Aus der „Naturwissenschaftliche Wochenschrift„, Organ der Deutschen Gesellschaft für Volkstümliche Naturkunde in Berlin, begründet von H. Potoniß, herausgegeben von Prof. Dr H. MIEHE in Berlin, Neue Folge. 18. Band, (der ganzen Reihe 34. Band), JANUAR — DEZEMBER 1919, JENA VERLAG VON GUSTAV FISCHER 1919.
Alexander von Humboldts Kosmos ist der letzte großartige Versuch, die ihrer Zeit bekannte Fülle naturwissenschaftlicher Tatsachen in einer Schilderung des einigen in sich bewegten Weltganzen, das Allgemeine mit dem Besonderen innerlich verkettet, zu wirkungsvoller Schau zu stellen. Woher Humboldt die Anregung hierzu erhielt, ob es, wie mehr als wahrscheinlich, der geistvolle Verkehr mit dem Weimarer Dichterkreis (1794/95) war oder ob, wie auch gut möglich, das Beispiel der französischen Enzyklopädisten daneben als Mitanreiz wirkte, ist nicht mit Bestimmtheit festzustellen. Humboldt selbst berichtet nur, ihm habe das Bild seines Werkes „fast ein halbes Jahrhundert lang vor der Seele geschwebt”,1) und ein noch erhaltener Brief vom 24. Januar 1796 bestätigt diese Angabe. „Je connus l'idee d'une physique du monde” 2) schreibt dort der junge Forscher an Marc AugustePictetin Genf.
1) A.V.Humboldt, Kosmos. Entwurf einer physischen
Weltbeschreibung. 1. S. V. Stuttgart und Tübingen 1845.
2) A. V. Humboldt, Correspondance scientifique et
litteraire, recueillie, publice etc. par M. de la Roquette I. p. 4.
Paris 1865.
Es vergingen indessen noch mehrere Jahrzehnte, bevor der Plan dieser Weltphysik zur Ausführung kommen konnte. Zunächst waren es physiologische, geognostische und chemische Arbeiten, sodann die fünfjährige amerikanische Reise und deren wissenschaftliche Ausbeutung, die die ganze Arbeitskraft eines Mannes in Anspruch nahmen, endlich fehlte es auch noch allzusehr an den notwendigen Bausteinen zu einem so gewaltigen Gebäude. Erst das Jahr 1827 brachte das alte zeitweise ganz aufgegebene Vorhaben seiner Verwirklichung näher. Als nämlich Humboldt nach Aufzehrung seines beträchtlichen Vermögens durch die Herausgabe des großzügigst angelegten amerikanischen Reisewerkes gezwungen war von seinem geliebten Paris nach dem damals noch recht kleinstädtischen Berlin überzusiedeln, verdroß ihn neben so manchem anderen das überaus geringe Verständnis, das man daselbst für Fragen der Naturwissenschaften besaß. Schauspiel, Tonkunst und die sogenannte schöne Literatur erfüllten ganz den Gesichtskreis der Gebildeten und ließen alles andere völlig zurücktreten. Daneben herrschte an der noch jungen Hochschule die Schelling-Hegelsche Naturphilosophie, und da es im übrigen Deutschland nicht besser stand, so war ein Niedergang der deutschen Wissenschaft ernstlich zu befürchten. Da hieß es unverzüglich Wandel schaffen und keiner war für dieses schwierige Amt geeigneter als Alexander von Humboldt.
„Er gleicht einem Brunnen mit vielen Röhren,
wo man überall nur Gefäße unterzuhalten
braucht und wo es uns immer erquicklich
und unerschöpflich entgegenströmt”.
Goethe über A. v. Humboldt.
Vermöge seines Weltrufes als Forscher, der Tiefe und Gediegenheit seines Wissens, war er hierzu wie geschaffen. Es galt zu zeigen, daß es noch andere auch wirtschaftlich und kulturpolitisch notwendigere Dinge gab als einseitiges Schwelgen in Kunstfreuden, noch wichtiger aber war es aus achtunggebietenden Munde zu verkünden, daß die deutschen Naturforscher nicht länger gesonnen seien, sich auf die Dauer von aufgeblasenen Nichtwissern beiseite schieben zu lassen und daß an die Stelle metaphysischer Begriffsklopferei nunmehr wieder ernstes, unverdrossenes Erforschen der Tatsachen zu treten habe. Humboldt war gewiß der letzte, der all und jede Philosophie als „bodenlose Hypothese” 3) ablehnte und hat das auch wiederholt ausgesprochen, aber andererseits war er „durch den Umgang mit hochbegabten Männern früh zu der Einsicht gelangt, daß ohne den ernsten Hang nach der Kenntnis des Einzelnen alle große und allgemeine Weltanschauung nur ein Luftgebilde sein könne”.4) Der naturphilosophische Unfug war nachgerade unerträglich geworden, so daß Humboldts in der Folge gesprochene Worte von dem „jugendlichen Mißbrauch edler Kräfte”, von dem „Schematismus, enger als ihn je das Mittelalter der Menschheit angezwängt”5) eher zu milde erscheinen. Man beschaue sich nur einmal die Blütenlese, die Schleiden in seiner Streitschrift gegen Nees von Esenbeck 6) zusammengestellt hat, und man kann angesichts solch hohlen Geschwätzes, das den Anspruch auf ernst zu nehmende Wissenschaft erhob, den Zorn verstehen, der sich jedes wahren Forschers hierüber bemächtigen mußte. Übrigens bot sich für Humboldt auch bald ein unmittelbarer Anlaß seinerseits das Wort zu ergreifen. Im Sommer 1827 hatte August Wilhelm von Schlegel in Berlin eine Reihe von Vorträgen über die Theorie und Geschichte der Künste gehalten. In einem derselben hatte er beiläufig die Bemerkung einfließen lassen, Europa sei zwar durch die nach allen Seiten berichtigte Naturerkenntnis mündig geworden, ja dieser Umstand bedeute den charakteristischen Zug in der Bildung des Zeitalters, aber andererseits sei doch „bei dem Ergehen in dem Endlichen und Einzelnen nach allen Richtungen hin unseren Physikern die Grundidee, der Gedanke der Natur abhanden gekommen”.7)
3) A. V. Humboldt, Ideen zu einer Geographie der
Pflanzen, nebst einem Naturgemälde der Tropenländer usw.
