Wohnen
Scholtz, Karl-August: Wohnverhältnisse um 1950
Günther, Claus: Wohnung in Aussicht, Makler verhaftet
Lamp, Lieselotte: Liebes Rissen der fünfziger Jahre
Lemster, Annemarie: Barackenleben
Probst, Ellen: Die Heimkehr des Vaters
Kollecker, Edith: Wohnen im Pferdestall
Kabelitz, Marianne: Wohnen und Arbeiten nach dem Krieg
Hühnke, Jürgen: Integration durch Erotik
Günther , Claus: "Der letzte Mann" (1934 - 1944)
Schukat, Fritz: Das merkwürdige Schlafzimmerbild
Lemster, Annemarie: Im Himmel muss es warm sein
Günther, Claus: Tiefgefroren, aber winterhart! 1956/57)
Stern, Carsten: Im Winter ist es kalt (1949/55/57)
Lippmann, Ingetraud: Ofenumarmung und Dosenspülautomatik (1945)
Schukat, Fritz: Neukölln, Pannierstr. (II)
Hühnke, Jürgen: Das Haus der vier Elemente
Hühnke, Jürgen: Meine Wasserparabel oder warum lernt man das alles?
Wohnverhältnisse um 1950
Auszüge aus dem Mitteilungsblatt der Zeitzeugenbörse Hamburg
"Zeitzeugen", Ausgabe 20, Juli - September 2003,
Seiten 2 - 3.
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Veröffentlichung nur mit Zustimmung der Zeitzeugenbörse Hamburg, p. A.
Seniorenbüro Hamburg e.V., Steindamm 87, D-20099 Hamburg,
mailto:senioren1@aol.com.
Mein Antrag auf Zuzugsgenehmigung im Jahre 1951 an das Wohnungsamt der Kreisstadt, wo ich inzwischen Arbeit gefunden hatte, lautete u. a.:
"...Ich wohne z. Zt. in einem Dorf in einer unheizbaren Kammer - ohne ausreichende Tagesbeleuchtung - in einem Anbau schräg über einem Schweinestall neben einem Hühnerstall. ...Ich bitte mein Gesuch zu befürworten, weil ich bereits dem vierten Winter unter derartigen Verhältnissen entgegensehe und das auf die Dauer gesundheitlich nicht ertragen kann. ...Ich verweise auch auf meine Verwundung ..."
Entlassen aus britischer Gefangenschaft, war ich als "Fremder" in das Dorf gekommen.
Die im Antrag genannten "vier Winter" bezogen sich auf die zwei letzten Zimmer in den Vorjahren. Das erste im Dorfgasthof, wo ich als "Junger Mann" (für alles!) arbeitete, hatte ein Bett, einen Stuhl, einen Schrank, keinen Ofen. Dieser Raum diente bei Veranstaltungen auch als Garderobe, bei Überfüllung wurden Mäntel und Hüte sogar auf meinem Bett gestapelt – selbst bei Regen. Als Läuse auftauchten, konnte ich irgend etwas gegen DDT–Pulver eintauschen, mit dem ich wiederholt mein Bett bestreute. Das Ungeziefer wurde vernichtet, aber man erklärte mir, dass noch nach 30 Jahren durch Langzeitwirkung des Pulvers ein Gehirnschaden auftreten könne. Ich kam wohl davon, denn nun sind schon fast 60 Jahre vergangen, und ich fühle mich immer noch normal!
Meine Freizeit konnte ich so einteilen, dass ich – natürlich zu Fuß – kaufmännische Kurse in den Volkshochschulen der beiden Nachbarstädte (jeweils 8 bzw. 11 km entfernt) besuchen, sowie das damals rare Schreibmaterial organisieren konnte.
Nach zwei harten Dorfkrugjahren fand ich zunächst in der näheren Umgebung bessere Arbeit. Später sogar in der Kreisstadt, hatte dort aber keine Zuzugsberechtigung. Also bezog ich zunächst die anfangs erwähnte, mir jetzt zugewiesene Kammer neben den Hühnern, schräg über dem Schweinestall. Auch ohne Heizung, Fußboden 3x3 m, schräge Decke, und unter einem Teil des Raumes schimmerte abends zwischen den Bohlen des Fußbodens das Licht vom Zimmer der unter mir lebenden Flüchtlingsfamilie. Für den Weg zur Arbeit hatte ich ein Fahrrad erworben. Aber in beiden Fällen hatte ich wenigstens sehr nette Vermieter.
Das Wohnungsamt der Kreisstadt bewilligte den Antrag auf Zuzugsgenehmigung. Jetzt lebte ich in der Veranda einer Villa in der Kreisstadt und durfte einen eisernen Ofen anschließen. Trotzdem wurde es auch hier im Winter oft nicht richtig warm. Eine Mitbenutzung der Küche war schon im Mietvertrag ausgeschlossen worden. Die Frau des Vermieters war ein "Besen" und ihr Mann nicht viel anders! Es war schon ein Krampf für mich!
Aber ich schaffte es! Nach weiteren zwei Jahren erhielt ich in Hamburg endlich meine "Lebensstellung", dort bald auch eine richtige Wohnung mit Bad und Küche für ein gemeinsames Leben mit meiner inzwischen gegründeten Familie. Nun konnte ich für den Wiederaufbau arbeiten, tat es gern bei 48 Wochenstunden, Überstunden an Wochenenden und 14 Tagen Jahresurlaub. Endlich ging es aufwärts!
Man erinnere sich, viele entlassene Soldaten, die nach dem Kriege nicht in die alte Heimat zurück konnten, erhielten keinen Lastenausgleich, wie sonst doch viele Flüchtlingsfamilien. Wir waren noch als "Minderjährige" in den Krieg geschickt worden, hatten keinen eigenen Haushalt, den wir als verlorenen Wert hätten nachweisen können.
Das galt übrigens auch für viele junge, allein stehende Flüchtlinge. Gerade heute ist das alles schwer vorstellbar, aber so war es nun einmal!
Mit meinen damals in dem Dorfe gewonnenen Freunden stehe ich noch heute in Verbindung, weshalb ich Ortsnamen und weitere Einzelheiten verschweigen möchte.
Autor: Karl-August Scholtz
Wohnung in Aussicht, Makler verhaftet
Auszüge aus dem Mitteilungsblatt der Zeitzeugenbörse Hamburg
"Zeitzeugen", Ausgabe 20, Juli - September 2003,
Seiten 3 - 5.
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Veröffentlichung nur mit Zustimmung der Zeitzeugenbörse Hamburg, p. A.
Seniorenbüro Hamburg e.V., Steindamm 87, D-20099 Hamburg,
mailto:senioren1@aol.com.
Als Ausgebombte zählten meine Schwiegereltern zu jenen "Buten-hamburgern", die der Krieg aus ihrer Heimatstadt vertrieben hatte. Das Behelfsheim in Holm-Seppensen, welches sie gemeinsam mit ihren zwei erwachsenen Töchtern bewohnten, war ausgesprochen beengt und alles andere als komfortabel. Ihr sehnlichster Wunsch – eine "normale" Wohnung in Hamburg – erfüllte sich 1955. Doch nur eine Tochter zog mit um, die andere blieb draußen wohnen; sie wurde meine Frau. Ich gab das Zimmer bei meinen Eltern in Harburg auf und zog bei ihr ein.
Wir arbeiteten beide in Hamburg, fuhren morgens mit dem Zug rein und abends zurück; die Monatskarte kostete 29,40 DM (1957). Die Schwiegereltern bekamen monatlich 30 Mark von uns, und einmal im Jahr zahlten wir an den Bauern, dem das Grundstück gehörte, 100 Mark Pacht.
Das Behelfsheim bestand aus zwei winzigen Zimmern mit Küche sowie einer klitzekleinen Veranda, die allerdings unterkellert war. In der Küche stand ein Herd, im Wohnzimmer ein Ofen; es gab weder Bad noch Dusche, aber immerhin ein Plumpsklo auf dem Hof – und eine Pumpe, die aber im Winter oft nicht funktionierte. Bei Frostgefahr pumpten wir Wasser "auf Vorrat"! Das größte Problem war überhaupt der strenge Winter. Oft waren die dünnen Holzwände morgens von innen überfroren und glitzerten (was eigentlich ganz hübsch aussah). Ich stand noch vor dem ersten Hahnenschrei auf, um den Küchenherd anzufeuern sowie das am Abend bereitgestellte, überfrorene Wasser zu erwärmen, damit wir uns wenigstens waschen konnten. Natürlich gefror auch der Inhalt des Kloeimers und musste irgendwann auf dem Herd aufgetaut werden, um ihn ausschütten zu können. Ein Sch...spiel! Wir sparten. Eisern. Jeder Pfennig wurde dreimal umgedreht. Warum? Weil wir auch nach Hamburg wollten, lieber heute als morgen! Doch um an eine Wohnung zu kommen, brauchte man Geld – sowie mindestens 40 so genannte Lastenausgleichs-Punkte. Weil meine Eltern 1944 ausgebombt wurden (damals war ich dreizehn Jahre alt), war ich "lastenausgleichs-berechtigt". Für den Berechtigungsschein gab es 8 Punkte. Weitere 10 Punkte wurden uns wegen des langen Anmarschweges zugebilligt, machte zusammen 18. Hätte ich während des Krieges schon eine eigene Wohnung besessen und diese verloren, würde ich weitere 20 Punkte bekommen haben – das wären immerhin insgesamt 38 von erforderlichen 40 gewesen.
Unsere Lage schien aussichtslos. Ich schrieb an verschiedene Wohnungsämter und schließlich nach Bonn, an den Bundeswohnungsbauminister Preusker. Was ich kaum für möglich gehalten hatte, geschah. Am 11.2.1957 antwortete das Ausgleichsamt Hamburg-Mitte: "Soweit ein Antragsteller außerhalb Hamburgs wohnhaft ist, er aber seinen Arbeitsplatz in Hamburg hat, kann von der Punktzahl 40 Abstand genommen werden." Hurra!
Und dann stand da noch was von einem Antrag auf Aufbaudarlehen, das in Höhe von 3.300 DM bei 60 qm Wohnfläche bewilligt werden könne, zinslos tilgbar mit 2% per anno, im Laufe von 50 Jahren. Das war ja gut gemeint, aber sollten wir uns etwa fünfzig Jahre lang verschulden? Nie und nimmer! Lieber kamen wir selbst für den Baukostenzuschuss auf. Wir sparten, suchten, suchten – und fanden schließlich eine Wohnung in Barmbek, 42,46 qm "groß", verlorener Baukostenzuschuss 2.700 DM, zuzüglich 400 DM Maklergebühr. [Kaltmiete 1960: 78,77 DM inkl. Nebenkosten]. Eine Wohnung, laut Plan mit Vollbad, nein, Sitzbad, nein, Duschbad. (Wenigstens das war dann drin!)
