Aus der „Naturwissenschaftliche Wochenschrift„, Organ der Deutschen Gesellschaft für Volkstümliche Naturkunde in Berlin, begründet von H. Potoniß, herausgegeben von Prof. Dr H. MIEHE in Berlin, Neue Folge. 18. Band, (der ganzen Reihe 34. Band), JANUAR — DEZEMBER 1919, JENA VERLAG VON GUSTAV FISCHER 1919.
In der Nacht vom 8. — 9. August verstarb infolge eines Anfalles in seinem Arbeitszimmer Ernst Haeckel, der große Naturforscher und Naturphilosoph, welcher vor anderen den Ruf der Jenenser Universität über den ganzen Weltball trug. Dem rastlos tätigen Gelehrten ist es wie selten einem Vertreter der Wissenschaft vergönnt gewesen, die von ihm vorgetragenen Lehrmeinungen trotz starken anfänglichen Widerspruches zu fast unbestrittenem Siege sich durchringen zu sehen. — Als Haeckel im Jahre 1860 in Berlin zum ersten Male Charles Darwins Werk: „Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der bevorzugten Rassen im Kampfe ums Dasein” kennen lernte, packte ihn das Werk gewaltig, und in intuitivem, jugendlichem Schwunge machte er sich Darwins Anschauungen zu eigen; ja noch mehr, ersuchte sie überall zu vertreten. In Berlin fanden Darwins Gedanken bei den damaligen Vertretern der Wissenschaft keine Anerkennung. Gegenbauer dagegen, damals Professor der Anatomie und Zoologie in Jena, mit welchem Haeckel von gemeinsamen Studien in Würzburg her seit 1853 eine herzliche Freundschaft verband, hatte bereits ähnliche Gedanken, wie sie sich in Darwins Werke niedergelegt fanden, bei seiner Promotion 1851 geäußert. Ihm schloß sich Haeckel nun eng an. Der streng methodischer, gewissenhaftester Forschung auf dem Gebiete der vergleichenden Anatomie sich befleißigende, 8 Jahre ältere und ruhigere Gegenbauer war eine sehr wertvolle Ergänzung für den mehr intuitiv erfassenden und dann den Gedanken mit stürmischer Begeisterung bis zu den letzten Konsequenzen verfolgenden Haeckel. Aus dieser geistigen Ehe von Gegen bauer und Haeckel entstand 1806 das zweibändige Werk der „Generellen Morphologie der Organismen”, das Haeckels Namen trägt, an dessen Gedankeninhalt aber Karl Gegenbaur einen ungemein großen Anteil hat.
Mit der generellen Morphologie, d. i. wie der Untertitel sagt: „die mechanisch begründete organische Formwissenschaft”, machte Haeckel den Versuch, die Gedanken Darwins über die Veränderlichkeit der Formen (im Gegensatz zur Konstanz der Formen, die bis dahin gelehrt worden war) und der natürlichen Zuchtwahl (Selektion, d. i. eine mechanische Erklärung für die geordnete und scheinbar zweckmäßig ausgestaltete Mannigfaltigkeit der Organismenwelt) auszuwerten für eine neue Erklärung der „typischen Ähnlichkeiten” der Organismen und Organismengruppen, auf denen sich die auch schon vor Darwin bekannten „natürlichen Systeme” aufbauten.
Unter „typischen Ähnlichkeiten” wird hier die den alten Morphologen (ein bekanntlich von Goethe stammenden Begriff, welcher alle Forscher der organischen Formwissenschaft umfaßt) wohl bekannte Erscheinung verstanden, daß z. B. alle Wirbeltiere in gewissen Organen wie Skelett, Muskulatur, Nervensystem, Darmrohr usw. immer wiederkehrende Ähnlichkeiten aufweisen, ebenso die Gliedertiere in Hautpanzer, Bauchmark, Hautatmung usw. Es führten diese Betrachtungen zur Aufstellung von „Typen”, das sind „diejenigen gedachten, aber durchaus naturmöglichen Formen, von denen sich eine Mehrheit von typisch ähnlichen Formen auf dem nächsten Wege, d. h. durch die einfachsten und kürzesten „Metamorphosen” (auch ein Goethescher Begriff, der zu Unrecht dahin gedeutet worden ist, als habe Goethe an eine wirkliche Blutsverwandtschaft der Einzelformen mit ihrem „Typus” gedacht) „ableiten läßt.”')
Dies etwa der Inhalt der vordarwinschen „idealistischen Morphologie”, als deren Hauptvertreter Cuvier, Geoffroy St. Hilaire, Goethe (letztere beiden werden völlig zu Unrecht von zahlreichen Historikern des Darwinismus als Vorläufer der Entwicklungslehre angesprochen). K. E. v. Baer, Fr. Meckel, Joh. Müller (Haeckels Lehrer in Berlin) genannt sein mögen.