Tübingen 1807. S. V. VI. — Kosmos I. S. 72.
4) Kosmos 1. S. VI.
5) Ebenda I. S. 69.
6) M. J. Schleiden, Schellings und Hegels Verhältnis
zur Naturwissenschaft. Leipzig 1844. S. 27fr., 52fr.
7) Berliner Konversationsblalt für Poesie, Literatur und
Kritik. S. 470. Nr. 118 vom 16. Juni 1827.
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Hiergegen hätte sich nichts sagen lassen, ja Humboldt, der in aller wissenschaftlichen Kleinarbeit stets nur ein Mittel sah, zur „Erkenntnis der Einheit in der Vielheit der Erscheinungen” 8) zu gelangen, der von einer „philosophischen Naturkunde” forderte, daß sie sich über die „sterile Anhäufung isolierter Tatsachen” 9) erhebe, konnte solcher Äußerung nur beipflichten, indes ging der Redner im weiteren Verlauf seines Vortrags in ein bedenkliches Lob von Schelling und Hegel über und forderte damit zum Widerspruch heraus. Es ist eine alte Erfahrung, daß, wer die Jugend hat, auch die Zukunft besitzt, und um zu zeigen, daß sich die Natur auch auf dem Boden erfahrungsmäßiger Forschung als ein Großes, Lebendiges, durch innere Kräfte bewegtes Ganzes darstellen lasse, wandte sich Humboldt darum zunächst an die „Kappen und Mützen”, wie er scherzhaft sagte, an die Berliner Studenten. Er kündigte für das Winterhalbjahr 1827 — 28 eine öffentliche Vorlesung über physische Erdkunde an, die sich sofort eines überaus regen Zuspruches erfreute. „Eine ganz besondere Zierde hat”, so berichtet uns eine zeitgenössische Stimme,10) „die Universität durch den Beitritt des Hrn. Dr. Alexander von Humboldt erhalten, der in seiner Befugnis als Mitglied der königlichen Akademie der Wissenschaften Vorlesungen über physische Erd- und Weltbeschreibung ankündigte, dieselben am 3. November vor der größtmöglichsten Zahl von Zuhörern eröffnete und unter stets steigender Begeisterung derselben eifrig fortsetzte. Die ruhige Klarheit, mit welcher er die in allen Fächern der Naturwissenschaften von ihm und andern entdeckten Wahrheiten umfaßte und zu einer Gesamtanschauung brachte, verbreitete in seinem Vortrage ein so helles Licht über das unermeßliche Gebiet des Naturstudiums, daß seine Methode mit diesem Vortrage eine neue Epoche ihrer Geschichte datiert”. Der Andrang wurde schließlich derartig, daß sich Humboldt zu einer Wiederholung entschließen mußte, die diesmal aber in der Singakademie und zwar vornehmlich für Laien stattfand. Die Zahl der Besucher war auch hier unverhältnismäßig groß (an tausend Köpfe), alles, was Berlin an geistigen Größen aufzuweisen hatte, war erschienen, sogar von außerhalb kamen Leute, um den gefeierten Redner zu hören. „Die Würde und Anmut des Vortrags”, läßt sich ein anderes Berliner Blatt vernehmen,11) „vereinigt mit dem Anziehenden des Gegenstandes und der ausgebreiteten tiefen Gelehrsamkeit des Lehrers, die immer aus dem Vollen zu schöpfen vermag, dieser so seltene Zusammenfluß aller für die mündliche Belehrung ersprießlichen Eigenschaften fesselten die Zuhörer mit unwiderstehlicher, anhaltender Kraft”. Der Erfolg war denn auch ein gewaltiger. „Alexander ist wirklich eine Puissance und hat durch seine Vorlesungen eine neue Art des Ruhmes erworben”,12) schreibt der Bruder stolz, und in der Tat, Alexander von Humboldts Vorträge haben Epoche gemacht. Sie sind ein Markstein in der Geschichte unserer Volkserziehung geworden. Daß der Naturwissenschaft ein bedeutender Anteil in der allgemeinen Volksbildung gebühre, wurde damals zuerst Gedankengut weiterer Kreise, und wenn wir heute eine so stattliche Anzahl vortrefflicher gemeinverständlichwissenschaftlicher Schriften besitzen, so verdanken wir das nicht zum wenigsten eben jenen Vorlesungen, aus denen nachmals der Kosmos hervorging. Der alte Freiherr Johann Friedrich von Cotta, der Verleger unserer großen Dichter, machte nämlich Humboldt den Vorschlag, seine Vorlesungen durch einen geübten Schnellschreiber aufzeichnen und sodann bei ihm drucken zu lassen. Trotz eines nicht unbeträchtlichen Geldangebots lehnte Humboldt ab. Persönliche Vorteile kamen ja bei ihm immer zuletzt, und er wußte nur zu gut, daß das gesprochene Wort sich auf dem Druckbogen ganz anders auszunehmen pflegt als im Hörsaal. Statt dessen beschloß er, ein Buch von der Natur zu schreiben, das „die ganze materielle Welt, alles, was wir heute von den Erscheinungen der Himmelsräume und des Erdenlebens, von den Nebelsternen bis zur Geographie der Moose auf den Granitfelsen, wissen”, behandeln und „das zugleich in lebendiger Sprache anregen und das Gemüt ergötzen” 13) sollte.
