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„Die „Lebenswege” H. St. Chamberlains und die Naturwissenschaft..”
Von Prof. Dr. A. Hansen.

Aus der „Naturwissenschaftliche Wochenschrift„, Organ der Deutschen Gesellschaft für Volkstümliche Naturkunde in Berlin, begründet von H. Potoniß, herausgegeben von Prof. Dr H. MIEHE in Berlin, Neue Folge. 18. Band, (der ganzen Reihe 34. Band), JANUAR — DEZEMBER 1919, JENA VERLAG VON GUSTAV FISCHER 1919.

*)H. St. Chamberlain, Lebenswege meines Denkens. 1919 bei F. Bruckmann, A.-G. 412 S.

Bücher von Chamberlain bedürfen keiner Empfehlung durch die Kritik, dafür sorgt der Verlag in ausgiebigster Weise. Diesmal schon auf dem Umschlag, unbeirrt von der Bescheidenheit des Verfassers, der in dem Buch bekannt macht, daß sich in seinem Wesen eine Lücke finde: der völlige Mangel an Ehrgeiz (S. 124). Das hätte Herr Bruckmann nicht übersehen sollen, denn Text und Musik stimmen jetzt nicht zusammen. Das ganze Buch handelt von Herrn Chamberlain und wie er es so herrlich weit gebracht; wie Natur, berühmte Männer und Bücher sich vereinigt haben, um „den Menschen” d. h. den christlich germanischen Überengländer zu erzeugen, (vgl. auch S. 05), stets mit sanfter Gewalt ihn, den mehr leidenden Teil förmlich drängend zur Größe, die er eigentlich abwehren möchte. Das ist keine Konstruktion. Er selbst berichtet: ein Vorgefühl sagte ihm, daß er Ruf erlangen würde, aber er wehrte sich gegen „diesen dunklen Instinkt eines drohenden Unheils” (S. 124). Das half ihm aber nichts gegen das Schicksal, berühmt zu werden, selbst nicht der Verzicht auf Erlangung des Doktorgrades, den er als Hindernis zu dem großen Ziel „Mensch” erkennen mußte (S. 108).

Das Buch läßt sich schwer allgemein charakterisieren. Man kann es nicht in eine der auf S. 257 von Chamberlain nach seiner scholastischen Art und Neigung aufgestellten drei Kategorien von Büchern: Bücher, die Bücher sind, solche die mehr und solche die weniger sind, einreihen. Die Rubrizierung bleibt also dem Leser überlassen. Sie ist auch Nebensache, weit interessanter ist der Zweck des Werkes. Das Buch ist eine Sammlung von Briefen ungewöhnlichen Umfangs. Die Briefe sind an Menschen auf der Höhe des Lebens gerichtet, darunter ein mystischer wirklicher Fürst. Mit der Verschweigung des Namens widerspricht Chamberlain seiner eigenen Vorrede, daß die Namen der Empfänger bekannt sein müßten. Aber was nützt es, wenn nur 5 Menschen auf der ganzen Welt wissen, von dem, „was einer vorstellt”, wie Schopenhauer sagt. Der Zweck des Buches ist, daß die Welt endlich aus Chamberlains eigenem Munde erfahre, was ihr bisher von der Kritik, sei es absichtlich oder unabsichtlich, verschwiegen wurde: Daß Chamberlain eigentlich einen großen Naturforscher vorstellt.

Das bisherige Verfahren Chamberlains, als solcher zu gelten, war, daß er die Naturforschung und ihre Vertreter mit Haß, Verdächtigungen und Verhöhnung angriff, um selbst als Autorität zu erscheinen. Dadurch konnte er sogar einen Kritiker, wie Ernst Traumann täuschen, um so mehr das große Publikum. Ein Kritiker sagt über diese Methode in seinen Büchern, daß sie „in Wahrheit strotzen von Polemik schärfster und z. T. unvornehmster Art”. Die Technik der an Haß großen, an Mut geringen Polemik besteht in dem Mangel jeder Begründung für die von ihr ausgestreuten Ehrentitel. Auch in diesem Buch wird der Leser auf angebliche wissenschaftliche Minderwertigkeiten hingewiesen und hier liegt das nächste Motiv für den Verfasser dieses Aufsatzes, etwas genauer nachzuforschen, welche wirkliche Kenntnis der Naturwissenschaft Chamberlain besitzt, die ihm das Recht zu solchem Urteil geben könnte. Sonst hätte ich mich vielleicht gar nicht mit diesem widerspruchsvollen Buche beschäftigt. Es handelt sich also nicht darum „das Strahlende zu schwärzen”, sondern um eine berechtigte Abwehr.

Chamberlain selbst hat die Tatsache geschaffen, daß jedesmal, wenn ein Buch von ihm erscheint, „dessen Stil wie Musik ist” (vgl. den Umschlag) die Wissenschaft den warnenden Zuruf erheben muß: „Mit Vorsicht zu genießen!” Schwache Köpfe können sich an dem berauschenden Getränk, welches hier verzapft wird, ohne Zuguß von Wasser, Denken und Urteil völlig verderben, wofür ein gewichtiges Beispiel vorliegt. Bei diesem Verhältnis zwischen Chamberlain und der Wissenschaft ist es begreiflich, daß er darauf sann, endlich ein Buch zu schreiben, welches die Fachleute, die ihm vorwarfen, von der Sache verstehe er nichts, völlig lahm zu legen imstande sei. Dies Buch ist jetzt da. Chamberlain tritt unerwartet als Autorität mitten unter die Naturforscher, indem er das, was ihm von anderer Seite nicht zuteil werden konnte, sich selbst ausstellt: Das Zeugnis der Reife. Nachdem er jetzt durch Vorlegung der „Grundlagen des Herrn Chamberlain” die für die Einzelwissenschaften in umfassendstem Maße erlangte Reife nachweist, hofft er, es könne ihm niemand mehr antworten, er sei kein Fachmann.

