Auszüge aus:

Max Stirner

Der Einzige und sein Eigentum

Ich hab' mein' Sach' auf Nichts gestellt

Was soll nicht alles meine Sache sein! Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache der Menschheit, der Wahrheit, der Freiheit, der Humanität, der Gerechtigkeit; ferner die Sache meines Volkes, meines Fürsten, meines Vaterlandes; endlich gar die Sache des Geistes und tausend andere Sachen. Nur meine Sache soll niemals meine Sache sein. »Pfui über den Egoisten, der nur an sich denkt!«

Sehen wir denn zu, wie diejenigen es mit ihrer Sache machen, für deren Sache wir arbeiten, uns hingeben und begeistern sollen.

Ihr wißt von Gott viel Gründliches zu verkünden und habt jahrtausendelang »die Tiefen der Gottheit erforscht« und ihr ins Herz geschaut, so daß ihr uns wohl sagen könnt, wie Gott die »Sache Gottes«, der wir zu dienen berufen sind, selber betreibt. Und ihr verhehlt es auch nicht, das Treiben des Herrn. Was ist nun seine Sache? Hat er, wie es uns zugemutet wird, eine fremde Sache? Hat er die Sache der Wahrheit, der Liebe zur seinigen gemacht? Euch empört dies Mißverständnis und ihr belehrt uns, daß Gottes Sache allerdings die Sache der Wahrheit und Liebe sei, daß aber diese Sache keine ihm fremde genannt werden könne, weil Gott ja selbst die Wahrheit und Liebe sei; euch empört die Annahme, daß Gott uns armen Würmern gleichen könnte, indem er eine fremde Sache als eigene beförderte. »Gott sollte der Sache der Wahrheit sich annehmen, wenn er nicht selbst die Wahrheit wäre«? Er sorgt nur für seine Sache, aber weil er alles in allem ist, darum ist auch alles seine Sache; wir aber, wir sind nicht alles in allem, und unsere Sache ist gar klein und verächtlich; darum müssen wir einer »höheren Sache dienen«. - Nun, es ist klar, Gott bekümmert sich nur ums Seine, beschäftigt sich nur mit sich, denkt nur an sich und hat sich im Auge; wehe allem, was ihm nicht wohlgefällig ist. Er dient keinem Höheren und befriedigt nur sich. Seine Sache ist eine - rein egoistische Sache.

Wie steht es mit Menschheit, deren Sache wir zur unsrigen machen sollen? Ist ihre Sache etwa die eines andern und dient die Menschheit einer höheren Sache? Nein, die Menschheit sieht nur auf sich, die Menschheit will nur die Menschheit fördern, die Menschheit ist sich selber ihre Sache. Damit sie sich entwickle, läßt sie Völker und Individuen in ihrem Dienst sich abquälen, und wenn diese geleistet haben, was die Menschheit braucht, dann werden sie von ihr aus Dankbarkeit auf den Mist der Geschichte geworfen. Ist die Sache der Menschheit nicht eine - rein egoistische Sache?

Ich brauche gar nicht an jedem, der seine Sache uns zuschieben möchte, zu zeigen, daß es ihm nur um sich, nicht um uns, nur um sein Wohl, nicht um das unsere zu tun ist. Seht euch die übrigen nur an. Begehrt die Wahrheit, die Freiheit, die Humanität, die Gerechtigkeit etwas anderes, als daß ihr euch enthusiasmiert und ihnen dient?

Sie stehen sich alle ausnehmend gut dabei, wenn ihnen pflichteifrigst gehuldigt wird. Betrachtet einmal das Volk, das von ergebenen Patrioten geschützt wird. Die Patrioten fallen im blutigen Kampfe oder im Kampfe mit Hunger und Not; was fragt das Volk danach? Das Volk wird durch den Dünger ihrer Leichen ein »blühendes Volk«! Die Individuen sind »für die große Sache des Volks« gestorben, und das Volk schickt ihnen einige Worte des Dankes nach und - hat den Profit davon. Das nenn' ich mir einen einträglichen Egoismus.