8) Kosmos I. S. 55.
9) Ebenda I. S. 248.
10) Spenersche Zeitung vom 8. Dezember 1827. Die Vorlesungen, 61 an der Zahl, dauerten vom 3. November 1827 bis zum 26. April 182S.
11) Vossische Zeitung vom 7. Dezember 1827. Die Vorlesungen, 16 an der Zahl, begannen am 6. Dezember 1827 und endeten am 27. April 1828. — Ähnliche Vorlesungen für gebildete Laien hatte Humboldt übrigens schon zwei Jahre früher in Paris im Salon der Marquise de Montauban gehalten.
12) Heinrich Böhmer, Geschichte der Entwicklung der naturwissenschaftlichen Weltanschauung in Deutschland. Gotha 1872. S. lu.
13) Briefe von Alexander von Humboldt an Varnhagen von Ense aus den Jahren 1827 — 1858. Nebst Auszügen aus Varnhagens Tagebüchern usw. Leipzig 1860. S. 20, 21, 22.
„Ich habe den tollen Einfall, die ganze materielle Welt, alles was wir heute von den Erscheinungen der Himmelsräume und des Erdenlebens, von den Nebclsternen bis zur Geographie der Moose auf den Granitfelsen, wissen, alles in Einem Werke darzustellen, und in einem Werke, das zugleich in lebendiger Sprache anregt und das Gemüt ergötzt. Jede große und wichtige Idee, die irgendwo aufgeglimmt, muß neben den Tatsachen hier verzeichnet sein. Es muß eine Epoche der geistigen Entwicklung der Menschheit (in ihrem Wissen von derNatur) darstellen... In dem speziellen Teile alle numerischen Resultate, die genauesten wie in Laplace exposition du Systeme du Monde . . . Das Ganze ist nicht was man gemeinhin physikalische Erdbeschreibung nennt, es begreift Himmel und Erde, alles Geschaffene.”
Es war ein Riesenwerk, das Humboldt nunmehr (im Herbst 1834 nach wissenschaftlichem Abschluß der sibirischen Reise) begann, und ihm hat er die letzten fünfundzwanzig Jahre seines Lebens gewidmet. Als Namen wählte er nach einigem Schwanken die aus dem Griechischen stammende Bezeichnung für Weltall „Kosmos”, denn diese umfasse „mit einem Schlagworte: Himmel und Erde”. 14) Ursprünglich auf zwei Bände berechnet, schwoll das Werk schließlich auf fünf an. Die ersten beiden Bände enthalten die Prolegomenen. Hier finden sich zunächst die „Einleitenden Betrachtungen über die Verschiedenartigkeit des Naturgenusses und eine wissenschaftliche Ergründung der Weltgesetze” Diese Einleitung ist im wesentlichen eine erweiterte Wiedergabe des Vortrages, mit dem Humboldt seine Vorlesungen in der Singakademie eröffnet hatte.15) Sie berichtet zunächst über die verschiedenen Arten des Naturgefühls, das auf seiner höchsten Stufe sich nicht mehr mit dem dumpfen Ahnen eines inneren Einklangs im Wechsel des Geschehens begnügt, sondern danach strebt, in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen die Einheit der Naturerscheinungen vernunftmäßig zu erkennen. So ist Naturgefühl eine gewichtige Triebfeder des Naturerkenners. Dieses aber, begründet auf eine denkende Betrachtung der Erscheinungen und letzten Endes als Weltbeschreibung nach allgemeinen umfassenden Überblicken strebend, bildet neben der Geschichtswissenschaft die Grundlage unserer geistigen, materiellen und sittlichen Kultur. Es fördert nicht nur den Gewerbefleiß und Wohlstand der Völker, es erhöht auch, und dies ist ja sein erhabenster Zweck, unser geistiges Dasein durch die Einsicht in den notwendigen Zusammenhang aller Veränderungen im Weltall. Mit dieser feierlichen „Thronrede” hatte Alexander von Humboldt gleichsam als verfassungsmäßiger Herrscher im Reiche der Naturwissenschaft den Anbruch des induktiven Zeitalters auch für Deutschland angekündigt.16) Mag manches von dem, was er vorbrachte, bereits anderweitig bemerkt worden sein, in so geistvoller Verknüpfung der Gedanken ward es erst hier ausgesprochen. Das verschaffte dieser Rede ihren durchschlagenden Erfolg und sichert ihr einen dauernden Wert. An sie reiht sich ein zweiter kurzer Abschnitt über „ Begrenzung und wissenschaftliche Behandlung einer physischen Weltbeschreibung”. Humboldt verbreitet sich hier über das Wesen der von ihm geforderten vergleichenden Weltphysik und ihrem Verhältnis zu den Einzelwissenschaften. Physische Weltbeschreibung ist kein „enzyklopädisches Aggregat” 17) aus denselben, wie man etwa vermuten könnte, sondern ein eigenes selbständiges Fach, sie ist „Betrachtung alles Geschaffenen, alles Seienden im Räume (der Naturdinge und Naturkräfte) als eines gleichzeitig bestehenden Naturganzen”, 18) sie bezweckt „Erkenntnis der Einheit in der Vielheit, Erforschung des Gemeinsamen und des inneren Zusammenhanges in den tellurischen Erscheinungen. Wo der Einzelheiten erwähnt wird, geschieht es nur, um die Gesetze der organischen Gliederung mit denen der geographischen Verteilung in Einklang zu bringen”.19)
14) Ebenda S. 22. — [y.oauo^] bedeutet ursprünglich Schmuck, Ordnung und wurde zuerst von Pythagoras für Weltordnung, Weltall im Gegensatz zu [x^ioi] Unordnung, Wirrsal gebraucht. Vgl. Kosmos I. S. 62.
