Aus der „Naturwissenschaftliche Wochenschrift„, Organ der Deutschen Gesellschaft für Volkstümliche Naturkunde in Berlin, begründet von H. Potoniß, herausgegeben von Prof. Dr H. MIEHE in Berlin, Neue Folge. 18. Band, (der ganzen Reihe 34. Band), JANUAR DEZEMBER 1919, JENA VERLAG VON GUSTAV FISCHER 1919.
Herr Prof. Dr. E. Dennert sucht in Nr. 29 der Naturwissenschaftlichen Wochenschrift 1918 den Gegensatz von teleologischer und mechanischer Beurteilungsweise der adaptiven Einrichtungen für die Naturforschung auszuschalten, indem er die Aufgabe derselben auf die Untersuchung der tatsächlichen Beziehungen zwischen Organ und Funktion beschränkt und die Beantwortung der Frage, ob der Entstehung der betreffenden Einrichtungen eine Absicht zugrunde liegt oder nicht, der Naturphilosophie zuschiebt. Dieser Stellungnahme entsprechend, soll dann auch der Biolog die Anwendung des Wortes Zweckmäßigkeit, das in seiner engeren Bedeutung den Begriff der Absicht einschließe, vermeiden und dafür das neutrale Wort Nutzmäßigkeit gebrauchen. Der Versuch das Wort Zweckmäszlig;igkeit durch ein anderes zu ersetzen, ist nicht neu. Man hat dafür schon früher Worte wie Erhaltungsmaßigkeit, Zielstrebigkeit, Dauerhaftigkeit (Roux) usw. in Vorschlag gebracht, doch hat sich keine dieser Bezeichnungen durchsetzen können. So wendet z. B. Plate in seinem Selektionsprinzip für die betreffenden Verhältnisse noch regelmäßig das Wort Zweckmäßigkeit an. Dennert wird aber mit seiner Anregung wohl um so weniger durchdringen, als der Begriff Nutzbarkeit seit Kant wenigstens für die philosophische Sprache in einem anderen, entgegengesetzten Sinne festgelegt ist. Man unterscheidet zwischen innerer und äußerer Zweckmäßigkeit. Im ersten Falle hat das Ding keinen anderen Zweck als sein eigenes Dasein, der Zweck liegt in ihm selbst. So ist es bei der Zweckmäßigkeit, die uns in der Organisation der Pflanzen und Tiere entgegentritt. Sie ist entweder selbstdienlich oder artdienlich. Im zweiten Falle existiert ein Ding um anderer willen, denen
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es durch sein Dasein dient oder nützt, sein Zweck liegt außer ihm. Kant unterscheidet da noch die beiden Fälle, ob es dem Menschen oder anderen Naturwesen dient. Die auf den Menschen bezügliche äußere Zweckmäßigkeit nennt er Nutzbarkeit, die auf andere Naturwesen bezügliche Zuträglichkeit. Das fruchtbare Land, welches die Flüsse anschwemmen, ist nutzbar für die Menschen und zuträglich für die Pflanzen. Dennert hat darum, wenn er den Begriff der Nutzmäßigkeit auf die innere Zweckmäßigkeit der Organismen anwendet, zunächst die Autorität Kants gegen sich. Ebenso spricht der gewöhnliche Sprachgebrauch gegen ihn. Das deutsche Sprachgefühl ist gerade in bezug auf die Verwendung des Wortes Nutzen sehr fein ausgebildet. Werden Gebiß und Zerkleinern der Nahrung als besondere Begriffe herausgehoben und sich gegenüber gestellt, so kann man wohl sagen: das Gebiß ist dem Tiere bei der Zerkleinerung der Nahrung von Nutzen. Dagegen wäre es eine sprachliche Härte, wenn man die Wendung gebrauchen wollte: das Gebiß ist nutzgemäß gebaut für das Leben des Individuums. Da wo es sich um die Stellung des Gebisses innerhalb der ganzen Organisation des Tieres handelt, muß es heißen: das Gebiß ist für das Leben des Tieres zweckmäßig gebaut.
