4. Jahrgang * 1920/21 Heft 4, «Der Neue Merkur», Monatshefte
Herausgeber: E. Frisch und W. Hausenstein
Verlag „Der Neue Merkur“ München

[Seiten 193 - 207]

Krieg und Frieden

von Alfred Döblin

Der Krieg ist so wenig wie der Friede ein Naturgesetz. Ich verstehe unter Krieg den bewaffneten, tötenden Streit von Völkern.

Töten an sich ist nicht unnatürlich; das heißt: es töten zahlreiche Tierarten. Das Töten innerhalb einer Tierart scheint seltener zu sein als zwischen verschiedenen Arten. Andererseits kommt in derselben Tiergruppe Tötung zwischen nächsten Blutverwandten vor: die Vernichtung der Säuglinge durch Mutterschweine, Kaninchen, Mäuse.

Es besteht vom konstatierenden Standpunkt kein erkenntlicher Unterschied zwischen dem Beilschlag des Mörders oder dem Flintenschuss des Feindes und dem Eindringen von Myriaden Tuberkelbazillen in die menschliche Lunge, dem Infektionstod.

Einzelleben sind der Natur nicht heilig. Die Bedachtsamkeit auf Frucht und Samen dagegen ist beispiellos; die Zahl der möglichen Geburten übersteigt alle Vorstellung. Dabei kommt es nicht auf Erhaltung der Art an - ist die Natur ein Biologe, daß ihr an Typen etwas liegt? -, sondern auf neues Leben. Die Natur vernachlässigt die Einzelleben, aber verachtet sie nicht.

Der Selbsterhaltungstrieb widerspricht anscheinend dieser Apathie der Natur gegen Einzelleben. Der Selbsterhaltungstrieb ist beim Menschen eine sehr zweifelhafte Sache; er wird von allen möglichen Gefühlen und Trieben leicht geschwächt und ganz außer Spiel gesetzt. Zahllose Menschen sind gleichgültig gegenüber dem Schlachtentod; bei Chinesen und Indern gibt es gewisse, uns wahnhaft scheinende Vorstellungen, unter denen der gewöhnliche Mann ruhig und sorglos in den Tod geht. Wo die Natur sicher gehen will, arbeitet sie mit automatischen Reflexen; beim Selbsterhaltungstrieb, bei dem so massenhaft Ausnahmen vorkommen, handelt es sich jedenfalls nicht um eine merkliche Sicherung der Natur gegen die Vernichtung der Einzelleben.

Die Menschen bilden, wie alle organischen Wesen, Zwecke; bzw. sie bewältigen gewisse Vorkommnisse ungünstiger Art durch ein Verhalten, [194] das die schädliche Wirkung des Vorkommnisses möglichst abschwächt. Sie nützen das Bekömmliche und Gute aus. Das ist ihre Gewandtheit, ihr Können, ihre Tugend, die Grundvoraussetzung ihres Daseins, die Bedingung der Fortdauer ihrer Art. Ganz allgemein gesehen, erfolgen alle Handlungen und Geschehnisse als Funktionen zwischen Mensch und Vorkommnis. Vorkommnisse sind auch die anderer Menschen.

*      *
*

Ich bin genötigt, gegen einige Leute zu polemisieren, die von Pazifismus reden, ohne ihn zu verstehen. Friedliche Gedanken werden seit Jahren planmäßig lächerlich gemacht durch pathetische Lobredner eines Dinges, das sie Pazifismus nennen. Sie erleben mit eine ungeheure Umwälzung der Welt und glauben, daran mit Harfeschlagen teilnehmen zu müssen. Teilnehmen zu können.

Man darf nicht Pazifismus als einzig maßgebendes Prinzip der Politik aufstellen wollen. Läßt man faule und Spannungszustände aus vermeintlichem Pazifismus auf sich beruhen, lehnt man ihre Auseinandersetzung ab, so führt man das Prinzip ad absurdum. Man kann dem Menschen nicht verbieten, auf Zustände um sich zu reagieren, da sein Leben selbst die Funktion dieser Zustände ist. Es ist nicht richtig, daß die Schlafmütze das Symbol des Pazifismus ist. Es wird erstrebt, den notwendigen Kampf der Lebendigen zu regulieren. Der Pazifismus tut nichts, als dies Ziel der Regulation aufstellen, konkrete Methoden zu Verwirklichung des Ziels erdenken und zur Diskussion stellen. Ich betrachte einige Kriege.

