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„ Zur Entstehung der Kulturgüter und Sitten der Menschheit.” Ein Problem der ethnologischen und kulturarchäologischen Forschung.
Von H. Mötefindt, Wernigerode.

Aus der „Naturwissenschaftliche Wochenschrift„, Organ der Deutschen Gesellschaft für Volkstümliche Naturkunde in Berlin, begründet von H. Potoniß, herausgegeben von Prof. Dr H. MIEHE in Berlin, Neue Folge. 18. Band, (der ganzen Reihe 34. Band), JANUAR — DEZEMBER 1919, JENA VERLAG VON GUSTAV FISCHER 1919.

1.

Bereits die Philosophen des Altertums haben die Frage nach der Entstehung der Kulturgüter und Sitten der Menschheit aufgeworfen; seitdem ist dieses Problem nie wieder zur Ruhe gekommen. Die erleuchtetsten Köpfe von zwei und einem halben Jahrtausend haben sich an diesem Problem den Kopf zerbrochen. Es gibt wenige Gebiete, über die auch nur annähernd soviel nachgedacht und geschrieben worden ist, wie über dieses. Die Arbeit all dieser Forschergenerationen ist nicht nutzlos gewesen. Wenn wir auf sie zurückblicken, so können wir stolz erkennen, wie wir doch schon ein gut Stück in unserer wissenschaftlichen Erkenntnis weiter gekommen sind.

Die frühere Forschung hat bei ihrer Beschäftigung mit diesem Problem lediglich zu ermitteln versucht, wie wohl dieses oder jenes Kulturgut oder Sitte vom Menschen entdeckt und nutzbar gemacht worden sei. Sie hat damit lediglich all die Fragen im Auge gehabt, die ich als die genetische Seite dieses Problems bezeichnen möchte. Gewiß steht dieser Gesichtspunkt auch noch heute im Brennpunkt jeder entwicklungsgeschichtlichen Forschung. Aber neben diesen Gesichtspunkt ist ein zweiter getreten, den ich im Gegensatz zu dem genetischen als den geschichtlichen Gesichtspunkt bezeichnen möchte.

Einem jeden, der auf irgendeinem Gebiete vergleichende Forschung treibt, drängt sich fortwährend die Frage auf, ob die Übereinstimmung zweier Lebensformen auf genetischen Zusammenhang, d. h. auf Abstammung aus gemeinsamer Wurzel, oder getrennte Entwicklung aus gleichartigen Vorbedingungen zurückzuführen sei. So sind auch die Forscher, die sich mit dem Problem der Entstehung der menschlichen Kulturgüter und Sitten beschäftigt haben, zu der Frage gekommen, ob dieser materielle oder geistige Besitz an einer oder an mehreren Stellen von Menschen erworben ist, und wie die allmähliche Verbreitung dieses Besitzes von der bzw. den betreffenden Stellen aus weiter vor sich gegangen ist.

Diese Entdeckung der geschichtlichen Seite des Problems der Entstehung des menschlichen Kulturbesitzes erfolgte erst Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts durch Adolf Bastian. Der durch Bastian verkündeten Lehre von den allgemeinen Menschheits- und Völkergedanken trat etwa ein Jahrzehnt später Friedrich Ratzel mit seiner Entiehnungstheorie entgegen. Zwischen beiden F'orschern entspann sich eine lebhafte Kontroverse, an der sehr bald die weitesten Kreise Anteil nahmen.

2.

Bastian war bei seinen völkerkundlichen Forschungen immer und immer wieder auf die Tatsache gestoßen, daß wir nicht selten bei verschiedenen Menschengruppen übereinstimmende Errungenschaften geistiger oder materieller Art vorfinden, obwohl die räumliche Trennung dieser Gruppen jede gegenseitige Beeinflussung von vornherein auszuschließen scheint. In seiner späteren grundlegenden Schrift „Der Völkergedanke im Aufbau einer Wissenschaft vom Menschen” (Berlin 18S1) schildert er S. 176 den Gedankengang, der ihn zu der Formulierung des neuen Begriffes, .Elementargedanken” gelangen läßt, in nachstehender Weise: „Als mit dem Beginn ernstlicher Forschung in der Ethnologie das darin angesammelte Material sich zu mehren begann, als es wuchs und wuchs, wurde die Aufmerksamkeit ..bald gefesselt durch die Gleichartigkeit und Übereinstimmung der Vorstellungen, wie sie aus den verschiedensten Gegenden sich untereinander deckten, unter ihren lokalen Variationen. . . . Anfangs war man noch geneigt, von Zufall zu sprechen, aber ein stets sich wiederholender Zufall negiert sich selbst.”

Der weiteren Ausführung und Begründung dieses Satzes von „gleichartigen Menschheitsgedankens”, wie es dort weiter heißt (S. 177), hat Bastian zahlreiche Bücher, Abhandlungen und Aufsätze gewidmet. Bastian hat aber, was seine begeisterten Verehrer am meisten bedauern, seinen zahlreichen Büchern und Schriften eine das Eindringen in deren reichen Inhalt nicht eben erleichternde Einkleidung verliehen, so daß mehr als eines derselben den Leser wohl etwas recht sibyllinisch anmuten mag. Dazu kommt dann noch der Umstand, daß Bastian selber im Laufe seiner jahrzehntelangen Forschungen zu einer immer weiteren Vertiefung seiner Gedankengänge geführt wurde und dadurch allmählich Anschauungen herausbildete, die über die früher geäußerten beträchtlich hinausgingen und dementsprechend von ihnen abwichen. Man kann deshalb Bastian nur verstehen, wenn man die Entwicklung seiner Gedankengänge historisch verfolgt, gewissermaßen von neuem nachdenkt. Nun hat aber Bastian im Laufe seines schaffensreichen Lebens derart zahlreiche Arbeiten veröffentlicht, daß es keine leichte Aufgabe ist, sich durch den ganzen Berg der in Frage kommenden Schriften hindurch zu arbeiten — vor allen Dingen, wenn man den umstand seiner Schwerlesbarkeit berücksichtigt.

