Aus der „Naturwissenschaftliche Wochenschrift„, Organ der Deutschen Gesellschaft für Volkstümliche Naturkunde in Berlin, begründet von H. Potoniß, herausgegeben von Prof. Dr H. MIEHE in Berlin, Neue Folge. 18. Band, (der ganzen Reihe 34. Band), JANUAR — DEZEMBER 1919, JENA VERLAG VON GUSTAV FISCHER 1919.
Kollege Schips schreibt in Nr. 18 (vom 4. Mai 1919) des XVIII. Bandes N. F. dieser „Wochenschrift” in seinem Gedenltblatt über „Lionardo da Vinci als Naturforscher” auf S. 258 (Spalte links oben): „Lionardo .... erfand die Camera obscura schon lange vor Porta (1535 [mufi heißen 1538I — 1615), der sie in seiner Magia naturalis (1558 [resp. 15S9]) beschrieb und als ihr Erfinder gilt; Lionardo benutzte sie, um eine Theorie des Sehens abzuleiten.”
Nach neueren Veröffentlichungen, vor allem von Eilhard M^iedemann, dem Meister arabischer Naturwissenschaftsgeschichte, möchte diese weitverbreitete Geschichtsfabel von der Erfindung der Camera obscura endgültig verschwinden. Darum einige Notizen mit Literaturhinweisen.
Bereits der Verf. der pseudoaristotelischen „Problemata” weist auf die Tatsache hin, daß bei einer Sonnenfinsternis durch enge Öffnungen eine sichelförmige Abbildung entsteht; eine Erklärung aber fehlt. Darauf untersuchte al Kindi (um 8oo n. Chr.) in seinem „Liber de aspectibus” den Strahlengang von einem leuchtenden Körper durch eine Öffnung zu einer Tafel hin. Aber erst der große Physiker Ibn al Haitam (•}” ^^ 1039), der die Camera obscura zur Beobachtung der Sonnenfinsternis verwandte, gab an der Hand zahlreicher Figuren einen im wesentlichen richtigen Beweis für das Entstehen der sichelförmigen Abbildung. Als XXXIX. seiner bekannten „Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaften” (Sitz. Ber. d. Physik. -Mediz. Sozietät in Erlangen, Bd. 46, 1914, S. 155 — 169, mit 3 Fig.) hat E. Wiedemann Ibn al Hait ams „Abhandlung über die Gestalt der Finsternis” [Kiisi'if) in deutscher Übersetzung publiziert. Viel eingehender findet man die Theorie der Lochkamera bei Haitams Kommentator Kamäl al Din (f ^^ '320) entwickelt, der die Camera obscura auch zum ersten Male auf terrestrische Verhältnisse anwandte: auf die Abbildung einer rot und grün gefärbten Fläche, eines Vogels und einer Wolke. Eine (etwas gekürzte) Übersetzung hiervon verdanken wir ebenfalls E. Wiedemann (in: Verhandl. d. Deutsch. Physik. Gesellsch., XII, 1910, S. 177 — 1S2). Aus dieser geht übrigens hervor, daß Kam.^l al Din eine Beugungsersch einung beobachtete, von der er freilich noch annimmt, es sei das Bild eines die Sonne umgebenden Halos, das sind nach unserer heuligen Auffassung Beugungserscheinungen an den Dunstkügelchen des Wolkenschleiers.
Im 13. Jahrhundert beschäftigten sich Witelo und Roger Baco mit dem Problem. Levi ben Gerson (Levi de Balueolis, f 1344) benutzte die Camera obscura auch zur Beobachtung von Mondfinsternissen. Im 15. Jahrhundert findet sie bei Leon Battista Alberti Erwähnung. Zeitlich wären nun erst Lionardo da Vincis Versuche mit ihr einzuordnen. F. Maurolico (1575) ist dann zu nennen, weiter Giovanni Battista della Porta (1589) mit seiner ausführlichen Behandlung der Dunkelkammer, schließlich Johann Keplers „Ad Vitellionem Paralipomena” (Francofurti 1604), in denen besonders die bei der Abbildung des Mondes auftretenden eigentümlichen Erscheinungen untersucht und aufgeklärt sind. — Besonders hingewiesen sei auf J o s. Würschmidts Sammelrelerat „Zur Geschichte, Theorie und Praxis der Camera obscura” (in : Zeilschr. f. raathem. u. naturwiss. Unterricht, Bd. 46, 1915, S. 466 — 476) hingewiesen, über das sich auch ein knappes Autoreferat in den „Mitteilungen zur Geschichte d. Medizin u. d. Naturwissenschaften” XIV (191 5) S. 342 f. findet.