*      *
*

Vor sehr langer Zeit saß in Apulien, nicht weit von der Balkanhalbinsel, ein bekannter Mann, der Normannenherzog Robert Guiskard. Niemand, welcher ethischen Richtung oder Steuerklasse er auch angehöre, kann daran zweifeln, daß es diesem Mann und seinem Volke „gut“ ging; daß er überhaupt Apulien besaß, dies schöne Land, er, der Normanne, wer möchte ihn darum nicht beneiden; welcher Neid schwelt nicht schon um eine kleine Villa am Tegernsee. Daß er mehr wollte, der Herzog, daß er Byzanz selbst mit seinen reiche Provinzen begehrte, trotzdem, man achte, trotzdem es ihm gut ging, gehört zu den Dingen, die nachdenklich machen müssen, - die sich vom moralischen Standpunkt etwa schwer begreifen lassen; mehr als „gut“ gehen kann es doch [195] keinem. Man kann übrigens auch schwer von einer hetzenden Rüstungsindustrie sprechen; es bestand bei den Normannen keine Aristokratie, die das Volk vergewaltigte, man übte da kurzen Prozeß. Trotzdem: alles wollte hinüber nach Byzanz. Es ließ ihnen keine ruhe, man kann es einen Tik [sic] nennen oder nach Freud analysieren, - Sie wollten über das Meer, nach dem Balkan. Wie kurze Zeit waren sie erst in dem herrlichen Apulien, sie hatten alles kurz und klein geschlagen, noch nicht genügend Ruhe gefunden, sich am Fleck zu etablieren, den Honig aus seinen Blüten, den südlichen Wein aus seinen Reben zu heben, - schon hat es sie, sie wollen übers Meer. Die Jungen, die Weiber, die Kinder, die Greise, die Fürsten und Bettler, sie wollen übers Meer fahren nach Byzanz; der Teufel holt jeden, dem er am Kragen saß. Wäre die Welt mit „moralischen“ Gesichtspunkten zu fassen, wären solche Gesichtspunkte bei den Funktionen zwischen Mensch und Umgebung wesentlich maßgebend: der weitere Verlauf vom humanistischen Standpunkt wäre, daß der mit allen Wassern der Religion, der Religion und Kultur gewaschene Kaiser des heimgesuchten Landes jenem blinden Triebe Platz machte, Frieden schlösse vor dem Unabwendbaren und sich beruhigte. Es wäre nicht viel verlangt, er hätte sich unterwerfen können. Elexios Komnenos heißt der damalige Herrscher in Konstantinopel; als er hörte, daß Robert Guiskard im Mai 1081 bei Ottanto und Brindisi 30 000 Mann und 150 Schiffe sammelt, benimmt er sich - das Wort kommt mir schwer aus der Kehle, aber es muß gesagt werden - Alesios Komnenos benimmt sich schlau. Man fasse das: eine solche Situation, Kaiser sein - und schlau; nichts als das; nur politisch und militärisch richtig; die täglich verehrten ewigen göttlichen Verkündigungen und Lehren bleiben schwarz auf weiß. Die Lehre, das Pergament zeugt keine einzige menschliche Bewegung! So und garnicht anders zu handeln wie der Khan der Seldschuken auch gehandelt hätte, wie ein x-beliebiger Kaiser von Japan oder Korea, der nicht daran denkt, als „Klügerer nachzugeben“, der sich wehrt wie jeder kleine Junge, den ein Hund beißen will, als gäbe es keine orthodoxe Religion, keine Gebote der Humanität, keine aufgeblühte byzantinische Kultur. Wie raffiniert Alexios den Krieg vorbereitete,. Und dann drauf losschlug. Es ist zum Herzzerbrechen. Und er siegte. Wer kommt darüber hinweg?

Wir wollen uns nicht zu lange bei dem elften Jahrhundert und diesen Entsetzlichkeiten aufhalten. Im dreizehnten wird es besser sein. Wir können guten Mutes darauf vertrauen.

[196]

Ungeheuer waren damals in den europäischen Ländern die religiösen Ideen über die Seelen hinweggestürzt, die Inbrunst des Glaubens war ohnegleichen, alles gab man für die Kirche hin, man erhob sich von der heimatlichen Erde, dachte an Gott und Christus und drängte, möglichst nahe dem geographischen Ort des ungeheuren Mysteriums zur Zeit des römischen Kaisers Augustus zu gelangen. Wann hat man je wieder eine Zeit erlebt wie diese? Welche Zeit wie diese wäre mehr geeignet, was „menschlich“ im Sinne der moralischen Pathetiker im Menschen zu entbinden? Alle Verbrechen waren gesühnt dem, der das Kreuz nahm, um zum Heiligen Grabe zu wandern; sonst durfte Mann und Frau nicht voneinandergehen, um Mönch oder Nonne zu werden, jetzt brauchte keiner sich des Drangs seiner inneren Stimme zu erwehren. Millionen zogen aus, alle Klassen, alle Alter.

Es geschah damals, daß in langen Pilgerröcken mit Taschen und Stäben - und mit nicht viel mehr - einige Tausend auszogen, um das Heilige Land zu finden; deutsche Kinder, ja, Kinder, und sie trugen keine Waffen. Ein Knabe namens Nikolaus führte sie durch jubelnde, glockenläutende Ortschaften nach Italien. Es geschah weiter, daß vor den Alpen soviele unter den Strapazen, Hunger und Durst starben; jenseits der Alpen durften lombardische Räuber sie empfangen und italienisch mit ihnen umspringen; dann erreichten sie Genua; immer mehr fiel über sie her; man vertrieb sie von dem Stadtgebiet, an allen Orten sanken die Kinder, sie suchten verloren Unterschlupf, wo er sich bot, vermieteten, verkauften sich. Wie wenige kehrten heim in die Dörfer und Weiler, aus denen sie Gesang, Blumen, Spenden und Gebete geleitet hatte.

Auch die 30 000 französischen Pilgerknaben trugen keine Waffen. Zu Marseille erboten sich zwei warmherzige Menschen, sie um Gotteslohn zu Schiff nach Syrien zu fahren. Auf sieben großen Seglern wagten sich die Kinder hinaus, zwei Schiffe strandeten nach zwei Tagen bei Sardinien; dies war ein Zufall; die übrigen fünf glaubten die beiden warmherzigen Menschen nicht weiteren Zufälligkeiten überlassen zu dürfen, so bogen sie ab, zogen ihre Pelzmützen am Stande von Ägypten zu Alexandrien, stellten sich als Sklavenhändler vor, die Kinder waren bald treu behütet. Zwar haben späterhin beide Bonhommes an einem und demselben Galgen geendet, zu fünft mit dem Emir von Sizilien und seinen beiden Söhnen. Jedoch war den Kindern nicht geholfen, nur Menschlichkeit hatten sie prästiert *), rein und ohne Vorbehalt, und ihr Erlebnis war ein Märchen [197] geworden; die Geschichte berichtet zärtlich davon, lächelnd. Oh, was für ein Lächeln!

Aber wie sonderbar ist es, daß auch die anderen erwachsenen Kreuzfahrer darüber lächelten, sie, die vom gleichen Blut, aus einem Reis entsprungen scheinen. Zum Kampf gegen die Ungläubigen geht es! Lüfte die religiöse Maske des Kreuzzüglers, dann siehst du: unter dem wallenden Nebel der Glaubensinbrunst hingebreitet orientalische Städte, flimmernde Meere, bunte, tolle Szenerien, üppige Weine und Weiber, leere Throne!

