Zur hundertjährigen Wiederkehr des Erscheinens der „Welt als Wille und Vorstellung”.
Aus der „Naturwissenschaftliche Wochenschrift”, Organ der Deutschen Gesellschaft für Volkstümliche Naturkunde in Berlin, begründet von H. Potoniß, herausgegeben von Prof. Dr H. MIEHE in Berlin, Neue Folge. 18. Band, (der ganzen Reihe 34. Band), JANUAR — DEZEMBER 1919, JENA VERLAG VON GUSTAV FISCHER 1919.
Aller Fortschritt in der Wissenschaft ist letzten Endes durch zwei Faktoren bedingt: Durch den wissenschaftlichen Zeitgeist und durch die Persönlichkeit des Gelehrten. Diese Einflüsse sind bei jeder Forschung maßgebend, ganz gleich ob sie sich auf naturwissenschaftlichem oder geisteswissenschaftlichem Gebiete bewegt. Sie werden aber umso reiner hervortreten, je stärker sich eine Wissenschaft von der empirischen Grundlage ablöst. Philosophie zum Beispiel, wenigstens soweit sie metaphysisch und System bildend auftritt, ist fast nichts anderes mehr, als die Auseinandersetzung eines starken Charakters mit der gesamten Kultur seiner Zeit. Doch sind diese Bemühungen mit den dichterischen Schöpfungen der Phantasie so innig verwandt, daß die Behauptung: Philosophie ist Charakter und Zeitgeist, wie ein Gemeinplatz klingt.
Falls es uns um die Aufdeckung der Abhängigkeit jeglicher Wissenschaft von den genannten beiden Faktoren zu tun ist, dürfen wir demnach von einer Untersuchung der reinen Philosophie keinen allzu großen Vorteil erwarten.
Andererseits leistet aber die Betrachtung exakter Forschung in dieser Hinsicht auch nicht genug. Durch ihre innige Verflechtung mit einer außer uns liegenden Wirklichkeit werden die Verhältnisse so kompliziert, daß sie sich nicht für eine erste Auseinandersetzung über die fraglichen Punkte eignen. Damit ist jedoch keineswegs gesagt, daß hier die Abhängigkeit von Charakter und Zeitgeist nicht ebenso mächtig einsetzt, wie irgendwo anders. Nein, sie ist auch in der exakten Forschung bedeutungsvoll; ich habe es einst an Faraday und D'Alembert gezeigt,1) - aber sie liegt nicht so offen zu Tage, wie auf anderen Gebieten.
Wollen wir uns über die Art dieser Einflüsse Rechenschaft geben, so werden wir also gut tun, einen Fall herauszugreifen, bei dem einerseits das Vorhandensein einer starken Persönlichkeit und ihre Verquickung mit dem Zeitgeist sicher steht, und bei dem andererseits diese Persönlichkeit doch nicht bloß durch den Ozean der eigenen Phantasmen treibt, sondern sich mit der empirischen Wirklichkeit auseinandersetzt. Haben wir an einem solchen „krassen” Beispiel die erwähnten Zusammenhänge leicht und klar erkannt, so wird es uns nicht schwer fallen, dieselben auch dort zu finden, wo sie versteckter liegen.
Die geforderten Bedingungen für den „krassen” Fall sind meines Erachtens am besten erfüllt, wenn ein reiner Philosoph Naturwissenschaft treibt.
1) Engelhardt, Faraday's Stellung in der Geschichte der Physik. Naturw. Wochenschr. 1917. S. 465.
Engelhardt, D'Alembert's Bedeutung für die Naturwissenschalten, Naturw. Wochenschr. 1917. S. 1141.
Als Philosoph steht er in einem engen Zusammenhang mit der Kultur seiner Zeit. Er sieht das Bild dieser Kultur durch die Brille seiner sehr ausgeprägten Persönlichkeit. Soweit er aber Naturforscher ist zwingt er seine durch Zeitgeist und Charakter bedingte Weltanschauung zur Vereinigung mit der empirischen Welt. Wohlgemerkt ich spreche vom Philosoph der Naturwissenschaft treibt, und nicht vom Naturforscher, der philosophiert. Um keinen Zweifel über mein Bestreben aufkommen zu lassen, wähle ich Schopenhauer als Beispiel, also einen Fall, von dem wir sicher nicht allzuviel naturwissenschaftliehe Erkenntnis erwarten dürfen, dessen Betrachtung uns also einzig und allein die gewünschten Zusammenhänge aufdecken wird.