Diese beiden ein Eindringen in die Basti ansehen Arbeiten erschwerenden Umstände haben es mit sich geführt, daß vor wenigen Jahren ein junger Ethnologe eine Dissertation über das Thema „Elementargedanke und Übertragungstheorie in der Völkerkunde” schrieb, 1) in der er deutlich

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bekündet, daß er Bastian gar nicht verstanden hat. 2) Durch diese Erscheinung ist auch die Kontroverse mit Friedrich Ratzel und dessen Schülern über die Frage Völkergedanke (Elementargedanke) oder Entlehnung überhaupt erst möglich geworden, von der unser Altmeister selbst gesagt hat: „Nichts ist unsinniger als eine Kontroverse .Entlehnung oder Völkergedanke'. Eine solche Kontroverse — ich habe es hundertmal gesagt — existiert gar nicht.” 3) Schließlich hat auch die Diskussion der methodischen Grundlagen der ganzen Frage, die durch Foy, Gräbner, Haberia ndt u. a. m. in den letzten Jahrzehnten angeregt ist, 4) gezeigt, daß selbst in den Kreisen der modernen ethnologischen Forschung eine völlige Klärung über Bastians Theorien bisher noch nicht erzielt worden ist. Vor Jahresfrist hat deshalb der Verfasser den Versuch unternommen, 5) in kurzen Zügen einmal darzustellen, wie er die Gedankengänge von Adolf Bastian versteht, und wie seiner Ansicht nach damit die Ergebnisse von Friedrich Ratzel zu vereinen sind. Diese Klarlegung hält der Verfasser auch heute noch keineswegs für überflüssig, vielmehr für eine unumgängliche Vorbedingung für fruchtbringende Forschung und für gesicherte, weiter verwertbare Resultate.

1) Dissertation von Erlangen 1909. Als ganzes in Buchform Stuttgart 1912.
2) Dasselbe hat auch Ehrenreich empfunden; vgl. seine Besprechung der E i s e n s t ä d t erschen Arbeit in der Zeitschrift für Ethnologie 45, 1913. S. 191.
3) Vgl. Zeitschrift für Ethnologie 37, 1905. S. 245.
4) Vgl. Gräbner, Die Methode der Ethnologie. Heidelberg 1911. S. 91 und die Polemik zwischen Haberlandt, Gräbner und Foy in Petermanns Mitteilungen 57, 1911. S. 113 und 228.
5) Randglossen zu einigen Fachausdrücken aus dem Gebiete der vorgeschichtlichen Archäologie. Korrespondenzblatt der deutschen Gesellschaft für Anthropologie 49, 1918. S. 39ff.


3.

Der Völkerkundige trifft sehr häufig ähnliche Erscheinungen an, die unabhängig voneinander aus analogen psychischen, psychologischen oder psychophysischen Wurzeln entstanden sind. Die frühere Forschung hatte diese auffallenden Analogien durch äußere Zufälle zu erklären versucht. Aber „diese monströsen Völkerbeziehungen waren”, wie Bastian richtig erkannte, „der gefährlichste Feind für den gesunden Fortschritt der Ethnologie, besonders auf so schlüpfrigem Gebiete wie dem Psychischem, und um ihm vor allem entgegenzutreten, mußte das Prinzip völliger Voraussetzungslosigkeit auf das dringendste urguiert werden”.6) Deshalb verlegte Bastian in radikaler Weise Grund und Ursache dieser Erscheinungen in das Innere des Menschen, und führte sie auf die gleichartige physische Natur des Menschen zurück, die diesen überall zu den gleichen Leistungen befähigt. Bastian sagt darüber selber einmal; „Wenn wir b ei den verschiedensten Völkern, die räumlich getrennt sind und keine Rassenverwandtschaft miteinander haben, immer wieder auf die gleichen Erscheinungen in den verschiedensten Gebieten der menschlichen Kultur stoßen, so ist als erster und vornehmster Grund für diese Analogien die Gleichartigkeit der menschlichen Psyche zu denken. Tritt zu dieser elementaren geistigen Verfassung, die überall dieselbe ist, noch eine gewisse Gleichartigkeit der äußeren Umstände des „Milieus”, so ist es vollkommen erklärlich, wenn Völker, die sonst gar nichts voneinander wissen, dennoch auf Grund derselben Ideenverbindungen zu den nämlichen Denkschöpfungen, Erfindungen, sozialen Einrichtungen usw. gelangt sind.” Bastian will also die überall herrschende Gleichheit im Denken und Handeln der Menschen, die eine Beseelung der ganzen, in Völker zerteilten Menschheit betonen. Trotz mancher Unterschiede im kleinen sind doch die Menschen in ihren größeren Zügen überall so sehr dieselben, daß man überall die gleiche Art von Gedanken trifft. Diese elementaren Erscheinungsformen, die überall zu den nämlichen Schöpfungen geführt haben, bezeichnet Bastian als „Elementargedanken”, „Primärgedanken”, mehrere Male findet sich dafür auch die Bezeichnung „allgemeine Menschheitsgedanken”, die ich für das am glücklichsten gewählte Schlagwort halte. Diese allgemeinen Menschheitsgedanken bedeuten, wie Karl von den Steinen einmal gesagt hat, für den Ethnologen dasselbe, „was dem Botaniker die Zelle, dem Chemiker das Atom ist — die Eins, mit der man rechnet und allein rechnen darf, um nicht in den Abgrund induktiv unlösbarer Ursprungsprobleme zu stürzen. Am meisten vermag er sie abzuscheiden aus den psychischen Leistungen der Naturvölker, in Gestalt der einfachsten Elemente ihrer religiösen Vorstellungen, ihrer sozialen Einrichtungen, ihrer Wirtschaftsformen, ihrer ästhetischen Regungen, ihrer technischen Fertigkeiten. Ihre Zahl ist relativ gering, weil die einfachsten Denkmöglichkeiten — man nehme z. B. die Ürtypen der Waffen und Werkzeuge, die sich als Organprojektionen beim Menschen mit gleicher psychologischer Notwendigkeit wie die Krallen beim Raubtier herausgebildet haben — bald erschöpft sind”.7)