Chamberlain schreibt indes nicht für Fachleute, die verruchten „Spezialisten”. Er hat, um mit Mephistopheles zu reden „ein groß Publikum”. Vor dieses tritt er in seinen Büchern als der abgeklärte Weise, der jede Subjektivität überwunden und die Dinge der Welt in himmlischer Objektivität und Gemütsreinheit zu betrachten versteht. So auch in diesem Buch, das über alle Niederträchtigkeit dieser Welt, namentlich der gelehrten, sich zum „Charakter der Weltentrücktheit” erhebt. Wie Chamberlain in seinen Büchern von diesem geheimnisvollen Thron immer im Tone höchsten persönlichen Wohlwollens gegen seine Leser überfließt, so auch in diesen Briefen, die zwar nicht an den Leser gerichtet sind, aber bei ihm endlich die Suggestion bewirken, als ob die überaus vertrauensvollen Anreden, „sie werden das schon vorausgesetzt haben” oder „sie als Biologe verstehen sofort” an jeden Einzelnen gerichtet wären. Er hofft, daß das Publikum dadurch sich gleichfalls reif fühlt, den hochmütigen offiziellen Priestern der Wissenschaft selbst entgegen zu treten.

Die Kausalität des Widerstreits zwischen Chamberlain und der Wissenschaft ist vollkommen verständlich, denn er betont mit großer Offenheit Seite 3, daß nicht Streben nach Erkenntnis ihn zum rastlosen Schriftsteller gemacht, sondern ein Dämon: „Der Trieb zum Schreiben”, und er schreibt: alles — über alles! Mit Protest sollte abgelehnt werden, daß ein Schriftsteller nach diesem Geständnis sich zum geistigen Führer des deutschen Lebens aufwerfen will, den man sogar der Schule empfahl, denn solcher Trieb muß unweigerlich Falsches in Fülle erzeugen. Das bestätigt die Kritik schon lange, wo sich unmißverständliche Sätze finden, die lauten: „Es ist nicht wahr, was Chamberlain sagt” und „das ist wider besseres Wissen gesagt”. 1) Aber ein Protest ist unmöglich, denn das von Chamberlain sich beigelegte Mandat ist freiwillig von dem Strom seines Gefolges anerkannt. Es ist dieselbe kritische Unreife des „Volkes Kants”, welche sich im politischen Leben kundgibt, und das Volk Kants immer zu neuen Abgründen führen muß.

1) H. Maync, Goethe, Chamberlain und die Wissenschaft in German. -Roman. Monatsschrift 1913, S. 646. — E. Traumann, H. St. Chamberlains „Goethe” eine skeptische Kritik. Frankfurter Zeitung 1913, Nr. 8. — W.Schumann, Chamberlains Kriegsaufsätze, Kunstwart 1915, 2. Maiheft, S. 131.

Was wird nun die Wissenschaft zu diesem neuen Buche sagen? Ich maße mir nicht an, in ihrem Namen zu sprechen, nicht einmal im Namen aller meiner Fachgenossen. Meine Wissenschaft gibt mir aber das Recht, darüber Auskunft zu geben, daß alle Ruhmredigkeit dieser Briefe nicht bestätigt, daß Chamberlain in irgend einem Punkte die Botanik auch nur im geringsten gefördert hätte, das er jemals auch nur ein mittelmäßiger Naturforscher gewesen ist und daß ihm, hier entscheidend mitzusprechen, gänzlich versagt ist, wie unten bewiesen werden soll.

Dieser Beurteilung sucht er in den „Lebenswegen” durch eine phantasievolle Schilderung seiner botanischen und anderen naturwissenschaftlichen Studien, seines nahen Umgangs mit berühmten Botanikern u. a. zuvorzukommen. Er legt dar, wie diese sofort die ungewöhnliche Begabung des Genies, gegenüber eigener Einseitigkeit erkannten und ihn aufforderten, sich ihnen fachmännisch anzuschließen. Nach dieser Fruktifizierung seiner botanischen Bekanntschaften erklärt er dann, um die Originalität nicht abzuschwächen, er habe in Genf wenig Botanik von den Gelehrten gelernt „außer auf Umwegen und durch eigene Kraft” (S. 97). Immer eindringlicher wird dem arglosen Leser klargemacht, welche Fülle von Aufnahmefähigkeit und von Resultaten dieser eigenen Kraft entspringt. Jede im Leben des gewöhnlichen Studenten (seine Kommilitonen bezeichnet er nach ihrer Bildung als „KongoKaffern”) simple Tatsache wird zu einem Erlebnis, beinahe zu einem Moment der Kulturgeschichte. Hören wir davon nur wenige Beispiele, die das ganze Buch bezeichnen.

Eines Tages kauft sich Chamberlain Strasburgers Botanisches Praktikum, das bekannte Hilfsbuch für mikroskopische Arbeiten. Er hatte vorher „tief in dem gründlichen Studium aller Schriften Platos gesteckt”, den er als „echten Naturforscher” erkannte und schreibt nun (S. 112) „so mögen Sie, verehrter Freund, es denn begreifen, daß ich es eines Tages nicht länger aushielt und — von Plato und Kant dazu angeregt! — mir Strasburgers Praktikum anschaffte.”

Man kann es nicht als Lästerung empfinden, wenn die überraschende Behauptung einer nahen Beziehung von Plato und Kant zu der Rasiermessertechnik und Anilinfarbenkunst von Strasburgers Praktikum beim Botaniker ein spaßhaftes Gefühl auslöst. Der Laie aber staunt und bewundert und das ist wohl auch die Absicht dieser Tirade.

Den gleichen Eindruck erhält der Botaniker von Chamberlains „mit Leidenschaft betriebenem Studium der systematischen Botanik” (S. 79). Das „inbrünstige Interesse” für die Ranunkulazeen, eine freilich ganz achtbare Pflanzenfamilie, soll die Höhe seiner Auffassung, die souveräne Kritik der Floren von Ardoino und Gremli seine Gelehrsamkeit belegen, die aber auf den Botaniker in dieser schülerhaften Fassung nur wieder erheiternd wirken. Natürlich konnten so bescheidene Hilfsmittel ihm nicht genügen. Er braucht, um bei Cannes und in der Schweiz einige Pflanzen zu sammeln, ganz andere Vorbereitung (S. 80).