Wichtiger als diese formalen Bedenken scheint mir dem Dennert'schen Vorschlag gegenüber ein sachlicher Einwand zu sein. Dennert glaubt, daß eine Einigung der verschiedenen naturwissenschaftlichen Richtungen hinsichtlich der Beurteilung der zweckmäßigen Einrichtungen herbeigeführt werden könnte, wenn man die Frage, ob die Zweckmäßigkeit auf die absichtsvolle Tätigkeit eines Schöpfers hinweise, für die Naturforschung ausschalte und der Naturphilosophie überlasse. Tatsächlich ist die Naturphilosophie für die Entscheidung dieser Frage allein zuständig, aber die gewünschte Einigung kann auf dem von Dennert vorgeschlagenen Wege nicht erreicht werden, da die Gegensätze der mechanistischen und der modernen vitalistischen Forschung jenen Punkt gar nicht betreffen. Bei ihnen handelt es sich vielmehr um die Frage, ob die in dem anorganischen Geschehen aufgefundenen Naturgesetze auch zur Erklärung der Vorgänge, in denen sich die Entwicklung der adaptiven Einrichtungen und der Ablauf der übrigen Lebensprozesse vollzieht, ausreicht, oder ob hier noch andere Gesetzmäßigkeiten anzunehmen sind, die sich den aus dem anorganischen Geschehen abgeleiteten Naturgesetzen überlagern, ohne sie aufzuheben.
Man könnte vielleicht daran denken ob Dennert es will, ist nicht ganz klar auch die Entscheidung dieser Frage dem Naturphilosophen zuzuschieben. Dieser würde jedoch gar nicht imstande sein, dies Problem allein zu lösen. Denn die Frage kann nicht auf dem Wege der Deduktion aus aprioristischen Prinzipien, sondern nur auf dem Wege der Induktion beantwortet werden. Es liegt nun wohl schon ein großes, auf exaktem Wege gewonnenes Tatsachenmaterial vor, auf das sich der Naturphilosoph bei seiner Entscheidung stützen könnte. Aber wie ein Richter sein Urteil nicht allein aus den Akten schöpfen kann, sondern sich durch Ausfragen des Beklagten über bestimmte Punkte Klarheit verschaffen muß, so muß auch die Natur hinsichtlich des fraglichen Problems nach dem Ausdruck Kants „gleich einem Inkulpaten inquiriert” werden. Es müssen an sie ganz bestimmte Fragen gestellt werden, um ihr das Geheimnis abzulocken. Diese Fragestellung ist aber Sache des Naturforschers, nicht des Naturphilosophen. Derartige Fragformulierungen vom vitalistischen Standpunkt aus waren die bekannten Experimente von G. Wolff, Morgan, Hans Driesch usw. Das umfassendste Verhör der Natur vom mechanistischen Standpunkt aus hat W. Roux angestellt.
Der Naturforscher ist daher Mechanist oder Vitalist auch als Naturforscher, nicht nur als Naturphilosoph. Eine Einigung beider Richtungen im Sinne eines Kompromisses ist überhaupt nicht möglich. Nichtsdestoweniger haben sie sich hinsichtlich der Voraussetzungen, von welchen sie bei ihren Untersuchungen ausgehen, und hinsichtlich der Arbeitsmethoden, welche sie bei denselben anwenden, immer mehr genähert. Die modernen Vitalisten haben nicht wieder bei dem vitalistischen Standpunkt eingesetzt, den man seit Lotze verlassen hatte. Auch bei einer scheinbar rückläufigen Bewegung beschreibt die Wissenschaft niemals eine Kreislinie, in der die Bewegung wieder zu dem Ausgangspunkt zurückkehrt, sondern den Umlauf einer Spirale. Die Erneuerung der früheren Auffassung muß notwendig der höheren Erkenntnisstufe, welche die Wissenschaft inzwischen erreicht hat, Rechnung tragen. Und nicht nur die Vitalisten, auch die Mechanisten haben im Verlauf des letzten halben Jahrhunderts viele Punkte, die sie früher von den Vitalisten trennten, fallen lassen müssen. So ist eine breitere, gemeinschaftliche Basis entstanden, welche eine gegenseitige Verständigung ermöglicht. Man spricht auf beiden Seiten die gleiche Sprache, wenn man sich auch bei den Untersuchungen von verschiedenen Prinzipien leiten läßt.