6) Bastian, Der Völkergedanke usw. S. 177.
7) Zeitschrift für Ethnologie 37, 1905. S. 236. Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde N. F. 8, 1905. S. 16.


4.

Neben der Erscheinung der „allgemeinen Menschheitsgedanken” steht eine zweite, die allgemein als charakteristisch für Bastian angesehen wird, der „Völkergedanke”. Bastian selber hatte anfänglich diese Erscheinung mit dem Menschlieitsgedanken zusammen behandelt; erst allmählich ist er dazu übergegangen, beide Gedanken voneinander zu trennen. In seinen Schritten hat er diese Trennung jedoch nie scharf durchgeführt, erst sein Schüler Karl von den Steinen hat auf diese Unterscheidung hingewiesen; deshalb ist es verständlich, daß die Mehrzahl der Forscher diese Trennung übersehen hat.

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Als „Völkergedanken” dürfen wir die Konstatierung der Tatsache erklären, daß wir nicht selten bei einer oder mehreren Menschengruppen bestimmte Gedanken finden, und verfolgen können, wie diese Gedanken, die ursprünglich nur das Eigentum eines Volkes gewesen, von dort allmählich sich verbreitet haben, sei es, daß sie über weite Strecken mit ihren Trägern oder ohne diese gewandert sind oder lange Zeiten und vielfache Kulturwandelungen überdauert haben. Diese „Völkergedanken” haben sich allmählich aus den „allgemeinen Menschheitsgedanken” herausgebildet, wie das Karl von den Steinen an der bereits angeführten Stelle so hübsch beschreibt : „Ursprünglich müssen die Elementargedanken nach eisernen inneren Gesetzen auf der ganzen Erde gleichartig sein, gemäß der psychischen Einheit des Menschengeschlechts, die aus seiner unverbrüchlich feststehenden physischen Einheit unmittelbar folgt. Sie müssen aber variieren in ihrem Wachstum, hier zu diesen, dort zu jenen Völkergedanken. Denn wie wächst ein solcher Zellenkomplex? Doch dadurch, daß er auf die äußeren Reize reagiert. So reagieren die Elementargedanken auf ihre Umgebung in der jeweiligen „geographischen Provinz”, wie die einzelnen großen Areale gleichartiger äußerer Bedingungen von Natur und Klima genannt werden. Die Elementargedanken passen sich an, wie sich das Zellleben der leiblichen Organe den klimatischen Bedingungen anpaßt.”

Diesen Bastianschen „Theorien” hat sich Friedrich Ratzel mit aller Entschiedenheit entgegengeworfen.8) Ratzel war von Haus aus Geograph, er kam von der Erdkunde zur Völkerwissenschaft.9) Um den innigen Zusammenhang von Erd- und Völkerkunde zu erweisen, mußte er danach streben, die Ethnologie auf geographischer Grundlage zu fundieren. Dieses Bestreben suchte er durch seine „Anthropogeographie” in die Tat umzusetzen. Wenn die Anthropogeographie die Völkerwissenschaft auf geographischer Grundlage fundieren sollte, so mußten in diesem Werke die geographischen Beziehungen der Völker in ihrer Wichtigkeit besonders scharf betont werden, und so hat er dann den letzten Abschnitt seiner „Anthropogeographie”, der das ganze krönen sollte, ausschließlich diesem Thema gewidmet und ihn mit der Überschrift „Die geographische Verbreitung von Völkermerkmalen” versehen. In vier Einzelabhandlungen legt er dort die Wichtigkeit der geographischen Methode für die Ethnologie dar und schließt mit einer energischen und scharfen Bekämpfung der B a s t i a n sehen Theorie. In der ersten, die „über den anthropogeographischen Wert ethnographischer Merkmale” handelt, bestimmt Ratzel die Aufgaben der Anthropogeographie nach der ethnographischen Seite und findet sie „in dem Studium der Verbreitung der durch körperliche Eigentümlichkeiten, Kulturstufen oder ethnographische Merkmale bezeichneten Völkergruppen”.

8) Anthropogeographie oder Grundzüge der Anwendung der Erdkunde auf die Geschichte. Stuttgart 1882. Zweite Auflage 1S91. Dritte Auflage 1909.
9) Hier und im folgenden zum Teil wörtlich nach Eisenstädter a. a. O. S. 21 ff.