„Gerade diese Monate (in England) benutzte ich aber dazu, das große, streng wissenschaftliche Werk von Le Maout und Decaisne über systematische Botanik — und zwar in der bedeutend gehaltvolleren englischen Ausgabe von Joseph Hooker — gewissenhaft genau durchzuarbeiten. Daß mir von diesem ungeheuren Material — sämtliche Phanerogamen der Erde umfassend — viel einzelnes im Kopfe haften blieb, glaube ich kaum, doch erweiterte diese Befassung mein Wissen um die Welt der blühenden Pflanzen bedeutend usw.”

Weder in Cannes noch in der Schweiz wachsen freilich „sämtliche Phanerogamen der Erde”, aber das Resultat einer solchen grandiosen Vorbereitung auf eine botanische Exkursion war dementsprechend: „Das merkte ich deutlich, als ich im Winter 1873/74 in Cannes und im Sommer darauf im Schweizer Gebirge mit einer Art kleinen Meisterschaft jedes Blatt — auch ohne Blüte oder Frucht — sofort zu deuten wußte” (S. 81).

Was unter der Meisterschaft der „Deutung” jedes Blattes zu verstehen ist, ist unklar. Der Spezialist gibt an, was er gefunden und beobachtet hat und teilt mit, was wissenschaftlich interessant ist. Davon findet man bei Chamberlain nichts, die Pflanzen werden nur zu Reklamezwecken benutzt.

Zu einem eigentlichen Systematiker war Chamberlain aber trotz alledem „nicht geboren”, obwohl ihm angeblich ein Botaniker den „Instinkt der Sache” auf den Kopf zusagte (S. 82). Er selbst führt zwei Gegengründe an. Erstens war er kurzsichtig, zweitens hatte er die Begabung Platos des „Zusammenschauens”. Den hemmenden Einfluß des letzteren möchte ich nicht beurteilen, dagegen mitteilen, daß ein ganz besonders hervorragender Systematiker Paul Ascherson durch eine geradezu phänomenale Kurzsichtigkeit nicht verhindert wurde, in der Systematik reiche Erfolge zu erzielen. Der begründete Verzicht auf die Systematik soll Chamberlain aber um so mehr, nach seiner Meinung, das Recht geben, sie von seinem kritischen Standpunkt zu beurteilen. Das geschieht S. 83 in folgender Weise: „Und noch eins kann ich nicht unterdrücken, denn es ist eine Erbsünde der Menschen, wenn sie glücklich eine Wahrheit erhascht haben, die ergänzenden Wahrheiten, durch welche jene andere Wahrheit erst plastische Wirklichkeit gewinnt, außer acht zu lassen. Ein „ergänzendes” Geheimnis des geborenen Systematikers ist nun die Hartnäckigkeit, mit welcher er sich weigert, die Dinge zu sehen, die er nicht sehen will; er wird geradezu „durch Willen blind”, wohingegen der zusammenschauende Mensch, sobald er einmal sich veranlaßt sieht, auf Unterschiede zu achten, kein Ende fühlt.” Chamberlain hat in der Tat nicht die allergeringste Kleinigkeit weder in der systematischen Botanik noch sonst geleistet. Der Mangel an Verständnis für eine von geistvollen Forschern aller Nationen begründete und vertretene Wissenschaft gibt ihm also kein Recht, sie in den Augen eines aus Laien bestehenden Lesepublikums durch solche „ergänzende Unwahrheiten” herabzusetzen, die als bloßes Banausengeschwätz von seinen Lesern wiederholt werden und deren Albernheit noch für „geistreich” gehalten wird. Es ist dieselbe Verbreitung falscher Urteile, welche auf politischem Gebiet Chamberlain in seinen ungeheuerlichen und unwahren Kriegsbriefen unternommen hat, die durch ihre überspannte Lobhudelei deutschen Wesens und die unwürdige Herabsetzung des eigenen Volkes wesentlich beigetragen haben an der Selbstüberschätzung und Unterschätzung der Macht und politischen List der Gegner, denen wir das jammervolle Resultat dieses grauenvollen Krieges verdanken. Wenn die Engländer immer „Schuldige” vor ihr Tribunal laden wollen, sollten sie ihren Landsmann Chamberlain nicht vergessen. Doch dies nur beiläufig. Was es mit Chamberlains Methode des Zusammenschauens auf sich hat, ergibt ein Beispiel, welches er zur Erläuterung der Vielseitigkeit seiner Naturstudien folgendermaßen erzählt: „So erinnere ich mich, mir später als Student eine Menschenschädelsammlung angelegt zu haben, um mit der inneren und äußeren Gestalt dieses wichtigen Knochengebildes genau bekannt zu werden; doch gab ich meine Bemühungen nach einiger Zeit wieder auf; denn ich fand nicht zwei Schädel, die nicht auffallende anatomische Abweichungen aufzuweisen hätten und nicht einen, der wirklich in jedem Punkt genau übereingestimmt hätte mit dem, was uns als „Normalschädel” vorgetragen wurde; bei meiner Art, genau zu beobachten, und zu beachten, hätte mich eine solche Sammlung ins Uferlose hinausgelockt.” Wo ist denn hier die Begabung des Zusammenschauens geblieben? Daß Chamberlain die Gabe „genau zu beobachten und zu beachten” nicht besitzt, ergibt sich daraus, daß er in seinem „Goethe” S. 360 lehrt, daß das os intermaxillare ein Knochen im Unterkiefer des Menschen sei. Für Leser die nicht als „Biologen” angeredet werden können, sei bemerkt, daß das os intermaxillare im Oberkiefer der Säugetiere sitzt, da es die Schneidezähne trägt. Chamberlain wird natürlich behaupten, es handle sich um einen Druckfehler, doch könnte ein solcher Druckfehler bei einem Forscher, der sich mit dem wichtigen Knochengebilde des Schädels „genau bekannt gemacht hat”, gar nicht vorkommen.