*      *
*

Wie kommt es dann überhaupt zu friedlichen Erscheinungen in der Weltgeschichte? Was bedeutet das Vorkommen friedlicher Neigungen im Menschen und in Menschengruppen? Sind solche Vorgänge, wie die Kreuzzüge, der Zug des Guiskard als typisch anzusehen, maßgebend für die Charakteristik der Art Mensch?

Man pflegt das Vorhandensein friedlicher Neigungen - in Hirten- und Jägervölkern - so zu entwickeln.

Der Mensch, in die Notwendigkeit versetzt, Gruppen zu bilden, entwickelt dazu dienliche Eigenschaften. Gesetze, Befehle halten die für die Gruppe lebenswichtigsten Punkte fest. Das weitere besorgt ein Zähmungsprozeß.

Der Mensch, ist nicht ganz Haustier. Sogar Hunde, Schoßtiere beißen. Der Mensch unterliegt einer Zähmung, die ihm Eigenschaften einimpft, die er nicht besaß, ihm Eigenschaften entfremdet, die sein Innerstes ausmachten. Herrscher, Religionen, Kirchen arbeiten an der Domestikation ihrer Menschengruppen; die Zähmung läuft verschiedene Wege, bezweckt Verschiedenes, ist in Afrika anders als in Asien, in Europa. Man befriedet die Mitglieder. Gesetze, Moralen gelten nur innerhalb des Zirkels. Natürlich, der Dompteur muß bei Löwen anders arbeiten als bei Kaninchen und Papageien. Über das Außerhalb des Zirkels, über die Fremden, bleibt Gesetzlosigkeit, Morallosigkeit verhängt. Fremde Moral ist keine Moral, Andersgläubige sind Ungläubige. Das moslemische Staatsprinzip teilte den ganzen Erdkreis in Dar ul Islam und Dar ul Harb, das heißt: Haus des Islam und Haus des Krieges.

Zweck der Zähmung ist nur Ruhe und Sicherheit innerhalb der Gruppe; am Verkümmernlassen der Instinkte gegen die Fremden hat niemand Interesse. Im Gegenteil, man stärkt sie, die Gruppen müssen sich [198] verteidigen, sie wollen unter Umständen Beute, neues Land; da muß mit einer Hand gegeben werden, was mit der anderen Hand genommen wurde: zahm nach innen, wild nach außen. Nicht nur Gelegenheit zu Paradoxen, sondern ungeheure faktische Schwierigkeiten entstehen; mit der Verkümmerung der elementaren Instinkte sinkt bisweilen die Gesamtkraft. Die Zähmung darf aber nur bis zu einem gewissen, schwierig feststellbaren Punkt vorgehen, soll sie nicht zur völligen Vernichtung führen.

Mit den innervölkischen Grundsätzen, diesen Domestikationsprinzipien, wird sehr rasch Mißbrauch getrieben; rasch treten Individuen und Gruppen auf, welche den Erfolgen der Zähmung, die sie an sich feststellen, allgemeinen, absoluten Wert zuschreiben, das heißt: Wert, der übervölkisch, ja metaphysisch sein soll. Sie verwechseln Zweck und Mittel, halten sich und ihre jetzige Artung, die bloß als Mittel gedacht war seitens der Politiker, für Selbstzweck. Von Menschen und Menschlichkeit war vorher gar keine Rede, nur von Chinesen, Osmanen, Seldschuken; zwischen Feinden menschlicher Gestalt und Panthern und Feuersbrünsten, Erdbeben, Steinschlag bestand bis da kein Unterschied. Überall war bis da die Welt zerteilt in das Haus der eigenen Nation - in ihr der Frieden -und das Haus der Fremden - gegen sie Krieg, zum wenigsten Mißtrauen oder Gleichgültigkeit. Jetzt soll dies Haus des Friedens sein Dach ausdehnen über Fremde, die nicht unterworfen sind, seine Mauern um sie spannen. Welche feine, subtile Unterwerfung! Sollte sie nicht mit einer übermenschlichen Natur rechnen? Jetzt verbietet man Kampf mit Männern fremden Gesichts und unbekannten Wachstums - weil sie Brüder seien! Individuen und Gruppen führen mit unerhörter Kühnheit diese Prinzipien auf ein neues Gebiet; teils wahnbefangen, instinktverkümmert und bis in den Kern gezähmt, so daß sie nicht einmal mehr erkennen können, was hinter ihnen liegt; teils kriegerischen Herzens, sich anmaßend, mit ihren „friedlichen“ Prinzipien auch fremde Gruppen zu befrieden, das heißt zu bezwingen. Das kolossale Beispiel der Kirche; die Religionen, die erst Nationalkultur waren, sehr ad usum proprium; dann die Moralen. Die Moralen besonders, von ihrem Boden losgelöst, sind hier wichtig; sie sind notwendig bei vielen Völkern, in wichtigen Punkten ähnlich, weil die Zähmungsgrundsätze unter annähernd gleichen Bedingungen innerhalb der Völker gleich ausfallen müssen. Die so bedingte Ähnlichkeit erweckt den Anschein des Vorhandenseins einer allgemeinen Menschlichkeit. [199] Der gut gezogene Bürger umgibt sich mit dem Air des Kosmopoliten. Die Zähmung ist auf den Höhepunkt geraten; ihr Produkt genieße sich.

Daß der Monotonie der Moralen eine völlig anders geartete Monotonie der Politiken gegenübersteht, wird rasch übersehen, daß mit ähnlichen Argumenten gezeigt werden kann: alle Menschen sind Feinde, wie: alle sind Brüder. Bei einem gewissen Zähmungszustand gelten die politischen Grundsätze, die außermoralischen, als etwas Verächtliches. Man wagt dann in vollendeter Naivität, sie mit dem Maße der Moralen zu messen: die Kinder verprügeln ihren Lehrer. Entzückt wird sicher der Politiker sein, dem dies widerfährt; besser kann die Erziehung nicht glücken; so tief in die Seelen hat die Disziplin ihnen geschnitten. Der Politiker wird ihnen zur Freude gern die moralische Attrappe umlegen, sich ernst in ihr bewegen, sofern er sich das Lachen verbeißen kann bei der Drolerie der Situation.