Im folgenden Abschnitt, der die Bedeutung der Anthropogeographie und Ethnographie für die Erforschung der vorgeschichtlichen Zeit schildert, wird gleich von vornherein festgestellt, daß bei keinem Volke der Erde „eine isolierte Aktion” möglich sei. „Jedes hat Wirkungen aus dem Kreise seiner Nachbarn heraus erfahren.” In den nächsten Kapiteln wird dann der Wert der körperlichen und geistigen Merkmale für die Geschichte der Völker einer Kritik unterzogen, dann der der ethnographischen und schließlich den letztgenannten vor dem anderen — weil für das exakte Studium besser geeignet — die erste Stelle zuerkannt. Nun geht Ratzel auf die Verwandtschaft der ethnographischen Merkmale über, die er in Zweckverwandtschaft, Verwandtschaft des Gegensatzes, Stoff- und Gradverwandtschaft gliedert. Diese allgemeinen Merkmale müssen aber zurücktreten vor der Verwandtschaft der Formgedanken, der der größte Wert für die wissenschaftliche Vergleichung ethnographischer Gegenstände zugeschrieben wird. Als Aufgabe dieser Vergleichung wird festgesetzt: „Das Bezeichnende in der Form der Gegenstände scharf zu bestimmen und zu beschreiben und die Abweichungen der Formen voneinander nach dem Grade der Verwandtschaft zu ordnen.” Aus diesen Formverwandtschaften lassen sich nun Schlüsse über gegenseitige Beziehungen von Völkern ableiten.

Ratzel stellte diese „Theorie der geographischen Verbreitung von Völkermerkmalen”, die von anderen kurz und zusammenfassend mit den Schlagwörtern „Entlehnungs”- oder „Übertragungstheorie” benannt wurde, in schroffen Gegensatz zu der Bastianschen Theorie. Wie wir aber oben bereits angedeutet habsn, stehen beide Theorien gar nicht im Widerspruch miteinander, die Ratzeische Theorie bildet vielmehr eine Ergänzung der Bastianschen. Die „allgemeinen Menschheitsgedanken” lassen sich durch geographische Beziehungen weder leugnen noch umstoßen; sie finden sich sowohl auf geistigem wie auf materiellem Gebiete.10) Wohl aber sind die einzelnen „Völkergedanken” im Laufe der Entwicklung, wie ich bereits oben hervorgehoben habe, mit ihren Trägern gewandert oder ohne diese von den Nachbarvölkern entlehnt oder an sie übertragen worden. Bei dieser Entlehnung bzw. Übertragung spielen natürlich die geographischen Beziehungen eine gewisse Rolle, das Entscheidende ist jedoch der Faktor der Entlehnung oder Übertragung selber, weshalb man diese Theorie auch am besten als „E n t l e h n u n g s t h e o r i e” bezeichnet. Kurzum, die Ratzeische Theorie ist eigentlich — unter besonderer Betonung des geographischen Gesichtspunktes — nur ein Glied aus der Kette der Bastian sehen Theorie; man sollte deshalb in Zukunft von dem Bastian-Ratzeischen System sprechen.

10) Vgl. die Ausführungen von R. Steinmetz in den Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien XXVI, 1S96. S. 56. Zu dem gleichen Ergebnis kommt auch Eisenstädter in seinem oben angeführten Buche S. 203 ff.

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Den Ratzeischen Arbeiten kommt daneben noch eine besondere Bedeutung deshalb zu, weil Ratzel von der Verwandtschaft der ethnographischen Gegenstände ausging, und dadurch die Untersuchung auf einen festen Boden stellte. Bastian ging bei seinen Arbeiten lediglich von psychologischen Theorien aus, und so war bei einem Vorherrschen der Bastian sehen Richtung die Gefahr nahegerückt, daß die Völkerwissenschaft sich in metaphysischen Spekulationen verlieren könne. Bastian konnte seiner ganzen Natur nach sich nicht mit Einzeluntersuchungen über etwaige Völkerzusammenhänge beschäftigen, sein Blick war auf das große Ganze gerichtet, das Allgemeine. Ratzel dagegen suchte für diese Theorien eine gesunde Grundlage in Einzeluntersuchungen zu gewinnen, auch hier also wieder Bastians Arbeiten in der denkbar besten Weise ergänzend.

7.

Etwa zur selben Zeit, in der der Verfasser die Bastian-Ratzelschen Gedankengänge wieder aufgriff und die alte Kontroverse zu analysieren versuchte, ließ Felix von Luschan eine umfangreiche Studie unter dem Titel „Zusammenhänge und Konvergenz” in den Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien (48, 1918. S. I — 117) erscheinen. Diese Studie bietet uns gewissermaßen das Fazit aus einer langjährigen, arbeits- und erfolgreichen Forschertätigkeit, die den drei Gebieten der Anthropologie, lithnologie und Archäologie zugute gekommen ist. Im Verlauf dieser mannigfaltigen und wechselseitigen Studien, die nicht nur in der stillen Studierstube unternommen sind, sondern den Forscher in alle Erdteile der Welt geführt haben, hat von Luschan eine Reihe von Erscheinungen beobachtet, die ihn veranlaßten, dem Problem der Entstehung der menschlichen Kulturgüter nachzugehen. Bei diesen Forschungen ist von Luschan vollkommen selbständig seine eigenen Wege gegangen. Deshalb nimmt er auch von der bisherigen Behandlung des Problems keinerlei Notiz, erwähnt auch nicht ein einziges Mal die Namen Bastian oder Ratzel. Auch seine Ergebnisse bewegen sich in vollständig neuen Bahnen. Der Titel seiner Studie gibt uns die beiden Schlagwörter wieder, unter die von Luschan die Ergebnisse seiner Forschungen zusammenfaßt, „Zusammenhänge” und „Konvergenz”.