Der Bau aber ruhte; und am 12.9.1957 traf mich fast der Schlag, als ich las: "Geschäft mit der Wohnungsnot – Betrügerische Makler verhaftet" (Bild) und "Sie holten Wohnungen aus der Westentasche" (Morgenpost). Es waren unsere Makler! Ich rannte zum Bauherrn, verlangte Akteneinsicht. Abgelehnt. Ich, damals beim "Stern" tätig, zückte meinen Mitarbeiter-Ausweis und bluffte: "Wenn Sie nicht sofort alles offen legen, erscheint nächste Woche eine Reportage über Ihre Firma – mit Fotos. Garantiert!" Das wirkte; selbst der arrogante Prokurist lenkte ein. Die Maklergebühr mussten wir trotzdem noch einmal bezahlen. (Beim Bauherren!) Aber Anfang 1958 durften wir schließlich einziehen.
Autor: Claus Günther
Liebes Rissen der fünfziger Jahre
Durch einen glücklichen Zufall, man kann auch sagen durch Beziehungen, wurden wir, jung verheiratet und noch kinderlos, 1951 Mieter eines Einzelhauses in Rissen mit einer Monatsmiete von insgesamt 275,- DM. Dass wir dieses Haus noch mit vier weiteren Personen wegen der Wohnraumbegrenzung teilen mussten, schmälerte weder unser Glück noch unsere Freude, aus den beengten Wohnverhältnissen einer Etagenwohnung in Barmbek herauszukommen.
Unser Haus erreichte man von Hamburg aus mit der S-Bahn bis Blankenese, dort stieg man um in den wartenden Dampfzug, der über Sülldorf, Rissen nach Wedel verkehrte. Rissen war in den 50er Jahren noch sehr dörflich und hatte Bauern, die Vieh- und Landwirtschaft betrieben. So führte auch unser etwa 15minütiger Fußweg von der Bahn an Kornfeldern und Weiden vorbei.
Am Ende der Flerrentwiete, kurz vor dem Tinsdaler Heideweg, ging der Bookweetenkamp, damals noch eine unausgebaute Sackgasse, ab, die in der Mitte des Weges eine einzige, müde Straßenlaterne hatte. Das war unsere Straße. Das heißt, es war ein Sandweg, der sich bei Regenwetter in ein Schlammbad verwandelte und im Winter in eine Eis- und Rutschbahn. Wir aber fanden das für Rissen normal und liebten unsere Sackgasse. Das Haus stand am Ende des Weges. Dahinter befand sich eine Weide, auf der abwechselnd Kühe, Pferde oder Schafe grasten. Hinter unserem Garten war ein großes Kornfeld. Im Garten standen Obstbäume, und es war genügend Platz da, um Gemüse anzubauen. Ein großer Vorteil zu damaliger Zeit, den wir mit Begeisterung annahmen.
Wir wohnten in Hamburg und doch auf dem Lande, mit allen Vor- und Nachteilen. Z. B. gab es noch keine Kanalisation, alles verbrauchte Wasser floss in eine Sickergrube, die nicht auf 6 Personen zugeschnitten war. Also mussten wir einmal wöchentlich per Hand den im Garten stehenden Pumpenschwängel bedienen, um die Grube leer zu pumpen. Das dauerte ca. eine Stunde lang. Das Wasser leiteten wir auf die Weide, wo es versickerte. Um Erlaubnis haben wir nie gefragt, aber es hat uns auch niemand deshalb gerügt.
Das Haus hatte auch eine Zentralheizung, nur fehlte uns die Feuerung, um sie in Gang zu setzen. Kohlen waren Mangelware! Also kauften wir einen Ölofen, der seinen Abzug durch den Kamin im Wohnzimmer erhielt. Da Wohn- und Schlafzimmer miteinander verbunden waren, wurden diese Räume ausreichend erwärmt, und über Nacht konnte man bei gedrosselter Wärmezufuhr sogar den Wäschetopf bis zum Morgen zum Kochen bringen.
Als Luxus empfanden wir in der Küche den elektrischen Kühlschrank und einen Warmwasserboiler sowie einen vierflammigen Gasherd. Unser Luxus im Wohnzimmer bestand aus einem Radiogerät, einem Plattenspieler und einem Telefon. Zweimal wöchentlich fuhr ein Lebensmittelwagen der Fa. Stockhusen mit großem Schellengeläute in den Bookweetenkamp, und alle Anwohner trafen sich vor dem Wagen, um ihre Einkäufe zu tätigen und Neuigkeiten auszutauschen. Man konnte außer Fassbutter, Kannenmilch, losen Eiern und Käse auch viele Nährmittel kaufen. Milch kam in unsere eigene Milchkanne, Eier auf das mitgebrachte Eiergestell, alle anderen Waren wurden abgewogen und in Papier oder Tüten verpackt. Plastik war uns noch unbekannt. Gemüse und Fleisch- bzw. Wurstwaren kaufte man im Dorf.
Da es weder Bus- noch Straßenbahnverbindungen in Rissen gab, waren Einkäufe immer mit großen Fußwegen verbunden. Und weil es so ländlich war, gab es auch keine Verkehrsampeln. Wofür auch, die paar Autos und Radfahrer waren überschaubar. Über Rissen lag eine herrliche Ruhe, und es duftete nach "Landluft".
Gemessen an unseren heutigen Ansprüchen an Komfort und Bequemlichkeit können unsere Lebensverhältnisse in Rissen der 50er Jahre nicht mithalten. Aber es ist wohl so, was man nicht kennt, entbehrt man auch nicht. Und vielleicht ist unser heutiger Lebensstandard in 50 Jahren auch Schnee von gestern.
Autorin: Lieselotte Lamp
Barackenleben
Auszüge aus dem Mitteilungsblatt der Zeitzeugen Quickborn
"Zeitzeugen", Ausgabe 6, Juli - Septemberz 2004.
Weitere
Veröffentlichung nur mit Zustimmung der Zeitzeugen Quickborn, Lornsenstr. 21 -
23,
Quickborn Heide,
mailto:annemarielemster@yahoo.de
Nachdem wir in Hannover zweimal ausgebombt waren, lebten wir mit fünf Personen bei meinen Großeltern in einem 20qm großen Raum. Anfang 1945 hatten wir das große Glück und bekamen eine Wohnung in einer Baracke, die am Ende des Ortes für Ausgebombte gebaut war. Nun hatten wir eine richtige Wohnung. Eine große Wohnküche, ein Schlafzimmer ein Kinderzimmer und ein kleines WC in der Wohnung. Für mich war dieses das „Größte“. Nicht mehr im Dunkeln auf den Hof. Keine Angst mehr, im Dunkeln nach draußen zu müssen, das war schön. Wenn auch alles etwas eng und sehr hellhörig war, für mich war es fürstlich. In einem Hauseingang wohnten acht Mietparteien, aber ich kann mich nicht erinnern, dass es einmal Streit unter den Nachbarn gegeben hat.
Durch die leichten Holzwände konnte man jeder Unterhaltung des Nachbarn beiwohnen. Als ich später mit meiner Familie campen war, habe ich mich oft an die Zeit in der Baracke erinnert. Zeltwände sind genauso hellhörig. Für die Erwachsenen war dieses bestimmt manchmal nicht sehr angenehm, aber für mich als Kind hatte dieses einen ganz besonderen Reiz. In der Nachbarwohnung waren auch zwei Kinder, und wenn wir am Abend im Bett lagen, haben wir uns noch recht lange unterhalten. Rolf, der Junge von nebenan, erzählte immer so schlimme Räubergeschichten, die mir Angst machten. Mein Zimmer war etwa 4,20m lang und 2m breit. Hier hatten zwei Betten, ein Kleiderschrank, eine kleine Kommode, eine Nähmaschine und noch ein paar Kleinigkeiten Platz. In einem Bett schlief ich mit meiner älteren Schwester, im anderen schlief mein großer Bruder mit seiner Frau, deren Tochter lag im Kinderwagen, dieser stand im Gang neben dem Bett. Als Kind habe ich damals diese Enge nicht so empfunden. Bei den Erwachsenen gab es schon mal Spannungen. Es gab in der Wohnung nur einen Wasserhahn, dieser war über dem Spülstein. Darin wuschen wir uns, darin wurde abgespült, und die tägliche kleine Wäsche wurde auch darin gemacht. Daneben stand der Herd, mit Holz oder Torf zu beheizen. Dort gab es immer einen Engpass. Mutti musste Essen kochen, Papa setzte Wasser auf für seinen so geliebten Kaffe, meine Schwägerin wollte das Fläschchen heiß machen, und meine Schwester brauchte etwas warmes Wasser zum Waschen.
Vor dem einzigen Spiegel (recht klein) stand dann mein Bruder und brachte seine sehr schönen Haare in die richtige Lage. Wenn ich mich richtig erinnere, waren im Grunde aber alle froh, hier zu wohnen und nicht unter irgendeiner Ruine in Hannover ohne Licht und Wasser. Es war eine schöne Wohnung, wenn man davon absah, dass jeder das Familienleben des anderen mithörte, oder es von der Decke tropfte, weil über uns Kaninchen gehalten wurden, und deren „Suppe“ dann zu uns durchnässte. In unserer Familie hatten alle den Krieg überlebt, was war da schon der Andrang am Herd. Meine Geschwister zogen nach und nach aus, wir bekamen 1953 eine Wohnung in einem Steinhaus und brauchten bei irgendwelchen Familiengesprächen nicht mehr zu flüstern.
Die Heimkehr des Vaters
Auszüge aus dem Mitteilungsblatt der Zeitzeugen Quickborn
"Zeitzeugen", Ausgabe 6, Juli - Septemberz 2004.
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Veröffentlichung nur mit Zustimmung der Zeitzeugen Quickborn, Lornsenstr. 21 -
23,
Quickborn Heide,
mailto:annemarielemster@yahoo.de
Ellen Probst
Anfang 1946 waren wir in unser Haus ‑ einer Bombenruine - zurückgekehrt. Eine Luftmine hatte das Nachbarhaus völlig und das unsere zum größten Teil zerstört. Ganz langsam gewöhnten wir uns an die beschwerlichen Wohnverhältnisse.
Die Waschküche wurde zum Aufenthaltsraum bzw. Esszimmer und der Schweinestall, der als solcher schon lange nicht mehr genutzt worden war, zur Küche umfunktioniert. Das Essen wurde auf einem elektrischen Zweiplattenkocher zubereitet.