Aber seht doch jenen Sultan an, der für »die Seinen« so liebreich sorgt. Ist er nicht die pure Uneigennützigkeit selber und opfert er sich nicht stündlich für die Seinen? Ja wohl, für »die Seinen« Vesuch' es einmal und zeige dich nicht als der Seine, sondern als der Deine: Du wirst dafür, daß du seinem Egoismus dich entzogst, in den Kerker wandern. Der Sultan hat seine Sache auf nichts, als auf sich gestellt: er ist sich alles in allem, ist sich der Einzige und duldet keinen, der es wagte, nicht einer der »Seinen« zu sein.

Und an diesen glänzenden Beispielen wollt ihr nicht lernen, daß der Egoist am besten fährt? Ich meinesteils nehme mir eine Lehre daran und will, statt jenen großen Egoisten ferner uneigennützig zu dienen, lieber selber der Egoist sein. Gott und die Menschheit haben ihre Sache auf nichts gestellt, auf nichts als auf sich. Stelle ich denn meine Sache gleichfalls auf mich, der ich so gut wie Gott das Nichts von allem andern, der ich mein alles, der ich der Einzige bin.

Hat Gott, hat die Menschheit, wie ihr versichert, Gehalt genug in sich, um sich alles in allem zu sein: so spüre ich, daß es mir noch weit weniger daran fehlen wird, und daß ich über meine »Leerheit« keine Klage zu fuhren haben werde. Ich bin nicht Nichts im Sinne der Leerheit, sondern das schöpferische Nichts, das Nichts, aus welchem ich selbst als Schöpfer alles schaffe.

Fort denn mit jener Sache, die nicht ganz und gar meine Sache ist! Ihr meint, meine Sache müsse wenigstens die »gute Sache« sein? Was gut, was böse! Ich bin ja selber meine Sache, und ich bin weder gut noch böse. Beides hat für mich keinen Sinn.

Das Göttliche ist Gottes Sache, das Menschliche Sache »des Menschen«. Meine Sache ist weder das Göttliche noch das Menschliche, ist nicht das Wahre, Gute, Rechte, Freie usw., sondern allein das Meinige, und sie ist keine allgemeine, sondern ist - einzig, wie ich einzig bin.

Mir geht nichts über mich!

[Stirner: Der Einzige und sein Eigentum, S. 12-14]

§ 2. Der soziale Liberalismus

Wir sind freigeborene Menschen, und wohin wir blicken, sehen wir uns zu Dienern von Egoisten gemacht! Sollen wir darum auch Egoisten werden? Bewahre der Himmel, wir wollen lieber die Egoisten unmöglich machen! Wir wollen sie alle zu »Lumpen« machen, wollen alle nichts haben, damit »alle« haben. -

So die Sozialen. -
Wer ist diese Person, die ihr »alle« nennt? - Es ist die »Gesellschaft«! - Ist sie denn aber leibhaftig? - Wir sind ihr Leib! - Ihr? Ihr seid ja selbst kein Leib; - du zwar bist leibhaftig, auch du und du, aber ihr zusammen seid nur Leiber, kein Leib. Mithin hätte die einige Gesellschaft zwar Leiber zu ihrem Dienste, aber keinen einigen und eigenen Leib. Sie wird eben, wie die »Nation« der Politiker, nichts als ein »Geist« sein, der Leib an ihm nur Schein.

Die Freiheit des Menschen ist im politischen Liberalismus die Freiheil von Personen, von persönlicher Herrschaft, vom Herrn: Sicherung jeder einzelnen Person gegen andere Personen, persönliche Freiheit.

Es hat keiner etwas zu befehlen, das Gesetz allein befiehlt.

Aber sind die Personen auch gleich geworden, so doch nicht ihr Besitztum. Und doch braucht der Arme den Reichen, der Reiche den Armen, jener das Geld des Reichen, dieser die Arbeit des Armen. Also es braucht keiner den andern als Person, aber er braucht ihn als Gebenden, mithin als einen, der etwas zu geben hat, als Inhaber oder Besitzer. Was er also hat, das macht den Mann. Und im Haben oder an »Habe« sind die Leute ungleich.

Folglich, so schließt der soziale Liberalismus, muß keiner haben, wie dem politischen Liberalismus zufolge keiner befehlen sollte, d.h. wie hier der Staat allein den Befehl erhielt, so nun die Gesellschaft allein die Habe.