Bedauerlich ist es, daß die Ruhmredigkeit zuweilen kindliche Formen annimmt, würde ein ernster Forscher über seine harmlosen astronomischen Jugendvergnügungen sprechen wie Chamberlain?

„Sie werden mit Recht voraussetzen können, daß ich, sobald ich zur Vernunft kam — also etwa von 16 Jahren an, astronomische Bücher mit Eifer zu lesen begann (S. 79), später als Student in Genf und trotzdem ich mich einem anderen Fach widmete, hörte ich bei Plantamour theoretische Astronomie, ich ließ mir aus Nizza Bücher kommen, studierte Flammarions Les Etoiles, Guilrnants,2) Le Soleil und La Lune, bald darauf auch EUisee Reclus meisterhafte La Terre. Dies Studium hätte ich eher ein Verschlingen nennen sollen; denn, war einmal mein Interesse wach, so wandehe sich stets — wie noch heute in meinen aken Tagen — meine angeborene Unklarheit und Umständlichkeit in eine rasend schnelle Bewältigung, die für mich und für andere unfaßlich bleibt (1). In einigen Wochen hatte ich mir einen allgemeinen Überblick über die Himmelserscheinungen verschafft, so weit dies möglich ist, ohne mathematische Begründung und ohne jede nähere Kenntnis von Physik und Chemie.” Wie mag diese allgemeine Übersicht ausgesehen haben?

2) Der Verf. heißt Amedee Victor Guillemin und war ein französischer populärer Schriftsteller. Ich habe als Gymnasiast ein paar Bücher von ihm gelesen. Das ungenaue Zitieren, welches Ch. sich auch sonst erlaubt, steht im Widerspruch mit seiner gerühmten Kenntnis französischer und anderer Literatur.

Kindlich ergreift Chamberlain doch ein Grauen vor seiner Vielseitigkeit. Er sieht sich in einer Vision „als Lebensdilettant, musizierend, botanisierend, geologisierend, hinvegetieren”. Schauervoll! In Italien (Anklang an einen anderen ganz Großen) kommt die Erleuchtung. Chamberlain schwankt zwischen Musiker und Künstler, aber plötzlich fühlt er sich als Naturforscher: „Sofort stand der Entschluß fest, Naturforscher von Fach zu werden.” Ein Grund für diesen Entschluß ist nicht zu erkennen. Aber dieser Entschluß gebiert, ebenfalls ohne jede ordinäre Kausalität, sogleich den anderen: „Und sofort beschloß ich — obwohl ich Physik und Chemie nur von Hörensagen kannte — die Pflanzenphysiologie zu meinem Fach zu erwählen. Das alles war das Werk eines Tages, ja eigentlich eines Vormittags, an dem mich ein einsamer Spaziergang über die Viale dei Colli geführt hatte” (S. 66).

Grausamer Schmerz ergreift Chamberlain, aus dem leuchtenden Italien scheiden zu müssen, aber die Pflicht Pflanzenphysiologe zu werden, ist nicht einzudämmen. Er geht nach Gent und unternimmt eine Arbeit über den Wurzeldruck, d. h. die Ausscheidung von Wasser aus dem Wurzelstumpf von Pflanzen nach Abschneiden des Stengels, worüber zuerst sein Landsmann Stephan Haies 1727, „der Begründer der neueren Pflanzenphysiologie”, eine Untersuchung angestellt hatte. Diese Bezeichnung Haies (S. 103) ist ziemlich phantastisch, man hatte dann schon van Helmont oder Malpighi so nennen müssen, weil sie einmal einen Versuch gemacht haben. Begründer der neueren Pflanzenphysiologie können nur die Begründer einer vollständigen neuen Methodik genannt werden und ihre Zahl ist mehrfach. Chamberlain beginnt seine Arbeit — um der Originalität nicht Abbruch zu tun — unter Absehung von jedem Literaturstudium. Daß ihm das, wie er sagt, sein Lehrer T h u r y geraten, ist schwer zu glauben, ein denkender junger Forscher würde diesen Rat keinesfalls befolgt haben. Chamberlain gerät wieder ins „ Uferlose”. Er „bewältigt die zeitraubende, mühsame Methode der Wasserkultur” (die bei uns ein guter Institutsdiener leicht erlernt), so, daß Boissier erstaunt bekennt (S. 104), er habe nie und nirgends ähnliche Erfolge gesehen! Die Schilderung der Anstrengung der Arbeit dieses Pioniers der Pflanzenphysiologie wirkt wahrhaft erschütternd: „Sie finden alles in meinem Werke” „Recherches sur la seve ascendante” mit Abbildungen der Instrumente, und Tausenden von Beobachtungen (es sind 46 Versuche mitgeteilt) und mit veranschaulichenden Kurven, sollten Sie sie nicht kennen, so stelle ich Ihnen das letzte Exemplar zur Verfügung. Hier genügt es, wenn ich Sie durch diese kurzen Mitteilungen habe empfinden lassen, in welche frohe, erregte, ja leidenschaltliche Stimmung wissenschaltlichen Erforschens der Natur (es handelt sich nur um den Wurzeldruck), ich — als Lohn für die grenzenlosen Bemühungen — nach und nach hineingeraten war. Leider aber — und trotzdem ich jetzt das zu untersuchende Problem scharf erfaßte — war ich noch keineswegs von der bösen Neigung zu weiteren grenzenlosen Anforderungen an mich selbst geheilt, hatte ich mich in den Anfängen meiner Arbeit nach allen Seiten hin in die Breite verirrt (ganze 17 Pflanzenarten wurden untersucht), so sündigte ich jetzt durch eine alle Maße übersteigende Anspannung der Beobachtung.”

Man lese selbst im Original die Fortsetzung dieser grandiosen Schilderung einer Forschertätigkeit, was er an weiteren „Zumutungen an Auge und Hirn” auf sich genommen und wie endlich bei der furchtbaren Arbeit im Dienste der Pflanzenphysiologie das Nervensystem versagte!

Niemals haben die größten Forscher aller Nationen ihre fruchtbare Tätigkeit auch nur annähernd so überschätzt.