Der „Fall Schopenhauer” ist für unsere Zwecke ganz besonders geeignet. Wir können bei ihm die Wirksamkeit von Charakter und Zeitgeist sauber von ihrer Verquickung mit der Wirklichkeit trennen. Charakter und Zeitgeist führen zur Weltanschauung — und diese ist bei Schopenhauer das primäre. Erst in zweiter Linie wird sie mit der Natur zusammengebracht und erlaubt uns so einen Einblick, wie weit sich die Natur im Forschergeist persönlich gestaltet.
Grundzüge in Schopenhauer's Charakter sind Pessimismus und Egoismus. Der Pessimismus wurzelt uranfänglich wohl in der Weltschmerzlichkeit, die wir bei werdenden Jünglingen häufig treffen. Wie innig er mit erotischen Krisen zusammenhängt zeigt ein Jugendgedicht des Philosophen:
„O Wollust o Hölle
O Sinne o Liebe
Nicht zu befriedigen
Und nicht zu besiegen.” 2)
2) Gwinner, Schopenhauer's Leben. 3. Auti. Leipzig
1910. S. 42.
Nun ist aber nach Riehl der Pessimismus „Schopenhauer's a priori und gleichsam der angeborene Begriff seiner Philosophie”.3) Deren Grundwurzeln sind damit fest im Charakter verankert; ja noch mehr, sie sind wie diejenigen vieler Kunstschöpfungen aus dem sexuellen Erleben des Urhebers erklärt.
3) Riehl, Zur Einführung in die Philosophie der Gegen-
wart. 3. Aufl. Leipzig 190S. S. 215.
In der Metaphysik ist dieses Erleben zur Theorie geworden, begrifflich kristallisiert. Kuno Fischer glaubt sich deswegen zu dem Vorwurf berechtigt,
daß Schopenhauer den Pessimismus gelehrt und dargestellt, nicht erlebt und erduldet habe;4) ja er versteigt sich sogar dazu Schopenhauer auch als Philosophen einen „großen Schauspieler” zu nennen.5) Das ist ungerecht — selbst dann, wenn für Schopenhauer in der glücklichen Schaffensperiode seines Lebens der Pessimismus nur ein Arbeitsschema war. Das Erlebnis fällt zeitlich nie mit dem daraus hervorgehenden Werke zusammen. —
4) Kuno Fischer, Arthur Schopenhauer, Heidelberg
1S93. S. 126.
5) Kuno Fischer, 1. c. S. 138.
Nicht nur vererbte Anlage sondern auch das Lebensschicksal bedingt unsern Charakter. Schopenhauer's Schicksal ist das Schicksal seiner Philosophie. Und das war bitter schlecht. Sein Werk hat lange keine Anerkennung gefunden. „Dieses Schicksal seiner Philosophie mußte notwendig auf seinen Pessimismus verschärfend wirken”.6) Wir finden darum den alten Mann aus anderen Gründen ebenso düster gestimmt wie den Jüngling. Pessimismus ist der Grundzug seines Lebens.
6) Johannes Volkelt, Arthur Schopenhauer. 4. Aufl. S. 26.
Den sexuellen Ursprung verbirgt dieser Pessimismus nicht, denn Schopenhauer's „Wille” ist gieriger, zweckloser Trieb — ist das Abbild einer von den Sinnen oft in quälende Fesseln geschlagenen Natur.
Ein großer und zugleich düsterer Geist muß einsam stehen. Die Welt, welche ihm feindlich ist, erscheint ihm gleichzeitig nichtig und klein. So bildet sich die starke Persönlichkeit zum Egoisten und Weltverächter.
Diese Seite von Schopenhauer's Charakter findet ihren theoretischen Ausdruck in Kant 's Philosophie. Schopenhauer ergreift sie darum mit beiden Händen, und bringt sie in seiner Weise auf die Formel der „Welt als Vorstellung”. Die starke eigenmächtige Persönlichkeit treibt ihn aber weit über Kant hinaus. Er fühlt den ungeheuren Anteil, den er, das erkennende Subjekt, an der Weltbildung hat. So ungeheuer ist der Anteil, daß die Welt ohne das Subjekt gar nicht sein
könnte. Kein Objekt ist ohne ein Subjekt.7)
7) Vgl. Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung. § 7 in Cotta, Bibl. d. Weltlit. S. 60.
