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„Grabrede auf Simon Schwendener.” von G. Haberlandt am 2. Juni 1919 auf dem alten Matthäi-Kirchhof zu Berlin gehalten.

Aus der „Naturwissenschaftliche Wochenschrift„, Organ der Deutschen Gesellschaft für Volkstümliche Naturkunde in Berlin, begründet von H. Potoniß, herausgegeben von Prof. Dr H. MIEHE in Berlin, Neue Folge. 18. Band, (der ganzen Reihe 34. Band), JANUAR — DEZEMBER 1919, JENA VERLAG VON GUSTAV FISCHER 1919.

Wenn ich im Namen der Universität und Seiner Magnifizenz des Herrn Rektors, sowie im Namen der Akademie der Wissenschaften unserem entschlafenen Nestor die letzten Abschiedsworte widme, so darf ich anknüpfen an die Worte, die Goethe am 13. Februar 1829 zu Eckermann gesprochen hat, drei Tage nach der Geburt des großen Forschers, dessen irdische Hülle wir heute dem Schoß der Erde anvertrauen. „Ich werde, sprach Goethe, nach Beendigung der Wanderjahre mich wieder zur Botanik wenden. ... Große Geheimnisse liegen noch verborgen, manches weiß ich, von vielem habe ich eine Ahnung.”

Auch Simon Schwendeners Forscherarbeit umspannen diese kurzen, vielsagenden Sätze. Um den Geheimnissen des Pflanzenlebens nachzuspüren, schmiedete er sich mit eiserner Willenskraft das methodische Rüstzeug für seine wissenschaftliche Tätigkeit. Vor allem hat er die Theorie des Mikroskops auf neue Grundlagen gestellt und die Eigenart und Grenzen seiner Leistungsfähigkeit klarer erkannt als alle Biologen, die vor ihm mikroskopiert haben. So vorbereitet ging er an seine mühevollen Flechtenuntersuchungen, die ihren Abschluß vor genau einem halben Jahrhundert in der Begründung der modernen Flechtentheorie fanden: Pilz und Alge setzen den Flechtenkörper zusammen. Diese den Lichenologen so gänzlich unerwartete Analyse war eine ebenso kühne wie fruchtbare wissenschaftliche Tat. Die Erscheinung der Symbiose tauchte vor den staunenden Blicken der Biologen auf und reihte von nun an Problem an Problem.

Das zweite methodische Forschungsmittel Schwendeners war seine ungewöhnlich vertiefte mathematisch-physikalische Bildung. Mit besonderer Vorliebe hat er sich deshalb solchen Aufgaben der allgemeinen Botanik zugewandt, die vom Standpunkte der Mechanik aus zu lösen waren oder wenigstens lösbar erschienen. Die Entdeckung des mechanischen Gewebesystems, des Skeletts der Pflanzen war die erste und schönste Frucht dieser Bemühungen. Dabei war es erstaunlich und ein untrügliches Kennzeichen seiner genialen Begabung, daß die Art seiner mechanistischen Betrachtungsweise den lebendigen Organismus nicht tötete und gleichsam entseelte, sondern ihn nur noch lebensvoller und mit unergründlicher Mannigfaltigkeit ausgestattet erscheinen ließ.

So durfte er mit Goethe stolz und bescheiden zugleich von sich sagen: „Manches weiß ich” — und von der Fülle seines Wissens hat er dann ein volles Menschenalter hindurch an unserer Universität seinen Schülern gespendet und sich als echter akademischer Lehrer im wissenschaftlichen Gespräch mit seinen jungen Freunden immer nur als ein Lernender zwischen den Lernenden gefühlt und gegeben. In seltener Weise wußte er Schärfe des Urteils mit Nachsicht und Milde zu paaren und so wie er deshalb der akademischen Jugend stets ein geliebter Meister war, so war er seinen Kollegen in Fakultät, Senat und Akademie seines edlen Freimuts und seiner unbeirrbaren Sachlichkeit halber ein allverehrter Freund und Berater.

Im letzten Jahrzehnt seines Lebens ist der Entschlafene freilich ein einsamer Mann geworden, — auch innerlich einsam, weil losgelöst von den wissenschaftlichen Bestrebungen der Gegenwart. Das Goethesche Schlußwort: „Von vielem habe ich eine Ahnung” mußte für den Vereinsamten der Ausdruck doppelt empfundener Resignation werden, denn er hat es erlebt, daß die streng mechanistische Erklärung der Lebensvorgänge zuweilen gerade dort auf unüberwindliche Schwierigkeiten stößt, wo sie scheinbar die größten Triumphe erwarten darf. Doch hatte diese Resignation nichts Schmerzliches für ihn. Denn nichts war seinem Wesen fremder als die Klage. So wie er gleichmütig war gegenüber den Beschwerden des Alters, so nahm er es auch mit philosophischer Ruhe hin, daß uns gegenüber den letzten Geheimnissen des organischen Lebens wohl immer nur ein leises Ahnen gegönnt sein wird.

Nun ist er für immer von uns gegangen und schläft den letzten Schlaf, den er sich nicht ersehnt, aber gelassen erwartet hat. Wir aber nehmen das Bild des teuren Toten als lichtstrahlende Erinnerung hinüber in die Not und Bitternis der deutschen Zukunft.

------- ENDE --------


Erstellt am 20.02.2012 - Letzte Änderung am 20.02.2012.


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