Im Jahre 1897 wurde das „Werk” gedruckt. Der Titel, Untersuchung über den aufsteigenden Saftstrom, war völlig falsch gewählt, denn es handelte sich nicht um diesen sondern ausschließlich um den Wurzeldruck bei verstümmelten Pflanzen, der mit dem Transpirationsstrom gar nichts zu tun hat. Die Arbeit selbst ist ebenso resultatlos, wie sie ziellos war. Die von Wiesner gelobte strenge Methodik, d. h. die Beobachtung unter sonst konstanten Bedingungen, wird vollständig vermißt. Über die Ursache des Wurzeldruckes erfahren wir nichts, als daß sie der Lebenskraft entspringen soll (Recherches S. 4), wobei die grobe Unwahrheit verbreitet wird, die neuere physiologische Schule leugne das Leben (la tendance de l'ecole ä la mode est de nier la vie). Es war aber gerade zuerst Sachs, der das Bluten der Pflanzen auf die Zelle, also das lebendige Element zurückgeführt hat, allerdings ohne die occulte „Lebenskraft” wieder in die Wissenschaft einführen zu wollen. Chamberlains Arbeit enthält weder Neues noch methodisch Brauchbares. Untersuchungen über Periodizität des Wurzeldruckes lagen längst bessere und vielseitigere vor. Er wollte festgestellt haben, daß dieselbe Pflanzenart im Wasser erzogen, eine geringere Energie zeige, als in Erde erwachsen, aber es fehlt jeder Nachweis, daß die verglichenen Pflanzen gleichwertig waren. Holzpflanzen sollen weniger Wasser ausscheiden, als krautige, das wurde aus der Beobachtung von ganzen drei Holzpflanzen geschlossen. Weder Tabellen noch Kurven lassen eine allgemeine Regel erkennen. Aber ebensowenig sind Ursachen für die Unregelmäßigkeit aufgefunden. Die Ansichten über den Einfluß von Widerständen auf den Saftausfluß sind physikalisch völlig unklar und unglaubwürdig. (Recherches S. 105.) Eine erschöpfende Kritik kann hier natürlich nicht gegeben werden. Das Angeführte genügt jedem physiologisch Gebildeten völlig, um den Unwert der Abhandlung zu erkennen.

Es ist daher auch kein Wunder, daß die Botanik keine Notiz von dem „Werke” nahm, daß es in Pfeffers Pflanzenphysiologie, wo die Literatur auf das sorgfältigste behandelt ist, nicht im Text erwähnt, sondern in einer Anmerkung mit dem Satz abgetan wurde: „In Chamberlains Arbeit wird ein Auseinanderhalten von direkten Wirkungen und physiologischen Reaktionen vermißt” (Pfeffer I, S. 24) Das war alles! Einer Kritik hielt man das „Werk” nicht für wert.

Dies Urteil mochte Chamberlain vorausgeahnt haben, weshalb er ihm schon in seiner Abhandlung durch folgende „Verteidigung” (Apologie) vorzubeugen suchte (Recherches S. 2).

„Ich wollte nicht die Sprache und Art der Tatsachendarstellung den Fachleuten nachäffen; was ich zu sagen hatte, habe ich auf meine Art gesagt. Jedes Handwerk hat seinen Jargon, die Wissenschaft hat den ihrigen, dessen ich mich aber nicht zu bedienen weiß. Aber ich weiß desto besser, daß das meiner Dissertation eine Allüre gibt, die zuerst die Gelehrten verwirren wird; darum erlaube ich mir dem zuvorzukommen, um ihre Nachsicht beanspruchen (reclamer) zu können.”

Dies „Zuvorkommen” bestand in der Deckung der Dissertation durch den Namen „des berühmten Botanikers Prof J. Wiesner in Wien” (Recherches S. 3), dessen Interesse und Anteil an der Arbeit hervorgehoben wird. Darum wird es dem Leser der „Lebenswege” nun verständlich, daß auch in diesem Buche Wiesner, außer gelegentlichen Bemerkungen (S. 65), ein ganzes Kapitel als dem Eideshelfer für Chamberlains Bedeutung als Pflanzenphysiologe, gewidmet ist.

Daß Chamberlain und der verstorbene Wiesner sich gegenseitig in Briefen beräuchert, ist dadurch bekannt geworden, daß Chamberlain schon früher solche Briefstellen in Zeitschriften zum Besten gab, um auf das Schutzbündnis hinzuweisen. Dabei wurde Wiesner, wie auch jetzt, immer „Wiesner, der Physiologe” genannt. Eine Schrulle! denn Wiesner war anfangs gar nicht Physiologe und hat sich erst später der Physiologie zugewendet. Auch dann ist er aber niemals „der Physiologe” gewesen, d. h. hat nicht annähernd die Bedeutung eines Sachs, Pfeffer, Schwendener, Hugo de Vries u.a. erlangt. Wiesner und Chamberlain fanden sich als nicht unähnliche Charaktere zusammen in der gemeinsamen Gegnerschaft gegen Darwin, in der rückständigen Schwärmerei für Linne und seine rationalistische Denkweise, die aus Chamberlains Einteilungskünsten hervorleuchtet, und aus der Zuneigung zum unklaren Vitalismus. Beide glaubten diese Ansichten gemeinsam besser verteidigen zu können, da Wiesners Philosophie nicht weit reichte.

Dem ausgesuchten Lob Wiesners in dem von Chamberlain abgedruckten Briefe (S. 109) muß die Wissenschaft widersprechen. Er hat dies Lob gespendet, ohne Chamberlains Abhandlung gelesen zu haben, denn nur unter dieser Annahme ist es möglich, von „genauen und streng methodisch durchgeführten Untersuchungen der alten, viel umstrittenen Frage der Saftleitung” zu sprechen, die in Chamberlains Abhandlung gar nicht behandelt ist. Chamberlain hat selbst (Recherches S. 21 — 31) ausgeführt, daß er diese Frage ausschließe, da man sich seit Hofmeister wohl mit dem Transpirationsstrom ausführlich beschäftigt, den Wurzeldruck aber ganz vernachlässigt habe, daher sei seine Beschränkung auf dies letzte Thema verständlich. Das hat Wiesner, der sich von dem unrichtigen Titel der Abhandlung ohne Prüfung des Inhaltes der französisch geschriebenen Abhandlung täuschen ließ, alles nicht beachtet, und so ist denn auch die gepriesene „historisch-kritische Darstellung der Saftbewegungsfrage” eine bedauerliche Entgleisung „des Physiologen”.