15) Briefe an Varnhagen S. 20. Der Vortrag ward noch am gleichen Tage aus der Erinnerung niedergeschrieben.
16) Böhmer a. a. O. S. III.
17) Kosmos 1. S. 51.
18) Ebenda I. S. 50.
19) Ebenda I. S. 55. Es ist hier in Sonderheit von „Erdbeschreibung” die Rede.
Nachdem Humboldt sich sodann gegen S c h e l l i n g s und H e g e l s rein spekulative Physik („Mißbrauch oder irrige Richtungen der Geistesarbeit” 20) gewandt, läßt er nunmehr die „allgemeine Übersicht der Erscheinungen” als Kern des Ganzen, das „ Naturgemälde” folgen. Beginnend mit den Tiefen des Weltraums, in denen wir nur die Herrschaft des Schweregesetzes erkennen, von den Nebelflecken und Doppelsternen an, schildert der Verfasser in beredter, einfacher und trotz mancher aus der Schwierigkeit der Aufgabe sich ergebender Mängel vorbildlich schönen Sprache das Weltall als ein Gewordenes, gleichzeitig Erkanntes, nach dem Maß des Wissens um 1841, um sodann durch die Sternschicht, der unser Sonnensystem mit seinen Planeten, Monden und Asteroiden angehört, zu dem luft- und meerumflossenen Erdsphäroid herabzusteigen. Wir werden nunmehr mit dessen Gestalt, Dichtigkeit, den Abstufungen seines mit der Tiefe zunehmenden Wärmegehalts, seiner in Stärke und Richtung bestimmten elektromagnetischen Spannung und den polarischen Lichterscheinungen bekannt gemacht. Eine besondere Schilderung erfährt sodann der Vulkanismus, die Wirkung des feurig flüssigen Erdinneren nach außen, die mehr oder minder geschlossene Kreise von Erschütterungswellen, Ausbrüche von Gas, Schlamm und heißen Quellen veranlaßt. Die höchsten Kraftäußerungen innerirdischer Gewalten aber stellt die Erhebung feuerspeiender Berge dar. In Gruppen und Reihen angeordnet, erzeugen sie Gebirgsarten, die Urgesteine, aus deren Verwitterung wiederum die Schichtgesteine entstehen, ja vulkanische Kräfte sind es, die auch die aus Wasser abgesetzten versteinerungshaltigen Schichten bis zur Schneegrenze emporgehoben haben. Sie bedingen so letzten Endes die Gestaltung der gesamten Erdoberfläche, die räumliche Verteilung des Festen und Flüssigen, die Ausdehnung und Gliederung der Ländermassen nach Höhe und Breite, und damit den Wärmegrad der Meeresströme, Ebbe und Flut in ihrer örtlichen Eigenart, die Vorgänge im Luftmeer und endlich die Verbreitung der Pflanzen und Tiere. So läßt uns Humboldt durch eine in solcher Meisterschaft bis danin unerreichte „bedeutsame Anreihung der Erscheinungen ihren ursächlichen Zusammenhang ahnden”.21)
20) Ebenda I. S. 71.
21) Ebenda 111. S. 4, 5.
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Es „führt den wißbegierigen Beobachter jede Klasse von Erscheinungen zu einer anderen, durch welche sie begründet wird oder die von ihr abhängt”.22) Nach einer Übersicht über die verschiedenen Abarten des „einigen” Menschengeschlechts (Humboldt spricht sich hierbei scharf gegen die sklavereibegünstigende „unerfreuliche Annahme von höheren und niederen Menschenrassen” aus) schließt der erste (in den Jahren 1843—44 niedergeschriebene, 1845 erschienene) Band mit einem Ausspruch Wilhelm von Humboldts über die sittliche Bestimmung der gesamten Menschheit, „eines zur Erreichung Eines Zweckes, der freien Entwicklung innerer Kraft, bestehenden Ganzen”.23) Brachte der erste Band eine Darstellung der Erscheinungen des „äußeren Sinnes”, so behandelt der zweite (1847 veröffentlichte) deren Einfluß auf das menschliche Seelenleben. Er gibt zunächst unter der Bezeichnung „Anregungsmittel zum Naturstudium” eine längere Abhandlung über die Rückwirkung der äußeren Natur auf Gefühl und Einbildungskraft. Die Beziehungen zwischen Naturbetrachten und den dazu anleitenden Künsten, Dichtung, Malerei und Gärtnerei werden hier geschichtlich erörtert. Verdient dieser Abschnitt, den man eine „Geschichte des Naturgefühls” nennen könnte, auch heute allgemeine Beachtung, so gilt dies in noch höherem Maße von der nun folgenden gleichsam einen selbständigen Flügel im Bau des Kosmos darstellenden „ Geschichte der physischen Weltanschauung”. Bekanntlich beschäftigt sich Humboldts so selten glücklich vielseitig begabter Geist oft und gern mit fachgeschichtlichen Studien, verdanken wir ihm doch unter anderem wertvolle Beiträge zur Entdeckungsgeschichte Amerikas. In der „Geschichte der physischen Weltanschauung” entwickelt nun Humboldt ein Bild von der im Laufe von zwei Jahrtausenden stufenweise erfolgten Entstehung unserer Erkenntnis von der Einheit in den Erscheinungen und dem Zusammenwirken der Kräfte im Weltall und schuf damit ein Werk, das allezeit zu den Perlen unserer Geschichtsschreibung gehören wird.