Indem nämlich der Staat eines jeden Person und Eigentum gegen den andern schützt, trennt er sie voneinander: Jeder ist sein Teil für sich und hat sein Teil für sich. Wem genügt, was er ist und hat, der findet bei diesem Stande der Dinge seine Rechnung; wer aber mehr sein und haben möchte, der sieht sich nach diesem Mehr um und findet es in der Gewalt anderer Personen. Hier gerät er auf einen Widerspruch: als Person steht keiner dem andern nach, und doch hat die eine Person, was die andere nicht hat, aber haben möchte. Also, schließt er daraus, ist doch die eine Person mehr als die andere, denn jene hat, was sie braucht, diese hat es nicht, jene ist ein Reicher, diese ein Armer.

Sollen wir, fragt er sich nunmehr weiter, wieder aufleben lassen, was wir mit Recht begruben, sollen wir diese auf einem Umwege wiederhergestellte Ungleichheit der Personen gelten lassen? Nein, wir müssen im Gegenteil, was nur halb vollbracht war, ganz zu Ende führen Unserer Freiheit von der Person des andern fehlt noch die Freiheit von dem, worüber die Person des andern gebieten kann, von dem, was sie in ihrer persönlichen Macht hat, kurz von dem »persönlichen Eigentum«. Schaffen wir also das persönliche Eigentum ab. Keiner habe mehr etwas, jeder sei ein - Lump. Das Eigentum sei unpersönlich, es gehöre der - Gesellschaft.

Vor dem höchsten Gebieter, dem alleinigen Befehlshaber, waren wir alle gleich geworden, gleiche Personen, d.h. Nullen.

Vor dem höchsten Eigentümer werden wir alle gleiche - Lumpe. Für jetzt ist noch einer in der Schätzung des andern ein »Lump«, »Habenichts«; dann aber hört diese Schätzung auf, wir sind allzumal Lumpe, und als Gesamtmasse der kommunistischen Gesellschaft könnten wir uns »Lumpengesindel« nennen.

Wenn der Proletarier seine beabsichtigte »Gesellschaft«, worin der Abstand von Reich und Arm beseitigt werden soll, wirklich gegründet haben wird, dann ist er Lump, denn er weiß sich dann etwas damit, Lump zu sein, und könnte »Lump« so gut zu einer ehrenden Anrede erheben, wie die Revolution das Wort »Bürger« dazu erhob. Lump ist sein Ideal, Lumpe sollen wir alle werden.

Dies ist im Interesse der »Menschlichkeit« der zweite Raub am »Persönlichen«. Man läßt dem einzelnen weder Befehl noch Eigentum; jenen nahm der Staat, dieses die Gesellschaft.

Weil in der Gesellschaft sich die drückendsten Übelstände bemerkbar machen, so denken besonders die Gedrückten, also die Glieder aus den unteren Regionen der Sozietät, die Schuld in der Gesellschaft zu finden, und machen sich's zur Aufgabe, die rechte Gesellschaft zu entdecken. Es ist das nur die alte Erscheinung, daß man die Schuld zuerst in allem anderen als in sich sucht; also im Staate, in der Selbstsucht der Reichen usw., die doch gerade unserer Schuld ihr Dasein verdanken.

Die Reflexionen und Schlüsse des Kommunismus sehen sehr einfach aus. Wie die Sachen dermalen liegen, also unter den jetzigen Staatsverhältnissen, stehen die einen gegen die andern, und zwar die Mehrzahl gegen die Minderzahl im Nachteil. Bei diesem Stande der Dinge befinden sich jene im Wohlstande, diese im Notstande. Daher muß der gegenwärtige Stand der Dinge, d.i. der Staat (Status = Stand) abgeschafft werden. Und was an seine Stelle? Statt des vereinzelten Wohlstandes - ein allgemeiner Wohlstand, ein Wohlstand aller.
...