Die Entwicklung rast dann so zu Ende, daß ihm das Lachen bei der Artigkeit seines Publikums vergeht, sobald nämlich diese Artigkeit handgreiflich wird. Man wird geneigt, ihm unversehens ein Bein zu stellen, ihn für überflüssig zu erklären, ihn einen Störenfried zu nennen. Man erkennt in einem stürmischen Moment in diesem Politiker den Gottseibeiuns, der er von einer gewissen Distanz aus wirklich ist, und erklärt, über ihn zur Tagesordnung übergehend, die innere Politik in Permanenz zur äußeren. Denn das ist ja der wichtigste, immer wieder dick mit allen Farben zu malende Punkt: Moral ist bis da nur Mittel der oben explizierten inneren Politik; grundsätzlich und von vornherein führt die Politisierung der Zähmungsresultate zur Praxis des Kinderkreuzzugs, garantiert das schmerzliche Lachen des Historikers. Die Moralen werden immer nur bisweilen, bisweilen von einzelnen in die Praxis überführt; die andern sind schlau wie Alexios von Byzanz, und an Alexios scheitert alleweil der holde Wahn.

*      *
*

Zunächst: Die menschliche Natur ist breit, und was uns als Gegensatz erscheint, braucht in einer gewissen Tiefe nicht mehr entgegengesetzt zu sein. Es kann auch Gegensatz sein, jedoch polar geforderter; der friedliche Mensch ist nicht die volle Realität, so wenig wie der kriegerische; die volle Realität ist ein Wesen, dessen Leben in Spannungen des friedlich-kriegerischen abläuft. Schließlich sind Krieg und Frieden zwar objektiv wichtige, praktisch bedeutungsvolle Dinge, jedoch sie bezeichnen am [200] Menschen nichts. Es sind Unterscheidungen von grober Art, wie: ein Volk, das mit A anfängt und eins mit B. Krieg und Frieden ist vielerlei und funktionell Unvergleichbares bei den verschiedenen Menschengruppen.

Es muß zugegeben werden: die Frage nach der Existenz einer allgemeinen Moral ist schwer. Auf Metaphysik willl [will] ich mich nicht einlassen.

Jedenfalls erkannt [erkennt] man, daß überall da Moral geübt oder zugelassen wird, wo sie die Gesamtheit gebraucht, genauer: Grundsätze werden durch ihren Gebrauchswert für die Gesamtheit zu Moral - und daß Moral überall da suspendiert wird, wo die Gesamtheit, genauer die Machtrepräsentation des Volkes, es für nötig hält. So hat Lenin den deutschen Revolutionären bemerkt, als sie über „ungerechte“ Urteile gegen ergriffene Rebellen lärmten: Es sei, sagte er, offenbar den ideologisch schwärmenden Herren unbekannt, daß die Rechtsprechung Machtmittel der herrschenden Klassen ist. Im übrigen läßt sich das historische Wachstum vieler Moralen bereits verfolgen, ihre grundsätzliche Verschiedenheit liegt zutage. Es gibt nicht nur Herren- und Sklavenmoral, sondern zahlreiche ethnologisch und historisch bestimmte, die man zweckmäßig nicht agitatorisch rubriziert.

Das ist jedoch nicht die ganze Wahrheit. Nicht einmal die wichtigste Teilwahrheit. Man kommt zum Kernpunkt nicht, wenn man fragt: Wie sind friedliche Regelungen bei Völkern möglich ? sondern, wenn man fragt: Wie sind Völker möglich ?

Die entscheidenden Perspektive gibt der autochthone*) Gesellschaftsdrang der Menschen. Der Gesellschaftstrieb der Menschen ist keine moralische Erfindung und Lehre, sondern ein Faktum, und zwar das ungeheure Faktum einer Kraft.

Man kann diesen Trieb in keiner Weise auf eine Linie stellen mit irgendwelchen anderen. Es ist eine biologisch wirksame Kraft, die auf die Menschengeschlechter mit derselben Stärke wirkt und gewirkt hat wie der Aufenthalt in Höhlen, die Belichtung durch Tropensonne. Es ist eine Kraft, die plastisch wirkt und wirkte und den Menschen anthropologisch so gemacht hat, wie er jetzt ist. Denn die Fähigkeit der Menschen, sich an Terrainschwierigkeiten anzupassen, Witterungswechsel auszuhalten, Kälte und Hitze zu ertragen, Tiere zu töten oder ihnen zu entgehen, hat es ihnen ermöglicht, eine fast unbehaarte Haut zu haben und doch nicht zu erfrieren, schlecht zu klettern, schlecht zu sehen, kaum zu riechen, mäßig zu laufen und doch leben zu bleiben, sondern der Gesellschaftstrieb, der unbedingt von Haus aus und vor den gefährlichsten Erfahrungen in ihnen vorhanden [201] gewesen sein muß. Ich nehme es nicht hin, wenn einer erklärt: diese Kraft ist im Kampf ums Dasein einmal entstanden und in der Auslese seiner Besitzer vererbt. Im Kampf „entsteht“ überhaupt nichts; der Kampf ist nicht produktiv. Produktiv und plastisch ist der lebendige Organismus. Wesentlich ist: diese Kraft ist ein entscheidendes Merkmal der vorhandenen Menschenrassen. Die gegenwärtigen Menschenrassen besitzen den Gesellschaftstrieb als eine Kraft, Tugend und Vermögen, das, fast mehr noch als die Fähigkeit, bei dieser bestimmten Luftzusammensetzung zu atmen, ihr Leben erhält.

