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„Zwangshandlungen und Zwangsvorstellungen.”
von Dr. R. Hennig

Aus der „Naturwissenschaftliche Wochenschrift„, Organ der Deutschen Gesellschaft für Volkstümliche Naturkunde in Berlin, begründet von H. Potoniß, herausgegeben von Prof. Dr H. MIEHE in Berlin, Neue Folge. 18. Band, (der ganzen Reihe 34. Band), JANUAR — DEZEMBER 1919, JENA VERLAG VON GUSTAV FISCHER 1919.

Sicher ist es jedem Leser schon begegnet, daß er bei einem Gang auf der Straße gelegentlich bemerkte, wie irgendein Knabe oder Mädchen neben oder vor ihm herging, mit möglichst schnellem Schritt, um nur ja nicht „überholt” zu werden. Mancher dürfte sich auch noch von seiner Kinderzeit her erinnern, wie er sich gleichfalls an die Schritte eines eilig dahinschreitenden Erwachsenen anschloß, emsig bestrebt, trotz der eigenen kurzen Beinchen, schneller vorwärts zu kommen als jener oder wie er vor einem solchen Geschwindgeher eiligst einher „ging” und mit größtem Eifer darauf bedacht war, immer ein paar Schritte Vorsprung zu behalten, wobei aber ein eigentliches Rennen oder Traben als unstatthaft betrachtet wurde. Beim Tun derartiger Kinder, die gelegentlich zu etwas lästigen „Anhängseln” für den Erwachsenen werden können, handelt es sich zunächst zwar nur um eine Art von kindlichem Spiel, aber der Trieb, diesem Spiel zu frönen, ist doch vielfach so heftig, ja, geradezu unwiderstehlich, daß man kaum noch von einen Spiel sprechen darf, sondern von einer zwangsmäßig ausgeführten Handlung. Ein Widerstand gegen den Anreiz, schneller als der Erwachsene zu gehen, ist gar nicht leicht, wird auch meist gar nicht erst versucht, sondern willenlos gibt sich das Kind der „Zwangshandlung” hin.

Psychologisch sind diese Handlungen aufs engste verwandt mit denen, die unter dem Zwange der hypnotischen Suggestion ausgeführt werden müssen. Zumal posthypnotisch auszuführende Befehle von vielleicht ganz sinn- und zweckloser Art sind für den Vergleich vortrefflich heranzuziehen. Ein verständiger, seines Ichs völlig mächtiger Mensch, der unter der Einwirkung einer in der Hypnose vorher erteilten Suggestion steht, fühlt, wie sinnlos, vielleicht kompromittierend die Ausführung der plötzlich in seinem Bewußtsein auftauchenden Handlung sein würde, aber es drängt ihn mit unwiderstehlicher Gewalt, sie dennoch zu begehen: er spricht irgendeine Albernheit, steigt auf den Tisch, zieht sich die Jacke aus oder tut, was ihm sonst vom Hypnotiseur geheißen worden war, und empfindet es wie Erlösung von einem übermächtigen Zwang, wenn er dem Antrieb nachgegeben hat. Der Schweizer Psychologe Prof. Bleuler machte gelegentlich den Versuch, inwieweit ein Ankämpfen gegen die posthypnotische Suggestion möglich sei. Er ließ sich einen posthypnotisch auszuführenden, einfachen Auftrag erteilen und leistete nachher dem Antrieb zur Handlung bewußt Widerstand. Wie er angibt, litt er die ganze folgende Nacht unter dem immer wiederkehrenden Anreiz, die befohlene Handlung (Umstellen eines Glases Wasser an einen anderen Platz) nachträglich auszuführen, und war mehrfach nahe daran, dem Zwang doch noch nachzugeben. Erst gegen Morgen verlor sich der Trieb, und sein Wille blieb dennoch Sieger. Das schwere seelische Unbehagen, das ein solcher Widerstand gegen einen hypnotisch erteilten Auftrag auslöst, dürfte kaum größer sein als dasjenige, das ein Kind empfindet, wenn es, aus freiem Willen oder unter dem Druck äußerer Umstände, auf die Ausführung einer von ihm selbst diktierten Zwangshandlung zu verzichten genötigt ist.

