führen zwei fingierte Personen eine lebhafte, kurze Wechselrede; das ist bei Epiktet originell und verleiht den Diatriben geradezu dramatischen Charakter und trägt im Verein mit den häufigen Citaten aus Dichtern und Philosophen, wie sie schon Chrysipp geliebt hatte, den vielen Beispielen und Gleichnissen aus den verschiedensten Gebieten des menschlichen Lebens und der Natur nicht wenig dazu bei, die Diatriben, zu einer frisch bewegten, spannenden Lektüre zu machen. ²) Auch Muson scheint gerne (cf. fl. 56, 18; 40, 9) citiert und ethische Vorgänge nach Sokrates' Vorgang mit Bildern aus dem alltäglichen Leben veranschaulicht zu haben. Den beliebten Vergleich (Zeller III, 1³ p. 733 A. 2) der Philosophie mit der Heilkunde, des Philosophen mit dem Arzte hatte schon Antisthenes (Diog. L. 6, 4; 6) gemacht; von ihm entlehnen ihn die Stoiker (wie Seneka) und Akademiker (wie Philo), und gleich seinem Lehrmeister sagt Epiktet 3, 23, 30: (griechText n55). -
¹) Auffallend ist der häufige Gebrauch des Potentialis bei Behauptungen, die Ton und Nachdruck haben und ethische Forderungen enthalten.
²) All das geht auf den sermo Bioneus zurück, der in der stoisch-kynischen Diatribe längst heimisch geworden war, und von Teles, Horaz, Seneka, Plutarch, Muson, Epiktet und anderen teils mit Absicht, teils unbewusst nachgeahmt wird. Cf. Weber, de Senecae philosophi dicendi genere Bioneo, Marburg 1895.


[51]

Den Schluss des Vergleiches beider Philosophen mögen noch einige Parallelen aus ihrer sittlichen Unterrichtspädagogik bilden :

Theorie und Praxis wollen beide nach Möglichkeit verbinden; beides soll Hand in Hand gehen, zunächst in der Schule ((griechText n56) 1, 11, 39), dann im Leben; der Weg aber, der einzuschlagen ist, um Sittlichkeit zu gewinnen, führt (2, 9, 13) durch die (griechText n56) (theoretisches Studium), (griechText n56) (beständige innere Verarbeitung des Gelernten, Bonhöffer II, 147) und (griechText n56) (praktische Übung); ähnlich Muson fl. 29, 78: (griechText n56) (hier Zweiteilung, wie auch Epiktet (griechText n56) und (griechText n56) zusammenfasst). So hatte, wenigstens in Bezug auf Tapferkeit, auch Sokrates (Xen. mem. 3, 9, 3) schon gesagt: (griechText n56).

Zur ständigen Übung gehört auch gespannte moralische Achtsamheit auf sich selbst ((griechText n56)); was Muson bei Gellius (18, 2, 1) sagt: remitiere animum quasi amittere est, berührt sich, ethisch genommen, mit Epiktet (4, 12, 1): (griechText n56). Ein weiteres wichtiges Mittel zur Gewinnung moralischer Kraft sieht Epiktet darin, einer schlechten Gewohnheit sogleich die entgegengesetzte entgegenzustellen (diss. 3, 12, 6), durchs gegenteilige Extrem die Macht der ersteren zu brechen; ähnlich spricht Muson 11. 29, 78 davon, dass die sittliche Arbeit an sich selbst um so energischer sein müsse, je grösser die Verderbnis und Schlechtigkeit war, in der man stak.