22) Ebenda I. S. VII.
23) Ebenda I. S. 385.
Wie schon bemerkt, lag es ursprünglich in Humboldts Absicht sein Werk mit dem zweiten Bande abzuschließen. Doch kam er davon ab. Die rastlos weiterschaffende Forschung hatte in der Zwischenzeit so reichlich wertvollen Stoff zutage gefördert, daß das „Naturgemälde” unerwartet schnell veralten mußte. So blieb ihm nur die Wahl, dieses zeitgemäß umzuarbeiten, da entstand die große, kaum vermeidbare Gefahr, durch überreichliche Anhäufung zusammengedrängter Einzelheiten den lebensfrischen Eindruck, die Ubersichtsichkeit zu zerstören, oder aber durch Schaffung weiterer Bände eine Ergänzung und weitere Ausarbeitung des Weltbildes vorzunehmen. Letzteres geschah denn auch. Der dritte Band (1850) enthält die Astronomie, der vierte (1858) Erdphysik und Geologie. Der fünfte Band (1862), der das Werk beschließen sollte, blieb Bruchstück, er enthält eine geologische Fortsetzung, sowie ein von Eduard Buschmann (dem technischen Gehilfen bei der Kosmosarbeit) verfaßtes Gesamtinhaltsverzeichnis. Mit dem dritten und vierten Bande (der fünfte zählt ja kaum mit) entstand gewissermaßen ein neues in sich geschlossenes Werk. Denn während die Humboldt eigentümliche Betrachtungsweise, künstlerisches Empfinden und Streben nach allgemeinen Gesichtspunkten den Prolegomenen ein ganz besonderes Gepräge verleihen, so daß ihr Verfasser nur mit Fug und Recht sie als „Reflex seines Selbst, seines Lebens” 24), bezeichnen durfte, herrscht hier die Masse wissenschaftlicher Einzelheiten vor, und auch die mittelbare Unterstützung befreundeter Fachleute, die sich Humboldt taktvoll zu erwerben wußte, macht sich wohl bemerkbar. Bei aller Verschiedenheit in Anlage und Ausführung finden beide Teile, Prolegomenen wie Ergänzungen, indes die sie verbindende Klammer in einem Gedanken, der ständig hervorgehoben und betont schon deshalb besonderen Hinweis verdient. Wohl war der Gedanke von der Einheit der Natur, die Lehre, „daß ein gemeinsames gesetzliches und darum ewiges Band die ganze lebendige Natur umschlinge”25), schon früher ausgesprochen worden. Wir finden sie bei Demokritos und Bruno, bei Spinoza und Holbach, bei Herder, Goethe und Seh ellin g. Indes handelte es sich hier immer ganz vorwiegend um Stimmungsbegriffe, um Vorstellungen schönheitlicher und rein gedanklicher Herkunft, und von den zahlreichen Verdiensten Alexander v. Humboldts um Wissenschaft und Fortschritt ist dieses wohl die nachhaltigste Tat, daß er der Auffassung von der Einheit der Natur, von der Verkettung der Erscheinungen zu innerem Zusammenhang, eine breitere erfahrungsmäßige Grundlage gab und sie in dieser Form dem Kulturbewußtsein der Menschheit einverleibte. Allerdings war es unserem Forscher hierbei nicht beschieden, auf den tiefsten zu seiner Zeit bereits erreichbaren Grund zu gelangen, denn als die Lehre von der Einheit der Natur durch die Auffindung des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft ihre höchste Weihe erhielt, erkannte Humboldt dieses zwar als „vielartig und mit großem Aufwand von Scharfsinn entwickelt” 26) an, doch warnte er, vielleicht in Erinnerung an Schelling, vor Täuschungen vorzeitiger Hoffnung „das Prinzip gefunden zu haben, aus dem alles Veränderliche der Körperwelt, der Inbegriff aller sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen erklärt werden könne” 27), und bewies damit, daß er die Tragweite der neuen Errungenschaft doch nicht völlig erkannt hatte. Er glich gewissermaßen einem Manne, der einen wertvollen, doch noch rohen Edelstein besitzt, aber die Kunst des Schleifens nicht völlig beherrschend, ihm nur teilweise den nötigen Schliff zu geben vermag. Indes bleibt dieser Umstand unwesentlich für die Einschätzung seiner Tat, denn auch heute noch gibt es zahlreiche Gruppen von Erscheinungen, wo wir uns „noch mit dem Auffinden von empirischen Gesetzen” 28) begnügen und von einer Verdichtung „aller unserer sinnlichen Anschauungen zur Einheit des Naturbegriffs” 29) Abstand nehmen müssen.
24) Briefe an Varnhagen S. 91.
25) Kosmos I. S. 9.
26) Ebenda V. S. 12.
27) Ebenda III. S. II.
28) Ebenda III. S. lo.
29) Ebenda I. S. 67. — III S. 10.