[Stirner: Der Einzige und sein Eigentum, S. 138-141]

§ 3. Der humane Liberalismus (Auszug)

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Weil dem humanen Liberalismus Staat und Gesellschaft nicht genügt, negiert er beide und behält sie zugleich. So heißt es einmal, die Aufgabe der Zeit sei »keine politische, sondern eine soziale«, und dann wird wieder für die Zukunft der »freie Staat« verheißen. In Wahrheit ist die »menschliche Gesellschaft« eben beides, der allgemeinste Staat und die allgemeinste Gesellschaft. Nur gegen den beschränkten Staat wird behauptet, er mache zu viel Aufhebens von geistigen Privatinteressen (z.B. dem religiösen Glauben der Leute), und gegen die beschränkte Gesellschaft, sie mache zu viel aus den materiellen Privatinteressen. Beide sollen die Privatinteressen den Privatleuten überlassen und sich als menschliche Gesellschaft allein um die allgemein menschlichen Interessen bekümmern.

Indem die Politiker den eigenen Willen, Eigenwillen oder Willkür abzuschaffen gedachten, bemerkten sie nicht, daß durch das Eigentum der Eigenwille eine sichere Zufluchtsstätte erhielt.

Indem die Sozialisten auch das Eigentum wegnehmen, beachten sie nicht, daß dieses sich in der Eigenheit eine Fortdauer sichert. Ist denn bloß Geld und Gut ein Eigentum, oder ist jede Meinung ein Mein, ein Eigenes?

Es muß also jede Meinung aufgehoben oder unpersönlich gemacht werden. Der Person gebührt keine Meinung, sondern wie der Eigenwille auf den Staat, das Eigentum auf die Gesellschaft übertragen wurde, so muß die Meinung auch auf ein Allgemeines, »den Menschen«, übertragen und dadurch allgemein menschliche Meinung werden.

Bleibt die Meinung bestehen, so habe ich meinen Gott (Gott ist ja nur als »mein Gott«, ist eine Meinung oder mein »Glaube«); also meinen Glauben, meine Religion, meine Gedanken, meine Ideale. Darum muß ein allgemein menschlicher Glaube entstehen, der »Fanatismus der Freiheit«. Dies wäre nämlich ein Glaube, welcher mit dem »Wesen des Menschen« übereinstimmte, und weil nur »der Mensch« vernünftig ist (ich und du könnten sehr unvernünftig sein!), ein vernünftiger Glaube.
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[Stirner: Der Einzige und sein Eigentum, S. 152/153]

[Wandlungen des Liberalismus]

(So verläuft der) [Der] Liberalismus [verläuft] in folgenden Wandlungen:

Erstens: Der einzelne ist nicht der Mensch, darum gilt seine einzelne Persönlichkeit nichts: kein persönlicher Wille, keine Willkür, ein Befehl oder Ordonnanze!

Zweitens: Der einzelne hat nichts Menschliches, darum gilt kein Mein und Dein oder Eigentum.

Drittens: Da der einzelne weder Mensch ist noch Menschliches hat, so soll er überhaupt nicht sein, soll als ein Egoist mit seinem Egoistischen durch die Kritik vernichtet werden, um dem Menschen, »dem jetzt erst gefundenen Menschen« Platz zu machen.

[Stirner: Der Einzige und sein Eigentum, S. 162]

[Über den Liberalismus zum Selbst]

Der politische Liberalismus hob die Ungleichheit der Herren und Diener auf, er machte herrenlos, anarchisch. Der Herr wurde nun vom einzelnen, dem »Egoisten« entfernt, um ein Gespenst zu werden: das Gesetz oder der Staat. Der soziale Liberalismus hebt die Ungleichheit des Besitzes, der Armen und Reichen auf, und macht besitzlos oder eigentumslos. Das Eigentum wird dem einzelnen entzogen und der gespenstischen Gesellschaft überantwortet. Der humane Liberalismus macht gottlos, atheistisch. Deshalb muß der Gott des einzelnen, »mein Gott«, abgeschafft werden. Nun ist zwar die Herrenlosigkeit zugleich Dienstlosigkeit, Besitzlosigkeit zugleich Sorglosigkeit, und Gottlosigkeit zugleich Vorurteilslosigkeit, denn mit dem Herrn fällt der Diener weg, mit dem Besitz die Sorge um ihn, mit dem festgewurzelten Gott das Vorurteil; da aber der Herr als Staat wieder aufersteht, so erscheint der Diener als Untertan wieder, da der Besitz zum Eigentum der Gesellschaft wird, so erzeugt sich die Sorge von neuem als Arbeit, und da der Gott als Mensch zum Vorurteil wird, so ersteht ein neuer Glaube, der Glaube an die Menschheit oder Freiheit. Für den Gott des einzelnen ist nun der Gott aller, nämlich »der Mensch« erhöht worden: »es ist ja unser aller Höchstes, Mensch zu sein«. Da aber niemand ganz das werden kann, was die Idee »Mensch« besagt, so bleibt der Mensch dem einzelnen ein erhabenes Jenseits, ein unerreichtes höchstes Wesen, ein Gott. Zugleich aber ist dies der »wahre Gott«, weil er uns völlig adäquat, nämlich unser eigenes »Selbst« ist: wir selbst, aber von uns getrennt und über uns erhaben.