Der Gesellschaftstrieb ist kein Defektsystem. Es ist völlig unsinnig, [201] zu sagen, der Mensch drängt zu anderen, weil er allein nicht existieren kann. Dies Alleinexistieren ist eine ganz willkürliche Fiktion; man kann nicht argumentieren; er lebt auf der Erde, weil er nicht unter dem Wasser leben kann. Es ist seine Fähigkeit, seine Tugend und Vermögen, Gruppen zu bilden. Es muß mit größerem Recht gesagt werden: weil der Mensch die Fähigkeit hat, zu anderen zu drängen, ist vieles an ihm verkümmert, - als: weil an ihm vieles verkümmert ist, drängt er zu anderen.

Der Gesellschaftstrieb ist ganz und gar keine moralische Eigenschaft, er wird degradiert durch solche ephemere*) Charakteristik. Er hat nichts zu tun mit der Neigung der Eltern zu Kindern, der Liebe zwischen Geschlechtern, nichts mit Empfindungen vorübergehender Existenz und wechselnder Stärke, sondern ist eine spezifische, gleichbleibende, nicht auszulöschende gewaltige Kraft. Sie ist ein biologisch produktives Element. Sie bedarf keiner intellektuellen Fürsorge.

Diese gesellschaftsbildende Kraft steht in Konflikt mit anderen Kräften, den entwicklungsgeschichtlich wahrscheinlich älteren der einzellaufenden Bestie. Jedoch weiß niemand, ob und wieweit der zum Menschen variierende Affenstamm nicht schon selbst in Rudeln lebte. Wenn gesellschaftsfeindliche Instinkte im Menschen sind, kann es sich nur demnach um Rudimente handeln. Es sind verkümmerte Triebe und Regungen von absterbenden und abgestorbenen Funktionen, nicht mehr wie die Anlage der Kiemenbögen beim Fötus. Indem der Gesellschaftsdrang auftrat, unterdrückte, verdrängte er diese Kräfte, ließ sie verkümmern; sie führen eine mehr parasitäre Existenz im menschlichen Organismus. Der Gesellschaftstrieb bedient sich dieser relativ schwachen Regungen auch, färbt sie; sie erscheinen gespensterhaft am Leben, im Traum, in der Phantasie, der Kunst, bei unsicher Konstituierten. Sie gebärden sich wild und suchen den Schein zu erwecken, als wären sie die eigentliche Menschennatur.

[202]

Es ist ein grundsätzliches Verkennen, wenn man diese Rudimente als die eigentliche Vitalität des Menschen anspricht. Im Menschen kämpfen nicht Instinkte einer einzellaufenden Bestie mit Instinkten eines gesellschaftbildenden Tieres. Wenn solch ein Kampf überhaupt jemals in der Stammesgeschichte vorlag, so ist er abgeschlossen; die Einzelläuferinstinkte haben sich als unfruchtbar erwiesen; sie führen zum Zugrundegehen ihrer Träger; die Gesellschaftskraft hat die Art entwickelt. Es ist ein fabelhafter Irrtum, von diesen Rudimenten eine Regeneration der Menschenart zu erwarten. Sie sind, wie die Titanen unter dem Olymp, erstickt, damit die Götter thronen. Aber die Gesellschaftskraft ist so stark und ihrer Position sicher, daß sie sich solche Spielereien und Scherze mit den Rudimenten leisten kann.

Die Lehre von der Zähmung angeblicher Menschenbestien durch stärkere Menschen, Eroberer, dazu das Meiste der vorhin entwickelten „Genealogie“ der friedlichen Neigungen halte ich demnach für eine Naivität. Jene Züchter sind schon selbst gezähmt, es sind besonders gesellschaftsbildende, besonders organisationsbegabte Tierexemplare; in ihnen ist der Gesellschaftstrieb überaus aktiv und schon lange aktiv. Die Vorfahren dieser Zähmer und Züchter haben selbst schon Jahrtausende zusammen gehaust.

Darum ist es auch unhaltbar, verächtlich von einem Herdentrieb beim Menschen zu sprechen und einen Einsamen der Herde gegenüberzustellen. Mag es Gesichtspunkte geben, unter denen das Volk ein Umschweif zu großen Persönlichkeiten ist, so sehe ich doch keine Möglichkeit, die Größe einer Persönlichkeit anders zu bestimmen, als an dem Maßstab irgendeines Volkes, und so bleibt die große Person innerhalb des Volkes und lebt ihre Größe für das Volk.

Nietzsches Lehre von der unterwerfenden blonden Bestie besitzt keine große Tragweite. Es können blonde Rassen über andere hergefallen sein, sie können auch Moralen über diese Völker verhängt haben; das ist eine kleine Angelegenheit innerhalb der Völker. Die blonden Herren sind Herdenmenschen wie die unterjochten; was Nietzsche gibt, ist ein Kapitel aus dem historischen Hin und Her. Er hat vor allem aber die kolossale plastische Kraft des Zusammenhangs der Menschen nicht durchdrungen, daß er glaubte, hieraus ein zweitrangiges Phänomen machen zu können. Wenn seine Helden auftreten mit dem Schmuck atavistischer Triebe, so verdanken sie es seiner Abneigung gegen das Verweichlichende, Zerfasernde des Christentums. Aber was hat das Christentum oder eine sonstige Lehre mit der biologischen Erscheinung eines Artmerkmals zu [203] tun. Nietzsche konstruierte sich gegen das dekadente Christentum eine pomöse bestialische Natur; jedoch war das alles unnötig, man kann die christlichen Moraltendezen auch angreifen und verwerfen, ohne so ungeheuer auszuholen. Man erschlägt Fliegen nicht mit einer Keule. Weil er eine klägliche Nächstenliebe sah, ein philiströses, bösartiges Sichducken und gegenseitiges Anwärmen, glaubte er, sich der Kraft des Schwertes und des Feuers sich verschwören zu müssen: Der wahre Mann muß Krieger sein, und er malte prächtig die Bilder von Giganten, gab Ausnahmen für Musterbeispiele aus, sehr fragliche, pervertierte Ausnahmen. Die Umwertung der Werte kann nur innerhalb des eisern haltenden Bandes der Gesellschaft erfolgen; diese selbst umzuwerten ist ganz undiskutabel. Er sah Kraft nur in den blitzartigen, abrupten, theaterhaften Kriegskatastrophen, wie ja seine Konzeption vor solcher Kriegsepisode entstand, und sah die unendlich langsamere, unendlich gewaltigere Kraft des Zusammenhangs nicht. Er wie zahllose nach ihm.