Unter Konvergenz versteht von Luschan eine selbständige Entstehung eines Brauches, einer Sitte, eines Geräts usw. an verschiedenen Stellen der Erde oder zu verschiedenen Zeiten der Menschheitsentwicklung. Wenn er dieselben Körpereigenschaften, Kulturgüter oder Sitten dagegen bei verschiedenen Völkern findet, wo der Gedanke an eine einheitliche Entstehung der betreffenden Erscheinung aus irgendwelchen Gründen naheliegt oder irgendwie wahrscheinlich ist, so sucht er diese Erscheinungen zu verbinden und darin Zusammenhänge zu erblicken. Derartigen Zusammenhängen nachzugehen erklärt er für die wichtigste Aufgabe der Anthropologie, wobei er jedoch ganz richtig betont, daß der Anthropologie von nirgendsher größere Schwierigkeiten erwachsen als von Seiten der Konvergenz.

Die Luschansehe Studie verfolgt einen doppelten Zweck : Einmal das Fazit aus seiner Lebensarbeit bekannt zu geben, andererseits aber auch zum Nachdenken über diese wichtigen Fragen anzuregen. Das Fazit seiner Lebensarbeit bietet uns gewissermaßen die Einleitung zu der Studie, während der zweite Teil der Schrift eine sehr lehrreiche, durch Abbildungen und Hinweise auf die ethnographische Literatur unterstützte reiche Liste von Fällen, die Zusammenhänge oder Konvergenz erkennen lassen, bietet und damit die zweite Aufgabe verfolgt. Auf Grund eines bunten, alphabetisch geordneten reichhaltigen Materials (Körpereigenschaften, Tracht, Waffen, Geräte, Hausbau, Ziehbrunnen, Tore, Türschloß, Hängebrücken, Metall- und Tonbearbeitung, Sitten, Alphabet, Kunst, Musikinstrumente, Spiele, Sagen und Märchen, Sprüche usw.) vermag sich ein jeder von der Wichtigkeit des Problems und gleichzeitig von der Vielseitigkeit der dadurch berührten Interessensphären zu überzeugen. Ohne Zweifel verdient die von Luschansche Studie eine besondere Beachtung. In der Reihe der Schriften, welche die Methode der ethnologischen Forschung gefördert oder ihr neue Bahnen gewiesen haben, wird der verdienstvollen Arbeit auf jeden Fall immer ein hervorragender Platz eingeräumt werden. Daneben wird sie infolge der Vielseitigkeit des in ihr behandelten Materials und der lichtvollen Darstellungsweise des Verfassers auch auf viele andere Gebiete anregend wirken und das Interesse für das Problem fördern.

Ohne Zweifel erfährt auch das Problem der Entstehung der menschlichen Kulturgüter und Sitten durch die von Luschansche Arbeit eine wesentliche Förderung. In dieser Beziehung liegt der Schwerpunkt der Arbeit in der klaren und deutlichen Herausarbeitung jener eigenartigen Erscheinung, die von Luschan jetzt als Konvergenz bezeichnet. Man kann nicht gerade sagen, daß die bisherige Forschung an dieser Erscheinung achtlos vorbeigegangen sei. Denn das, was von Luschan als Konvergenz kennzeichnet, deckt sich zu einem Teil mit dem, was Bastian als „Völkergedanken” angeführt hatte. Doch handelte es sich keineswegs nur um die Neuprägung eines Namens, sondern die ganze Erscheinung als solche ist viel sorgfältiger beobachtet, dementsprechend herausgearbeitet und präziser gefaßt. Ohne Zweifel wird sowohl die Erscheinung in Zukunft mehr

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beachtet werden, als auch die für sie gewählte Bezeichnung sich in der Literatur einbürgern und damit zur klareren Herausarbeitung des Problems beitragen.

Das Gleiche gilt leider nicht von den Erscheinungen, die von Luschan als Zusammenhänge auffaßt. Denn zunächst einmal ist das, was von Luschan als Zusammenhänge hinstellt, nicht gerade geeignet, für dieses neue Schlagwort zu werben. Beim besten Willen vermag ich in einem guten Teil der durch von Luschan als „Zusammenhänge” gedeuteten Erscheinungen keine solchen zu erkennen. So kann ich z. B. nicht zugeben, daß zwischen den Felsenmalereien der Buschmänner und den Höhlenmalereien in Südfrankreich irgendeine Verbindung besteht. Ein derartiger Nachweis läßt sich weder inhaltlich noch formal aus den Bildern erbringen, und ist auch durch von Luschan trotz seiner mehrfachen Beschäftigung mit dem Gegenstande bis heute noch nicht erbracht. Ganz abgesehen davon, daß ich es methodisch für verfehlt erachte, eine Erscheinung, die, wie die Buschmannmalereien, erst vor ein oder zwei Jahrhunderten entstanden ist, als Fortsetzung einer anderen zu deuten, die, wie die Höhlenmalereien in Südfrankreich, nach den gegenwärtigen chronologischen Anschauungen beträchtlich vor 3000 vor Christi zu datieren ist, ohne daß aus den zwischen beiden Erscheinungen liegenden rund fünf Jahrtausenden irgendein Bindeglied nachzuweisen ist. Durch mein spezielles Arbeitsgebiet bin ich zu sehr an die Beobachtung des chronologischen Moments gewöhnt, daß ich an einer derartigen Differenz nicht achtlos vorbeigehen kann. Der Ethnologe kennt derartige Beobachtungen bisher leider noch so gut wie gar nicht; wann kommen für ihn einmal chronologische Erwägungen in Frage? Für den Archäologen können in einem Falle wie dem vorliegenden jedoch lediglich die chronologischen Erwägungen ausschlaggebend sein. Was der Ethnologe als „Zusammenhänge” erblickt, vermag der Archäologe nie und nimmer anders als „Konvergenz” zu bezeichnen.