Die Treppe ins Obergeschoß war von Bekannten so abgestützt worden, dass wir das halbwegs intakte Kinderzimmer zum Schlafen nutzen konnten. Inzwischen schrieben wir schon März 1946 und mein Vater war immer noch in Norwegen. Post hatten wir und auch er, wie wir später hörten, lange nicht mehr erhalten. Er wusste also gar nicht, dass wir wieder in Kiel sind. Aber dann kam er doch. Sein Schiff legte in Travemünde an, und von Lübeck ging es per Eisenbahn weiter nach Kiel.
Natürlich hatte er von den heftigen Fliegerangriffen erfahren, aber wie es unserem Haus ergangen war, das wusste er nicht. Es gibt auf der Strecke Lübeck/Kiel eine Passage, wo man es hätte sehen müssen. Aber es war so merkwürdig, er sah nur zwei Giebel und mehrere Lücken. Dann war der Moment auch schon vorbei, und seine Verunsicherung und Angst wurden immer größer.
Der Zug hielt in Elmschenhagen, einem Vorort von Kiel, in dem wir wohnten, und er stieg aus. Nun konnte er nicht schnell genug nach Hause kommen. Sein großer Koffer wurde immer schwerer ‑ er versteckte ihn im Gebüsch ‑ und hastete weiter. Endlich kam er zu den weißen Giebelhäusern und sah mit Entsetzen das ganze Ausmaß der Zerstörung.
Er war so geschockt, dass er das Grundstück gar nicht betreten mochte. Da konnte sich doch keiner aufhalten! Aber, es sollte wohl so sein: Einmal schaute er zurück und sah ein kleines Mädchen mit einer Abfallschüssel zum Bombentrichter laufen. Seine jüngste Tochter! Nun gab's kein Halten mehr, er rannte um das Haus herum und fand seine Familie beim Sirupkochen.
Die Freude war riesengroß. ‑ Dann kam eine erschrockene Frage "Wo ist Günter?" Er hatte geträumt, der Sohn wäre im Eis eingebrochen und ertrunken. Mein Bruder war aber bei den Großeltern geblieben, wir hatten einfach noch keinen Schlafplatz für ihn. Nachts haben die Eltern dann den „versteckten" Koffer geholt. Er war noch da.
Wohnen im Pferdestall
Auszüge aus dem Mitteilungsblatt der Zeitzeugen Quickborn
"Zeitzeugen", Ausgabe 6, Juli - Septemberz 2004.
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Veröffentlichung nur mit Zustimmung der Zeitzeugen Quickborn, Lornsenstr. 21 -
23,
Quickborn Heide,
mailto:annemarielemster@yahoo.de
Von Edith Kollecker
Am Ende unserer Flucht aus Hinterpommern mit dem Streckenthiner Treck landeten wir in Petersdorf auf Gut Karzfehn. Auf unserer 5 Wochen langen Flucht schliefen wir in Kuhställen, auf Heuböden und in Schulen. Jetzt wurden wir auf die umliegenden Bauernhöfe verteilt.
Meine Schwester Irmi und ich bekamen bei einem Bauern einen Verschlag auf dem Heuboden, der sich von innen als ganz passabel herausstellte. Meine Mutter fand 800 m weiter mit dem Rest der Familie eine Unterkunft.
Diese Bauersfrau war wohl die einzige, die sich über die Einquartierung freute. Ihr Mann war im Krieg, und so war sie mit ihrem alten Vater und zwei kleinen Kindern alleine auf dem Hof, jetzt hatte sie Hilfe bekommen. Als dann der Krieg zu Ende war, meine Schwestern in der Stadt in Stellung gingen, mein Vater wieder gesund heimkam, suchte er sich auf einem kleinen Moorgut Arbeit und Unterkunft. Mich, als jüngstes Kind, nahmen sie mit, allerdings war ich auch schon fast 12 Jahre alt.
Unsere Wohnung bestand aus der Knechtekammer im Pferdestall. Ein zusammengenageltes Bett mit einem Strohsack darin für meine Eltern und ein ausgefranstes Chaiselongue für mich. Ein kleiner Kohleofen war auch vorhanden. Da nur für einen Topf Platz war, wurden zuerst die Kartoffeln gekocht und ins Bett gestellt, damit sie warm blieben. Dann kam das nächste Gericht, wenn überhaupt etwas da war. Es war alles auf kleinstem Raum. Wenn wir uns gewaschen haben, mit Waschlappen und Seife in einer kleinen Schüssel, wurde das Fenster mit einem Bettlaken zugehängt. Purer Luxus war das fließende Wasser auf der Diele, schon der Pferde wegen.
Das Plumpsklo war innerhalb des Gebäudes, und durch die Pferde war es im Winter immer warm. Dafür hatten wir Unmengen von Fliegen. Obwohl wir immer 2-3 Fliegenfänger aufgehängt hatten, die oft gewechselt werden mussten, weil das Gesurr der Fliegen in uns Ekel erregte, und einer von uns mit den Haaren ab und zu daran hängen blieb, wurden sie nicht weniger.
Meine Mutter legte dann einmal die Woche Tabletten aus, die einen widerlichen Gestank verursachten. Nach zwei Stunden konnten wir die auf dem Fußboden liegenden Fliegen auffegen und verbrennen, dann hatten wir für ein paar Tage Ruhe.
Nach einiger Zeit hatte der Gutsverwalter ein Einsehen und gab mir eine Futterkammer zum Schlafen. Als wir sie von Mäusen, Spinnen und Futterkisten befreit hatten, konnte ich mir mein erstes eigenes Reich einrichten.
Das kleine eiserne Fenster, das sich nicht öffnen ließ und ziemlich weit oben war, nahm ich in Kauf. Dafür hatte ich aber schon elektrisches Licht an der Decke, es musste allerdings von außen angeknipst werden. Dort habe ich gelebt, bis ich 1952 nach Schleswig Holstein übersiedelte. Mit etlichen Verbesserungen lebten meine Eltern noch bis 1963 in Ihrem Reich und kamen dann zu uns in die Quickborner Heide, in unser Haus, das mein Mann und ich in Eigenleistung erbaut hatten.
Wohnen und Arbeiten nach dem Krieg
Nach der Flucht aus der DDR 1950 wohnten wir zunächst gemeinsam mit Schwägerin und ihrer Tochter in einem Zimmer mit Küchenbenutzung, welches ihr als Ausgebombte zur Verfügung stand. Später nahmen uns ebenfalls ausgebombte Freunde in ihrer Kleingartenlaube in Athabaskahöft auf.
Nachdem das Rote Kreuz unsere halbjährige Tochter aus der DDR geholt hatte, bekamen wir ein Zimmer im Jugendheim Osdorf, und ich durfte als Erzieherin in einer Mädchengruppe arbeiten, mit der Auflage, dass das Kind nicht mit den Heimkindern zusammenkommt und auch nichts von der Heimverpflegung haben darf. Natürlich gaben wir ihr auch von den Milchsuppen, die nach den Mahlzeiten sonst weggeschüttet wurden.
Wer damals an einer DDR-Universität studiert hatte, durfte an keiner West-Universität weiter studieren. Deshalb musste mein Mann täglich nach Lüneburg fahren, um dort an der Pädagogischen Hochschule sein Studium zu beenden.
Unsere Tochter kam ins Krabbelalter und konnte die Stunden während meines Dienstes nicht mehr allein gelassen werden. Deshalb zogen wir in eine Baracke in einem Kleingartengelände in Wandsbek, denn ich musste meine Arbeit kündigen.
1952 hatte Niedersachsen großen Lehrermangel, und so wurden alle Absolventen der Lüneburger Pädagogischen Hochschule für ein Jahr an eine niedersächsische Schule verpflichtet. Wir kamen nach Otterndorf, Ortsteil Müggendorf. Im Schulgebäude war eine Wohnung vorhanden, die aber total von Ratten verseucht war, so dass wir nicht einziehen konnten. Ein Großbauer stellte uns seine Gesindestube zur Verfugung.
Unterdessen waren Otterndorfer Kammerjäger den Ratten zu Leibe gerückt mit dem Ergebnis, dass die Ratten in Scharen unter den Fußbodenbrettern verendeten und bestialisch stanken. Wir hätten also mit großem Aufwand und Geld, das wir nicht hatten, eine Renovierung vornehmen müssen. Der Lehrer in der oberen Wohnung des Schulgebäudes opferte uns zwei seiner eigenen Zimmer, und dort kam auch unsere zweite Tochter zur Welt.
Als das verpflichtete Jahr herum war, bekam mein Mann eine Anstellung in Hamburg, und so zogen wir zunächst in die zwei Zimmer, die meine Schwiegereltern in einer Veranstaltungsbaracke der Falken bewohnten. Wir konnten nur ein Bett aufstellen, und so schliefen die Kinder, wenn die Falken ihre Zusammenkünfte beendet hatten, auf den Bänken der Veranstaltungsräume. Schließlich fand ich mit den Kindern Aufnahme für ein Vierteljahr bei Verwandten in Baden-Württemberg.
Mein Mann kaufte unterdessen in Hamburg eine Baracke zum Abriss, transportierte mit einer Schottschen Karre die Bretter in ein Wandsbeker Kleingartengelände und baute gemeinsam mit einem Freund ein Gartenhaus auf. Es gab dort natürlich keine Kanalisation, zum Glück aber Wasserstellen in den größeren Gartenwegen.
Abends schlichen wir Kleingartenbewohner mit unseren Kloeimern herum und verbuddelten deren Inhalte unter den Büschen und Bäumen. Ein befreundetes Ehepaar übersiedelte aus beruflichen Gründen nach Caracas und bot uns die Übernahme Ihrer zwei Zimmer mit insgesamt 24 qm und schrägen Wänden, sowie mit Küchenbenutzung, in der Lesserstraße an.
Für uns war es sicherer, wenn zwar klein, aber doch ein festes Dach über dem Kopf zu haben, und so zogen wir dort ein. Als Auflage mussten wir ihren Flügel und das Aquarium übernehmen. Den Kaufpreis durften wir abstottern.
In das Kleingartenhäuschen war meine unterdessen verwitwete Schwiegermutter gezogen. 1957 wurde das Kleingartengelände saniert und wir bekamen eine Abfindung von 3000,- DM, was zu dieser Zeit eine ungeheure Summe war. Zur gleichen Zeit wurde auf der gegenüber liegenden Straßenseite unserer Wohnung ein Reihenhaus, Baujahr 1923, zum Verkauf angeboten.
