Wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen; alles war schon mal da. Wenn heute mittag vor dem Steglitzer Friedhof in der Bergstraße sich ältere Leute treffen, so haben sie sich am Grabe Karl Fischers verabredet. Dieser wurde heute vor hundert Jahren geboren zu Berlin und hatte (im November) vor 80 Jahren zu Steglitz bei Berlin im Ratskeller im Kreise von Gymnasiasten ein seit langem herumgetragenes Ei ausgebrütet, dem der "Wandervogel" entschlüpfte. Dieser Vorgang dürfte sich bei Fassbrause eher denn bei Bier abgespielt haben. Auf Karl Fischer, der 1941 starb, geht die Jugendbewegung unserer Väter und Großväter zurück, die das ganze Reich erfasste. Ihm hält ein Bund seines Namens, der "Älterenring der Jugendbewegung in Berlin« mit 200 meist weiblichen Mitgliedern gedanklich die Treue.
Fischer, damals ein Mulus (frisch gebackener Abiturient) hatte mit Pennälern im Ratskeller den "Ausschuss für Schülerfahrten Wandervogel " ausgerufen.
Hoher Meißner und "Nein danke"
Und - cum grano salis, bitte - was den Großvätern schier die heiße Brust unter weit offenem Hemd zu sprengen drohte, treibt auch die Enkel und Urenkel zu neuen Ufern ,alternativen Lebens".
Was den Alten als Symbol der Hohe Meißner war, ist den Jungen als Symbol die rote "Nein, danke"-Sonne, unter der sie sich aneinander wärmen.
Hatten die Alten zu ihrer Jugendzeit den Konventionen ihrer Eltern brüsk abgeschworen und gaben sich als Wandervögel ein jugendgemäßes "Gefieder", so kennen wir im Prinzip Gleiches bei den bewegten Enkeln dieser Tage.
Und wann immer Jugend zu neuen Ufern aufbrach, gab es dabei auch Knatsch über die einzuschlagenden Wege. Fischers Wandervögel gerieten alsbald untereinander und dann auch spätestens nach der Kriegszäsur mit anderen Jugendbewegungen in Konflikt Sie splitterte sich auf in ideologische Gruppierungen, seien sie nun "völkisch" (Bündische Jugend) ,seien sie religiös (Quickborn), sozialistisch (Falken) oder wie auch immer gewirkt.
"Wandervögel" vom Grabstein

Zurück zum Anlaß dieser Betrachtung, Karl Fischer. Den Bewegungsnamen "Wandervogel" haben sie von einem alten Grabstein, den für Kaethe Branco, Tochter von Helmholtz, zu besichtigen auf dem Friedhof der Dahlemer Dorfkirche, am Eingang gleich rechts:
"Wer hat euch Wandervögeln - Die Wissenschaft geschenkt, - Dass ihr auf Land und Meeren - Nie falsch den Flügel lenkt? Dass ihr die alte Palme - Im Süden wieder wählt, - Dass ihr die alten Linden - Im Norden nicht verfehlt!" Seither also Wandervögel.
Fischer notierte 1922, was ihn und seine Freunde einmal umgetrieben hatte: "Mich regten damals die vielen Ausreißereien auf. Waren die Ausreißer wirklich die Schlechtesten?" Ein Antrieb, die Nestflüchter in die "Horden" der Wandervögel aufzunehmen. Man sei jung, schrieb er, um zu erwachsen, aber "erwächst" denn einer, fragt er, "wenn man als Junge nach dem Maßstab der Erwachsenen gemodelt wird?" Nun habe er etwas zum Grübeln gehabt, was ihm wohl Zeit seines Lebens anhaftete.
"Vollblütig und mit Bärenkräften" sei er ausgestattet gewesen, und das Vollblut wollte "hinaus, etwas unternehmen, reisen". Lieber wollte er ein Prozent Wirklichkeit erleben, als hundert Prozent Traum: "Ich schwelgte in dem Gedanken an eine Schülerrepublik mit gleichgesinnten Jungen. Zwar wurde aus der "Schülerrepublik" ebenso wenig wie aus einer "Freien Schule: Grün-Rot-Gold", doch zu ausgedehnten Abenteurerwanderungen flogen die Vögel aus, und aus anderen Nestern des Reiches viele andere Wandervögel auch.
Sie schwelgten in der Freiheit von Erwachsenen-Bevormundung, gaben sich aber gleichwohl selbst eine stramme Struktur mit Horden-Führer, die ernannt wurden und gern gefügiger Horde. Sie hielten untereinander regen Briefkontakt, und überlieferte Schriftstücke zeigen uns rührend pubertierende Gedanken und Anhimmeleien. Die Jugend gärte auf der Flasche.
Der oberste "Bachant" in China
Fischer in Steglitz war der oberste "Pachant" oder "Bachant", was immer das bedeutete. Doch wohl nicht entlehnt etwa altrömischem Brauch der "Bacchus-Feste', die allemal ausschweifende Gelage waren. Sicher nicht.
Nach Berlin gaben jüngere Pachanten Berichte an Fischer, wie sie sich freiwillig und eisern Wind und Wetter in freier Natur ausgesetzt haben.
Der oberste Pachant strebte als Anfangssemester in Rechtswissenschaften nach China, vorher hatte er sinologische Kenntnisse sich angeeignet (Halle/Saale). In China dient er als Einjähriger in Tsing-tau in einem Seebataillon, war an einer chinesischen Zeitschrift beteiligt, geriet nach dem ersten Weltkrieg in japanische Gefangenschaft, die bis Frühjahr 1920 währte.
Nach Berlin zurückgekehrt von seinen asiatischen Abenteuern und nun auch nicht mehr' ganz ein junger Wandervogel, vereinsamte er, der Grübler und "Großbachant", der innerlich etwas zu verarbeiten hatte, wie ein Bewunderer anlässlich der "Einholung des bronzenen Großbachanten" auf der Burg Ludwigstein im Oktober 1965 sagte; denn Fischer sei mit irgend etwas nicht ins reine gekommen.
Er blieb unverheiratet und lebte mit einer Schwester in Steglitz, wo ihn ein Herzschlag im Kriegsjahr 1941 traf. Die Jugendbewegung, gleich welcher Couleur, war von den Nazis 1933 zerschlagen worden; da wurde, wie alles, auch die Jugend unter die Knute der Braunen genommen. Auch das wird Karl Fischer gebrochen haben. -erk- Der Tagesspiegel
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