Wir stehen bei der Betrachtung von Kant 's Einfluß auf Schopenhauer an dem Punkt, wo der Charakter sich mit dem Zeitgeist berührt. Das ihm gemäße nimmt er auf. Weit mehr aber müssen wir bei Schopenhauer's eigensinnigem Wesen ein negatives Verhältnis zu seiner Zeit erwarten; einen Geist des Widerspruchs. Schon seine Mutter klagt über „die Wuth alles besser wissen zu wollen, überall Fehler zu finden, außer” in sich selbst.8)
8) Gwinner, 1. c. S. 49.
Dieser Charakter offenbart sich in der fortwährenden häßlichen Polemik gegen Fichte, Schelling und Hegel. — Um die Mitte des Jahrhunderts, zur Zeit der zweiten Auflage von Schopenhauer's Büchern, war aber die Herrlichkeit der Idealisten bereits zu Ende. Überall stand der Materialismus in Blüte, welcher schließlich in dem Satz gipfelte „der Mensch ist, was er ißt”. Gegen Vertreter solcher Lehren, wie Vogt, Mole-Schott, Büchner u. a. wandte sich Schopenhauer jetzt mit der gleichen Erbitterung. Ja, es gab genau genommen außer ein paar blindgläubigen Aposteln überhaupt keine Zeitgenossen, die ihm paßten.
Alles reizte den großen „Subjektivisten” zum Widerspruch. In dem „fortwährenden” Widerspruch steckt aber weit mehr Abhängigkeit, als Schopenhauer ahnt. Wenn ich allem, was andere lehren entgegentrete, bin ich ebensowenig frei von den anderen, wie der, welcher den anderen zustimmt. — These und Antithese regieren ja die Welt, beide schaffen ihren inneren Zusammenhang.
In dem lauten Wortkampf gegen Hegelianer und Materialisten verschwindet für Schopenhauer und damit nur allzuleicht auch für seine Leser, der positive Zusammenhang seiner Philosophie mit dem Geist der Zeit. Und doch liegen, wie namentlich Gwinner betont, Keime der Willenslehre schon bei Fichte vor; allerdings ist bei Fichte geistig, was sich bei Schopenhauer als Naturpotenz offenbart.9) — Und Vokelt hat gezeigt, wie Schopenhauer trotz seiner Verachtung des Materialismus, sowohl in der Erkenntnistheorie als auch in der Metaphysik dieser Lehre verfällt.10)
9) Gwinner, 1. c. S. 173.
10) Volkelt, 1. c. S. 94.
„So absurd er sich gebärdet” — er ist eben doch das Kind seiner Zeit. — Er ist so sehr das Kind seiner Zeit, daß R. M. Meyer ihn als den eigentlichen Philosophen der Romantik bezeichnen konnte, „der hinter den Romantikern herzieht, wie die Reue hinter der Tat”.11) —
11) R. M. Meyer, Die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts. Berlin 1912. S. 53.
Ein drittes Element bildet den Menschen ebenso stark wie Charakter und Zeit; es steht zwischen den beiden, gehört beiden an — die Erziehung. Eltern und Schulzucht werden durch die Persönlichkeit des Erziehers — und durch die Vorschriften der augenblicklichen Kultur bedingt. Selbsterziehung aber ist Charakter.
Ein eigenartiges Lebenswerk wird letzten Endes oft einer eigenartigen Jugend zu verdanken sein. Weniger der Inhalt des Werkes, als die Methode. Der Inhalt dürfte meist von den Zufälligkeiten der Berufswahl und des äußeren Lebensschicksals vorgeschrieben sein. Die Methode aber hängt von unserer geistigen Veranlagung und von der Art ab, wie wir denken lernten. — Bei Schopenhauer liegt es klar zutage. Auf weiten Reisen lernte er die Welt mit offenen Augen sehen. Der Hang junger Menschen alles anschaulich zu erfassen wurde dadurch so gestärkt, daß eine sehr verspätete, aber mit Eifer betriebene formale Schulbildung die „Anschaulichkeit seines Geistes” nie mehr zu unterdrücken vermochte.