Dem Besitzer genügten unsere 3000,- DM als Anzahlung, und die Gesamtsumme von 10.500,- DM durften wir in monatlichen Raten von 150,- DM abzahlen. Das Haus war mit zwei Familien und einer alten Dame belegt. Wir klagten auf Eigenbedarf, und die Mieter bekamen den begehrten § 5-Schein und Wohnungen vom Sozialen Wohnungsbau.
So ging nach zehn Jahren unsere Wohnodyssee zu Ende, ausgerechnet nur wenige Meter von dem Haus entfernt, in dem mein Mann seine Kindheit und Jugend verbrachte und 1943 ausgebombt wurde.
Übrigens: Den Flügel haben wir immer noch.
Autorin: Marianne Kabelitz
Integration durch Erotik
Auszüge aus dem Mitteilungsblatt der Zeitzeugen Quickborn "Zeitzeugen", Ausgabe 7, Oktober - Dezember 2004. Weitere Veröffentlichung nur mit Zustimmung der Zeitzeugen Quickborn, Lornsenstr. 21 - 23, Quickborner Heide, mailto:annemarielemster@yahoo.de
Die Eingliederung der Flüchtlinge und Vertriebenen in die westdeutsche Wirtsbevölkerung machte anfangs große Schwierigkeiten wegen der Wohnraumzwangsbewirtschaftung, d.h. der Beschlagnahme aller Flächen über 3,5 qm je Person. Man stelle sich eine vierköpfige Familie auf 14 Quadratmetern vor -jede Wohnstube hat heute über das Doppelte. Unzufriedenheit gab es auf beiden Seiten oft mehr als genug. Versöhnlich machte dagegen die wiederkehrende Lebenslust, vor allem die Geschlechterbegegnung - ganz abgesehen vom Anrecht auf Wohnraum durch Eheschließung -, flammte doch die Liebe bei lange getrennten und jetzt wieder zusammengeführten Paaren neu auf oder bei solchen, die noch nicht in den Hafen der Ehe geschippert waren. Inmitten aller materiellen Not wuchsen Lebenswille, - mut und -freude, begann man wieder zu lieben und zu lachen, zu tanzen und zu turteln. Mancher Dorfgasthof lud dreimal wöchentlich zum Tanz. Einer meiner Arbeitskollegen, ein Sudetendeutscher, entrüstete sich später darüber, dass er viele seiner Landsleute im Westen beim fröhlichen Zusammensein auf dem Dorfschwof antraf. Diese Tanzvergnügen schufen neue Begegnungen, deren Ergebnis manchmal eine Marianne war, in der seligen Erinnerung an einen Schmusetanz zu den Klängen des damaligen Schlagers "Mariandl, -andl, .-andl aus dem Wachauerlandl, -landl". Damals junger Mensch in der Vorpubertät, erstaunte mich, dass so manche Pärchen sich hinter die Büsche schlugen – nein, keine jungen Leute, sondern gereifte - wie man heute sagen würde - Senioren, er meist mit Hut, ältere Herrschaften, die ihre neue Freiheit mit heftigem Kosen, Schmusen und Knutschen besiegelten. Für uns Zehnjährige bedeutete das eine ungewöhnliche Erfahrung, da die Erwachsenen sonst ihre Sexualität beflissen verbargen und tabuisierten. Der Quickborner Bürgermeister hörte erst 1951 damit auf, in seine Jahresberichte statistische Werte über geschlossene "Mischehen" einfließen zu lassen, und meinte, das sei inzwischen überflüssig, da die Integration so gut wie abgeschlossen sei.
"Der letzte Mann" (1934 -1944)
Wann immer ich auch eintauche in Erinnerungen, in den allermeisten Fällen sind es Bilder. Und wenn es – ganz konkret – um Bilder geht, die zu Hause an den Wänden hingen, ehe sie 1944 bei der Ausbombung verbrannten wie alles andere auch, so muss ich feststellen: große Kunstwerke waren es nicht, aber typisch für die Menschen, und typisch für die Zeit.
Mein Vater hatte im so genannten Herrenzimmer eine Art „Fernweh-Ecke“: Ein gedrucktes, gerahmtes Schwarzweiß-Foto eines Löwenkopfes hing inmitten einiger afrikanischer Waffen. Ich erinnere mich an zwei bastumwickelte Steinkugeln und zwei gekreuzte Speere.
Im Schlafzimmer meiner Eltern hingen über dem Ehebett zwei plastische, gelblichweiße Engelsköpfe, möglicherweise aus Gips, die vermutlich den putzigen Putten aus Raffaels Bild der Sixtinischen Madonna nachgebildet waren.
Was mich heute noch erstaunt: Wir hatten kein Hitlerbild! Dafür aber einen Wechselrahmen mit markigen „Führerworten“, und die gab es jede Woche neu. Mitunter war auch mal einer von Bismarck, Friedrich dem Großen oder sogar von Goethe dabei. Ich staunte nur. „Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg!“ So etwas verstand ich als Zehnjähriger schon, aber viele andere Sprüche nicht.
Und dann war da noch ein Ölbild, vielleicht auch nur ein Druck, von einem seinerzeit sehr berühmten Gemälde mit dem Titel „Der letzte Mann“. Dieses patriotisch-pathetische Seestück hing damals in vielen deutschen Wohnzimmern – auch bei uns. Es zeigt den letzten Mann der „Nürnberg“, die 1914 vor den Falkland-Inseln von britischen Schlachtkreuzern versenkt wurde. Trotzig reckt er die Kaiserliche Kriegsflagge den feindlichen Schiffen hinterher, ehe auch er vermutlich untergeht und ertrinkt.
Ich habe das Bild nie verstanden. Was ist das für ein „Held“, der angesichts des Todes diese blöde Fahne hoch hält, habe ich damals gedacht. Das hat meine unauslöschliche Skepsis gegenüber jeglichem Flaggenkult geprägt. Ist das nicht weiter nichts als ein bedrucktes Stück Stoff? Mag ja sein, dass es mir für diese Art Symbolik an Nationalstolz fehlt. Na, und?
Autor: Claus Günther
Das merkwürdige Schlafzimmerbild
Auszüge aus dem Mitteilungsblatt der Zeitzeugen Quickborn "Zeitzeugen", Ausgabe 8, Januar - März 2005. Weitere Veröffentlichung nur mit Zustimmung der Zeitzeugen Quickborn, Lornsenstr. 21 - 23, Quickborner Heide, mailto:annemarielemster@yahoo.de
Mein Vater lebte in den Nachkriegsjahren in Berlin-Neukölln mit unserer Stiefmutter in einer ganz kleinen Hinterhof-Wohnung, die nur aus Küche, Wohnzimmer, Flur und einem schmalen, dunklen Raum bestand, in dem sich das Klo befand. Man konnte sich dort kaum drehen, deshalb spielt es in meiner Erinnerung auch kaum eine Rolle. Vater hatte mit handwerklichem Geschick aus dieser Behausung ein ansehnliches Zuhause gemacht, aber die Räume konnte er auch nicht größer machen.
Wir Kinder wohnten aus Platzmangel noch einige Jahre bei den Großeltern. So war das eben damals. Aber weil sich die Familien noch bis in die späten 50er Jahre nicht weit voneinander entfernten, wohnten viele Tanten, Onkel und andere Verwandte in der Nähe, und man konnte sich noch zu Fuß besuchen. Und feiern konnte man damals auch recht ordentlich, selbst in den kleinsten Hütten. Meist waren es ja die Geburtstage, die man mal hier und mal dort feierte. Und es floss auch immer reichlich Alkoholisches, wenn auch nicht bis zum Abwinken, denn Schnaps war seinerzeit in Berlin fast steuerfrei und kostete deshalb auch nur wenige „Märker“.
Wieder mal war bei Vatern und Lotte Geburtstagsfeier. Man kam zum Kaffeetrinken, „Blümchen“ nannte man das braune Zeugs verächtlich, weil es so dünn war, dass man den Boden sehen konnte, aber die Buttercreme-Torte war vierstöckig und der Streuselkuchen triefte regelrecht. Zucker und Margarine waren reichlich drinnen und dann gab’s noch kalte Ente aus Leibnizkeksen und Schokoladenguss. Abschließend gab es dann für die Damen Eierlikör oder Bommi mit Pflaume, für die Herren gab es natürlich die härteren Sachen, wie „Chantré“ oder so. Wir jungen Leute durften mal einen Eierlikör, aber nur ganz wenig! Anschließend gingen wir dann auf die Straße oder spielten in der Küche Karten oder sonst was, jedenfalls feierten die Jungen und die Alten eigentlich immer getrennt.
Länger als bis neun oder gar zehn Uhr wurde aber nicht gefeiert. Lotte räumte die kleine Wohnung auf und putzte noch in der Küche. Die Snapcouch war schon schlaffertig aufgeklappt, aber Vater setzte sich erst noch auf einen Stuhl, wo er dann für ein paar Minuten einschlief.
In dem Wohnzimmer, das sich also nachts in ein Schlafkabinett verwandelte, hing über dem Sofa ein Riesenbild. Ich weiß allerdings kaum noch Einzelheiten der Darstellung. Ich meine, es war ein dunkles Waldmotiv mit einem großen Tier, wohl einem Hirsch, darauf. Wahrscheinlich war es doch ein Schlafzimmermotiv.
Das Bild war etwa eins-fünfzig lang und einen halben Meter hoch, an den Ecken schräg abgestumpft, hatte einen recht breiten, biederen Goldrahmen und war verglast. Das Ganze muss also schon ein recht stattliches Gewicht gehabt haben. Hinten befand sich ein dickes Hanfseil, das an den Seiten irgendwie angenagelt war. An diesem Seil war es aufgehängt und austariert worden. Dazu befand sich ein Wahnsinnshaken in der Mauer, der wohl einst mit einem Vorschlagshammer dort eingeschlagen wurde. Eigentlich war das also doch eine recht sichere Sache. Ich mochte dieses Bild nie richtig leiden, ich fand es furchtbar, vor allem, weil es nach meiner Meinung nichts in einem Wohnzimmer zu suchen hatte. Aber wo sonst hätte Lotte es denn hinhängen sollen?
Wenn sich die beiden zur Nachtruhe hinlegten, schlief mein Vater immer an der Wand, direkt unter dem Riesenbild. Wieso er sich nicht schon hinlegte, wie er es sonst eigentlich immer getan hatte, konnte er später nicht sagen. Plötzlich stand in der Tür eine schwarz vermummte Gestalt, habe reingeguckt und ihn mit einem knöchernen Finger zu sich gelockt. Mit einem Mal habe er ‚Gevatter Hein’ erkannt, konnte sich aber nicht bewegen, nur mit dem Kopf schütteln. Als sich die Figur auflöste, gab es einen dumpfen Schlag und Glas zersplitterte.