Die Leistung Haeckels bestand nun, wie Naef treffend sagt, im wesentlichen darin, daß er die alten Grundbegriffe der idealistischen Morphologie durch Übersetzung in ein historisches Gewand kleidete :
„Für Systematik setzte er Phylogenetik (d. i. Stammesgeschichte)
Metamorphose — Stammesentwicklung,
Formverwandschaft — Blutsverwandtschaft,
Typus — Stammform,
systematische Stufen — Ahnenreihe,
typische Zustände — ursprüngliche Z.,
atypische Zustände — abgeänderte Z.,
Ableitung — Abstammung” 1) usw.
1) Dt. Adolf Naef, Idealistische Morphologie und
Phylogenetik, Fischer Jena, 1919, S. 13.
') 1. c. S. 35
Naef wie auch Prof. Julius Schaxel, Vorstand der Anstalt für experimentelle Biologie in Jena in seiner Schrift : Grundzüge der Theorienbildung in der Biologie, Jena 1919, weisen nun mit Recht darauf hin, daß 'diese IVIaiSnanmen seitens Haecke! und seiner Schule gänzlich ohne prinzipielle Begründung geschah, ja die Begriffe der alten idealistischen Morphologie wurden noch nicht einmal einer erneuten Prüfung unterzogen. Auch die Forschungsergebnisse der „idealistischen Morphologie” sowohl auf dem Gebiete der vergleichenden Anatomie als auch der Embryologie wurden, soweit sie sich der historischen Auffassung fügten, als „Urkunden” der neuen Phylogenetik in Anspruch genommen. Das natürliche zoologische System blieb in großen Zügen dasselbe. Schaxel konnte darauf hinweisen, daß Cuviers Typen und Haeckels Stämme dieselben sind, nämlich: Wirbeltiere, Gliedertiere und Weichtiere. Nur Cuviers Radialen werden weiter zerlegt in eine größere Anzahl von Gruppen, entsprechend den in 100 Jahren fortgeschrittenen Kenntnissen bezüglich der Tierwelt.
Auch die Gesetze der idealistischen Morphologie werden übernommen und erhalten nun ein historisches Gewand. Als Beispiel zieht Schaxel den von Meckel 1821 vertretenen Salz heran, daß eine Parallele zwischen dem Embryonenzustand der höheren Tiere und dem permanenten der niederen besteht, dem K. E. V. Baer 1828 noch eine schärfere Prägung gab: „daß die höheren Tierformen in den einzelnen Stufen der Entwicklung des Individuums vom ersten Entstehen an bis zur erlangten Ausbildung den bleibenden Formen in der Tierreihe entsprechen”, oder Johannes Müller: „Embryonen, Jugendzustände verschiedener Tiere gleichen einander um so mehr, je jünger sie sind, nähern sich um so mehr dem gemeinsamen Typus”. Haeckel prägt diese Gedanken in sein berühmtes „biogenetisches Grundgesetz” um, das 2 Thesen enthält.
1. Die Eigenentwicklung ist die Wiederholung der Stammesentwicklung (Pal in genese).
2. Die Stammesentwicklung ist die Ursache der Eigenentwicklung.
Die gedankliche Parallele der idealistischen Morphologen wird in einen wirklichen Kausalnexus verwandelt, und auch dieses geschieht ohne prinzipielle Untersuchung der Berechtigung dazu.
Bei der Anwendung des biogenetischen Grundgesetzes auf den Einzelfall traten bald Unstimmigkeiten auf. Ausgewachsene Tiere von dem typischen Aussehen z. B. der freilebenden Stachelhäuterlarven (Pluteus usw.), gibt es ebenso wenig wie der im Ei- oder Mutterleib ihre ersten Entwicklungsstadien verbringenden Larvenformen der meisten Tiergruppen bis hinauf zu den Säugetieren. Haeckel ergreift zur Erklärung dieser Tatsachen, die zwar mit dem Meckelschen Satz vom Parallelismus, nicht aber mit dem 1. Satz seines biogenetischen Grundgesetzes vereinbar sind, zu der Ausflucht des neuen Begriffs der Känogenese, d. i. der Neuerwerbung von Eigenschaften im Larvenleben, die nunmehr die Wiederholung der Stammesentwicklung (Palingenese) verschleiern. Wir können damit die auffällige Erscheinung feststellen, daß der 1. Satz des biogenetischen Grundgesetzes, welcher doch die Voraussetzung des 2. Satzes bildet, nunmehr, wo er sich mit der Beobachtung im Widerspruch erweist, durch den 2. Satz, der damit als Voraussetzung erscheint, gestützt wird. Ein typischer Fall des Circulus vitiosus, des logischen Kreisschlußes. Daß man neuerdings das biogenetische Grundgesetz gern als biogenetische Grundregel bezeichnet, ändert an dem Tatbestand des logischen Kreisschlusses natürlich nichts.