Wenn der alte Vitalismus in Anlehnung an das materialistische Axiom, daß Stoff und Kraft unlöslich verbunden seien, auch das Lebensprinzip als die Kraft eines bestimmten Stoffes ansah und glaubte, daß dieser Stoff in den organischen chemischen Verbindungen, deren Entstehung in ein geheimnisvolles Dunkel gehüllt war, gegeben sei, so mußte diese Auffassung in dem Augenblick fallen, in dem es Woehler gelang, den Harnstoff im Laboratorium künstlich herzustellen. Man erkannte, daß eine Synthese auf anorganischem Wege im Prinzip für alle organischen chemischen Verbindungen möglich sei und daß weder ein wägbarer noch ein unwägbarer Stoff existiere, an welchem die Lebenskraft haften könne. Das führte weiter zu der Überzeugung, daß die gleichen chemischen
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und physikalischen Gesetze auf den Gebieten des anorganischen und organischen Geschehens Geltung haben. Heute erkennt jeder Vitalist die physikochemischen Gesetze als den festen Unterbau an, auf dem sich allein die Biologie erheben kann.
Von noch größerer Bedeutung war es, daß der Vitalismus seinen früheren anthropomorphistischen Standpunkt aufgab. Der Zweckbegriff ist vom menschlichen Tun hergenommen und von diesem auf die Naturvorgänge übertragen worden. Man glaubte daher zunächst, daß das zweckmäßige Geschehen in der Natur nach Analogie der zweckmäßigen Handlungen des Menschen zu beurteilen sei und ihm eine bewußte oder unbewußte Zwecktätigkeit zugrunde liege. Nach Auffassung der ältesten Vitalisten sollte es direkt auf die Eingriffe der absichtsvollen Tätigkeit eines außerweltlichen Schöpfers zurückzuführen sein. Schelling hatte dagegen im pantheistischen Sinne eine bewußtlos zweckmäßige Tätigkeit der überindividuellen Vernunft einer der Natur innewohnenden Weltseele angenommen. Diese Auffassung vertrat im Grunde genommen schon Johannes Müller. Auch in neuer Zeit findet man sie vielfach bei Vitalisten z. B. bei Becher. Der Psychovitalismus (Pauly) endlich verlegte die absichtsvolle Tätigkeit in den Organismus selbst. Nach ihm besitzen alle Organismen, auch die Elementarorganismen, die Zellen, eine Seele und sind imstande mit Hilfe bewußter und unbewußter Seelentätigkeit die körperliche Gestaltung zu bestimmen. Über alle diese psychischen Auffassungen des Zweckgeschehens in der Natur gingen Vitalisten wie Hans Driesch und G. Wolff hinaus. Sie ersetzen die psychische Ursache durch eine psychoide, d. h. eine solche, die mit der psychischen nur die Art ihrer Wirkung gemein hat. Besonders G. Wolff lehnt den Psychovitalismus in entschiedenster Weise ab. Nach ihm und Driesch beruht die Zweckmäßigkeit in der Natur nicht auf der Tätigkeit einer Psyche, sondern auf einer höheren Gesetzmäßigkeit, welche die Gesetzmäßigkeiten des anorganischen Geschehens nicht aufhebt, sondern sich ihnen überlagert. Der Inhalt dieser höheren Gesetzmäßigkeit ist, daß das Ganze die Teile bestimmt und nicht umgekehrt. Das Lebensagens ist, wie Driesch sich ausdrückt, „ein überindividuelles, an sich unräumliches Prinzip, das bei seiner individuellen Betätigung sich sowohl zeitlich als auch dreidimensional