Diese Zwangshandlungen erstrecken sich nun keineswegs nur auf das Streben, schneller als ein anderer Straßenpassant zu gehen, sondern sie können sehr mannigfache Formen annehmen. Mit Vorliebe unterliegen Kinder, etwa im Alter um 10 Jahre herum, dem Triebe, sich in gewissen Handlungen von selbsterdachten, völlig zwecklosen fende 'plötzlich, daß er in Gedanken sein Gegenüber soeben über andere Menschen oder über Gegenstände hinwegspringen ließ. Eifrige Billardspieler benutzen ebenso die zufällige Stellung von Menschen, Bäumen usw., um sie in Gedanken eine „Karambolage” ausführen zu lassen usw.

Halb Zwangsvorstellung halb Zwangshandlung ist schließlich noch die ungemein weit verbreitete Sitte zahlloser Menschen, sich unaufhörlich im Gespräch bestimmter Ausdrücke oder Redewendungen zu bedienen. Diese Sucht besitzt gleichfalls eine bedeutende Suggestivkraft und ist gelegentlich ansteckend wie die Grippe. In den letzten Jahren hat z. B. in ganz Deutschland das Bestreben, in der Unterhaltung an nahezu jeden gesprochenen Satz ein „nicht?” zu hängen, einen zeitweise fast beängstigend großen Umfang angenommen; Hunderttausende konnten sich dem Zwang nicht entziehen, jeden Satz mit einem mehr oder weniger unpassenden „Nicht” zu schließen. Zu anderen Zeiten sind wieder andere Redewendungen im Schwange. Es gibt auch auf diesem Gebiet eine zweifellose Mode, der sich die Herdennatur der weitaus meisten Individuen nicht zu entziehen vermag und der die Menschen in Scharen unterliegen, bis eine neue Modenseuche neue Zwangshandlungen im Gebrauch der Sprache vorschreibt.

Im allgemeinen handelt es sich ja bei allen diesen zahlreichen Zwangshandlungen und Zwangsvorstellungen um ziemlich harmlose Erscheinungen, die meist belanglos sind für des Menschen Wohl und Wehe. Daß sie dennoch gelegentlich recht störend und unbequem werden können, geht immerhin aus dem Gesagten deutlich genug hervor. Willensschwache, nervöse oder krankhaft veranlagte Personen einerseits, gesunde, aber stark an „Zerstreuung” leidende andererseits können, auch wenn sie aus dem Kindheitsalter heraus sind, das besonders lebhaft zu den Zwangshandlungen neigt, gradezu zum Sklaven selbstdiktierter, zweckloser Belästigungen werden. Es ist daher vielleicht die Mahnung am Platze, man möge bei Kindern solche Zwangshandlungen nicht ganz auf die leichte Achsel nehmen. So lange sie nur hier und da einmal zutage treten, lasse man die Kinder gewähren und störe nicht ihren harmlosen Spieltrieb, der sich in ihrem Verhalten offenbart. Sobald man aber bemerkt, daß eine bestimmte Form der Zwangshandlung bei ihnen zur Gewohnheit zu werden droht, tut man in ihrem eigenen Interesse gut daran, vorsichtig dagegen einzuschreiten und gelegentlich eine Durchbrechung des Zwanges oder besser noch einen freiwilligen Verzicht darauf durchzusetzen. Bei den meisten Menschen bedingt zwar das spätere Leben ganz von selbst die Aufgabe der freiwilligen Unterordnung unter einen tyrannischen, völlig sinnlosen Gedanken. Aber gelegentlich trägt doch dieser letztere den Sieg davon, und es gelingt dann im ganzen Leben nicht, der Schrulle Herr zu werden. Deshalb werden kluge Erzieher gut daran tun, wenn es nötig scheint, selbst mit fester Hand einzugreifen und der zur Gewohnheit werdenden kindlichen Zwangshandlung mit allem Nachdruck entgegenzutreten.

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Erstellt am 20.02.2012 - Letzte Änderung am 20.02.2012.


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