Mein Vater erwachte aus seinem Minutenschlaf und Lotte kam lamentierend in das Zimmer. Beide standen da wie angenagelt und blickten in Richtung Sofa. Das Bild war heruntergefallen, der Rahmen zerbrochen und die Glasscheibe war in Tausend kleine Scherben zerborsten. Hätte sich mein Vater - wie er es gewohnt war - schon zum Schlafen hingelegt, das Bild hätte ihn zumindest schwer verletzen können. Das Hanfseil war an der Aufhängung durchgescheuert und deshalb gerissen. Passieren konnte dies wohl deshalb, weil damals durch die Straße noch die „Elektrische“ fuhr, sagen wir eher ‚rumpelte’ und die Mauern unbemerkt vibrierten. Die Stelle, an der das Bild hing, konnte man auf der Tapete noch etliche Monate später ausmachen, mein Vater beeilte sich aber, das Wohnzimmer zu renovieren.
Über dem Sofa wurde jedoch nie mehr ein Bild aufgehängt.
Im Himmel muss es warm sein
Auszüge aus dem Mitteilungsblatt der Zeitzeugen Quickborn "Zeitzeugen", Ausgabe 8, Januar - März 2005. Weitere Veröffentlichung nur mit Zustimmung der Zeitzeugen Quickborn, Lornsenstr. 21 - 23, Quickborner Heide, mailto:annemarielemster@yahoo.de
In meiner Erinnerung hingen Bilder nur bei meinen Tanten auf dem Land. Wir waren zweimal in Hannover total ausgebombt, da kauften meine Eltern Möbel, ein Bett oder einen Stuhl, wenn sie überhaupt etwas bekamen. An Bilder kann ich mich kaum erinnern. Später hing einmal ein kleiner Druck von Rembrands „Nachtwache“ bei uns in der Wohnküche. Mir gefiel es damals nicht, es war mir zu dunkel. Bei meinen Tanten auf dem Land hingen aber, für mich, sehr schöne Bilder. Bei Tante Gertrud hing über den Ehebetten ein riesiges Bild. Eine Heerschar von Engeln schwebte vor einem strahlend blauen Himmel durch die Luft, saßen oder lagen auf Wolkenbergen. Alle Engel waren nackt, bis auf ein paar wehende Tücher, die irgendwie auch durch die Lüfte schwebten und dann geschickt immer zwischen den Beinen endeten. Ich, damals sieben Jahre alt, fand es gemein, auf diese Art und Weise konnte ich doch nie erkennen, welcher Engel nun ein Mädchen oder ein Junge war. Diese ganze himmlische Landschaft war von einem breiten Goldrahmen eingefasst. Es sah aus, als wolle eine sehr dicke Goldkordel dieses Bild einschnüren. Für mich hatte dieses Bild lange eine tiefe Bedeutung. Wolken und Engel waren für mich der Himmel, wenn Engel nun so nackt da leben konnten, dann musste es im Himmel immer warm sein. Eine sehr schöne Vorstellung für mich. Wenn ich heute einmal über einen Flohmarkt gehe und dort ein solches oder ähnliches Bild sehe, bin ich in meinem Inneren gleich wieder bei Tante Gertrud im Schlafzimmer.
Ganz andere Erinnerungen habe ich an das Bild, das bei Tante Marie über dem Sofa hing. Es war eine Wald und Wiesenlandschaft. Im Vordergrund stand ein großer Hirsch mit einer blutenden Wunde. Der Kopf zeigte nicht in Laufrichtung und aus der Wunde tropfte, - lief das Blut zur Erde. Im Hintergrund, recht klein, sah man einen Jäger oder Förster, das weiß ich nicht mehr so genau. Dieses Bild wirkte immer recht düster auf mich, zumal der Rahmen fast schwarz war. Als man später im Radio oft das Lied vom Förster mit seinem Hund und seinem alten Forsthaus spielte, hatte ich immer Tante Marie ihr grausliges Bild vor Augen.
Tiefgefroren, aber winterhart (1956/57)
Auszüge aus dem Mitteilungsblatt der Zeitzeugenbörse Hamburg
"Zeitzeugen", Ausgabe 31, April - Juni 2006, Seite 2.
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Veröffentlichung nur mit Zustimmung der Zeitzeugenbörse Hamburg, p. A.
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Wohnen auf dem Lande in den 50er Jahren: Plumpsklo und Wasserpumpe - wo gibt’s das heute noch? Immerhin: Das Behelfsheim in Holm-Seppensen galt als winterfest. Es war sogar unterkellert. Nachdem die Eltern meiner Frau endlich eine Wohnung in Hamburg bekommen und das Behelfsheim geräumt hatten, zog ich da mit ein. Die tägliche Zugfahrt von Holm-Seppensen nach Hamburg, wo wir beide arbeiteten, machte uns wenig aus. Wir waren jung verheiratet und genossen den Sommer.
Als dann aber die Tage kürzer wurden und die Dunkelheit früh hereinbrach, fragten wir uns, wie wir wohl je die damals erforderlichen 81 „Punkte“ für eine Wohnung in Hamburg zusammenbekommen sollten. Dessen ungeachtet, sparten wir eisern für den Baukostenzuschuss und gönnten uns nur das Notwendigste.
Der Winter 1956 wurde zur Herausforderung. Meine Ingrid arbeitete damals in der so genannten Sortierabteilung einer Bank, wo lange vor dem Öffnen der Schalter die Kontoauszüge für die Kunden geprüft und zugeordnet wurden - Arbeitsbeginn: 7 Uhr. Ihr Zug fuhr um 5 Uhr 30 in Holm-Seppensen ab. Im Februar wurde es so kalt, dass ich vor ihr aufstand, um 4 Uhr, um den Ofen in der Küche anzuheizen (die einzige Feuerstelle), das gefrorene Wasser in der Schüssel aufzutauen und zu erwärmen sowie Kaffeewasser heiß zu machen. An den hölzernen Innenwänden des kleinen Behelfsheims glitzerten Eiskristalle.
Unseren Wasservorrat hatten wir schon am Abend vorher bereitgestellt. Vorsichtshalber! Denn es war nicht auszuschließen, dass uns die Pumpe einfror und wir das Wasser vom Nachbarn - etwa 250 Meter weit - heranschleppen mussten, dessen Pumpe besser funktionierte. Das Schlimmste aber war, dass bei den arktischen Temperaturen auch die Hinterlassenschaften im Plumpsklo einfroren, so dass wir den Eimer zum Auftauen auf die heiße Herdplatte stellen mussten, um ihn anschließend entleeren zu können - ein wahres Sch..ßspiel, das am Wochenende stattfand, bei Tageslicht.
Doch auch für uns begann das „Wirtschaftswunder“. Im Winter 1957, nach vielen Schwierigkeiten, bekamen wir in Hamburg eine 2-Zimmer-Wohnung mit fließend Wasser und Duschbad. Welch ein Luxus! Dass die Naragheizung*, morgens in Gang gesetzt, häufig nicht funktionierte, so dass wir abends in eine kalte Wohnung kamen, nahmen wir notgedrungen in Kauf. Wir räumten den Koks wieder aus und versuchten unser Glück aufs Neue.
Man kann nicht alles haben.
Autor: Claus Günther
*Info Naragheizung: ein koksbetriebenes Zentralheizungssystem. „Narag“ steht für NAtionale RAdiator Gesellschaft, gegründet Anfang des 20. Jh.
Im Winter ist es kalt (1949/55/57)
Auszüge aus dem Mitteilungsblatt der Zeitzeugenbörse Hamburg
"Zeitzeugen", Ausgabe 31, April - Juni 2006, Seiten 3 - 4.
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Wielandstraße 32, Nordring 39 in Bochum. 4. Stock rechts, Neubau 1949, Einzug November. Rund 10 Jahre wohnten wir hier. 10 Parteien, der Vermieter wohnte Erdgeschoß links. 2 Zimmer mit Küche und Bad, kleiner Balkon nach hinten zur Bahnstrecke hin, Ofenheizung, Kohlenkeller.
Heizung. Im Wohnzimmer, zur Straße hinaus, steht links in der Ecke ein Ofen, vielleicht ein Meter hoch, bräunlich glänzend glasiert, ein kurzes Rohr in die Wand hinein. Links daneben die Kohlenschütte. Kohlen musste immer ich holen - das ist meine Erinnerung, vielleicht habe ich sie nicht „immer“, aber doch oft holen müssen. Im „Kinderzimmer“ nebenan steht auch ein Ofen, ich glaube etwas kleiner. Nur in sehr, sehr kalten Wintern wird er geheizt. Das Kinderzimmer ist im Winter fast immer kalt. Praktisch haben wir also ein Zimmer zum Wohnen, mit Küche und Bad.
In der Küche? Da gibt es keinen Ofen, wärmen tun hier nur der Gasherd und die Wand zur Nachbarwohnung.
„Heizmeister“ war immer mein Vater. Meine Mutter konnte den Ofen nicht in Gang setzen. Deshalb wurde im Winter morgens der Ofen von meinem Vater angeheizt. Schließlich war das „Wohnzimmer“ auch das Schlafzimmer meiner Eltern, mit einer ganz modernen Ausziehcouch.
Ich sehe meinen Vater noch jeden Morgen im Schlafanzug vor dem Ofen knien. Bevor er um kurz vor 9 aus dem Haus ging, brannte das Feuer.
Erst kamen Zeitungen in den Ofen, dann ein oder zwei Briketts und etwas Eierkohlen. Die Kohlen mussten im Ofen „richtig“ angeordnet sein, damit der Ofen zog und das Feuer auch anging. Aber das gelang meinem Vater fast immer. An Holz kann ich mich nicht erinnern, weder oben in der Wohnung noch unten im Kohlenkeller. Die Steinkohle kam erst ganz zum Schluss in die Glut, wenn die Eierkohlen richtig rot durchgeglüht waren. Ich glaube, mit den Steinkohlen gingen wir sparsam um, denn die waren deutlich teurer.
Unten im Kohlenkeller gab es zwei Haufen hinter unserem Holzverschlag: links die Nusskohlen, rechts und hinten der Anthrazit. Meistens klappte es mit der Eierkohle schon, den Ofen anzumachen. Die staubte nur sehr stark.
Überhaupt Staub. Wenn der offene Kohlenwagen, ein „Tempo“-Dreirad war auch dabei, vorm Haus hielt, war anschließend die Spur des Staubs hinunter in den Keller deutlich zu sehen, vor allem durch die Eierkohlen.
