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Um die Jahrhundertwende erhielt das fahrende Volk der deutschen Landstraßen einen neuen Zuzug, der sich grundsätzlich von allem unterschied, was jemals auf Schusters Rappen durch die Landschaft wallfahrte. Er entströmte einem Ereignis, das sich freiregsam in den Großstädten durchsetzte und das Bild der deutschen Jugend im Nu und auf das Tiefste veränderte. Dieses Ereignis: die Geburt des deutschen Wandervogels, ist noch heute in seiner Bedeutung nicht allgemein erfaßt und stellt eine Wiedergeburt, eine Renaissance des deutschen Menschen dar, deren Tragweite und Auswirkung erst in der Zukunft vollkommen sichtbar werden wird.
Es war keine wirtschaftliche, sondern eine seelische Not, die allgemein und mit beispielloser Inbrunst zum Ausbruch kam und ganz neue Wege eines gemeinschaftlichen Lebens entdeckte! Die rasende Entwicklung der deutschen Städte in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts hatte ein großstädtisches Geschlecht hervorgebracht, das jede Beziehung zur Landschaft und zur Natur verloren hatte, damit zu allen Quellen der Herkunft und der nationalen Gemeinschaft. Es war, als ob dies Geschlecht nicht mehr unter dem Himmel, sondern unter einem künstlich gefärbten Glasdach lebte, eingeengt in die Steinmauern der wachsenden Vorstädte, schmalbrüstig und bleich geworden im Zwang des unerbittlichen Spezialistentums, das die neue Zeit als Daseinsbedingung von jedem forderte. Immer mehr wurden der brillenbewehrte, blasse, "büffelnde" Schüler, das blutarme, moderne Mädchen, der gebeugte Bureaumensch, der düstere Fabrikler zum Inbegriff der Industriezeit; den Ziffern steigenden Wohlstandes trat ein Zustand des großstädtischeu Bewohners entgegen, der einer allgemeinen körperlichen und seelischen Entartung unaufhaltsam zuzusteuern schien. Einseitiger Wissenskult, Überschätzung des reinen "Vorwärtskommens" auf Kosten des Leibes und der Seele, Entfremdung von wahrer Kultur zugunsten einer mißverstandenen "Zivilisation" machte den Industriebürger statt zum Herren zum dahinsiechenden Sklaven seiner Erfindungen und seines technischen Fortschrittsrausches. Lediglich der sog. "Ausflügler" stellte eine kümmerliche Verbindung mit der großstadtnahen Landschaft her; aber sie bewirkte fast nur das Gegenteil dessen, was nötig war: auch die Umgegend der Hauptstädte wurde verstädtert und mit der Unkultur des Stadtlebens überschwemmt.
Da kam aus der Jugend der Städte selbst der hinreißende Antrieb zur Wandlung, so elementar und ursprünglich, so ungestüm und instinktsicher wie ein Naturereignis. Mit einem Schlage war eine neue Menschenart entstanden, die sich von der bisherigen Jugend innerlich und äußerlich grundsätzlich unterschied. In hellen Haufen fanden sich Jünglinge, die ohne Hut und Kragen, mit offener Brust und freien Knien hinauszogen zur "großen Fahrt", um im hellen Licht der Sonne, im Rauschen der Wälder, unter den stillen Sternen und am Holzfeuer nicht nur die Körper zu lüften und zu stählen. auch ein neues inneres Leben zu finden, das abhanden gekommen war und nach dem sie dürsteten. Jauchzend wie verlorene Söhne, die heimgefunden haben, stürmten die ersten Wandervögel zur Mutter Landschaft, zur schönen Heimat, die sie mit allen Zaubern ihres urewigen Wesens empfing. Wie verwunschen kamen sich die jungen Entdecker vor, durch alle Niederschriften jener Zeit klingt der Jubel eines schier unaussprechlichen Glücks. Und auch eine innere Heimat war gefunden: gleichfalls mit einem Schlage waren aus den Jahrhunderten unzählige, längstvergessene Lieder wieder lebendig geworden und strahlten ihre unvergängliche seelische Schönheit aus. Die neue Welt knüpfte unmittelbar an die alte romantische Welt des fahrenden Ritters, des gläubigen Pilgers, des wandernden Scholaren, des Handwerksburschen, der Fuhrleute und Postillone, der fröhlichen oder traurigen Landsknechte an.
Deutsche Jugend hatte deutsche Erde berührt und fühlte ihre Kräfte ins Ungemessene wachsen. Wie eine Erhebung griff die deutsche Wandervogelbewegung um sich, wuchs in die Breite und in die Tiefe, als wahrhafter Ausdruck einer unbändigen Sehnsucht der Zeit. Unerschöpflich waren die Schönheiten, die das durstige Auge des Wandervogels entdeckte und in fast trunkenen Worten verkündete; berauschend war auch das Gefühl der neuen Gemeinsamkeit, das die Vereinzelung und das streberische Gegeneinander ablöste, unter der die Jugend der Städte gelitten hatte. Man erkannte, daß es noch andere Lebensziele gab als den Erwerb von Gütern und Stellungen, eine neue Pflicht und eine neue Würde der Kameradschaftlichkeit, ohne die ein Volk nicht mehr sein kann als ein zufälliges Nebeneinander vieler Menschen. Dieses Erlebnis verbündete sich in jäher Erkenntnis den hochgemuten Ereignissen der Geschichte unseres ...
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