Wenn Wiesner dagegen die Abhandlung gelesen hat, so mußte er wissen, daß solche Manometerbeobachtungen nichts zur Klärung des Problems mehr beitragen können. Nachdem diese „Methodik” an hunderten Pflanzen ohne Resultat von anderen versucht worden, hat es keinen Sinn, dasselbe nochmals mit 17 weiteren, systemlos gewählten Arten zu versuchen. Die langen Tabellen Chamberlains sind wertlos. Er hätte das natürlich aus der Literatur erfahren können, aber diese existierte nicht für ihn. Wiesner dagegen mußte diese Literatur kennen, und es ergab sich aus ihr unmittelbar die Wertlosigkeit von Chamberlains Dissertation. So lange diese Schrift, die der Verfasser in edler Bescheidenheit ein „Werk” nennt, nur in einigen Antiquariatskatalogen weiterlebte, konnte man darüber schweigen. Gegenüber Chamberlains Versuch, die Wissenschaft zu korrigieren, gäbe es für eine stumme Kritik keine Entschuldigung.

Welchem Irrtum nun auch immer Wiesners Brief entsprungen ist, so beweist seine Benutzung Chamberlains unzureichendes Urteil über seine eigene Tätigkeit oder bedeutet eine absichtliche Irreführung der der Physiologie ferner stehenden Leser.

Zum Schluß ein kurzes Wort an Chamberlain in eigener Sache. Chamberlain zitiert (S. 146 der Lebenswege) einen Ausdruck aus einem Aufsatz von mir, der im Goethejahrbuch 1906 erschien und bezeichnet den Aufsatz als „das Geschreibsel eines Botanikers”. So lange diese Liebenswürdigkeit nur in einem Briefe an Herrn Baron J. v. Uexküll stand, konnte sie mich nicht genieren. Nachdem Chamberlain seine Briefgeheimnisse zu Gelde gemacht und veröffentlicht hat, bin ich dem Goethejahrbuch eine Aufklärung schuldig. Chamberlain hat ausgeführt, „daß das Geschreibsel eines Botanikers, Linnes wissenschaftliche Leistungen als geistloses Handwerk zu bezeichnen, sich erdreistete”.

Das ist zunächst eine unwahre Angabe. In dem Aufsatz ist von Linnes wissenschaftlichen Leistungen gar nicht die Rede, sondern von einer unwissenschaftlichen Phantasie Linnes (Metamorphose und Prolepse genannt), die Auskunft über die Herkunft der Blüte geben sollte, aber nicht einmal den Wert einer falschen Theorie besitzt. Der Ausdruck „geistloses Handwerk” bezieht sich auf die von Linne seinen Anhängern hinterlassene, lange Zeit alle wahre Wissenschaft lahmlegende Beschäftigung mit Pflanzenbestimmen, Pflanzentrocknen, und der geistlosen terminologischen Methode, wie sie z. B. der Jenenser Prof. Baidinger in allem Ernste, aber für uns sehr ergötzlich geschildert hat (vgl. Hansen Metamorphose, 1907, S. 264). Es ist die Periode, die kein Geringerer als Sehleiden als die Zeit bezeichnet, „die eigentlich nur den Charakter einer mühsam vereinzelte Notizen sammelnden Neugier trägt”.

Damit ist Linnes wirklichem Verdienst, das ich mehrfach anderen Orts bezeichnet habe, 3) kein Abbruch getan, sondern nur einer falschen Auffassung seiner Irrtümer entgegengetreten. Das ist überdies alles Nebensache. Was hier allein in Betracht kommt, ist, daß Chamberlain sich durch einen Aufsatz über Linne in die Frage gemischt hat, ob in der Metamorphosenlehre von Goethe eine Abhängigkeit von Linne zu entdecken sei, die von manchen Seiten behauptet wurde. Die Frage ist endgültig von der Botanik verneint worden, trotzdem wendet sich Chamberlain folgendermaßen an sein Laienpublikum: „Wollen Sie mir gestatten, noch einer kleinen wissenschaftlichen Schrift zu gedenken, die im Sommer und Herbst des Jahres 1907 nebenbei entstand, und die infolge ihrer Unzugänglichkeit so gut wie unbekannt geblieben ist? Sie trägt den Titel Goethe, Linne und die exakte Wissenschaft der Natur. — — Es ist mir gelungen, nachzuweisen, daß Goethe sowohl die Bezeichnung Metamorphose, wie auch die leitenden Gedanken, von denen er ursprünglich ausging, durch Anregung Linnes empfing. Daran knüpfe ich Mitteilungen über Linnes Annahme einer „Transmutation” der Arten und mache darauf aufmerksam, daß er nicht den Begriff der Art sondern den der Gattung in den Mittelpunkt stellt.”

3) z. B. Voss. Zeitung 1903, 23. Oktober. Goethejahrbuch 1904, S. 128. Die Entwicklung der Botanik seit Linne 1901, Gießen. Goethes Morphologie, Gieflen 1919, S. 127.

Alle diese Entdeckungen Chamberlains sind unhaltbar und für die Wissenschaft wertlos. Daß man bei Linne eine Transmutation der Arten finde, hat schon einmal 1870 ein Herr V. Heufler behauptet, der von H. v. Mohl so gründlich widerlegt wurde,4) daß Chamberlain mit seiner Aufwärmung keinen Eindruck machen wird.

4) Botan. Zeitung 1870, S. 729.