Ähnlich steht es mit den eigenartigen Bronzewaffen und Schmuckstücken aus Nordwestkamerun und Nachbargebieten. So gern ich anerkenne, daß diese Sachen eine z. T. verblüffende Ähnlichkeit mit europäischen Stücken aufweisen, — so vermag ich sie dennoch nicht an die europäischen Stücke anzuschließen, weil auch hier wieder ein unüberbrückbarer zeitlicher Abstand klafft.

Diese beiden Fälle sind nicht etwa willkürlich von mir herausgegriffen; genau so steht es mit der Mehrzahl von dem, was von Luschan als „Zusammenhänge” ansieht. Werden wir da besonderes Vertrauen zu dem neuen Fachausdruck gewinnen? Und werden wir von Luschan folgen können, wenn er aus derartigen Zusammenhängen, die in den Augen des Archäologen keine solchen sind, Völkerverbindungen zwischen Europa und Afrika, zwischen der alten und der neuen Welt herauslesen will? Mögen wir auch noch so sehr anerkennen, wie vorsichtig und zurückhaltend sich von Luschan über diese Frage äußert, wie er selber die von ihm aufgestellten Verbindungen nicht als sicher, sondern nur als möglich hinstellt — auf derartigen unsicheren Unterlagen läßt sich überhaupt nicht bauen.

Das von Luschan'sche Schlagwort „Zusammenhänge” dürfte schwerlich besondere Anerkennung finden. Ich möchte sogar so weit gehen, zu behaupten, daß es für unsere Wissenschaft als solche nur günstig sein kann, je schneller sie diesen Punkt der von Luschanschen Arbeit überwindet — je schneller der Ethnologe unter Berücksichtigung der chronologischen Methode zu arbeiten beginnt. Nach ethnischen Verbindungen und Zusammenhängen zu suchen ist ein Erbfehler unserer Forschung aus dem vorigen Jahrhundert; dafür fehlen uns noch die Grundlagen, dazu ist das Fundament noch zu wenig gefestigt. Was wir gegenwärtig brauchen, sind scharfe, chronologische Analysen. Sobald sie dermaleinst in genügender Zahl vorliegen, wird eine spätere Generation einen gesicherten, feststehenden Bau dort errichten können, wo wir gegenwärtig in Luftschlössern allzugern bereits weilen möchten.

8.

Mit diesem zuletzt besprochenen Teil der von Luschanschen Studie möchte ich ein Buch von Georg Wilke in Parallele stellen. Wilke hat vor nunmehr sechs Jahren unter dem Titel „Kulturbeziehungen zwischen Indien, Orient und Europa” ein Buch veröffentlicht, 11) in dem er eine ganze Reihe von Parallelerscheinungen zusammenstellt, die sowohl aus der materiellen wie aus der geistigen Kultur Europas, Indiens und des Orients entnommen sind. Wilke erblickt in diesen Erscheinungen ohne weiteres Zusammenhänge, und zwar sucht er diese dadurch zu erklären, daß er sie auf eine gemeinsame Wurzel zurückführt. Diese gemeinsame Wurzel bildet für ihn das Indogermanische, und damit ergeben sich aus diesen Kulturbeziehungen eine Reihe von neuen Aufschlüssen zur Lösung des Indogermanenproblems überhaupt. Ähnliche Gedankengänge hat Wilke dann neuerdings in mehreren Abhandlungen vertreten; so in einem Vortrage „Aus dem Reiche der vorgeschichtlichen Medizin” (Medizinische Klinik 191 3, S. I ff.) und in zwei Studien „Mythische Vorstellungen und symbolische Zeichen aus indoeuropäischer Urzeit” (Mannus VI, 1914. S. 15 — 44) und „Weitere Beiträge zur Heilkunde in der indoeuropäischen Vorzeit” (Ebendort VII, 191 5. S. I-3I)

11) Würzburg 1913. 276 Seiten.

Soweit die Kulturbeziehungen aus dem Gebiet der materiellen Kultur entnommen sind, sind sie verhältnismäßig gut gewählt. Jedoch ließe sich auch hier schon manche Klage über die Nichtberücksichtigung der zwischen den einzelnen