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Bei der Berühmtheit des Verfassers war es nicht weiter verwunderlich, daß der Kosmos eine freudige, ja begeisterte Aufnahme fand. Gelesen und verstanden ward es indes nur von verhältnismäßig Wenigen. Der naturkundliche Wissensschatz der Durchschnittsgebildeten war im allgemeinen doch noch zu gering, um solch ein jedenfalls nur im höheren Sinne volkstümliches Werk auch gebührend begreifen zu können. So konnte der Kosmos bei seinem Erscheinen fast nur auf Fachgenossen wirken. Als sich aber im Verlaufe der folgenden Jahrzehnte die naturwissenschaftliche Volksbildung hob, da entsprach der Kosmos nicht mehr dem zeitgemäßen Wissen. Empfiehlt man heutzutage die Lesung des Kosmos, so bekommt man nicht selten ablehnenden Bescheid. Bei aller Hochachtung, heißt es, müsse man diesem Buche doch Mängel beimessen, die sein Vergessenwerden durchaus berechtigen. Humboldts Betrachtungsweise sei doch eine vorwiegend ästhetische, die sich mit dem nüchternen Streben des heutigen Forschers nach ursächlicher Erkenntnis nicht recht vereinigen lasse. Und ferner möge man bedenken, daß Humboldt von den wichtigsten Ergebnissen gegenwärtiger Naturerkenntnis wie Spektralanalyse, Abstammungslehre noch nichts wissen konnte. Wolle man durchaus seinem Buche einen dauernden Wert beimessen, so könne dies nur ein geschichtlicher sein. Trifft dieses Urteil zu oder ist auch hier wie so oft in der Wertschätzung eines Geisteshelden Wahres mit Falschem gepaart? Zweifellos ist dem Kosmos ein ästhetischer Grundzug eigen. Das Buch ist, obwohl viel später niedergeschrieben, eben ein Kind des sich neigenden achtzehnten Jahrhunderts, jener schönheitstrunkenen Zeit, da die deutsche Muse ihre unvergänglichen Kränze wand. Die Anregung hierzu erstand dem nachmaligen Verfasser im Verkehr mit Männern, die die Natur in ihrer Gesamtheit mehr beschaulich erfühlend als verstandesmäßig zergliedernd zu begreifen suchten. 30) Das mußte, sollte die Anregung überhaupt eine wirksame sein, irgendwie zum Ausdruck kommen. Darin aber, wie so oft geschehen, einen Mangel oder gar Fehler erblicken zu wollen, hieße doch weit übers Ziel hinausschießen. Humboldt war ein viel zu großer Meister wissenschaftlichen Denkens um sich von erkenntnisschädlicher Naturschwärmerei hinreißen zu lassen. In diesem Gefühle völliger Sicherheit durfte er sagen : „Ein Buch von der Natur muß den Eindruck wie die Natur selbst hervorbringen.” 31) „Dem Oratorischen muß das einfach und wissenschaftlich Beschreibende immerfort gemischt sein. So ist die Natur selbst. Die funkelnden Sterne erfreuen und begeistern, und doch kreist am Himmelsgewölbe alles in mathematischen Figuren”. 32) Der Kosmos sollte eben in erster Linie keine Fachschrift für Gelehrte sondern ein Buch für gebildete Laien sein und hatte sowohl wissenschaftliche Belehrung als auch künstlerischen Genuß zu bieten. Darin hat er bahnbrechend gewirkt, denn erst mit ihm erstand ein wahrhaft gemeinverständlich-wissenschaftliches Schrifttum. Dieses Verdienst Humboldts um die allgemeine Volksbildung kann gar nicht genug hervorgehoben werden und deshalb verdient der Kosmos auch heute noch allgemeine Beachtung zumal von seiten unserer Erzieher. Gewiß dem heutigen in Grundsätzen strenger Arbeitsteilung aufgewachsenen Leser werden Betrachtungen über die Einwirkung der äußeren Natur auf das menschliche Seelenleben in einer Schilderung des materiellen Seins bei aller Feinheit an sich befremdlich erscheinen. Ein billiger Beurteiler, eingedenk daß auch der Geschmack seiner Zeit kein endgültiges Wertmaß darstellt, wird sich indes schwerlich daran stoßen und die Schönheiten des Buches genießen, wo er sie findet.
30) Der Wahlspruch zum Kosmos: „Naturae vero rerum \is adque majestas in omnibus momentis fide caret, si quis modo partes ejus ac non totam complectatur anirao” (Plin. H. N. lib. 7. c. i) findet sich bereits auf Herder's Ideen zur Philosophie derGeschichte der Menschheit. I. Riga 1784. — Als Humboldt 1794 nach Jena kommend Goethe „ins Allgemeinere der Naturwissenschaft nötigte” (Goethe's Werke. Vollständige Ausgabe letzter Band. XX.XI. S. 33. Stuttgart und Tübingen 1830) wird dieser sicherlich wie um gleiche Zeit in dem bekannten Gespräche mit Schiller den Naturforscher seiner Zeit ihre „so zerstückelte Art die Natur zu behandeln” vorgeworfen und verlangt haben „sie vielmehr wirkend und lebendig aus dem Ganzen in die Teile strebend darzustellen”. Hierbei lag der Hinweis auf Herders in diesem Sinne gehaltene Werk um so näher, als Goethe an dessen Entstehen mitgewirkt hatte. („Im ersten Bande von Herders ,Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit' sind viele Ideen, die mir gehören, besonders im Anfange. Diese Gegenstände wurden von uns damals gemeinschaftlich durchgesprochen”. K. Falk, Goethe aus näherem persönlichem Umgange dargestellt. 3. Aufl. Leipzig i8!;6. S. 31.) Ohne hiermit auch nur vermutungsweise Herder und Goethe als die geistigen Väter des Kosmos und damit Humboldt als ihr ausführendes Werkzeug hinstellen zu wollen, darf man annehmen, daß Humboldt in der Stimmung seines Jenaer Aufenthaltes den wenig später an Pictet mitgeteilten Entschluß faßte.