Wieder war es sein Gönner W i e s n e r, welcher ihn zu diesem Linneaufsatz, wie Chamberlain selbst berichtet, ermunterte, damit er zu mehrerem Ruhme Beider neben einer stattlichen Sammlung botanischer Einzeluntersuchungen in eine WiesnerFestschrift (1908, S. 225) aufgenommen würde. Der Versuch Chamberlains, sich, trotzdem er sie so herzlich verachtet, unter die Spezialforscher einzudrängen, um sich das Ansehen eines berechtigten botanischen Kritikers zu verschaffen, ist nach seiner eigenen Angabe im Sande verlaufen. Der Aufsatz „blieb so gut wie unbekannt”. Seine Empfehlung in den „Lebenswegen” gibt Gelegenheit, hier die Frage nochmals richtigzustellen.

Als im Jahre 1838 Martins Goethes naturwissenschaftliche Schriften in Frankreich herausgab, wurden Isidore Geoffroy St. Hilaire und Auguste de St. Hilaire mit einem Referat für die Sitzung der Pariser Akademie beauftragt. Da Geoffroy erkrankt war, erstattete Auguste de St. Hilaire in der Sitzung vom 20. August 1838 das Referat allein. In seiner für Goethe sehr rühmlichen Darstellung suchte er mit dem angeborenen Nationalstolz des Franzosen auch eine gewisse Anteilnahme seiner Landsleute Jussieu und Decandolle an dem neuen Gedanken hervorzuheben. Der einzige in Betracht kommende Satz in Jussieus Genera plantarum (Ausgabe von Usteri Zürich 1791) S. XXV führt zwar als systematische Merkmale die Blütenstände von Ficus, Dorstenia usw. auf, die die Morphologie heute als Metamorphosen bezeichnet, aber ohne diesen allgemeinen Gedanken auch nur ahnen zu lassen. Es ist im ganzen Werke Jussieus kein Anklang an Goethe zu finden. Auch Decandolle kommt nicht in Betracht, wie ich anderswo nachgewiesen habe. Natürlich ließ sich damals der Gegenstand noch nicht übersehen. A. Kirchhof hat in seiner Schrift über die Pflanzenmetamorphose schon auf einige Unrichtigkeiten von A. de St. Hilaires Kritik hingewiesen (1. c. S. 26). Auguste de St. Hilaires Absicht, dem Anspruch auf Objektivität in seinem Referat zu genügen, veranlaßt ihn dann weiter zu bemerken: „Der Titel gehört nicht Goethe selbst; es ist der Titel eines der Kapitel der Philosophia Botanica, und Linne selbst hat uns eine Erklärung des Wortes Metamorphosis Plantarum in einem Satz der „Prolepsis” gegeben, den ich wörtlich zitiere um nicht Gefahr zu laufen, den Sinn durch Übersetzung zu ändern.”

Das wörtliche Zitat dieses Linneschen Satzes bewies am besten, daß das, was Linne Metamorphose nannte, nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit Goethes Hypothese hatte und St. Hilaire dachte damals nicht daran, dies auch nur andeuten zu wollen. Er wollte nur auf Benutzung eines gleichlautenden Wortes für verschiedene Ansichten hinweisen.

A. de St. Hilaire hat später die angebliche Priorität Jussieus in seiner Morphologie vegötale (1840) etwas ausführlicher erörtert. Man sieht daraus am besten, daß er (ohne Verständnis für jeden entwicklungsgeschichtlichen Gedanken) die von Jussieu begründete vergleichende Morphologie der Blüte mit Goethes Metamorphosenlehre verwechselt. Wenn S t. H i l a i r e S. 13 seines Buches mitteilt, er habe nunmehr in L i n n e s Philosophia botanica einen von dessen Schülern übersehenen und nicht verstandenen Satz entdeckt: „principium florum et foliorum idem est”, der schon Goethes Metamorphosenlehre enthalte, so beweist das sein historisches Bedürfnis, obwohl seine Meinung ein Irrtum ist. Wenn heute einige Botaniker das nachsprechen, so beweisen sie damit ihre Unkenntnis Linnescher Schriften, die diesen an sich mehrdeutigen Satz erläutern. A. de St. Hilaires Buch blieb bei uns wegen seiner Gedankenarmut so gut wie unbekannt und fehlt auch den Bibliotheken. Seine Entdeckung hätte das gleiche Schicksal gehabt, wenn nicht der Goethebiograph Lewis sie durch sein früher bei uns vielgelesenes Buch verbreitet hätte. Nicht aus Linne, sondern aus diesem Buch stammt die Weisheit botanischer Historiker. (Lewis II. S. 103.) Der Übersetzer hat den lateinischen Satz frei und sinnändernd übersetzt: „In den Blüten und Blättern waltet dasselbe Prinzip ” Es muß in Linnes Sinn heißen: Blüten und Blätter haben den gleichen Ursprung. Linnes anatomische Vorstellungen waren wegen seiner Mißachtung des Mikroskops sehr unvollkommen. Er unterschied beim Stengel die „substantia meduUaris”, aus der das Pistill und der Same, und die „substantia corticalis”, aus der Kelch, Blumenkrone und Staubfäden entstehen sollten. 5) Da Linne auch die Laubblätter aus der Rinde entstehen läßt, so faßte er diese Meinungen in den kurzen Satz: principium florum et foliorum idem est, zusammen. Diese Bildung der Organe aus fertigen Geweben des Stengels nannte Linne „Metamorphosis”. Sie hat mit Goethes Metamorphosenlehre nicht den geringsten Zusammenhang. Linnes Meinung war übrigens schon damals als Irrtum zu erkennen. Wolff hatte schon die Entstehung von Blättern und Blüten aus Vegetationspunkten entdeckt.

5) Hansen, Goethes Metamorphose 1907, S. 332.