In phantastischer Weise übertreibt man die Bedeutung der kriegerischen Triebe für das Biologische. Man glaubt, der Natur auf die Beine helfen zu können durch Verstärkung des sogenannten Kampfes ums Dasein, ja, der Natur auf die Beine helfen zu müssen. Man kann den Menschen tüchtig und stark halten, ohne ihn in Kriege zu verstricken. Es wird niemand behaupten, daß die gegenwärtigen Maschinenkriege den Menschen biologisch steigern. In Paranthese bemerke ich, daß diejenigen, die eine Erhöhung der Menschenart auf dem Wege über den Menschen anstreben, anthropologisch wahrscheinlich falsch denken. Der Mutterboden wird die niedere Tierart sein, irgendeine variationsfähige Affenart. Man zerbreche sich nicht den Kopf der Natur, sie ist auch die Jahrtausende ohne menschliche Unterstützung ausgekommen.

Man lebt dauernd unter der Suggestion*), als Gesellschaftsmensch bloß moralischen, das heißt ephemeren Anweisungen zu folgen, und außerhalb der Moral sei die Freiheit und die eigentliche Menschenwürde. Denn man verachtet Sitte und Sittlichkeit, weil man sieht, wem sie dienen, wofür sie konstruiert sind, wie sie wechseln.

Die große gesellschaftsbildende Kraft wird aber durch Moralen nicht ausgedrückt und nicht widerlegt. Die Moralen setzen für irgendwelche örtliche, vorübergehende Zwecke diesen Trieb um; sie sind in der Tat hinfällige Konstruktionen für praktische und zweifelhafte Bedürfnisse.

Und viel zu schwach, ja schief wird die Gesellschaftskraft mit der Wendung [204] von der gegenseitigen Hilfe bezeichnet. Sie ist kein Korrektiv an einer ebenbürtigen primären Neigung zum Asozialen, ist nichts Philantropisches*) [sic].

*      *
*

Die Auswirkungen dieses Grundtriebes ist so allgemein und vor aller Augen, daß man ihn übersieht wie den Himmel am Tage. Die Auswirkung erfolgt natürlich nicht in labilen, umstrittenen Bildungen der Moral, sondern in Nationalismen, Errichtung von Kirchen, Parteien, Lehrgebäuden. Ja, Kriege können die Äußerung dieser Macht sein.

Nationalismus ist primär Zusammengehörigkeit der Landeskinder, ein Füreinander und Miteinander. Der Umstand, daß Nationen die Quelle zahlreicher kriegerischer Verwicklungen sind, darf nicht verschleiern, was unendlich wichtiger ist, weil länger dauernd, kräftiger, wirksamer, unendlich folgenreicher, daß Nationen selbst eine Fällung des elementaren Gesellschaftstriebes sind. Es ist angesichts dieses Faktums erst eine zweite Frage, wie es zu Kriegen kommt.

Die Kirche bildet Dogmen, Lehrgebäude. Man hat gesagt, dahinter verstecke sich ihr Wille zur Macht. Es ist zunächst nichts weiter als der einfache Wille zu allen hin. Man übersieht das Ureinfache, daß sich dieser Wille gerade auf Menschen richtet und ihre Zusammenfassung betreibt. Im Propagieren, Aufdrängen gleicher Gedanken, Uniformieren erkennen wir ohne weiteres den gesellschaftbildenden Trieb.

Der Drang, sich zusammenzuschließen, überschlägt sich. Es wird der Zusammenschluß unter den Formen gefordert, die man selbst ausgebildet hat. Es soll ein restloser Zusammenschluß sein. Der ruhelose Drang, zu verbinden, zusammenzuziehen, läßt über die Grenzen blicken; der Drang, den Zusammenschluß unter den eigenen Formen zu vollziehen, veranlaßt den Krieg. Diese hemmungslose Übertreibung zeugt von der Vehemenz und dem Elementaren des Triebes. Sich nur teilweise von ihm lösen, indifferent sein, erfordert eine besondere Höhe der Kultur. Diese große, universelle Gewalt ist Träger und Former der Hauptinstinkte des Menschen; sie entfaltet wahrscheinlich bei Bienen und Ameisen und anderen Tierarten nicht geringere Produktivkraft.

Das ehemalige lose Nebeneinander der Völker wird zunehmend beseitigt durch Eisenbahn, Industrie und Technik. Diese sind selbst Äußerungen des Dranges zueinander. Sie entwickeln sich als träger einer übernationalen Fühlungnahme. Übernationale Gedanken wurden früher schon in Literatur und Religionen gepflegt, hatten aber keine größere [205] Wirksamkeit. Sie drängen jetzt aus der Sphäre des sanft Gefühlten in die des Realen und Folgerichtigen. Die technischen Annäherungsmittel haben dazu geführt und führen fortschreitend weiter dazu, daß sich die nationalen Ballungen berühren und reiben. Die nationalen Ballungen werden geschoben von übernationalen Mächten; sie geraten in die Hände dieser Mächte, werden ihr Objekt, wenn nicht gar ihr Werkzeug. Diese Industrie und Technik, haben ein übernationales Netz und übernationale Kraftzentren; sie sind zwar nicht die stärksten, aber die bisher universellsten Konstruktionen der Gesellschaftskraft. Sie stehen in keinem Widerspruch zu den kleineren nationalen Konstruktionen. Sie dienen eher dem Frieden als dem Krieg; sie werden überhaupt erst zu Werkzeugen des Krieges, wenn sie unnatürlicherweise in die Hände der niedrigen nationalen Konstruktionen fallen. Sie entringen sich aber leicht diesen Händen, die sie abschließen und isolieren, weil ihre Existenz auf Austausch und weitem Zusammenhang beruht.