„Der Verstand allein erkennt anschaulich unmittelbar und vollkommen die Art des Wirkens eines Hebels, Flaschenzuges usw.”.12) „Alle Differentialrechnung (erweitert) eigentlich gar nicht unsere Erkenntnis von den Kurven, enthält nichts mehr, als was schon die bloße reine Anschauung derselben”.13)
12) + 13) Schopenhauer, 1. c. § 12. Cotta S. 89.
Aus solchen Äußerungen erwächst uns das Verständnis für Schopenhauer's Methode.
Wenn man überhaupt von Methode sprechen darf, bei einem Manne, dem alle Gedanken unwillkürlich mit solcher Macht aus dem Innern quellen, daß er selbst es kaum zu fassen vermag. „Schopenhauer ist (eben) weiter als die allermeisten deutschen Philosophen von dem Typus nicht nur des Gelehrten, sondern auch überhaupt des rein theoretischen Denkers entfernt”.14) Diesen Abstand fühlt er. Sein grimmiger Haß gegen die Gelehrten hatte seinen Ursprung in diesem Gegensatz und sog seine Nahrung aus der demselben Gegensatz entsprungenen langen Verkennung seiner Philosophie.
14) Volkelt, 1. c. S. III.
Es ist einseitig und ungerecht andere Denker deswegen zu verwerfen, weil sie nach anderen Denkmethoden verfahren. In jeder Wissenschaft wird es „anschauliche” und „abstrakte” Geister, „Geometer” und „Analytiker” geben.15) Das ist wahr. Und weiter ist wahr, daß fast nur den anschaulichen Denkern, den „Geometern” die großen Fortschritte zu verdanken sind. Aber auch die Analytiker sind nötig, nämlich um das anschaulich Erkannte sicher zu stellen. Sonst verliert es sich, wie eben bei Schopenhauer, in unhaltbare Spekulation. —
15) Poincare, Der Wert der Wissenschaft, übersetzt von Weber. Leipzig 1910. 2. Aufl. S. 9.
Allerdings muß auch Schopenhauer trotz aller Verachtung an anderen Stellen die Notwendigkeit abstrakter Erkenntnis zugeben. Die Urteilskraft hat nach ihm aus dem anschaulich Erkannten die richtigen Begriffe zu gewinnen und damit den schwierigsten Teil wissenschaftlicher Arbeit zu leisten. Geleistet muß er werden, denn nur wo Begriffe sind, kann eine Verständigung, ein Zusammenarbeiten mehrerer Menschen erreicht werden. Diese Begriffe sind das Gebiet der Wissenschaft.16) So heißt es im Hauptwerk. Dem Geiste nach müßte hier allerdings stehen: Begriffe sind das Gebiet — der Gelehrsamkeit, denn trotz aller Anerkennung der Notwendigkeit, bleibt die Verachtung des begrifflichen Wissens.
„Grau teurer Freund ist alle Theorie.
Und grün allein des Lebens goldener Baum”.
Schopenhauer will in der eignen Forschung abstrakte Methoden nicht anwenden. Ja er bemüht sich sogar die Mathematik, die abstrakteste aller Wissenschaft auf Anschauung zurückzuführen. In der zweiten Auflage seiner Dissertation und in der „Welt als Wille und Vorstellung” finden sich Versuche geometrische Beweise des Euklid durch anschauliche Erkenntnis zu ersetzen. Wenn er aber annimmt, eine Figur wie folgende, könne uns den Pythagoräischen Lehrsatz viel eindringlicher klar machen als ein „Euklidischer Mausefallenbeweis”, so ist das eine völlige Verkennung der Tatsachen. Eine solche Figur ist nur beweisend für den einzigen vorliegenden Fall.
16) Schopenhauer, 1. c. § 12. Cotta S. 93.
Sie kann weiterhin einen kühn veranlagten intuitiven Geist dazu veranlassen, den Pythagoräischen Lehrsatz vorauszuahnen, zu entdecken; allgemein beweisen kann sie ihn aber nicht. Sicher stellen kann diesen Satz erst das mühsame Verfahren des abstrakten Denkers.