[Stirner: Der Einzige und sein Eigentum, S. 169/170]

[Eure Stimme]

Warum wollt ihr nun den Mut nicht fassen, euch wirklich ganz und gar zum Mittelpunkt und zur Hauptsache zu machen? Warum nach der Freiheit schnappen, eurem Traume? Seid ihr euer Traum? Fragt nicht erst bei euren Träumen, euren Vorstellungen, euren Gedanken an, denn das ist alles »hohle Theorie«. Fragt euch und fragt nach euch - das ist praktisch, und ihr wollt ja gerne »praktisch« sein. Da lauscht aber der eine, was wohl sein Gott (natürlich das, was er sich bei dem Namen Gott denkt, ist sein Gott) dazu sagen wird, und ein anderer, was wohl sein sittliches Gefühl, ein Gewissen, ein Pflichtgefühl, darüber bestimmte, und ein Dritter berechnet, was die Leute davon denken werden, - und wenn so jeder seinen Herrgott (die Leute sind ein ebenso guter, ja noch kompakterer Herrgott als der jenseitige und eingebildete: vox populi, vox dei) gefragt hat, dann schickt er sich in den Willen seines Herrn und hört gar nicht mehr darauf: was er selber gerne sagen und beschließen möchte.

[Stirner: Der Einzige und sein Eigentum, S. 189-190)]

III. Der Einzige

Vorchristliche und christliche Zeiten verfolgen ein entgegengesetztes Ziel; jene will das Reale idealisieren, diese das Ideale realisieren, jene sucht den »heiligen Geist«, diese den »verklärten Leib«. Daher schließt jene mit der Unempfindlichkeit gegen das Reale, mit der »Weltverachtung«; diese wird mit der Abwertung des Idealen, mit der »Geistesverachtung« enden.

Der Gegensatz des Realen und Idealen ist ein unversöhnlicher, und es kann das eine niemals das andere werden: würde das Ideale zum Realen, so wäre es eben nicht mehr das Ideale, und würde das Reale zum Idealen, so wäre allein das Ideale, das Reale aber gar nicht. Der Gegensatz beider Ist nicht anders zu überwinden, als wenn man beide vernichtet. Nur in diesem »man«, dem Dritten, findet der Gegensatz sein Ende; sonst aber decken Idee und Realität sich nimmermehr. Die Idee kann nicht so realisiert werden, daß sie Idee bliebe, sondern nur, wenn sie als Idee stirbt, und ebenso verhält es sich mit dem Realen.

Nun haben wir an den Alten Anhänger der Idee, an den Neuen Anhänger der Realität vor uns. Beide kommen von dem Gegensatze nicht los und schmachten nur, die einen nach dem Geiste, und als dieser Drang der alten Welt befriedigt und dieser Geist gekommen zu sein schien, die andern sogleich wieder nach der Verweltlichung dieses Geistes, die für immer ein »frommer Wunsch« bleiben muß.