räumlich äußert und auf die Herstellung des Typus hinzielt.” Das Bedürfnis regelt den Verlauf der Prozesse, aber es geschieht dies gesetzmäßig mit Ausschluß jeder Willkür. Da der einzelne Vorgang sich streng der geltenden Gesetzmäßigkeit unterordnet, mag es sich um statische oder dynamische Teleologie handeln, so sind die Zusammenhänge alles teleologischen Geschehens zugleich kausal und teleologisch zu beurteilen und gilt für sie der Begriff der Notwendigkeit. Daraus folgt dann, daß der moderne Vitalist ebenso wie der Mechanist bei seinen Untersuchungen das induktive Verfahren einschlagen kann. Bei diesem wird ja festgestellt, unter welchen Bedingungen eine Erscheinung oft eingetreten ist und daraus der Schluß abgeleitet, daß sie unter diesen Bedingungen immer eintreten muß. Dieser Schluß ist aber nur zulässig, wenn die Gleichförmigkeii der Natur oder der notwendige Zusammenhang zwischen Bedingung und Bedingten vorausgesetzt werden kann.
Fast noch durchgreifender sind die Wandlungen, welche die Voraussetzungen erfahren haben, auf denen die mechanistische Richtung der Biologie beruhte. Zur Zeit Darwins herrschte auf dem Kontinent in den naturwissenschaftlichen Kreisen die atomistisch-mechanische Naturauffassung. Wenn Darwin selbst auch diesen Standpunkt nicht teilte, so ging doch die mechanistische Richtung der Entwicklungslehre von ihm aus. Die atomistisch-mechanische Theorie ist nun auch auf den Gebieten, die ihre eigentliche Domäne waren, auf den Gebieten der Physik und Chemie im Weichen begriffen, wenn nicht überwunden. Besonders durch die phänomenalistische Schule wurde die Ansicht vertreten, daß sie nicht zur Grundlage der wissenschaftlichen Naturerkenntnis gemacht werden könne. Nach Mach stellt die Atomenlehre nicht die Wirklichkeit dar, sondern gibt von ihr nur ein unzulängliches Bild, das man wohl aus didaktischen Gründen gebrauchen könne, aber wieder fallen lassen müsse, wenn es seinen Hilfsdienst verrichtet habe. Und ebensowenig wie die Atomistik den Dingen selbst entspreche, sollten sich auch die erkennbaren Beziehungen zwischen den Dingen durchweg in Mechanik auflösen lassen. Die Kritik des Phänomenalismus hat sich allerdings nur zum Teil behaupten können. Hinsichtlich der Atomistik ist seit der BoltzmannFestschrift eine Reaktion eingetreten, die wieder zu einer Anerkennung der Atomenlehre geführt hat. Doch versteht man jetzt unter den Atomen nicht mehr kleinste materielle Teile, sondern immaterielle Kraftpunkte und nimmt damit einen Standpunkt ein, der von der alten materialistischen Stoff- und Kraftlehre wesentlich abweicht. Hat aber die Atomistik eine Erneuerung erfahren, so hat sich die Kritik der Allgültigkeit der Mechanik noch weiter verschärft. Schon dem Meister der klassischen Mechanik H. Hertz war es zweifelhaft, ob sie auch für das Gebiet der Biologie Geltung habe. Jetzt wird ihre Allgültigkeit auch für das Gebiet des anorganischen Geschehens bestritten. Den stärksten Stoß erhielt sie durch die moderne Elektronentheorie, in welcher die alte Emmissionstheorie des Lichtes von Newton eine unerwartete Auferstehung feierte, und durch die Relativitätslehre.