An vielen Stellen steigert sich Schopenhauer's Abneigung gegen mathematische Beschäftigung zu solchem Haß, daß er jede Mathematik aus den Naturwissenschaften entfernt sehen möchte, daß er alles Heil von der Anschauung erwartet. Er hält die erste Intuition des Entdeckers fast überall für die Wissenschaft selbst. —
Schopenhauer's Intuition, Schopenhauer's „anschauliche Erkenntnis” führte ihn primär zu seiner Philosophie. Aus ihr folgen, wie wir schon sahen, sekundär seine naturwissenschaftlichen Ansichten. Wir werden in diesen das persönliche und das zeitgemäße Element also einfach dadurch feststellen können, daß wir ihren Zusammenhang mit seiner Philosophie ergründen.
Von zwei verschiedenen Seiten eröffnet sich demnach ein Zugang zum Verständnis der Schopenhauer'schen Naturansicht. Von seiten der „Welt als Vorstellung” — und von seiten der „Welt als Wille”.
Dem „Subjektivisten” nach Neigung und Beruf, dem Schüler Kant's, werden unter allen naturwissenschaftlichen Fächern diejenigen am meisten zusagen, welche den subjektiven Gehalt des Weltbildes am deutlichsten hervortreten lassen. Und so finden wir unter des Philosophen Büchern als das Einzige mit rein naturwissenschaftlichem Inhalt ein Werk „Über das Sehen und die Farben”. Der äußere Anlaß zu dieser Abhandlung ist zwar Goethe's Farbenlehre und der persönliche Verkehr mit dem Dichter. Der innere Grund für die Entstehung und Entwicklung von Schopenhauer's physiologischer Theorie aber war wohl das Bestreben an einem praktischen Beispiel die Intellektualität aller Anschauung einmal gründlich zu erläutern. Damit wird die rein naturwissenschaftliche Arbeit zur durchaus philosophischen Beschäftigung. — Im philosophischen Wert liegt auch heute noch ihre Bedeutung, nachdem die Anschauungen im einzelnen sich als falsch oder als richtig erwiesen haben.
Auf den Inhalt der Farbenlehre, auf eine Kritik derselben und auf ihren Zusammenhang mit Goethe brauche ich hier nicht einzugehen. Das ist schon oft und gründlich geschehen. 17)
17) Vgl. Ostwald, Goethe, Schopenhauer u. d. Farben-
lehre. Leipzig 1918.
Czermack, Über Schopenhauer's Theorie der Farbe. Wien. Ber. 622. 1870. S. 393 ff.
Schultz, Schopenhauer in seinen Beziehungen zur Naturwissenschaft. Deutsche Rundschau 26. Band, Heft 2, S. 263.
Engelhard 1, Dichter, Philosoph, Physiker und Physiologe über die Farben. Weltall Bd. 19. S. 37. 1918.
Der Knotenpunkt, in dem „Welt als Vorstellung” und „Welt als Wille” und demnach auch Physik und Metaphysik miteinander verknüpft sind, ist der Begriff der Kausalität. Fassen wir das Kausalgesetz zunächst in seiner einfachsten Form, etwa in der von Kant gegebenen: „Alles, was geschieht setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt”, 18) so sind wir noch durchaus im Rahmen der exakten Naturwissenschaft. Auch Schopenhauer stellt sich bei Untersuchung des Kausalbegriffes zunächst ganz auf den Boden desselben. Ja gerade die Erörterungen über Ursache und Wirkung gehören zu den klarsten und nüchternsten seiner ganzen Philosophie. Darum wird ihm jeder Naturwissenschaftler beistimmen können, wenn er die Physik als eine „ätiologische” Wissenschaft bezeichnet, welche „die wandelnde Materie nach dem Gesetz ihres Übergangs von einer Form in die andere” betrachtet.19) Leitfaden für diese Betrachtung ist das Kausalgesetz, das der junge Schopenhauer in geistreicher Weise als eine der 4 Wurzeln des Satzes vom zureichenden Grunde nachweist.20)
18) Diese Formulierung findet sich in der I. Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft.
19) Schopenhauer, 1. c. § 17. Cotta S. 136.
20) Vgl. Schopenhauer, Über die vierfache Wurzel des
Satzes vom zureichenden Grunde.