31) Briefe an Varnhagen S. 23.
32) Ebenda S. 92.
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Wenn man endlich in Hochspannung exakten Denkens dem Kosmosgedanken, d. h. der Vorstellung eines wohlgeordneten in sich belebten Naturganzen einen rein ästhetischen Ursprung zuschreibt, so mag auch das richtig sein, nur sollte man dann nie vergessen, daß auch das ernste Spiel unseres Naturerkennens gleichfalls nichts anderes als der Ausdruck eines unbewußten Schönheitssuchens ist. Nicht umsonst spricht sogar der Jünger der nüchternsten Wissenschaft tief bedeutsam von der „Eleganz der Formel”.
Berechtigter erscheint uns hingegen der andere Einwand. Die Naturwissenschaften haben während der letzten sechzig Jahre überaus wichtige Fortschritte gemacht, die nicht nur in der Gewinnung von neuen Tatsachen sondern auch in der Aufstellung neuer Lehren und Gesichtspunkte gipfelten. Humboldt hatte als erfahrungsbeflissener Forscher zwischen einer die Massen nur als gleichartigen kreisenden Stoff betrachtenden Weltphysik und der auch die chemische Stoffverschiedenheit berücksichtigenden Erdphysik unterschieden und demgemäß sein Naturgemälde in einen siderischen und tellurischen Abschnitt eingeteilt. Um die gleiche Zeit, da Humboldt starb, beseitigten Bunsen und Kirchhoff in einfach-genialer Weise die unüberwindlich erscheinenden Hindernisse des Weltraums und legten den Grund zu einer Chemie der Gestirne. So fiel die von Humboldt freilich nur äußerlich gedachte, darum aber nicht minder streng beobachtete Schranke. Läßt sich nun das Ergebnis der Spektralanalyse dem Humboldtschen Weltbilde bequem anfügen, ohne tiefgehende Umbauten vornehmen zu müssen, so gilt dies keinesfalls für seine geologischen Lehren. Nach Humboldt hatte sich ja der ursprünglich feurig-flüssige Erdball mit einer Gesteinskruste umgeben, durch die dann der eingeschlossene Glutfluß Auswege bahnend die Erscheinungen des Vulkanismus und damit unmittelbar wie mittelbar die Gestaltung der Erdoberfläche bedingte. Diese mit plötzlichen sprungweisen Umwälzungen arbeitende Auffassung, als deren Hauptvertreter neben Leopold von Buch gerade Humboldt gelten muß, ist der Lehre Lyells von den beharrlich wirkenden auch heute noch tätigen Ursachen (causes now in action) gewichen. Die Art der Fortflanzung der Erdbebenwellen zwang fernerhin zu dem Schluß, daß sich der Erdkern in einem Zustande befinde, der die Dichte fester Körper etwa des Nickeleisens besitzt, andere Forscher schreiben dem Erdinnern eine mehr zähflüssige Beschaffenheit zu, jedenfalls ist die Humboldtsche Ansicht hierüber aufgegeben. Neben den vulkanischen hat man auch Einsturz- und tektonische Beben kennen gelernt, ja diese letzteren sind die bei weitem häufigeren. Die Vulkane selbst faßt man auch nicht mehr als Verbindungsrohre zwischen dem feurig- flüssigem Erdkern und der Erdoberfläche auf, sondern schreibt ihnen mehr oberflächlich gelegene Herde zu. Ja endlich die klimatisch so folgenschwere Hebung und Senkung der Festlandsmassen, die Emporwölbung der Gebirge wird heute rein tektonisch erklärt. Die ständige Abkühlung des Erdkerns bewirkt eine Zusammenschrumpfung der Erdkruste, die sich als Schichtenfaltung, Überschiebung, Hebung und Senkung äußert. So kann man auf Grund unserer heutigen Auffassung nicht umhin Humboldt eine außerordentliche Überschätzung der vulkanischen Vorgänge für die Erdgestaltung nachsagen zu müssen.
Welchen Einfluß endlich Darwin auf die Umgestaltung unseres Weltbildes ausgeübt hat, ist hinlänglich bekannt. Sein grundlegendes Werk erschien im November 1859 und mit ihm begann in den organischen Naturwissenschaften ein ungeahnter Aufschwung. Auch Humboldt, der ja Kants fast verschollene Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels ans Licht zog, hatte dem Gedanken einer fortschreitenden Entwicklung durchaus wohlwollend gegenüber gestanden. 33) Aber er hatte sich von ihm keine nähere Anschauung zu machen vermocht. Daran hinderten ihn einmal seine geologischen Grundauffassungen (Darwin fußte ja auf Lyell), und dann waren gerade diejenigen Denker, die an eine Entwicklung glaubten, dem Taumel einer mystischen Naturphilosophie verfallen und konnten nur abschreckend wirken. So blieb einem so nüchternen, dem Banner empirischer Forschung allzeit getreuen Forscher wie Humboldt nur die Möglichkeit, die äußere Natur tunlichst 34) als einen Gleichzeitigkeitszustand zu schildern und eine Entwicklungsgeschichte der Natur einem über reichlicheren Erfahrungsstoff verfügenden Geschlechte zu überlassen.