Die Kohlenmänner brachten die Kohlen gleich in den Keller. Sie trugen diese in den Jutesäcken und hatten über Kopf und Schultern einen so genannten Kapuzenverschlag, um sich vor dem Ruß zu schützen. Erst Jahre später, als ich als Student in Hamburg im Hafen jobbte und Zement- und Kalisäcke schleppte, habe ich gemerkt, dass das Kohleschleppen eine Knochenarbeit war.
Im Kinderzimmer schliefen mein Bruder, bis 1955 auch meine Großmutter, und ich. Da wir das Zimmer nur nachts benutzten, war Heizen am Tage überflüssig, zu teuer
Morgens, wenn wir aufstanden, waren oft die Scheiben zugefroren, Eisblumen mit ihren wunderschönen Mustern bis zur Mitte der Scheiben, oft sogar bis ganz oben. Besonders in der Küche war das so, weil dort ja nachts gar nichts wärmte, nicht mal die Körper der im Wohnzimmer Schlafenden. Wenn dann die Sonne auf die Scheiben schien, war es wie ein Wintermärchenwald. Große Farne. Weit ausladende Baumkronen. Bizarre Stämme mit filigranen Verästelungen. Glitzernd, die Form verändernd.
Ich hab gerne mit dem Finger auf den Eisblumen gemalt und zugeguckt, wie langsam das Wasser zerlief - oder wie es nur schmale, aber schwache, Streifen auf dem Eis gab, weil der warme Finger das dicke Eis nicht weg schmolz.
Es wurde gegen Abend oft bullernd warm im Wohnzimmer. Aber es wurde nicht mehr so lange geheizt. Das Feuer ging dann langsam aus, wenn meine Eltern so um 22.00 Uhr die Betten zurecht machten.
Ich kann mich gar nicht genau erinnern, ob wir ständig warmes Wasser hatten. Ich glaube, wir hatten einen sehr voluminösen Gasboiler von Vaillant im Bad über der Badewanne, der beim Ausschalten immer einen lauten Knall abgab, wenn die Gasflamme ansprang. Das war schon sehr modern, schließlich hatten wir eine Nachkriegswohnung
Gebadet wurde nur einmal die Woche. Sonnabends war Badetag, für die ganze Familie. Erst die Kinder, dann mein Vater. Eine Dusche gab es nicht und auch keine Duscharmatur. Natürlich auch keine Waschmaschine. Die Wäsche wurde in einem sehr großen Topf auf dem Gasherd gekocht. Es gab eine Waschküche, aber die wollte meine Mutter nicht benutzen.
Ob wir uns warm gewaschen haben? Ich weiß es nicht. Geduscht, so wie heute täglich, das gab es nicht. Das tat auch keiner. Warmes Wasser wurde, glaube ich, nur zum Zähneputzen verwendet.
Hat uns etwas gefehlt an wohliger Wärme zu Hause? Es war so wie es war. Man trug zu Hause eben mehr Wäsche, wenn’s kalt war. Warmer Pullover, Hausschuhe. Die Winterhose hatte auch zu Hause ihren Sinn. Und wie es war, war es gut. Das war bei uns so, das war bei meinen Schulfreunden in anderen Wohnungen so, ich kannte es nicht anders.
Autor: Carsten Stern
Ofenumarmung und Dosenspülautomatik
(1945)
Auszüge aus dem Mitteilungsblatt der Zeitzeugenbörse Hamburg
"Zeitzeugen", Ausgabe 31, April - Juni 2006, Seiten 6 - 7.
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Veröffentlichung nur mit Zustimmung der Zeitzeugenbörse Hamburg, p. A.
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Nach unserer Flucht wohnten vier Flüchtlingsfamilien bei unserem Bauern. Jedes Zimmer im ersten Stock war bewohnt. Das Badezimmer war als kleines Zimmerchen umfunktioniert worden. Meine Mutter, meine hochschwangere Tante, mein Bruder und ich wohnten in einem etwa 20 Quadratmeter großen Zimmer mit Balkon. Als mein Cousin geboren wurde, waren wir ab Juni 1945 zu fünft.
Im Sommer benutzten wir unseren Balkon als Aufenthaltsraum am Tage. Das hieß, jeden Tag den ovalen kleinen Tisch und die Stühle rausstellen und abends wieder rein. Eine Obstkiste hochkant gestellt in einer schattigen Ecke diente als Kühlschrank, der sowieso meistens leer dastand.
Für die Winterzeit verschlossen wir die Balkontür. Zu beiden Seiten gab es je ein Fenster mit Fensterbank. So wurde auch vor die Tür ein Kasten als Fensterbank gestellt. Den Hohlraum füllten wir mit einem Strohsack, um den unteren Teil vor Kälte zu schützen. Trotzdem hatten wir auch bei milderen Wintern die Scheiben der Fenster und Balkontüre voller dicker Eisblumen. Auf die lange Fensterbank legte meine Mutter noch zusammengerolltes Zeitungspapier von unserer Bäuerin. Wir Flüchtlinge hatten kein Geld, uns eine Zeitung zu kaufen.
In unserem Zimmer stand ein Kachelofen von etwa 1,20 Metern in einer Ecke, der obendrauf eine Öffnung zum Kochen hatte. Zwei verschieden große Ringe und ein Deckel in der Mitte ergaben die richtige Lochgröße für Kochtopf oder Pfanne. Zum Heizen und Kochen hatten wir hellen und dunklen Torf. Eine helle Torfsode, etwas größer als ein Ziegelstein, nahmen wir morgens zum Anheizen.
War das Feuer nachts ausgegangen, mussten wir erst Papier und Zweige zum Anfachen nehmen. Dann brachen wir von einer hellen Torfsode kleine Stücke ab, damit das Feuer besser in Glut kam. Danach legten wir erst eine ganze Sode drauf. Die schwarzen Torfsoden, etwas kleiner als ein Ziegelstein, dafür schwerer und fester, fast wie Briketts, wurden anschließend auf die Glut gelegt. Das taten wir am Nachmittag und frühen Abend. So wollten wir die Glut bis zum nächsten Morgen halten. Das gelang uns nicht immer.
Zum Anheizen nahmen wir manchmal trockene Wurzeln von Büschen und Bäumen. Wir Kinder gingen auf das Eis der Gräben und schnitten oder sägten die Wurzeln am Ufer ab. Die brannten wunderbar.
Dass es am Tage im geheizten Zimmer mal zu warm gewesen wäre, kann ich nicht erinnern. Wir mussten manchmal noch eine Jacke über den Pullover ziehen und uns trotzdem neben den Ofen rücklings auf den Stuhl setzen. Manchmal setzten wir uns davor und umarmten unseren warmen Ofen. Dafür hatte er für unsere kleinen Kinderarme gerade die richtige Größe.
Mein kleiner Cousin lag als Baby mit dickem Jäckchen und Höschen mit einem Kissen zugedeckt im geliehenen Kinderwagen. Meine Tante und ich, meine Mutter mit meinem Bruder, schliefen je zu zweit in einem Kastenbett. Als Matratze hatten wir einen gefüllten Strohsack unter unserem Bettlaken. Man glaubt nicht, wie weich und warm solch eine Unterlage ist. Trotzdem wollte keiner als Erster ins Bett, um alles anzuwärmen.
Zum Kochen und zum Waschen holten wir das Wasser in einer emaillierten Wasserkanne mit Schütte aus dem Stall. Die gefüllte Kanne ließ sich für meinen Bruder und mich gut tragen. Wir mussten darauf achten, dass wir die Kanne richtig unter die Pumpe stellten, damit kein Wasser vorbei lief. Es kam aus einer Zisterne, aus der wir auch manchmal einige Regenwürmer aus der Tiefe hoch pumpten. Als wir die ersten Würmer im Wasser schwimmen sahen, nähte meine Mutter aus einem alten Bettlaken, geschenkt von unserer Bäuerin, für alle Flüchtlingsfamilien Beutel zum Würmer abfangen beim Pumpen. Etwas Ekelgefühl blieb trotzdem.
Eine Gemeinschaftstoilette, am Abfallrohr angeschlossen, stand unserem Zimmer gegenüber auf dem Dachboden. Zum Nachspülen gab es eine Dosenspülautomatik.
Den Zehnlitereimer neben der Toilette mussten wir auch regelmäßig mit Wasser aus der Pumpe füllen. Eine Sitzung dauerte besonders im Winter und bei Regenwetter nicht so lange, denn wir saßen auf dem Örtchen fast wie im Freien. Durch die großen Ritzen der Dachpfannen pfiff der Wind. Also war frische Luft immer vorhanden.
Daran konnte man sich gewöhnen, wenn nicht am anderen Ende des Bodens eine Räucherkammer gewesen wäre. Wir mochten gerne den Duft, aber gräuliche Vierbeiner mochten ihn auch. Nur eine kleine Glühbirne sorgte für Licht, und Ratten mögen gerne dunkle Löcher. Da kam es schon mal vor, dass uns eine Ratte vor den Füßen vorbeihuschte, wenn wir auf der Toilette saßen. Derjenige, der solch ein Erlebnis hatte, ging abends nicht mehr allein dort hin. Wenn niemand als Beistand zur Verfügung stand, habe ich jedenfalls immer laut gesungen. Dann kam kein grauer Vierbeiner.
Schließlich verließ die erste große Flüchtlingsfamilie den Bauern, und das Toilettenbecken wurde wieder im Bad eingebaut.
Als die letzten Soldaten weg waren und ihr Donnerbalken noch da, haben wir 14 Kinder vom Hof den Balken ausprobiert. Natürlich ganz angezogen haben wir uns vorgestellt wie es ist, mit heruntergelassener Hose, bei jedem Wetter, auf dem Balken zu sitzen, Balance zu halten und sein Geschäft zu verrichten, aber mit Frischluftgarantie.
Autorin: Ingetraud Lippmann
Neukölln, Pannierstr. (II)
Auszüge aus dem Mitteilungsblatt der Zeitzeugen Quickborn "Zeitzeugen", Ausgabe 16, Januar - März 2007, Seiten 4 - 6. Die Autoren sind im Sinne des Presserechts für den Inhalt ihrer Geschichten selbst verantwortlich. Nachdruck oder Vervielfältigung auf fotomechanischem oder elektronischem Wege, auch auszugsweise, nur mit Einwilligung der Redaktion, Zeitzeugen Quickborn, p. A. Martin-Luther-Gemeinde, Freizeitraum, Lornsenstr. 21-23, 25451 Quickborn-Heide/Kreis Pinneberg, Deutschland, mailto:annemarielemster@yahoo.de
Autor: Fritz Schukat
Erst Anfang der 50er Jahre gab es einen kleinen Radioapparat im Hause meiner Großeltern. Bis dahin war „Ruhe im Salon“. Wenn mal Musik bei uns erklang, war es der Leierkastenmann, der auf dem Hof spielte. Manchmal „aktivierten“ wir Kinder das alte Grammophon, das auf dem Kleiderschrank in der guten Stube stand. Die etwa 20 Schallplatten lagen im Schrank ganz unten, schön verpackt in bedruckten Tüten aus braunem Packpapier, auf denen „Telefunken“ oder „Elektrola“ stand. Sie hatten auf beiden Seiten in der Mitte ein größeres Loch, damit man direkt auf das Etikett der Platte sehen konnte.