In der Philosophia botanica steht unter dem obigen Satz ein zweiter, ähnlich klingender: principium gemmarum et foliorum idem est. Also auch die Knospen sollten wie die Blätter rindenbürtige Gebilde sein. Wenn man nun glaubt, daß in dem ersten Satz Goethes Ansicht von der Umwandlung der Blätter in Blütenteile verborgen sei, so hätte Linne auch angenommen, die Knospen seien umgewandelte Blätter, was ganz sinnlos wäre. Das war jedoch nicht seine Ansicht, denn ein dritter Satz an jener Stelle lautet: gemma constat foliorum rudimentis, die Knospe besteht aus Blattanfängen. Alle diese drei Sätze drücken in gleichem Sinne genau Linnes Ansicht aus, daß den Ursprung aller genannten Organe das gleiche Stengelgewebe bilde. Von einer Umwandlung ist gar keine Rede. Bei der falschen Deutung des einen Satzes durch St. Hilaire in einem andern Sinne würde ein Widerspruch entstehen und der in seinem Rationalismus stets konsequente Linne zu einem verworrenen Denker gestempelt, was er niemals gewesen ist. Weder Linne noch seine Interpreten gewinnen durch ihren Versuch an Ruhm. Die Sache, nahm aggressiven Charakter an durch eine umfangreiche Abhandlung des tschechischen Botanikers L. Celakovsky, der 1886 Goethe unumwunden des Plagiats an Linne beschuldigte. Ich habe 1907 die Irrtümer Celakovskys festgestellt und seither hat niemand mehr dessen Standpunkt verfochten. Dafür wurde nun Chamberiain gewonnen und von Wiesner, der seinem Landsmann Celakovsky im Stillen zustimmte, ermuntert. „Es ist mir gelungen nachzuweisen,” schreibt Chamberlain in seinem Aufsatz, „daß Goethe Bezeichnung und Gedanken der Metamorphose Linne verdankt.” Man findet aber bei Chamberlain nicht einmal den Versuch eines solchen Nachweises. Wie er Wiesner für einen Chemiker hielt, so war ihm auch Linne bis dahin ganz fremd. Chamberlain hat weder Linnes Schriften studiert, noch Goethes Metamorphose, denn hier hätte er schon finden müssen, daß Goethe selbst am besten Linnes ganz andere Ansichten erörtert hat (vgl. Goethe-Jahrbuch 1906, S. 213). Chamberlain hätte auch aus jeder guten GoetheAusgabe z. B. aus den sachverständigen Einleitungen Kalischers in der neuen Hempelschen Ausgabe erfahren können, daß diese Frage längst entschieden ist. Aber Chamberlain gibt nichts auf Quellenstudien, er hat seinen „Nachweis” aus einem englischen Schmöker, Whewells Geschichte der induktiven Wissenschaften von 1837 aufgelesen, wo ein Brief des englischen Systematikers J. D. Hooker, abgedruckt ist, der ohne Untersuchung ganz obenhin, seine Privatmeinung abgibt, Linne habe schon im Sinne von Goethe von Metarmorphose geredet. Hookers Brief kann in keiner Weise bei dieser Frage in Betracht kommen. Diesen antiquierten Brief stellt Chamberlain einer umfangreichen deutschen Literatur entgegen und schreibt dann dazu: Es ist mir gelungen nachzuweisen! Diese Aneignung von Hookers Meinung ist, auch wenn sie keine Bedeutung besitzt, bemerkenswert.

Chamberlains Methode, mit der Wissenschaft Händel anzufangen begründet er auch in den Lebenswegen in offenbar pathologischem Dünkel S. 150 folgendermaßen:

„Die weitverbreitete bewundernde Adoration einer thronenden „Wissenschaft”, der dumpf gehorsame Glaube an alles, was ihre offiziellen Priester zu verkünden belieben, besitzt für die Kultur des Menschengeistes nicht den geringsten Wert.”

Durch solche Lehrsätze macht sich Chamberlain zwar unnahbar für die offiziellen Priester, aber die Tatsache, daß er kein Pflanzenphysiologe und Naturforscher war und ist, wird dadurch nicht beseitigt. Darum hat alles, was er in seiner maßlosen Einbildung darüber mitredet, nur den Wert eines Opfers für seinen Schreib-Dämon.

Ich muß schließlich ausdrücklich dem möglichen Irrtum entgegen treten, als handle es sich in meiner Ablehnung des Chamberlainschen Buches um einen Gelehrtenstreit, d. h. um bloße Meinungsverschiedenheit. Das ist nicht der Fall. Es handelt sich um den Schutz der Wissenschaft gegen grobe Entstellung und historische Fälschung, also um den Schutz des allgemeinen Interesses an dem, was wahr ist. Wenn ein Schriftsteller fort und fort mit in keiner Literatur erhörter Selbsteinschätzung die Wissenschaften und ihre Vertreter zu diskreditieren und dafür seine weniger originellen, als verschrobenen Lehrsätze anzubieten sucht, so wird dadurch nicht nur das Tatsachenmaterial verwirrt, sondern auch das Denken der Nichtsachverständigen auf falsche Bahnen gelenkt. Solches verdorbene Denken wird dann auch im praktischen Leben zum falschen Urteil führen, wie die gegenwärtige Zeit erschreckend lehrt. Möchte unser Volk, das sein Denken durch Verschlingen einer Flut von Romanen und romantischem Plunder verlernt hat, sich endlich wieder wahrhaft bilden. Dazu sind die gepriesenen Bücher von Chamberlain nicht geeignet. Grobe Irrtümer, von vielem Doktrinarismus und bunter Wortspielerei oder dunklem Phrasentum verschleiert, müssen um so verderblicher wirken, wo sie mit dem Schein priesterlicher Weisheit dargeboten werden.

Darum bekämpfen wir bei Chamberlain nicht nur die Sache, sondern auch die Form, denn sie ist nicht die Form der Wissenschaft, sondern wie er schon bei seiner Dissertation bezeugte, seine eigene „Allüre”. Obwohl Chamberlain sich mit dem Vorbilde „Kant” groß tut, kann man auf das Bestimmteste versichern, daß gerade Kant die Chamberlainsche Stilistik auf das Schärfste verurteilt hätte. Daran ist nach seinen Äußerungen über blühenden Stil in der Wissenschaft gar nicht zu zweifeln. (Vgl. Kants Werke (Rosenkranz Bd. VII, S. 26).)

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Erstellt am 20.02.2012 - Letzte Änderung am 20.02.2012.


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