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Erscheinungen klaffenden unüberbrückbaren Zeitspanne anbringen. Sobald wir uns den aus dem Gebiet der geistigen Kultur entnommenen Beispielen zuwenden, wird diese Nichtberücksichtigung des chronologischen Moments ebenso auffällig wie in der von Luschanschen Arbeit. Von einem Nicht- Wollen oder Nicht Können ist auch in diesem Fall nicht die Rede; die Erscheinung läßt sich vielmehr lediglich so erklären, daß selbst ein so hervorragender und weitblickender Forscher wie Wilke sich noch nicht genügend klar darüber geworden ist, auf welch schwankenden Boden er sich in dem Augenblick begibt, wo er Erscheinungen aneinander reiht, die durch Jahrhunderte und Jahrtausende ohne irgendwelche Bindeglieder voneinander getrennt sind. Vom methodischen Standpunkt aus läßt es sich nicht rechtfertigen, wenn zwei Erscheinungen von gänzlich verschiedenem Alter in Parallele gestellt werden, wenn z. B. in demselben Atemzuge neolithische Erscheinungen des Nordens und indische Kunst, die der überwiegenden Mehrzahl nach einer verhältnismäßig späten Periode angehört, miteinander verglichen werden. Sobald irgendein längerer Zeitraum zwischen zwei sonst gleichartigen Erscheinungen klafft, aus dem sich keinerlei Bindeglieder zwischen diesen beiden Erscheinungen nachweisen lassen, so kann ich einen Schluß auf „Zusammenhang” nicht gutheißen, sondern entscheide mich immer für „Konvergenz”.

Von einem „Zusammenhang” kann eben doch nur dort die Rede sein, wo wirklich ein Zusammenhang vorliegt, nicht aber auch in Fällen, wo dieser Zusammenhang durch Jahrhunderte oder Jahrtausende aussetzt! Von diesen methodischen Grundsätzen lasse ich mich auch nicht durch einen Hinweis auf die große Masse von Erscheinungen abbringen, die Wilke aneinander reiht, und die auf den ersten Blick natürlich für eine Deutung in seinem Sinne zu sprechen scheinen. Ein einziges exakt durchgeführtes Beispiel für Konvergenz oder Zusammenhang ist in meinen Augen mehr wert als die Zusammenstellung einer derartigen Masse von Erscheinungen, bei der es erst in jedem einzelnen Falle nachzuprüfen gilt, ob Zusammenhang oder Konvergenz vorliegt.

Von diesem methodischen Standpunkte aus muß ich auch hier wieder die ethnologische Ausdeutung, die Wilke diesen Erscheinungen zuteil werden läßt, als verfehlt, minder hart gesagt als verfrüht hinstellen. Ich will auch hier wieder nicht mit Anerkennung für das Geleistete zurückhalten. Gewiß hat Wilke mit fabelhafter Belesenheit eine Unmenge von Parallelen aus allen möglichen Gebieten zusammenzubringen sich bemüht. Wieviel Erscheinungen hat er nicht allein auf religiösem Gebiet, z. B. im Ahnenkult, Sonnenkult, Mondkult, Tierkult, Dämonenkult verfolgt! Aber keine einzige von diesen Erscheinungen zeigt eine, wenn auch nur annähernd, lückenlose Kette, vielmehr klafft überall eine gähnende Lücke von mehreren Jahrtausenden. Nirgends läßt sich auch nur die leiseste Berechtigung dafür vorbringen, in diesen Erscheinungen Kulturbeziehungen, also Zusammenhänge zu erblicken. Dagegen wird man von meinem Standpunkte, in allen derartigen Erscheinungen bis zu dem Augenblick, wo sie sich als Zusammenhänge einwandfrei feststellen lassen, lediglich Konvergenz zu erblicken, gewiß nicht seine methodische Berechtigung absprechen können.

Wenn aber die Grundlage zu den Wilkeschen Forschungen noch derart ungeklärt und schwankend ist, wo bleibt da die Quintessenz seiner Studien? Gewiß, man könnte sich für einen Augenblick noch dadurch zu retten versuchen, daß man diese Konvergenz aus der indogermanischen Wurzel abzuleiten versuchte. Aber von diesem Augenblick an würde sich das Bild doch schon wesentlich anders gestalten, als es Wilke zu zeichnen versucht hat.

Meine Einwendungen wird man nur allzubald mit dem Vorwurf zu entkräften versuchen, ich leugnete jegliche Zusammenhänge und sei ein Gegner von jeglichen ethnischen Ausdeutungen. Diesen Vorwurf möchte ich von vornherein durch die Feststellung entkräften, daß ich selber mehrere Beispiele für Zusammenhang aufgestellt und auch auf ethnische Zusammenhänge hingewiesen habe, — allerdings bei einwandfreien positiven Unterlagen. Darüber hinausgehend erkenne ich gern auch noch andere Zusammenhänge an, wie sie z. B. M o n t e l i u s für das erste Auftreten des Eisens erbracht hat. Mit diesem Vorwurf würde man mir also bitter Unrecht tun. Was ich mit all diesen Auseinandersetzungen erstrebe, ist lediglich das Ziel, klare, einwandfreie Grundlagen für die Forschung der Zukunft zu gewinnen, und die Forschung dahin zu führen, daß sie zunächst einmal diese Grundlagen schafft und dann erst auf diesem Fundament weiter baut.

Die Urgeschichtsforschung hatte sich bisher die auf ethnologischem Gebiet durch Ratzel und Bastian angebahnte Erkenntnis in der Frage nach der Entstehung der menschlichen Kulturgüter und Sitten noch nicht zu Nutzen gemacht. Wohl war sie instinktmäßig selber auf die Ansicht gekommen, daß bei einer eingehenden Analyse des Kulturbesitzes der Menschheit zwei Faktoren zu unterscheiden seien, einmal ein allgemeiner Besitz der Menschheit, und daneben der schöpferische Geist bestimmter Einzelvölker, dessen Ergebnisse durch Völkerbewegungen oder durch Austausch der allgemeinen Kulturgüter über weite Länder hin gewandert sind. Das zeigen uns einige Einzeluntersuchungen. Eine Entstehung an einer einzelnen Stelle und danach eine Wanderung von dort aus über die ganze Welt glaubt Montelius in seiner Untersuchung über das erste Auftreten des Eisens 12) festgestellt zu haben.