Es gehört zur Protreptik, neben Erregung der Reue dem Hörer Mut und Selbstvertrauen einzuflössen; dazu ist nichts geeigneter als der Hinweis auf die Treflflichkeit unserer Natur, der wir nur zu folgen brauchen, um selbst gut zu werden und so unseren Zweck zu erfüllen. Das war stoischer Grundsatz, und beide Philosophen betonen daher die Güte der Natur und den Wert des Naturgemässen. Eine Anlage zur Tugend, sagt Muson ecl. 2, 426, hat uns die Natur mitgegeben, (griechText n56) und Epiktet weist darauf hin (Bonhöffer H, 128 ff.), dass die Keime aller Tugenden im Menschen liegen, sie brauchen nur geweckt und gepflegt werden. Und doch sind andererseits die Grade der den Menschen mitgegebenen Anlagen wieder verschieden: beide Stoiker scheiden selbst unter ihren Schülern trefflicher und stumpfer veranlagte Naturen (Epiktet 3, 6, 9: (griechText n56) [52] und (griechText n57), Muson ed. 2, 31, 125 : (griechText n57)); Epiktet meint, die gut gearteten wagen sich um so mehr an die Philosophie, je mehr man ihnen abrate, und gedenkt dabei Musons, der den Besseren absichtlich Schwierigkeiten in den Weg legte, um sie um so gewisser für sich zu gewinnen, und Muson selbst spricht a. a. O. von der vereinfachten Unterrichtsführung solchen Schülern gegenüber, während die von Gewohnheit und Natur weniger guten mehr Beweise and grösserer Bemühung bedürften.

Konsequenter sind sie in der Forderung des Naturgemässen. Hier gehen sie sogar ins Kleinliche, wenn sie mit feierlichem Ernste ¹) gegen das Rasieren eifern und für den Bartwuchs eintreten (Epiktet 1, 16, 10 f.; Muson 11. 6, 62); doch betonen beide auch hier wieder das ethische Moment. Nicht übel bemerkt Epiktet: „Schied nicht durch die Barthaare die Natur Mann und Weib'; Ruft nicht schon von weitem bei jedem von uns die Natur: ,ich bin ein Mann; begegne mir so, sprich mit mir so and suche nichts anderes, siehe das Merkmal!' den Frauen hinwiederum versagte sie den Bart, wie sie auch in ihre Stimme etwas Weicheres legte.” ²)

Zur Schätzung der Logik war Epiktet durch Muson bekehrt worden, und beide übten sie in der Schule, doch lassen Stellen wie 1, 7, 30 und 1, 8, 4 erkennen, dass Epiktet wenig Zeit und die Schüler keine grosse Lust zu solchen Übungen hatten; er beschränkte solchen Unterricht wohl auf ältere Schüler und suchte ihn mit der Ethik möglichst zu verbinden.

Seite 52 beschädigt

Das Letztere gilt auch von den Lehren der Physik, von denen Epiktet gerne diejenigen Fragen auseinandersetzt, die seine Ethik zu stützen geeignet sind, ³) so die Lehre von der göttlichen Weltregierung und der unabänderlichen Notwendigkeit alles Seins und Geschehens, der Einheit des Weltganzen, woraus sich der innige Zusammenhang des Irdischen mit dem Himmlischen ergebe, der bevorzugten Stellung des Menschen gegenüber dem Tiere, der Präponderanz der Seele gegenüber dem Leibe. In diesem Sinne citiert er auch eine längere Auslassung Musons (fr. 134 Schwgh.).


(Die Seite 52 ist erheblich beschädigt und z.T. unleserlich.)
¹) S.vh ( 'lirjsiyps Rfispiul (Zeücr III, P p. 270 A. 1)
²) II'- \\”(ntiT(!ii ^'chniuclit hier Epiktet die gleichen Ausdrücke wie Musun .B.at'f'f>”'-” ml ii lIIlü Vergleich mit dem Hahnenkamm und der Löwenmähne.
³) rms liL Welt entstanden ist ist dagegen Epiktet gleich) \\i 1 li bokratcs silian dciartige naturphilosophii^lir hnt I tt ( t Vn Mim 1 1 11).