Es ist das Prinzip vom Grund des Werdens, dem die Prinzipien vom Grund des Erkennens und vom Grund des Seins gegenübertreten. Nur das erste Prinzip, das eigentliche Kausalgesetz, kommt für die exakte Naturwissenschaft in Betracht, während die anderen Prinzipien der formalen Logik und der Mathematik zuzuweisen sind. An vierter Stelle steht das Prinzip der Motivation. Seine Sonderstellung gebührt ihm nicht, denn in den späteren Arbeiten Schopenhauer's finden wir es als einen Spezialfall des eigentlichen Kausalgesetzes. Der Grund einer Veränderung erscheint im Hauptwerk nämlich auf dreierlei Weise — als Ursache im Reich des Unorganischen — als Reiz im Gebiet des Organischen und als Motiv im menschlichen Leben. Namentlich die Ausführungen über den „Reiz” haben von der neuen Biologie manche Bestätigung erfahren; in den Rahmen meiner Ausführungen gehören sie nicht. Die exakte Naturwissenschaft hat es nur mit Ursachen zu tun.
Ihre Aufgabe ist es nach Schopenhauer den Erscheinungen an Hand des Kausalgesetzes, von der Wirkung zur Ursache und von dieser zur Ursache der Ursache usw. nachzugehen.
Die Verknüpfung von Ursache und Wirkung geschieht in jedem einzelnen Fall durch das entsprechende Naturgesetz. Dieses bleibt aber nichts anderes als „die der Natur abgemerkte Regel, nach der sie unter bestimmten Umständen, sobald diese eintreten, jedesmal verfährt ..... wonach denn eine vollständige Darlegung aller Naturgesetze doch nur ein komplettes Tatsachenregister wäre”.21) Dieses Tatsachenregister zu schaffen ist die Aufgabe der Physik.
21) Schopenhauer. Welt als Wille und Vorstellung. § 27. Cotta S. 188.
Nicht größere Gewißheit also, sondern „Erleichterung des Wissens durch die Form desselben und dadurch gegebene Möglichkeit der Vollständigkeit des Wissens” 22) ist ihr Ziel. Schopenhauer's Ansichten vom Naturgesetz haben demnach eine große Ähnlichkeit mit der Auffassung Kirchhoff' s, der als Ziel der Mechanik bezeichnet: „Die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben.” 23)
22) Schopenhauer, 1. c. § 14, Cotta S. 101.
23) Kirchhoff, Vorlesungen über mathematische Physik, Mechanik. 2. Aufl. Leipzig 1877. S. i.
Persönlich interessant wird Schopenhauer's Stellung zur Naturwissenschaft erst in dem Augenblick, wo das Kausalgesetz, die Grundlage der Physik sich mit dem Philosophischen und Metaphysischen verquickt. In seiner Erkenntnistheorie tritt die Kausalität an die Stelle von Kant's Kategorien, ist also neben Raum und Zeit eine apriorische Funktion unseres Geistes. Das führt Schopenhauer dazu, ganz im Kant'schen Sinne die Möglichkeit einer „reinen Naturwissenschaft” zu behaupten. Sie ist der „Inbegriff aller apriorischen Sätze, die sich aus der apriorischen Funktion der Kausalität allein ergeben”. Ihnen, nämlich dem Gesetz der Trägheit und dem der Beharrlichkeit der Substanz, kann allein wirkliche Gewißheit zukommen, allen Erfahrungssätzen nur Wahrscheinlichkeit.
Sie alle führen ja zuletzt auf ein unbekanntes Etwas, das Schopenhauer im Geist seiner Zeit „Naturkraft” nennt. Mit ihr ist die Physik am Ende der Gelehrsamkeit. Die Naturkraft bleibt ihr Geheimnis, ganz gleich ob sie Schwere heißt oder die Lebenskraft, die im Organischen webt. Die Physik kann es also höchstens bis zu einem Verzeichnis sämtlicher Naturkräfte bringen; der Naturkraft selbst kann sie mit ihrem Werkzeug, dem Kausalgesetz, nichts anhaben, denn die Naturkraft ist dem Satz vom Grunde nicht mehr unterworfen. Sie ist nicht die Ursache, sondern die Möglichkeit der Veränderung.
Die Physik erklärt die Dinge durch etwas ihr unerklärliches. Soll sie nicht in der Luft schweben, so muß sie eine Stütze suchen — und sie findet diese Stütze in der Metaphysik. Damit ist der Punkt erreicht, wo der Charakter des Forschers am mächtigsten in die Natur eingreift, — sie, wenn man will, auch vergewaltigt. Der junge Schopenhauer fühlt als sein innerstes Erleben ein qualvolles, zielloses Drängen und Treiben — einen dumpfen unvernünftigen Willen.