Im Wohnzimmer gab es einen schweren Tisch, der ausgezogen werden konnte. Die Tischfüße waren wahrscheinlich wegen der Stabilität unten mit einem Holzkreuz verbunden, d.h. eigentlich war das kein Kreuz sondern ein Art Doppel-Ypsilon, also zwei Dreiecke mit einer kleinen Verbindungsbrücke. Auf dem Tisch lag eine schwere, grün changierende Tischdecke, mehr Teppich als Decke und darauf stand ein Blumenstock, der täglich begossen wurde. An der Längsseite links in der Mitte stand ein Sofa, über dem ein Regal hing, auf dem wiederum etliche Bilder von Familienangehörigen standen. Das "Ensemble" wurde abgerundet durch zwei große „Thronstühle“ aus schwarzem Ebenholz. Zu dem Kleiderschrank gehörte auch ein Vertiko, in dem die Großmutter ihre Weißwäsche aufbewahrte. Dort lagen auch die Stofftaschentücher, die wir dort öfter abfassten. Über dem Vertiko hing eine Pendeluhr, ein so genannter Regulator. Er schlug alle halbe Stunde ein Mal und die vollen Stunden entsprechend der Stundenzahl, und er musste alle 8 Tage aufgezogen werden! Ein Ritual, das nur der Großvater zelebrieren durfte. Das Zimmer hatte damals schon Doppelfenster, weil es zur Straßenseite zeigte. Durch eine verglaste Doppeltür konnte man von dort auf den Balkon, den sich meine Großeltern mit den Nachbarn teilen mussten. An der Trennwand war ein Sitzbrett montiert, ebenso eines an der gegenüberliegenden Seite, so dass man - allerdings höchstens zu viert - dort sitzen und sogar Kaffee trinken konnte. Zwischen dem Fenster und der Balkontür stand ein riesiger Spiegel, etwa 2 Meter hoch. Oben drauf war ein kunstvoll geschnitztes Gitter. Der Spiegel hing etwas geneigt, aber das war gewollt, damit man sich nicht schon von der Tür sehen konnte. Auf dem Dielenfußboden lag ein großer alter, etwas abgewetzter Tep -pich, der jede Woche einmal zusammengerollt nach unten getragen wurde und dort auf der Teppichstange mit einem aus Weiderohr geflochtenem „Klopfer“ ausgeklopft wurde. Einen Staubsauger gab es nicht.
Im kleinen Zimmer standen zwei Betten aus Blechrohr und eine Schlafcouch, die beim letzten Polstern mit Tarnstoff bezogen wurde, weil es damals nichts anderes gab - Stichwort „Mangelwirtschaft“. Es gab dort auch einen ovalen Tisch, der irgendwie schief stand. Daran störte sich aber niemand, so lange ich mich an seine Existenz erinnern kann. Erst als wir die Möbel entsorgten, weil meine Schwester in den 60er Jahren nach dem Tod der Großeltern in den Mietvertrag einsteigen konnte, merkten wir, dass es nur eine kleine Reparatur gewesen wäre, und der Tisch hätte gerade gestanden.
Die Räume waren etwa 3,50 Meter hoch, an der Decke - allerdings nur noch in der guten Stube - waren breite Stuckornamente rund um das ganze Zimmer. Sie waren mehrmals weiß übertüncht worden, so dass man die feinen Ornamente nicht mehr so deutlich erkennen konnte. In der Deckenmitte war eine Gipsrosette, an der an einem Haken der „Kronleuchter“ hing. Das war ein 6-flammiges Ungetüm aus Rohr und Holz, machte aber trotzdem nur spärliches Licht, weil nach den Kriegsjahren immer noch Stromsparen angesagt war.
In diesem Zimmer standen auch die Ehebetten der Großeltern, allerdings längst zur Wand, und zwar schon so lange wie ich denken konnte. Es waren gedrechselte, schwere Holzrahmen, das Kopfteil etwa 1,50 m hoch, das Fußteil etwas niedriger. Sie nahmen visuell nicht allzu viel Platz weg. War einmal mehr Besuch da als Sitzmöglichkeiten, saßen wir Kinder auch schon mal auf den Bettkanten. Über den Federbetten lagen schwere Tagesdecken. Wenn in der kalten Jahreszeit viel Besuch kam, wurde deren Garderobe manchmal auch auf diese Flächen abgelegt.
In diesem verhältnismäßig großen Raum fand am Wochenende das Familienleben statt. Hier wurde sonntags immer um Punkt 12:00 Uhr gegessen, hier wurden die Familienfeiern zelebriert, hier kam die Großfamilie zusammen. Und hier fand sogar kurz vor Opas Pensionierung im Herbst 1947 das Tabakkolleg statt, das ich an anderer Stelle einmal beschrieben habe. Bei diesem Kolleg wurden anstelle des knappen Tabaks Thymianblätter geraucht. Allerdings dauerte dieses Kolleg höchstens eine halbe Stunde, gelüftet wurde dafür dann aber den ganzen Tag.
Fortsetzung folgt.
Das Haus der vier Elemente
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on Jürgen HünkeAuszüge aus dem Mitteilungsblatt der Zeitzeugen Quickborn "Zeitzeugen", Ausgabe 16, Januar - März 2007, Seiten 6 - 9. Die Autoren sind im Sinne des Presserechts für den Inhalt ihrer Geschichten selbst verantwortlich. Nachdruck oder Vervielfältigung auf fotomechanischem oder elektronischem Wege, auch auszugsweise, nur mit Einwilligung der Redaktion, Zeitzeugen Quickborn, p. A. Martin-Luther-Gemeinde, Freizeitraum, Lornsenstr. 21-23, 25451 Quickborn-Heide/Kreis Pinneberg, Deutschland, mailto:annemarielemster@yahoo.de
Ob die alte Hansestadt Stade es nun für einen Vorzug halten mag oder nicht: Ich bin dort geboren. Freilich bin ich kein Stadtkind, sondern wuchs nur innerhalb der Stadt und Gemarkungsgrenzen auf, an deren äußerstem südwestlichen Ende, wo ringsum Agrarwirtschaft betrieben wurde. Wenn ich einmal die zu einem prächtigen Laib geformte Teigmasse zum Backofen des bäuerlichen Nachbarn zu transportieren hatte schob ich die Karre durch eine Grenzfurche seines Ackers, da das allemal der kürzeste Weg war.
Mein Geburtshaus ‑ ach, nein, so etwas gibt es im gebräuchlichen Sinne nicht; denn zur Welt kam ich im Kreißsaal des Städtischen Krankenhauses. Also denn ‑ mein Elternhaus – nein, das gibt es auch nicht, vielmehr gehörte das Haus meinen Großeltern mütterlicherseits. Nicht Geburts- oder Elternhaus ‑ was denn dann? Ich bin dort aufgewachsen, also: Gewächshaus? Aufgezogen, also Zuchthaus? Es sah anders als, aus man Häuser gemeinhin kennt. Es hatte kein Spitz‑, Sattel oder Walmdach, sondern ‑ damals höchst ungewöhnlich ‑ ein teerpappegedecktes Flachdach. Es wies von außen auch keine Ziegel‑ oder Backsteinwände, kein Fachwerk auf, da es über gemauertem Sockel in der guten Zimmermannstechnik meines Urgroßvaters aus grobfaserigen Eternitplatten bestand, beides einheitlich weiß verputzt.
Die Straßenseite des Hauses ‑ Entschuldigung, wiederum Fehlanzeige: Das Haus stand an einem ländlichen Fahrweg, von dem bei uns vorbei ein Pfad in die Wiesen führte, auf dem manchmal an Wochenenden die alten Herren des Heimatvereins zu Exkursionen sich verlustierten. Von diesem Weg schirmte eine prächtige Buchenhecke das Gebäude ab, das sich in der Landschaft wie ein weißer Kubus von etwa 15 mal 30 mal 4 Metern ausnahm. Vom Hauptweg her, also dem „Kopfende“, befand sich eine Durchgangslücke in der Hecke, zum Eingang führend, der über vier oder fünf Stufen in einen auf Wohnebene gelegenen Windfang mündete. Alles darunter war der Keller, ein halbes Souterrain, ausgedehnte Räumlichkeiten mit viel Lagerfläche, zwei gemauerten Pökelbecken und einer mit Buchenspänen beschwelten Räucherkammer für Würste und Schinken.
Wir selbst sowie die Postboten, die Sammler des Winterhilfswerks oder der Herr Benz, unser Hausfriseur, betraten das Haus von der Hofseite her. Hof ‑ das war hier ein Obst‑ und Gemüsehof (Kirschen, Äpfel, Spargel, Erdbeeren), anfangs auch ein Geflügelhof für zweitausend weiße Leghorn, die aber im ersten Jahr der Hühnerpest erlegen waren.
Von der Hofseite her führten vier Stufen abwärts zunächst in die geräumige Waschküche, von der Küche und Speisekammer abzweigten. Davor befand sich ein gewaltiger Kessel mit einem Fassungsvermögen von wenigstens 120 Litern, eingemauert und beheizbar. Dummerweise kann ich mir trotz aller Anstrengung nicht mehr so richtig vorstellen, wie Großmutter, angetan mit grauer, karierter Schürze, hinter einem Dampfnebel mit vom Wasser klammen, fast abgestorbenen Händen die Wäsche knetete und walkte, wrang und rubbelte. Dagegen steht mir das zweckdienliche Abflussloch im Fußboden deutlich vor Augen.
Dort flossen Schaum und Wasser ab, wenn wir Gören ‑ meine Schwester und ich - des Samstags in die Zinkwanne kamen und munter herumplanschten.
In der Waschküche oder dem Waschkeller fand auch die Haarwäsche statt, zu der Großmutter meinen Kopf mit schraubstockartigem Griff über einer großkalibrigen Schüssel gefangen hielt und mich mit der anderen Hand so hart traktierte, dass ich mich nur wundern konnte, wenn meine flachsblonde Tolle dem standhielt, ohne auszufallen.