Die Allgemeingültigkeit der Mechanik war die materiale oder inhaltliche Grundvoraussetzung der mechanistischen Naturauffassung; ihre formale oder erkenntnistheoretische Grundvoraussetzung war die absolute Gewißheit der auf dem Wege der exakten Forschungsmethode gewonnenen Einzelerkenntnisse. Man glaubte, daß sie allein
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apodiktisch gewisse Erkenntnis gewähren könne. Bei der teleologischen Naturbetrachtung konnte man zu solchen sicheren Resultaten nicht kommen. Ein Vorgang, bei welchem der Voraussetzung nach das Ganze die Teile beherrscht, entspricht einer intuitiven Anschauung, nicht unserem diskursiven Denkvermögen, das nur vom Einzelnen zum Einzelnen fortschreitet und kann daher von diesem nicht erfaßt werden. Es lassen sich wohl Wahrscheinlichkeitsgründe dafür geltend machen auch die Driesch'schen Beweise sind nur solche daß teleologische Vorgänge vorliegen, aber wir können dieselben nicht im einzelnen verfolgen und rekonstruieren. Wenn die mechanistische Forschungsrichtung die teleologische Betrachtungsweise nicht anerkennen wollte, so beruhte dies vor allem darauf, daß ihre Sätze nicht jene absolute Sicherheit in Anspruch nehmen konnten, welche man für das wesentliche Merkmal der naturwissenschaftlichen Erkenntnis hielt. Dieser vermeintliche Vorzug der letzteren besteht jedoch, wie jetzt allgemein anerkannt wird, überhaupt nicht. Auch die naturwissenschaftliche Erkenntnis kommt über einen größeren oder geringeren Grad der Wahrscheinlichkeit nicht hinaus, da alle ihre Grundbegriffe einen hypothetischen Charakter haben (W. Ostwald, Vorlesungen über Naturphilosophie S. 308) und ihre Urteile eine nur komparative Allgemeinheit besitzen. Soweit die Naturwissenschaft auf dem Gebiet des anorganischen Geschehens zur Feststellung von Konstanten gelangt und mit ihrer Hilfe die Erscheinungen in den Zusammenhang eines geschlossenen Systems zu bringen vermag, erreicht die Wahrscheinlichkeit allerdings den höchsten Grad, da ein solches System den Forderungen unseres diskursiv denkenden Verstandes ganz entspricht. Die Zurückführung auf Konstanten ist ihr jedoch auf dem Gebiet des organischen Geschehens bisher nicht gelungen. So ist die mechanistische Naturauffassung hier aus der besonderen Stellung, die sie in erkenntnistheoretischer Hinsicht einnahm, verdrängt und steht wie die teleologische auf dem Boden der nur hypothetischen Erkenntnisse.
Nach einer anderen Seite hat sie selbst ihren Geltungsbereich eingeschränkt. Derselbe soll sich nur auf die mittlere Phase des Geschehens erstrecken. Die zweite von Dennert aufgestellte Möglichkeit, „daß die Absicht von außen her in das zweckmäßige Organ des Lebewesens hineingelegt ist, sowie in der Maschine die Absicht des Erbauers steckt”, wird von den heutigen Mechanisten nicht geleugnet. Sie erkennen eine metaphysische Finalität an, die aber nur hinter der Kausalität, nicht neben der Kausalität ihren Platz habe. Die metaphysische Finalität soll die kausalen Naturgesetze im deistischen Sinne so geordnet haben, daß sie in ihrem Ablauf zu der zweckmäßigen Naturordnung führen. So schon bei Emil du Bois-Reymond und Haacke, bei beiden allerdings nur als Alternative; ferner bei Weismann, Bütschli, Plate u. a. Auf diese Weise will man einerseits die Naturwissenschaften vor jeder Einmischung der Finalität und jeder Zumutung, sich um Zwecke zu kümmern, schützen und andererseits dem ethischen und religiösen Bedürfnis des Menschen die unentbehrlichen Anknüpfungen an eine teleologische Weltauffassung wahren.