Ganz neuerdings hat sich auch F. Paul Liesegang mit der „Kamera obskura bei Porta” (in : Mitteilungen zur Gesch. d. Med. u. d. Naturwiss. XVllI, 1919, S. 1 — 6) speziell beschäftigt. Nach dessen Darlegungen leuchtet ein, daß die von Poggendorf und anderen Geschichtsschreibern ausgesprochene Auffassung, aus Portas Versuchen mit der Camera obscura sei die Laterna magica hervorgegangen, ebenfalls hinfällig ist. Zur Zauberlaterne führte ein anderer Weg, wie uns Liesegang in einer anderen Arbeit darlegt („Vom Geisterspiegel zum Kino”. Düsseldorf 1918. — Vgl. Günthers Referat in: Mitt. z. Gesch. d. Med. u. d. Naturwiss. XVUI, 1919, S. 90 f.).
Auf anderes im Aufsatze von Schips sei nicht eingegangen. Nur möchte vor allem erwähnt sein, daß die wohl von W. Elsaesser (Preuß. Jahrbücher, 97. Band, 1899, S. 280 ff.) stammende Ansicht, Lionardo habe „die Gesetze für den Hebel unter der Voraussetzung, daß die Kräfte in beliebiger Richtung auf ihn wirken”, gefunden, ebenfalls der neuesten Forschung widerstreitet. Fritz Schuster hat vor 4 Jahren in seiner bei Wiedemann entstandenen Dissertation „Zur Mechanik Leonardo da Vincis. (Hebelgesetz, Rolle, Tragfähigkeit von Ständern und Trägern.)” (Erlangen 1915, S. 20, 32, 99 und 146) nachgewiesen, daß schon Heron (2. vorcbristl. Jahrh.) und JordanusNemorarius (13. nachchristl. Jahrh.) den Begriff des „p o t e n t i e l l e n” Hebelarms gekannt und das Hebelgesetz für den Fall ausgesprochen hatten, daß die Kraftrichtungen beliebige Winkel mit der Hebelstange bilden.
Übrigens sei dann schließlich auf die kritische Untersuchung Otto Werners „Zur Physik Leonardo da Vincis” (Diss. Erlangen 1910. — Für den Buchhandel: Berlin o. J. [1910]) die Aufmerksamkeit gelenkt. In ihr wird speziell auf dem Gebiete der Optik der Nachweis erbracht, daß Lionardo bis jetzt als Physiker viel zu sehr überschätzt worden ist. Vergleicht man nämlich seine optischen Aufzeichnungen mit denen seiner Vorgänger, wie es Werner durchgeführt hat, „so findet man, daß Leonardo vollständig von den Alten und besonders von den arabischen Gelehrten des Mittelalters, die ja auf den Werken der erstgenannten aufgebaut und sie in zuweilen hervorragender Weise weiterentwickelt haben, abhängig ist. Gerade aus den Werken der^Araber, die meist in das Lateinische und Italienische übertragen waren, und die uns zum größten Teile [erst] in den letzten Jahrzehnten zugänglich geworden sind, zeigt sich deutlich, wie sehr Leonardo beeinflußt wurde” (S. 174). —
Trotz alledem gilt aber für Lionardo da Vinci immerdar das Tiedge-Wort: „Unsterblich ist der Genius”.
Dresden-A 16. Dr. Rudolph Zaunick.
Literatur.
Wichelhaus, Prof. Dr. H., Vorlesungen über chemische Technologie Band I. Anorganischer Teil. 4. Aufl. Mit 104 Abbildungen. Dresden und Leipzig 1919, Th. Steinkopff. 16 M.
Hess, Prof. Dr. H., Elektrizitätslehre. Nürnberg 1919, C. Koch. 6,50 M.
Thorbeck e, Fr., Im Hochland von Mittelkamerum. 3. Teil. Mit 3 Farbentafeln, 141 Abbildungen auf 35 Tafeln, 32 Textfiguren, 2 Tabellen, 23 Transkriptionen und I Tafel Tonleitern. Hamburg 1919, L. Friederichsen. 10,50 M.
lulistit: Willy Kodweiß, Die Erweiterung unserer Sinne durch die Physik. S. 713. — Bücherbesprechungen: W. Schallmayer, Vererbung und Auslese; Grundriß der Gesellschaftsbiologie und der Lehre vom Kassedienst. S. 723.
B. Dürken, Einführung in die Experimenlalzoologie. S. 725. B. Hoffmann, Führer durch unsere Vogelwelt. S. 725.
Adolf Naef, Idealistische Morphologie. S. 726. R. Vater, Praktische Thermodynamik, Aufgaben und Beispiele zur technischen Wärmelehre. S. 726. Herbert Silberer, Der Traum. S. 726. K. Vater, Die neueren Wärmekraftmaschinen. S. 727. M. v. Laue, Die Relativitätstheorie. S. 727. — Anregungen und Antworten; Über die Erfindung der Camera obscura und Lionardo da Vinci als Physiker. S. 728. — Literatur: Liste. S. 728.
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Erstellt am 20.02.2012 - Letzte Änderung am 20.02.2012.