[53]
die vom Weltlauf und Wechsel der Dinge handelt, und meint, der Weise werde aus Einsicht freiwillig alle Notwendigkeiten auf sich nehmen und so sein Leben harmonisch und massvoll gestalten.
Der Pietismus ihrer Ethik und ihre Toleranz lässt beide Stoiker auch (wie überhaupt die Stoa) der Volksreligion Anerkennung zollen trotz ihres monistischen Theismus. -
Wie erwähntes Fragment 134 (Schwgh.) so ist noch ein anderes aus einem verlorenen Gespräche Epiktets (griechText n58) nach Stobäus' Angabe stammendes Bruchstück Musonischer Philosophie, fr. 169 Schwgh., von grösster Bedeutung; denn es enthält nach Zellers Wort (III, 1³ p. 735) den leitenden Gedanken bei Muson, die innere Freiheit des Menschen, die an zwei Bedingungen geknüpft ist: die richtige Behandlung dessen, was in unserer Gewalt ist, und die Ergebung in das, was nicht in unserer Gewalt. „Gott gab,” sagt Muson a. a. O., „in unsere Macht das Herrlichste und Bedeutendste, wodurch er selbst selig ist, den Gebrauch der Vorstellungen (ebenso Epiktet selbst 1, 1, 7). Das ist bei richtigem Gebrauch die Freiheit, die Seelenruhe, eine wohlgemute, standhafte Gesinnung, des weiteren Recht, Gesetz, Mass, kurz jede Tugend. Alles andere hat Gott uns nicht in die Gewalt gegeben. Also müssen auch wir mit Gott eines Willens werden und, auf solche Weise die Dinge scheidend, das, was in unserer Macht ist, auf alle Art erstreben, das andere dem Weltganzen überlassen und willig hingeben, was es fordert, ob Kinder oder Heimat oder Leib.” Die fundamentale Scheidung geht, wie oben erwähnt, auf Antisthenes zurück. Es ist nun auffallend, dass die Lucius-Fragmente diese Scheidung gar nicht, das Wort (griechText n58) aber so selten erwähnen; vielmehr sind Besonnenheit und Mässigung dort die Hauptbegriffe, um die sich alles gruppiert. Das ganze Fragment hat Epitektisches Gepräge ((griechText n58) gerne von Epiktet gebraucht, siehe ferner die Fülle der Ausdrücke), und Epiktets ganze praktische Ethik läuft in diese scharfe Teilung aus und besteht eigentlich nur in den Konsequenzen daraus : man kann nach seiner Überzeugung diese Scheidung nicht genügend beherzigen, und in der Praxis kann nicht fehlen, wer sich der Bedeutung, des Sinnes derselben bewusst ist; die Überschrift zweier Kapitel 1, 1 und 3, 24 beziehen sich darauf, und der Gedanke selbst zieht sich (neben einem anderen Einteilungsprinzip, den drei formalen Stufen der sittlichen Schulung; (griechText n58) wie ein roter Faden durch all seine Ausführungen; seine [54] Anweisungen fürs rechte Verhalten im Leben gipfeln immer wieder in dem Hinweis aufs Eigene und Fremde (cf. 4, 12, 15). Ich möchte daher bezweifeln, ob dieser ethische Dualismus auch bei Muson der führende Gedanke ist, und aus Form und Inhalt eher schliessen, dass in Rede stehendes Fragment rein Epiktetisches Gut ist; die Form ist ja gewiss von geringerer Bedeutung, weil Epiktet selbst referiert; aber ich meine, es müsste sich doch irgend eine deutlichere Spur Musonischer Art und Weise nachweisen und eine grössere Übereinstimmung mit den übrigen so zahlreichen und ausführlichen Musonius-Fragmenten aufzeigen lassen, wenn wirklich unsere Stelle auf ihn zurückginge; sein Name mag also durch Zufall oder Irrtum¹) an die Spitze des Lemmas gekommen sein, ob er berechtigt ist, darf nach dem Ausgeführten wohl in Frage gezogen werden.


¹) Es ist zu bemerken, dass nur der Kodex Farnesinus (Neapolitanus) das Lemma auf dem Rande hat (siehe Ausg. v. Schenkl p. 406).







ENDE des Buches

„Epiktet und seine Ideale”
von Robert Renner

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Erstellt am 05.04.2011 - Letzte Änderung am 06.04.2011.