Ihm, dem Subjektivisten, ist die eigene Seele der einzige Ort, wo die Natur an sich „zuletzt sich doch ergründet”. Wie müssen auf einen so gearteten Geist Erscheinungen wirken, die in der Natur ein gleiches Drängen und Treiben zeigen: Das Fallen des Steines, das Zueinanderfliegen der Magnete — die hassende Abstoßung gleichnamiger Elektrizität! Sie zwingen ihn, auch als Grundlage der Natur, und damit als Grundlage der ganzen Welt, einen gleichen unvernünftigen Willen anzunehmen.
Die „Welt als Wille” ist fertig — und fortan steht auch die Naturwissenschaft im Zeichen der „Welt als Wille”.'
Die Naturkraft ist die einfachste, roheste Form, in welcher sich der Wille offenbart. Schon Euler hat das Wesen der Gravitation einmal auf eine den Körpern eigentümliche Neigung und Begierde zurückgeführt. 24) Den Stufen der Naturkräfte entspricht eine Stufenleiter des Willens und damit eine Folge verschiedener Wissenschaften. Die Schwere, die Gravitation ist die unterste Sprosse, — die Astronomie, welche nur Schwere und Trägheit kennt, ist demnach das klarste aller empirischen Forschungsgebiete. Und dennoch zeigt sich der Wille hier schon kapriziös, wie auf seinen höchsten Stufen. Gleicht nicht die Mondbahn mit allen ihren Störungen, Knotenläufen und Apsidenschwankungen der launenhaften Lebensbahn eines Menschen?
24) Schopenhauer, 1. c. § 24. Cotta S. 172.
Je höher wir aufsteigen ins Reich der Natur, desto komplizierter werden die Äußerungen des Willens, eine desto größere Anzahl von Fragen läßt die Wissenschaft ungelöst. —
Gewiß — es ist Mythologie, was Schopenhauer vor uns hinstellt — aber eine mächtige Mythologie, eine moderne Mythologie, eine Mythologie der Naturwissenschaft.
Es bringt darum dem Naturwissenschaftler keine Förderung, wenn er sich in alle Einzelheiten von Schopenhauer's Meinungen vertieft. Es ist ein zwar leichtes aber zweckloses Bemühen Schopenhauer's kleine Verbohrtheiten, Mißverständnisse und Widersprüche aufzudecken und des Philosophen häßliche Polemik gegen exakte Forscher zu tadeln. — Seine Ansichten sind aus einem Guß und darum nur als Ganzes bedeutungsvoll. Eine Kritik darf sich nur auf das Ganze beziehen.
Einen grundlegenden Widerspruch des Systems, der jedem Physiker mehr auffallen wird als Botanikern und Zoologen, deckte Vokelt auf.25) Schopenhauer hat in seiner Willensmetaphysik die Welt aus einem alogischen, unvernünftigen Prinzip abgeleitet. Und doch verläuft, was auch Schopenhauer anerkennt , die Welt nach unveränderlichen festen Gesetzen. Der Philosoph hat den Widerspruch gefühlt und eine Zwischenwelt geschaffen, das Reich der platonischen Idee.
25) Vgl. Volkelt, Schopenhauer. 4. Aufl. Stuttgart.
Das ist ein Abfall vom ursprünglichen Grundgedanken. Der Wille benimmt sich als ob er vernünftig wäre. Ja noch mehr! Die Vernunft, die Magd des Willens, kann in der Ethik schließlich den einzigen Weltgrund, die Welt selbst überwinden.
Ich glaube hier liegt der Charakter mit der empirisch gegebenen Welt im Kampf. Schopenhauer's starke Persönlichkeit schuf die Willenslehre, sein Pessimismus färbte sie düster, machte den Willen zum unvernünftigen Trieb. Eine Stütze fand diese Entwicklung in dem negativen Verhältnis des Philosophen zum Zeitgeist, das heißt in diesem Fall zu Hegel's logischer Welt. Und doch zeigte ihm die Forschung der Zeit allüberall strenge Gesetzmäßigkeit und zwang ihm so gegen seinen Charakter die Ideenlehre auf.