Der fromme Wunsch der Alten war die Heiligkeit, der fromme Wunsch der Neuen ist die Leibhaftigkeit. Wie aber das Altertum untergehen mußte, wenn seine Sehnsucht befriedigt werden sollte (denn es bestand nur in der Sehnsucht), so kann es auch innerhalb des Ringens der Christlichkeit nimmermehr zur Leibhaftigkeit kommen. Wie der Zug der Heiligung oder Reinigung durch die alte Welt geht (die Waschungen usw.), so geht der der Verleiblichung durch die christliche: der Gott stürzt sich in diese Welt, wird Fleisch und will sie erlösen, d.h. mit sich erfüllen; da er aber »die Idee« oder »der Geist« ist, so führt man (z.B. Hegel) am Schlüsse die Idee in alles, in die Welt, ein und beweist, »daß die Idee, daß Vernunft in allem sei«. Dem, was die heidnischen Stoiker als »den Weisen« aufstellten, entspricht in der heutigen Bildung »der Mensch«, jener wie dieser ein - fleischloses Wesen. Der unwirkliche »Weise«, dieser leiblose »Heilige« der Stoiker, wurde eine wirkliche Person, ein leiblicher »Heiliger« in dem fleischgewordenen Gotte; der unwirkliche »Mensch«, das leiblose Ich, wird wirklich werden im leibhaftigen Ich, in mir.

Durch das Christentum schlingt sich die Frage nach dem »Dasein Gottes« hindurch, die, immer und immer wieder aufgenommen, Zeugnis dafür ablegt, daß der Drang nach dem Dasein, der Leibhaftigkeit, der Persönlichkeit, der Wirklichkeit, unaufhörlich das Gemüt beschäftigte, weil er niemals eine befriedigende Lösung fand. Endlich fiel die Frage nach dem Dasein Gottes, aber nur, um wieder aufzustehen in dem Satze, daß das »Göttliche« Dasein habe (Feuerbach). Aber auch dieses hat kein Dasein, und die letzte Zuflucht, daß das »rein Menschliche« realisierbar sei, wird auch nicht lange mehr Schutz gewähren. Keine Idee hat Dasein, denn keine ist der Leibhaftigkeit fähig. Der scholastische Streit des Realismus und Nominalismus hat denselben Inhalt; kurz, dieser spinnt sich durch die ganze christliche Geschichte hindurch und kann in ihr nicht enden.

Die Christenwelt arbeitet daran, die Ideen in den einzelnen Verhältnissen des Lebens, den Institutionen und Gesetzen der Kirche und des Staates zu realisieren; aber sie widerstreben und behalten immer etwas Unverkörpertes (Unrealisierbares) zurück. Rastlos geht es gleichwohl auf diese Verkörperung los, so sehr auch stets die Leibhaftigkeit ausbleibt.

Dem Realisierenden liegt nämlich wenig an den Realitäten, alles aber daran, daß dieselben Verwirklichungen der Idee seien; daher untersucht er stets von neuem, ob dem Verwirklichten in Wahrheit die Idee, sein Kern, innewohne, und indem er das Wirkliche prüft, prüft er zugleich die Idee, ob sie so, wie er sie denkt, realisierbar sei oder von ihm nur unrichtig und deshalb unausführbar gedacht werde.

Als Existenzen sollen den Christen Familie, Staat usw. nicht mehr kümmern; nicht, wie die Alten, sollen die Christen für diese »göttlichen Dinge« sich opfern, sondern dieselben sollen nur benutzt werden, um in ihnen den Geist lebendig zu machen. Die wirkliche Familie ist gleichgültig geworden, und eine ideale, die dann die »wahrhaft reale« wäre, soll aus ihr entstehen, eine heilige, von Gott gesegnete, oder, nach liberaler Denkweise, eine »vernünftige«. Bei den Alten ist Familie, Staat, Vaterland usw. als ein Vorhandenes göttlich; bei den Neuen erwartet es erst die Göttlichkeit, ist als Vorhandenes nur sündhaft, irdisch, und muß erst »erlöst«, d.h. wahrhaft real werden. Das hat folgenden Sinn: Nicht die Familie usw. ist das Vorhandene und Reale, sondern das Göttliche, die Idee, ist vorhanden und wirklich; ob diese Familie durch Aufnahme des wahrhaft Wirklichen, der Idee, sich wirklich machen werde, steht noch dahin. Es ist nicht Aufgabe des einzelnen, der Familie als dem Göttlichen zu dienen, sondern umgekehrt, dem Göttlichen zu dienen und die noch ungöttliche Familie ihm zuzuführen, d.h. im Namen der Idee alles zu unterwerfen, das Panier der Idee überall aufzupflanzen, die Idee zu realer Wirksamkeit zu bringen.