In dieser Hinsicht ist das „Naturgmälde” nebst seinen Ergänzungen veraltet, aber auch so besitzt es nicht nur geschichtlichen Wert. Man schlage unbefangen, frei von archaistischen Gelüsten und frei vom Dünkel des Epigonen einen Band dieses einzigartigen Werkes auf, und man wird darin mit Vergnügen lesen müssen. Die Art der Darstellung, die Fülle des Stoffes, der wissenschaftliche Ernst, die musterhafte Genauigkeit, die uns in jeder Zeile entgegentreten, bereiten dem Leser einen wahren Genuß. Da gibt es nicht jene Unfehlbarkeit, die so häufig nichts anderes als ein Zeichen versteckter Gelehrteneitelkeit ist, da wird überall die Lückenhaftigkeit unseres Wissens betont ohne darum die Freude am Erreichten zu trüben.
33) Kosmos I. S. 64: „Das Sein wird in seinem Umfang und inneren Sein vollständig erst als ein Gewordenes erkannt.” — E. du Bois-Reymond, Die Humboldtdenkmäler vor der Berliner Universität in Reden I. S. 500. Leipzig l8Sö: Humboldt „ schenkte mir den von Louis Agassiz ihm übersandten Essay on Classification, worin nur drei Jahre vor dem Erscheinen des Origin of Species, welches Humboldt selbst nicht mehr erlebte, die Lehre von den Schöpfungsperioden und die teleologische Weltansicht mit unumwundener Schärfe vorgetragen und mit zahlreichen Gründen scheinbar gestützt wurden. Humboldts Äußerungen bei dieser Gelegenheit ließen mir keinen Zweifel, daß er weit entfernt Agassiz's Ansichten zu teilen, Anhänger der mechanischen Kausalität und Evolutionist war”.
34) Kosmos 1. S. 367 : In das empirische Gebiet objektiver sinnlicher Betrachtung, in die Schilderung des Gewordenen, des dermaligen Zustandes unsres Planeten gehören nicht die geheimnisvollen und ungelösten Probleme des Werdens. — Streng durchführbar war freilich dieser Standpunkt auch nicht, nicht nur „der Anblick des gestirnten Himmels bietet Ungl eic hzei tiges dar” (Ebenda 1. S. 161) auch „das ganze Erdenleben mahnt, in jedem Stadium seiner Existenz, an die früher durchlaufenen Zustände”. (Ebenda I. S. 63.)
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„Der eigentliche Zweck,” hatte Humboldt an Varnhagen geschrieben „ist das Schweben über den Dingen” 35), und dieser schwierigen Kunst des richtigen Abstandshaltens wird der Altmeister in seltenster Weise gerecht. Die gewiß nicht geringe Gefahr in „enzyklopädische Oberflächlichkeit” zu verfallen wird ebenso geschickt vermieden als die andere gleichgroße, der Masse der Einzelheiten zu erliegen. Diese werden vielmehr zu Stufen, auf denen sich der Leser zu allgemeinen Überblicken geführt sieht. So wirkt Humboldt selbst da, wo er überholt ist, noch als Lehrer belebend. Man glaubt unwillkürlich, man habe nicht ein Buch vor sich, dessen Verfasser längst der Rasen deckt, sondern ein Werk, das erst kürzlich die Presse verließ. So erfrischend mutet es uns an, und in dieser Wirkung auf uns Nachgeborene liegt vielleicht sein größter Wert, und sie ist es, die Alexander von Humboldt unter die großen Schriftsteller unseres Volkes reiht. „Veralten kann der Kosmos nur in dem Sinne, daß die Lehrmeinungen, die in demselben zur Erklärung der Erscheinungen aufgestellt sind, widerlegt werden, oder daß zu den dargestellen Erscheinungen so viel Neues und Wesentliches durch weitere Entdeckungen hinzukommt, daß die bezüglichen Darstellungen des Kosmos zu unbedeutenden Fragmenten des wahren Sachverhaltes herabsinken. Vor Wirkungen dieser Art ist keine menschliche Gestaltung auf dem Gebiete der Forschung sicher; nur im Reiche des Schönen bleibt Menschenwerk vor diesem Veralten bewahrt. Da aber der Kosmos auch in diesen Teilen seines Inhalts mit hoher Unbefangenheit und Umsicht verfaßt ist und fast überall die Entwicklungsfähigkeit der vorgetragenen Lehrmeinungen und die Bedürftigkeit der dargestellten Wahrnehmungen und Tatsachen nach weiterer Vervollständigung und Bestätigung betont, so wird er in moralischem Sinne niemals veralten und stets eine unschätzbare Fundgrube für die Beurteilung des Zustandes der Naturerkenntnis um die Mitte des 19. Jahrhunderts bleiben.”36)
35) Briefe an Varnhagen S. 92.
36) W. Foerster, Alexander von Humboldt. Eine Gedächtnisrede zur Feier der DenkmalenthüUung am 28. Mai 1883 im Festsaale des Rathauses zu Berlin gehalten. Berlin 1S83. S. 18.
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Inhalt: M. Mob ins. Die Begründung der Pflanzengeographie durch Alexander von Humboldt. (1 Abb.) S. 521. —
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Manuskripte und Zuschriften werden an Prof. Dr. H. Miehe, Berlin N 4, Invalidenstraße 41, erbeten.
Verlag von Gustav Fischer in Jena.
Druck der G. Pätz'schen Buchdr. Lippert & Co. G.m.b.H., Naumburg a. d. S.
Naturwissenschaftliche Wochenschrift.
Neue Folge 18 Band;
der ganzen Reihe 34. Band,
Sonntag, den 21. September 1919.
Nummer 38.
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Erstellt am 17.02.2012 - Letzte Änderung am 17.02.2012.