Manchmal wird ihm dieser Abfall vom eigenen Charakter dunkel bewußt. Dann nennt er die Ideen subjektive Gebilde. Meist aber stellen sie uns die in unveränderlich starre Formen gegossene Gesetzmäßigkeit der Welt vor Augen. Zu starr sind sie geworden, denn jede Entwicklung schließen sie aus. Sind sie doch die außer der Zeit ewig gegebenen Urbilder des Seins. Hier gerät der Biologe und der Historiker in Konflikt mit Schopenhauer. Keine Geschichte, keine Entwicklung — und aus Haß gegen jede Entwicklung die Neigung zur alten Katastrophen-Sintflutlehre — das kann nicht wissenschaftlich ernst genommen werden.
Schopenhauer's Leugnung der Entwicklung und der erfolglose Kampf gegen die Gesetzmäßigkeit läßt uns in manchen Augenblicken den sonst so sehr verachteten Hegel sympatischer erscheinen. Sein Weltgrund ist die Intelligenz, — und die ist dem Gesetzmäßigen verwandter als der dunkle Trieb. Aber Hegel' s „These” ist ebenso einseitig wie Schopenhauer's „Antithese”. Im Hegel'schen Sinn müßte aus beiden die „Synthese” folgen. Wir finden sie in der Tat bei Hartmann, welcher versucht Schopenhauer's Willen mit Hegel's intelligentem Weltgrund im „Unbewußten” zu vereinen.
Widersprüche, die erst eine spätere Zeit gegen Schopenhauer herauf beschwor, können diesem nicht zum Vorwurf gereichen. Zwei Dinge sind es, welche die moderne Physik, genauer die neue Thermodynamik, betont. Der Einheitsgedanke, wie er im Energieprinzip zum Ausdruck kommt, und die Weltentwicklung, als gerichtete Größe, welche der zweite Hauptsatz lehrt. Der Einheitsgedanke gelangt bei Schopenhauer natürlich zu vollem Recht, denn seine Lehre ist monistisch. Die Weltenentwicklung aber ist für ihn ohne Ziel. Die Zweckmäßigkeit, das Zueinanderpassen der Teile, kommt nur dadurch hinein, daß alles der Ausfluß eines einzigen Willens ist. Sie verliert aber ihren Sinn, da sie kein Endziel hat und die Harmonie der Teile von einem gegenseitigen Zerfleischen überwogen wird.
Die Welt findet ihren Abschluß nur in der einzelnen, weltüberwindenden Gestalt des Asketen. Schopenhauer's Ethik reißt die größte Kluft zwischen seiner Weltanschauung und unsere Naturwissenschaft, unsere Kultur. Die heutige Physik läßt ein Weltziel ahnen; dem strebt aber nicht das einzelne zu, sondern die Welt überhaupt. Das einzelne ist nur ein kleiner Teil des Ganzen und hat innerhalb der Gesetze des Ganzen zu wirken. So berühren sich Physik und moderne Kultur. Schopenhauer aber ist extremer Individualist, sein Asket nimmt den Kampf auf mit der ganzen Welt.
Hier ist nicht der Ort Schopenhauer's metaphysische Träume weiter auszuspinnen und vielleicht gar den Versuch zu machen sie in Einklang mit den Fortschritten der Physik zu bringen. Hier sollte nur an einem „krassen Fall” gezeigt werden, welchen Einfluß Charakter und Zeitgeist auf die Weltanschauung haben. Gerade die Widersprüche in Schopenhauer's System konnten dies vielleicht am besten tun. Wenn auch im Weltbild des normalen Gelehrten und des naturwissenschaftlich gebildeten Laien keine so ungeheuer mächtigen Kräfte am Werke sind wie bei Schopenhauer, so werden die schwachen Kräfte im kleinen doch ähnlich wirken und Verhältnisse zustande bringen, deren Vergrößerung ins Gigantische die hier vorgeführten sind. Und darum wird vielleicht das Überlebensgroße an Schopenhauer uns recht eindringlich zeigen, wo wir Einflüsse auf jedes Weltbild zu suchen haben — und wo wir uns vor persönlichen Fehlern hüten müssen.
------- ENDE --------
Erstellt am 17.02.2012 - Letzte Änderung am 17.02.2012.