Da es aber dem Christentum wie dem Altertum ums Göttliche zu tun ist, so kommen sie auf entgegengesetzten Wegen stets wieder darauf hinaus. Am Ende des Heidentums wird das Göttliche zum Außerweltlichen, am Ende des Christentums zum Innerweltlichen. Es ganz außerhalb der Welt zu setzen, gelingt dem Altertum nicht, und als das Christentum diese Aufgabe vollbringt, da sehnt sich augenblicklich das Göttliche in die Welt zurück und will die Welt »erlösen«. Aber innerhalb des Christentums kommt und kann es nicht dazu kommen, daß das Göttliche als Innerweltliches wirklich das Weltliche selbst würde: es bleibt genug übrig, was als das »Schlechte«, Unvernünftige, Zufällige, »Egoistische«, als das im schlechten Sinne »Weltliche« undurchdrungen sich erhält und erhalten muß. Das Christentum beginnt damit, daß der Gott zum Menschen wird, und es treibt sein Bekehrungs- und Erlösungswerk alle Zeit hindurch, um dem Gotte in allen Menschen und allem Menschlichen Aufnahme zu bereiten und alles mit dem Geiste zu durchdringen: es bleibt dabei, für den »Geist« eine Stätte zu bereiten.

Wenn zuletzt auf den Menschen oder die Menschheit der Akzent gelegt wurde, so war es wieder die Idee, die man »ewig sprach«: »Der Mensch stirbt nicht! « Man meinte nun die Realität der Idee gefunden zu haben: Der Mensch ist das Ich der Geschichte, der Weltgeschichte; er, dieser Ideale, ist es, der sich wirklich entwickelt, d.h. realisiert. Er ist der wirklich Reale, Leibhaftige, denn die Geschichte ist sein Leib, woran die Einzelnen nur die Glieder sind. Christus ist das Ich der Weltgeschichte, sogar das der vorchristlichen; in der modernen Anschauung ist es der Mensch, das Christusbild hat sich zum Menschenbilde entwickelt: es ist der Mensch als solcher, der Mensch schlechthin der »Mittelpunkt« der Geschichte. In »dem Menschen« kehrt der imaginäre Anfang wieder; denn »der Mensch« ist so imaginär, als Christus es ist. »Der Mensch« als Ich der Weltgeschichte schließt den Zyklus christlicher Anschauungen.

Der Zauberkreis der Christlichkeit wäre gebrochen, wenn die Spannung zwischen Existenz und Beruf, d.h. zwischen mir, wie ich bin, und mir, wie ich sein soll, aufhörte; er besteht nur als die Sehnsucht der Idee nach ihrer Leiblichkeit und verschwindet mit der nachlassenden Trennung beider: nur wenn die Idee - Idee bleibt, wie ja der Mensch oder die Menschheit eine leiblose Idee ist, ist die Christlichkeit noch vorhanden. Die leibhaftige Idee, der leibhaftige oder »vollendete« Geist schwebt dem Christen vor als »das Ende der Tage«, oder als das »Ziel der Geschichte«; er ist ihm nicht Gegenwart.

Nur Teil haben kann der einzelne an der Stiftung des Gottesreiches, oder, nach moderner Vorstellung von derselben Sache, an der Entwicklung und Geschichte der Menschheit, und nur soweit er daran Teil hat, kommt ihm ein christlicher oder, nach modernem Ausdruck, menschlicher Wert zu, im übrigen ist er Staub und ein Madensack.