Die allmähliche Vereinigung der meisten Öllager und Brennstoffe in wenigen Händen, große, international gestützte Trustbildungen, die gleichmäßige Tendenz und Nötigung zu planmäßiger Ökonomie, welche bald zur Weltplanwirtschaft wird drängen, zu großen und größeren Gesellschaftskonstruktionen - auch mittels Kriege, Kriege können ein brutaler Schritt auf dem Wege sein.

Es kann eine Friedenspolitik nicht bestehen in Vernichtung der Nationalismen, denn diese sind echte und wahrhafte Bildungen des Gesellschaftstriebes. Die übernationalen weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Tendenzen drängen vorwärts, die Völker werden dabei in engere Berührung als jemals gebracht, die Gestaltung der nationalen Ballungen unter den dann kräftig einsetzenden Einflüssen hat man abzuwarten.

*      *
*

Friedlich gemacht können Völker werden daneben , gewissermaßen negativ und im Kleinen, durch Dezentralisation, Zerlegung in Parteien. Die Parteien brauchen nicht friedlich sein, es genügt, daß sie kraftlos sind durch ihre Vielheit. Friedlich gehalten werden Nationen und Gruppen durch den Trieb zum Wohlleben. Methodisch wird die Schwächung der kriegerischen Neigungen von Völkern betrieben durch alle wie auch immer gearteten Lehren von der Wertschätzung des privaten Lebens. Am rigorosesten sprengt die Verbände die fromme Metaphysik, kirchliche Organisationen mit ihrer ungeheuerlichen Anteilnahme am [206] Einzelleben und Wertschätzung der individuellen Existenz. Das Individuum im Zusammenhang lassen oder bringen mit einem Gott, der nicht Nationalgott ist, ist gefährlich für die Nation oder kann für ihre Einheit gefährlich werden. Die private Existenz darf bürgerliche Quellen der inneren Stärkung und Erholung suchen, wo sie will, sie darf aber nicht sich von dem Band losreißen, an dem sie gegängelt wird. Außerhalb der Gesellschaft - und stellen manche Metaphysiker und Religionen den Menschen nicht außerhalb der Gesellschaft auf sich? - gibt es nicht nur bürgerlichen, sondern körperlichen Tod. Wo irgendein metaphysisches Prinzip auf neidische Art die Nationen in Individuen zerlegt, verringert sich die Kriegsgefahr. Vom Standpunkt des Friedenspolitikers ist es ein raffiniertes Verfahren etwa der lamaischen Kirche, die Notwendigkeit der Bindung an den Buddha zu lehren, sich aber zwischen den Buddha und das Individuum zu stellen; man erzielt dadurch einmal die Lähmung der betreffenden Nation durch Zerlegung in metaphysisch orientierte, vom Staat unabhängige Personen, zweitens die Bindung dieser Personen an die Kirche und die Machtsteigerung der Kirche, und es kommt zu einer überstaatlichen Staatenbildung. Wir sahen in Europa - es steht durchaus dahin, ob mit Recht - einige Jahrhunderte lang eine ähnliche Befürchtung der Völker vor der römischen Kirche. Man erstrebte darauf in einigen Ländern Nationalkirchen; man hat sie teilweise erreicht, riskierte und beschwor herauf völligen Auseinanderfall, Stärkung der Splitter, Kriegsserien. China hat diese Staatsreligion, mit der Apathie, wenn nicht gar Feindschaft gegen das Außerhalb, am sichersten ausgebildet; kein westlicher Staat hat Ähnliches vollbracht; das Eindringen der lamaischen Religion wurde zuerst furchtbar zurückgewiesen, sie blieb bei den niedrigen Klassen; es war die ungeheure Ausdehnung des Reiches und die Schwäche der Dynastien, die größere Außenkriege verhinderte.

Die negativen bremsenden Methoden sind nie die Hauptsache. Sie schwächen die Wirkung auflösender Antriebe ab und erleichtern die machtvolle Entfaltung der Gesellschaftskraft.

Die bewußte gesellschaftsfreundliche und wahrhaft pazifistische Politik arbeitet mit beiden Hebeln, unter Bevorzugung des positiven, drängenden.

*      *
*

Die großen Kriege bestimmen das Schicksal der Völker. Es gibt Resultate und kein Unrecht. Man beschuldigt Kriegsparteien, spricht von Unvorsichtigkeit, Ungeschicklichkeit der Diplomaten, vom Drängen [207] kapitalistischer Gruppen. Anklagen ist Wahnsinn. Gibt es Kriegsparteien und haben sie den Krieg verursacht, so haben sie die Macht gebraucht, die ihnen zufiel, und den Krieg mit jeglicher „Tugend“ geführt. Es fand jede Gruppe Zeit, sich umzutun. Tat sie es nicht, hatte sie nicht genug Wirkung, so geschah dies, weil es ihr an Kraft, Fähigkeit oder „Tugend“ fehlte; wir leben in der Welt der ablaufenden Kräfte. Das Gold der Ideen erkennt man an ihren Wirkungen; daß es andere Goldproben nicht gibt, ist wahr und nicht einmal traurig.

Der Krieg wird für ein Naturgesetz gehalten; es kommt darauf an, zu zeigen, daß unendlich wahrer der Friede ein Naturgesetz ist. Wer Frieden will, muß Macht gewinnen, wie der, der Krieg will. Unter Umständen die selbe Macht.

Der guillotinegeweihte Gemahl Marie Antoinettes konnte „im Namen Frankreichs“ über Krieg und Frieden gebieten, die Generale des Direktoriums, bald darauf Herrscher, zogen aus im Namen desselben, nunmehr republikanisch zentrierten Landes, dann stiegt [stieg] der kleine Konsul auf, riß die Gewalt an sich, kaiserliche Fahnen wehten vor der großen Armee; ein einziges Volk: - verschiedene, so verschiedene Kraftrepräsentanten, aber immer die relativ stärksten im Land und damit rechtsame Urteilsfäller über Krieg und Frieden. Der Logiker kennt den Satz: die Namensgebung geht aus vom vorwiegenden Merkmal.