12) Prähistor. Zeitschrift V, 1913. S. 289 ff.

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Wilke dagegen hat in seinen oben angeführten Arbeiten auf den Gedanken an eine gemeinsame Wurzel bei allen indogermanischen Völkern hingewiesen. Ich selber habe in einer Reihe von Einzeluntersuchungen, über geflickte Fibeln 13) über den Wagen,14) am ausführlichsten wohl in meiner Untersuchung über die Geschichte der Löttechnik â– 15) immer auf beide Lösungsmöglichkeiten hingewiesen, wenn ich auch für einige Fälle die Entstehung an einer einzigen Stelle und die weitere Wanderung von dort aus nachweisen konnte. Dann habe ich in meinem Aufsatze „Randglossen zu einigen Fachausdrücken aus dem Gebiete der vorgeschichtlichen Forschung”^) das gesamte Problem als solches behandelt und zwischen der ethnologischen und archäologischen Forschung ein Zusammenarbeiten zu erzielen versucht. Auf archäologischem Gebiete habe ich gleichzeitig eine besondere Richtung anzubahnen unternommen, für die ich den Namen „Kulturarchäologie” eingeführt habe.16)

12) Zeitschrift für Ethnologie 47, 1915. S. 309 ff. 13) Der Wagen im nordischen Kulturkreise zur vor- und frühgcschichtlichen Zeit. Festschrift Eduard Hahn zu seinem 60. Geburlstag dargebracht von Freunden und Schülern. Stuttgart 1917. S. 209 ff. — Die Entstehung des Wagens und des Wagenrades. iVIannus 10, 1918. 14) Bonner Jahrbücher 123, :9l6. S. l88 ff. 15) Korrespondenzblatt der deutschen anthropologischen Gesellschaft 49, 1918. S. 39—47. 16) Deutsche Geschichtsblätter 17, 1916. S. 103.

Das Bestreben, die vorgeschichtlichen Denkmäler der Kulturgeschichte nutzbar zu machen, ist schon so alt wie die Beschäftigung mit den vorgeschichtlichen Denkmälern überhaupt, und auch noch in den letzten Jahren haben bedeutende Forscher ihre Arbeitskraft diesem Gebiete zugewandt (man denke an Hörnes). Trotz alledem ist dieses Gebiet am wenigsten abgebaut und methodisch durchdrungen. Nach altem Herkommen ist die Mehrzahl der Forscher froh, wenn sie eine Analogie findet, ganz gleich, ob in einem entgegengesetzten Erdwinkel — aus diesen Analogien heraus lassen sich mancherlei Fäden für ein Hin und Her anspinnen. Eine methodische Grundlage fehlt dieser Richtung noch so gut wie gänzlich. Den Weg, den die Forschung einzuschlagen hat, glaube ich jetzt jedoch in meinen Einzeluntersuchungen klar vorgezeichnet zu haben. Um nur ein Beispiel herauszugreifen, darf sich unsere Forschung nicht mehr damit begnügen, einfach zu registrieren, daß diese und jene Völker auch dermaleinst eine Bronzekultur erlebt haben, sondern es gilt zu ermitteln, wie, wann und wo das erste Auftreten der Bronze erfolgt, ob an einer oder an mehreren Stellen, wie die allmähliche Ausbreitung und Entwicklung dann in den einzelnen Kulturkreisen und bei den einzelnen Völkern vor sich gegangen ist. Als Haupterfordernisse für diese Untersuchungen habe ich eine scharfe Beobachtung der chronologischen Verhältnisse und der Kulturkreise und Kulturgruppen gefordert.

Als besonders Ziel dieser kulturarchäologischen Forschung bezeichnete ich eine genaue Durcharbeitung aller geistigen Ideen und materiellen Elemente, die für die Gestaltung der Kultur von irgendwelcher Bedeutung sind. Aus einer Analyse dieser „Kulturelemente”, aus einem Vergleich und einer Sichtung all der Fäden, die sich dabei ergeben werden, würde sich dann ein Gesamtbild herstellen lassen, das vor allen Dingen auch einen Einblick in die Stellung der einzelnen Kulturkreise und Kulturvölker und ihre Beziehungen zueinander ermöglichte. Bevor sich jedoch dieses Bild zusammensetzen läßt, wird die Frage nach der Entstehung der einzelnen Elemente durchgearbeitet werden müssen. Die erste Aufgabe der Kulturarchäologie wird in dieser systematischen Durcharbeitung bestehen. Dabei dürften sich nicht nur für das Problem der Entstehung der menschlichen Kulturgüter und Sitten überhaupt neue wertvolle Gesichtspunkte ergeben, sondern auch die ethnologische Forschung wird von dieser systematischen Durcharbeitung aus reiche Befruchtung empfangen. Ich wage zu hoffen, daß durch diese Durcharbeitung das Problem, das ursprünglich von der ethnologischen Seite seine Anregung erhalten hat, seine Hauptlösung von der kulturarchäologischen Seite aus erfährt, und auf Grund der dort gewonnenen Ergebnisse vielleicht die Ethnologie ein sicheres Fundament für ihre Forschungen gewinnt, auf dem sie dann systematisch weiter bauen kann.

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Erstellt am 20.02.2012 - Letzte Änderung am 20.02.2012.


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