Daß der einzelne für sich eine Weltgeschichte ist und an der übrigen Weltgeschichte sein Eigentum besitzt, das geht übers Christliche hinaus. Dem Christen ist die Weltgeschichte das Höhere, weil sie die Geschichte Christi oder »des Menschen« ist; dem Egoisten hat nur seine Geschichte Wert, weil er nur sich entwickeln will, nicht die Menschheits-Idee, nicht den Plan Gottes, nicht die Absichten der Vorsehung, nicht die Freiheit u. dergl. Er sieht sich nicht für ein Werkzeug der Idee oder ein Gefäß Gottes an, er erkennt keinen Beruf an, er wähnt nicht, zur Fortentwicklung der Menschheit dazusein und sein Scherflein dazu beitragen zu müssen, sondern er lebt sich aus, unbesorgt darum, wie gut oder schlecht die Menschheit dabei fahre. Ließe es nicht das Mißverständnis zu, als sollte ein Naturzustand gepriesen werden, so könnte man an Lenaus »Drei Zigeuner« erinnern. - Was, bin ich dazu in der Welt, um Ideen zu realisieren? Um etwa zur Verwirklichung der Idee »Staat« durch mein Bürgertum das meinige zu tun, oder durch die Ehe, als Ehegatte und Vater, die Idee der Familie zu einem Dasein zu bringen? Was ficht mich ein solcher Beruf an! Ich lebe so wenig nach einem Berufe, als die Blume nach einem Berufe wächst und duftet.

Das Ideal »der Mensch« ist realisierbar, wenn die christliche Anschauung umschlägt in den Satz: »Ich, dieser Einzige, bin der Mensch«. Die Begriffsfrage: »was ist der Mensch?« - hat sich dann in die persönliche umgesetzt: »wer ist der Mensch?« Bei »was« suchte man den Begriff, um ihn zu realisieren; bei »wer« ist's überhaupt keine Frage mehr, sondern die Antwort im Fragenden gleich persönlich vorhanden: die Frage beantwortet sich von selbst.

Man sagt von Gott: »Namen nennen dich nicht«. Das gilt von mir: kein Begriff drückt mich aus, nichts, was man als mein Wesen angibt, erschöpft mich; es sind nur Namen. Gleichfalls sagt man von Gott, er sei vollkommen und habe keinen Beruf, nach Vollkommenheit zu streben. Auch das gilt allein von mir.

Eigner bin ich meiner Gewalt, und ich bin es dann, wenn ich mich als Einzigen weiß. Im Einzigen kehrt selbst der Eigner in sein schöpferisches Nichts zurück, aus welchem er geboren wird. Jedes höhere Wesen über mir, sei es Gott, sei es der Mensch, schwächt das Gefühl meiner Einzigkeit und erbleicht erst vor der Sonne dieses Bewußtseins. Stell' ich auf mich, den Einzigen, meine Sache, dann steht sie auf dem vergänglichen, dem sterblichen Schöpfer seiner, der sich selbst verzehrt, und ich darf sagen:

Ich hab' mein Sach' auf Nichts gestellt. [(Denn: Mir geht nichts über mich.)]

[Stirner: Der Einzige und sein Eigentum, S. 424 - 429]


Max Stirner (1806 - 1856)

1806
25. Oktober: Max Stirner wird als Johann Kaspar Schmidt in Bayreuth als Sohn eines Instrumentenmachers geboren.

1818
Stirner besucht das Gymnasium in Bayreuth.

1826
Er studiert Theologie und Philosophie in Berlin bei Marheineke, Hegel und Schleiermacher. Dann wechselt er nach Erlangen und Königsberg. In Berlin wirkt er als Journalist und Lehrer.

In der junghegelianischen Vereinigung »Die Freien« trifft Stirner u. a. mit Bruno Bauer und Friedrich Engels zusammen.

1844
»Der Einzige und sein Eigentum«. In dieser Publikation wird ein extremer Solipsismus vertreten: »Mir geht nichts über mich«.

1845
Stirner übersetzt Says »Lehrbuch der praktischen politischen Ökonomie« in vier Bänden und Adam Smiths »Untersuchungen über den Nationalreichtum«.

1852
»Geschichte der Reaktion« (2 Bde.).

1856
26. Juni: Max Stirner stirbt in Berlin.

Lektürehinweis:

J. H. Mackay, Max Stirner. Sein Leben und sein Werk, Berlin 1914 (3. Aufl.), Berlin 1977 (Nachdr.).

[Stirner: Der Einzige und sein Eigentum, Reclam, Zweite Auflage, 1927, 429 S.]

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