Es gibt Unrecht weder in der Tatsache des Krieges noch in seinem Resultat. Der Mensch ist ein Organismus, es wird keiner leugnen; es wird keiner leugnen, daß der Körper eine enorme, ja maximale Vereinheitlichung aufweist. Aber die Kraft der Organe und jeweiligen Teilnahme an der Regierung ist verschieden. Ein Hieb ins obere Halsmark beendet das Dasein, ohne daß ein einziges sämtlicher anderen Organe auch nur ein Wort hätte mitsprechen können. Es erkrankt ein Mensch an Lungenentzündung; die Organe sonst mögen gesund bleiben, jetzt vermag das Herz die Infektion nicht mehr zu ertragen; die Leber, schwerer als Herz und Lunge zusammen, diese kräftigen Arme und Bein, die scharfen Augen, sie werden bei der schwankenden Entscheidung über Tod und Leben nicht zu Rat gezogen und es muß gestorben werden.

Wer hat die Herrschaft im Haus? Videant cives! Anerkennen, was ist: das ist das erste Gebot. Seiner Kraft größtmögliche Anerkennung verschaffen, das zweite. Übrig bleibt Rhetorik.

==========================
prästiert
(zurück zu Seite 196)
prästieren
Wortklasse: Verb
Erklärung: leisten, eine Sachleistung erbringen.
(zurück zu Seite 196)
----------------

Autochthon
(zurück zu Seite 200)
Der Ausdruck autochthon (von altgriechisch ? (autós = selbst) und ? (chthón = Erde), also etwa „bodenständig“, „eingeboren“ oder „alteingesessen“) bezeichnet:* in der Sozio- und Ethnologie die ursprüngliche Bevölkerung eines Gebietes, die Ureinwohner eines Landes und deren im Land und mit anderen Völkern unvermischt gebliebene Nachkommen (siehe auch: Indigene Völker). ...
Weiter auf: de.wikipedia.org/wiki/Autochthon
(zurück zu Seite 200) ----------------

ephemer
(zurück zu Seite 201)
Adjektiv
Positiv = ephemer
Komparativ = ephemerer
Superlativ = am ephemersten
Anmerkung: Es gibt etliche seriöse Belege für die Steigerung; auch Canoo führt sie an. Die Beispiele beziehen sich jedoch alle auf kulturelle Themen, also Bedeutung [1].

Bedeutungen:
[1] nur für kurze Zeit bestehend, flüchtig, ohne bleibende Bedeutung
[2] keine Steigerung: Botanik: sich in einem Gebiet nicht fortpflanzend Herkunft:
von griechisch: ???????? (ephe-meros) = „für einen Tag“, aus ??? (epi) = auf und ?????? (he-méra) = Tag
Synonyme:
[1] kurzlebig, flüchtig, vergänglich
[2] vorübergehend
Gegenwörter:
[2] eingebürgert
(Beispiele:
[1] „Das ephemere Bild von Harmonie, in dem Güte sich genießt, hebt einzig das Leiden an der Unversöhnlichkeit um so grausamer hervor, das sie töricht verleugnet.“ (Theodor W. Adorno: Minima Moralia)
[1] „Nachdem mehrere Verlage in teils konkurrierenden Ausgaben die wichtigsten Hauptwerke des „Moby-Dick“-Autors neuübersetzt vorgelegt haben, werden jetzt auch seine ephemersten Nebentexte in deutscher Sprache zugänglich, nämlich in dem schmalen Band „Die große Kunst, die Wahrheit zu sagen“, den Alexander Pechmann übersetzt und gründlich annotiert hat.“[1]
[2] Die Eintagsfliegen sind nach ihrem ephemeren Landleben benannt.
[2] Der Wiesensalbei kommt in Hamburg nur ephemer vor.)
(zurück zu Seite 201)
--------------------

Suggestion
(zurück zu Seite 203)

[1] etwas, das jemandem suggeriert wird
[2] Beeinflussung mit dem Ziel, die betreffende Person zum gewünschten Verhalten zu veranlassen
(zurück zu Seite 203)
--------------------

Philanthrop, Substantiv, m, Philanthropen
(zurück zu Seite 204)

Bedeutungen:
[1] den Menschen bzw. der Menschheit freundlich gesinnte Person

Herkunft:
[1] griechisch (phílos) = freundlich; (ánthro-pos) = Mensch

Synonyme: [1] Menschenfreund Gegenwörter: [1] Misanthrop (Menschenfeind) Oberbegriffe: [1] Attitüde

Beispiele:

[1] Viele Philosophen werden wegen ihres Weltdurchblickes zu Philanthropen.

[1] Der Philanthrop fördert Pläne zutage, äußert Ideen, vertraut ihre Ausführung dem Menschen, dem Schweigen, der Arbeit, Weisungen, stummen und machtlosen Dingen an.[1]

[1] Übrigens bin ich immerhin noch soweit Philanthrop, um meinen Lieben lieber zum Glücke zu verhelfen, als daß ich sie ins Unglück stürze.[2]

[1] Solange er als bloßer Philanthrop aufgetreten, hatte er nichts geerntet als Reichtum, Beifall, Ehre und Ruhm.[3]

[1] „Dies ist ein Weckruf für Politiker auf der ganzen Welt“, sagte der Leiter der Studie, der australische Unternehmer und Philanthrop Steve Killelea.[4]

[1] Erstaunliche 50 Prozent der ugandisch-asiatischen Kinder studieren heute, um Ärzte, Kaufleute oder Anwälte zu werden – und haben die Gelegenheit, sich später einmal als Philanthropen zu betätigen.[5]

Abgeleitete Begriffe: Philanthropie, Philanthropinismus, philanthropisch, Philanthropismus
(zurück zu Seite 204)

------- ENDE --------


Erstellt am 17.02.2010 - Letzte Änderung am 16.01.2011.


RR «««  -  Artikel-Übersicht  -  Text-Übersicht