Zumeist fand diese Prozedur statt, bevor der Herr Benz ins Haus kam und den Waschkeller zum Friseursalon umfunktionierte. Er, dieser Herr Benz ‑ denn die hübschesten Pointen schreibt doch das reale Leben ‑, hatte lange auf Nachwuchs warten müssen und nannte seine Tochter, als sie dann endlich kam, ausgerechnet Mercedes.
Ansonsten hatte die Waschküche an Schlachttagen ihre Bedeutung, indem der große Kessel die Würste zum Brühen aufnahm. Es gibt übrigens, von Gülle und Misthaufen abgesehen, zwei wundervolle Landgerüche: den Duft brühender Wurst und, auf einer Bauerndiele, den Geruch geschnittener Rüben.
Die zum Schlachten erforderlichen zwei Schweine hatten ihren Stall ‑ zusammen mit unserem Plumpsklo, zu mehr reichte die Zivilisation nicht ‑ in einem Anbau, an dessen Wand die offenen Leiber auf einer Leiter den Trichinenbeschauer erwarteten. Nach dem Bolzenschuss war es wieder Großmutter in der graukarierten Schürze gewesen, die das Blut mit nacktem Arm rührte und rührte. Gewissermaßen schmeckte man bei der Blutwurst imaginär auch immer Großmutters Arm mit. Das bei allem benötigte Wasser bezogen wir per Handpumpe, die links gleich neben dem Hofeingang lag. Oft musste man vor der täglichen Mühsal mit dem Pumpenschwengel erst einmal einen Kessel Wasser einfüllen, bevor der Saugvorgang klappte, im Winter dann selbstverständlich heißes Wasser.
Neben dem Waschkessel war die Tür zur Küche mit anschließender Speisekammer. Am Kohle‑ und Torfherd stand Großmutter, die in guter alter Tradition als Mädchen „in Stellung“ in Hamburg das Kochen gelernt hatte. Um den Küchentisch versammelte sich die ganze Familie, mit den Kriegsgefangenen über ein Dutzend Personen, oft noch verstärkt durch Wehrmachtssoldaten, Bewacher der nahe gelegenen Gefangenenlager, als Benutzer des Nebenweges vom Duft der Kartoffelpuffer und der gleichermaßen vorzüglichen Bratkartoffeln angelockt. Man kann sagen, dass sich der eigentliche Umgang der Familie in Küche und Waschkeller vollzog. Die Treppe hoch ging es auf die Wohnebene, geradeaus auf die Altenteilerzimmer der Urgroßeltern und links und rechts einerseits in die Räume der Großeltern mit der Tante samt Kind und andererseits in die elterliche Wohnung und die Kinderzimmer von meiner Schwester und mir.
Erdacht hatte sich das Gebäude mein Großonkel, Bruder der Großmutter, ein Baumeister, für meinen Großvater, als dieser, kaufmännischer Leiter des Krankenhauses und Sozi‑Senator in Stade, von den NS‑Machthabern in die Arbeitslosigkeit entlassen worden war und sich eine neue Existenz mit Hühnern, Äpfeln und Kirschen usw. aufbauen musste.
Für Kinder war das Haus optimal‑ mit großen Spielflächen in den Kellern und ausgedehnten Fahrbahnen für die elektrische Eisenbahn durch zwei Langflure hin, optimal auch mit dem Flachdach, von dem aus man so wunderschön auf den lavendelumstandenen Rasen vier Meter hinab springen konnte und doch immer seine Knochen wieder einsammelte.
Im unteren Teil war das Gebäude den Elementen Erde und Wasser gewidmet Handpumpe und Waschkeller, im oberen den Elementen Feuer und Luft. Mit nackten Fußsohlen aufs Dach, das konnte im Sommer schön warm bis heiß sein, das Springen vom Dach dauerte nur eine luftige Endlichkeit, im Unterschied zu den nächtlichen Träumen, in denen man sprang und fiel und fiel und ohne Ende fiel.
Meine Wasserparabel oder warum lernt man das alles?
Auszüge aus dem Mitteilungsblatt der Zeitzeugen Quickborn
"Zeitzeugen", Ausgabe 17, April - Juni 2007, Seiten 8 - 10.
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von Jürgen Hühnke
Mein Nachbar ‑ nicht der, von dem ich im weiteren erzählen will ‑ meinte, als er für seinen Fritz die Entscheidung über die zweite Fremdsprache treffen sollte: „Was soll er damit? Selbst Englisch ist doch fast überflüssig. Wenn ich nach Ägypten reise und auf dem Basar etwas einkaufen will ‑ da kann doch jeder genug Deutsch!“ Gegenfrage: Wozu soll ein armes Fellachenkind Deutsch lernen? Ach ja, es könnte einmal ein ignoranter Tourist aus Alemannia bei ihm kaufen wollen! ‑ Na ja, was den Fritz angeht ‑ aus dem ist nichts geworden, jedenfalls nichts Rechtes.
Mit dem Gejammer der stets frustrierten Null‑Bock‑Generation sieht sich jeder Lehrer und Ausbilder alle Naselang konfrontiert: Wozu soll das alles gut sein? Gut mag der Pythagoras für einen Zimmermann sein oder einen anderen Bauhandwerker, wenn er einen rechten Winkel herstellen kann, indem er Leisten oder gespannte Bindfäden von genau 3,4 und 5 Meter Länge zusammenpasst. Gut kann man ein Lot zur Bestimmung der Senkrechten anwenden oder einen transparenten Schlauch mit Wasser zur Bestimmung der Waagerechten, wie Maurer es tun. Was aber ist mit all dem Unnützen, das man lernen soll?
Gemach, Leute! Ob etwas wirklich unnütz ist oder nicht ‑ das lehrt erst das Leben, der ewige Zufall. Für das, was einem da unversehens widerfahren kann, habe ich gern meine Wasserparabel benutzt, eine Gleichnisgeschichte, die den Vorzug hat, tatsächlich passiert zu sein, also eine Geschichte mitten aus dem Leben:
Meine Frau und ich waren in unserer noch nicht erschlossenen Straße die ersten Hausbauer in den Boomjahren der Sechziger. Nicht erschlossen ‑ das heißt vor allem, zunächst einmal einen Brunnenbauer anheuern, der einem das Grundwasser anzapft.
Einige Parzellen weiter entstand bald ein anderer Bau, ausgefertigt durch einen Stuckateur, der sich als Bauunternehmer versuchte. Was er errichtete, waren eher Potemkinsche Dörfer, nämlich Häuschen aus diversen, von anderen Baustellen verbliebenen oder gestohlenen Materialien, aus Beton‑, Gasbeton‑ und Kalksteinen und roten und gelben Ziegeln. Am Ende war von diesen chaotischen Zutaten nichts zu sehen, da die Gebäude einheitlich umklinkert wurden. Später verschwand dieser Unternehmer, der sich eher übernommen hatte, nach Südamerika, wo Interpol ihn aufgreifen ließ.
Die Villa Potemkin in unserer Straße bezog ein Zollamtmann, der mich eines Tages höchst erschrocken zu sich kommen ließ. Er entnahm der Leitung sprudelndes und, wie es sich gehört, farbloses Wasser, wusch die Hände mit Seife, und schon entstand im Waschbecken eine etwa kobaltblaue Lauge. „Was kann das sein?“ wollte der Nachbar wissen.
Nun, ich war in Chemie kein großes Licht. Meine Zweien im Zeugnis basierten darauf, dass ich zu den aufmerksamen Schülern gehörte; denn Piccolo, mein Chemielehrer, gab seinen Helfern Einsen, den Aufmerksamen oder doch Stillen Zweien und dem Rest Dreien.
Eigentlich beschränkt sich mein Chemiewissen auf die Unterscheidung von Schwefelsäure H2S04 und Schwefliger Säure H2S03, die Übersetzung von Kochsalz in Natriumchlorid und von Vitamin C in Ascorbinsäure sowie, in Verbindung mit Latein, auf die für das Rätsellösen so unentbehrlichen Zeichen für die Elemente: Eisen =Fe (ferrum), Silber = Ag (argentum), Blei = Pb (plumbum) oder Kupfer =Cu (cuprum). Mehr war es eigentlich nicht, abgesehen vom H20, dem Wasser, von dem die Gleichnisgeschichte handelt.
Und jetzt dies: Warum war das Wasser so blau? Das kann nur durch Kupfer verursacht sein, dachte und sagte ich, durch eine Säure aufgelöstes Kupfer. Offensichtlich wurden die kupfernen Leitungsrohre durch irgend einen Stoff verätzt und zersetzt. „Also sollte ich mein Wasser wohl abkochen“? fragte der Zöllner. „Um Himmels willen, Herr Nachbar“! rief ich, „das mag ja bei eisenhaltigem Grundwasser helfen und ihm die Bräune austreiben. Aber nicht bei einer Säure, Mann! Holen Sie sich Wasser bei mir!"
Was ich noch nicht bedenken konnte, weil es mir nicht bekannt geworden war: Der findige und windige Erbauer von Villa Potemkin hatte einen Kellerboden in B 4 oder allenfalls B 5 gegossen ‑ B 20 heißt normal gemischter Beton, weil er 20% Zement enthält: auf eine Schaufel Zement vier Schaufeln Kies. Dieser Norm entsprach der Kellerboden absolut nicht und ließ sich mit dem Finger aufbohren. Seine mangelnde Qualität erwies sich darin, dass namentlich bei starkem Regen und hohem Grundwasserspiegel munter die Nässe einsickerte. Deshalb hatte der Käufer dieser famosen Immobilie inzwischen eine Firma kommen lassen, die mit einer Anilinverbindung die Kellersohle hatte härten wollen. Bei der Herstellung von Anilin wird unter anderem Salzsäure gebraucht ‑ und die war die Ursache des Problems: Das nachbarliche Grundwasser bestand gemäß einer bald unternommenen Analyse zu einem bis zwei Promille aus solchem HCl, war also deutlich stärker konzentriert als Magensäure.
Da die dreiköpfige Familie meinem Rat nicht gefolgt war und ihr Wasser weiterhin zu Nahrungszwecken verwendet hatte, erkrankte sie an einem hässlichen Hautausschlag und lag eine Woche im Universitätskrankenhaus, die Körper über und über mit einer Salbe beschmiert und in enge Gummianzüge gepackt, die nur die Körperöffnungen frei ließen.
Die Moral von der Geschicht in Bezug auf Lernen und Zufall ... Wie schlossen doch unsere guten alten Mathepauker ihre Beweisketten? q.e.d. (Quod erat demonstrandum) ‑ was zu beweisen war!