Es könnte so scheinen, als ob Teleologie und mechanistische Naturauffassung sich nicht mehr fern ständen und an einen Kompromiß zwischen beiden gedacht werden könnte. Das anzunehmen, wäre jedoch ein Irrtum. Die Gegensätze sind nicht abgeschwächt. Sie sind wohl auf die wesentlichen Punkte eingeschränkt, treten hier aber um so schärfer hervor. In dem teleologischen Prinzip, nach welchem das Ganze die Teile beherrscht und bestimmt, liegt stets etwas Irrationales, für unseren diskursiv denkenden Verstand Unauflösbares. Der Vitalismus erkennt ferner wohl an, daß die Natur stets mit den chemisch - physikalischen Mitteln arbeitet, die wir im anorganischen Geschehen antreffen, und nur aus dem Energievorrat der betreffenden Gebilde schöpfen kann, aber da die Vorgänge nicht nach den Gesetzen der molaren und molekularen Mechanik ablaufen sollen, ist er genötigt nichtenergetische Kräfte anzunehmen, die kein Potential besitzen und nicht an ein Kraftzentrum gebunden sind. Sie können nicht Zentralkräfte sein, denn als solche wären sie den mechanischen Gesetzen unterworfen und könnten die Energie nicht zu bestimmten Zwecken aus einer Achse in die andere verschieben. Als energetische Kräfte aber würden sie durch ihr Auftreten und Verschwinden den Bestand der Energie vermehren und vermindern und mit dem Gesetz der Erhaltung der Energie in Widerspruch stehen. Die Annahme solcher nichtenergetischen Kräfte ohne Potential und ohne Kraftzentrum liegt ganz auf dem Gebiete der Naturphilosophie, auf das der Vitalist so schließlich doch gedrängt wird. Sie sind naturwissenschaftlich und mathematisch nicht faßbar. Die Mechanisten lehnen sie darum ab, da ihr leitender Grundsatz das für die ganze Naturwissenschaft des letzten Jahrhunderts geltende Axiom ist, daß die Natur erkennbar sein müsse. Wenn sie auch auf dem Gebiete des organischen Geschehens ihr Ziel, die komplexen Erscheinungen in ihre Komponenten, die allgemeinen Naturgesetze, aufzulösen, um sie aus diesen wieder geistig nachzuschaffen, bisher nicht erreichen konnten, so nehmen sie doch „bis zum Beweise des Gegenteils an, daß die besonderen Wirkungsweisen, welche in den Lebewesen stattfinden, ihre Ursachen nur in der besonders komplizierten physikalisch - chemischen Zusammensetzung des Protoplasmas haben”, durch welche die Maschinenbedingungen für jene gegeben sind (W. R o u x). Der Nachweis einer Maschinentheorie des Lebens ist so das nächste Ziel der mechanistischen Richtung in der Biologie. Die Arbeit der Teleologen ist im Gegensatz dazu darauf gerichtet, eine immer größere Anzahl von Fällen
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aufzufinden und möglichst genau zu analysieren, in denen das Bedürfnis für den Ablauf des Geschehens den Ausschlag gibt, ohne daß sich dieser durch hypothetische Maschinenbedingungen erklären ließe.
Man kann die Biologie mit einem Tunnelbau vergleichen, der an zwei Punkten in Angriff” genommen worden ist. Obgleich die Belegschaften in entgegengesetzter Richtung arbeiten, fördern doch beide, wenn nur eine allgemeine Orientierung stattgefunden hat, das Werk. Ob dann, wenn der Durchschlag erfolgt ist, beide Belegschaften abtreten und einem Neuen Platz machen, ob mit anderen Worten aus der Thesis und Antithesis des jetzigen Vitalismus und Mechanismus nicht ein Kompromiß, aber eine neue Synthesis hervorgehen wird, ist eine Frage, die sich aufdrängt, weil das große Problem von beiden nur stückweise gelöst wird, deren Beantwortung aber in der Hauptsache dem Naturphilosophen zufällt und hier nicht zur Erörterung stehen kann.
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Erstellt am 20.02.2012 - Letzte Änderung am 20.02.2012.