Nun weisen die Phylogenetiker aber noch auf eine 3. Urkundenquelle der Stammesgeschichte hin: die Paläontologie. Daß uns in den Fossilien im Gegensatz zu den Ergebnissen der vergleichenden Anatomie und Embryologie wahre Urkunden zur Stammesgeschichte gegeben sind, soll nicht bestritten werden. Andererseits läßt sich nicht leugnen, daß die Lückenhaftigkeit des paläontologischen Materials nur sehr selten und dann nur in sehr beschränkter Formenmannigfaltigkeit wirkliche Ahnenreihen erkennen läßt. Die Stammesbiologen sehen sich daher veranlaßt, unter ausdrücklicher Betonung dieses Umstandes in ihren Stammbäumen unter der Firma „ausgestorben t” eine Menge hypothetischer Ur- oder Zwischenformen einzufügen, für die sich nach Schaxel ein ganz neues biologisches Problem, nämlich das der Lebensfähigkeit ergibt, ein Problem, das wohl in keinem Fall zum Gegenstand einer besonderen Untersuchung gemacht wurde. Außerdem wird mit der Vermehrung des paläontologischen Materials und der Vertiefung unserer Kenntnisse von den vorzeitlichen Lebewesen in neuerer Zeit gerade von den Paläontologen immer stärker auf den Widerspruch zwischen der urkundlich durch Fossilienfunde belegten und der biologischerseits behaupteten und meist aus der Morphologie und Embryologie erschlossenen Geschichte der Organismen hingewiesen. Vergleiche hierzu die sehr lesenswerte Schrift von G. Steinmann: Die geologischen Grundlagen der Abstammungslehre, Engelmann 1908 und E. Dacque, Abstammungslehre, Fischer 1911.
Es erhebt sich demnach die Frage, wie eine auf so wenig methodisch sicherer Grundlage aufgebaute Lehre, wie es die Phylogenetik ist, einen solchen maßgebenden Einfluß gewinnen konnte, der sich nicht nur auf alle Zweige der Biologie, sondern auf alle historischen Wissenschaften, ja auf die gesamte Kultur des aufgehenden 20. Jahrhunderts erstreckte.
Die Antwort liegt, wie Schaxel richtig hervorhebt, in der allgemeinen Geistesströmung der Zeit, in welcher die materialistischen Lehren eines Büchner, eines Moleschott und eines Vogt geboren wurden, und immer weitere Verbreitung fanden. Die Entdeckung der anorganischen Welt durch Descartes, Gallilei und Newton hatten den alten Universal vitalismus des Aristoteles, der sich die ganze Welt beseelt dachte und in der Seele (Entelechie) das ordnende Prinzip des Kosmos erblickte, seiner Allmacht entkleidet. Die physikalischen Gesetze der Massenanziehung, dann der Wunderbau der Mechanik, dem sich eine physikalische Disziplin nach der anderen (Akustik, Optik, Wärmelehre und schließlich auch die Elektriziiätslehre) unterordnen mußten, mit seiner Krönung, dem Gesetz von der Erhaltung der Energie, lehrten den Menschen mechanistisches Denken. Die beispiellosen Erfolge der chemischen Forschung mit ihrer Zergliederung der Stoffe in ihre Atome und der immer zahlreicher gelingende künstliche Aufbau auch der organischen Stoffe aus ihren Elementarbausteinen schufen das Gesetz von der Erhaltung des Stoffes, der Materie. Wie eine Offenbarung mußte es daher dem Menschen, der sich diese mechanistisch-materialistische Denkweise zu eigen gemacht hatte erscheinen, als ihm verkündet ward, daß auch die Organismenwelt, ja der Mensch selbst allein diesen mechanischen Gesetzen gehorche. Der Zerstörung des alten geozentrischen Weltbildes folgte der Sturz der anthropozentrischen Weltanschauung. Der Mensch sowie alle lebenden Organismen wurden zu „M o l e k u l a r k o m p l e x e n” ; die menschlichen Handlungen, einschließlich des Denkens, Fühlens und Wollens wurden zu einem mechanischem Spiel der Kräfte, die den allgemein erkannten mechanischen Naturgesetzen ebenso gehorchten wie die Erscheinungen der Physik und Chemie. Das Ziel aller biologischen Wissenschaft war demnach erreicht, wenn die Formenmannigfaltigkeit wie auch die Handlungen (Funktionen) der lebendigen Organismen auf physikalisch-chemische Gesetze zurückgeführt wurden. „Die Biologie wurde zu einer Vorwissenschaft der Physik und der Chemie.” Folgerichtig teilte denn auch Haeckel die Biologie ein in die Morphologie, d. i. Formenlehre, deren Krönung die Phylogenie war, und die Physiologie = Funktionenlehre, welche Haeckel geradezu die Physik und Chemie der Organismen nannte. Daß diese Vermaterialisierung und Vermechanisierung der Organismenwelt nicht ohne Widerspruch vor sich ging, ist begreiflich. Ganz verstummt ist er auch niemals, aber die Zeitströmung war dem zum Materialismus neigenden Werdeprozeß günstig gesinnt, und immer rücksichtsloser wurde das mechanistische Forschungsziel herausgestellt. Am rücksichtslosesten wohl von J. Loeb in seinen „Vorlesungen über die Dynamik der Lebenserscheinungen, Barth, Leipzig 1906. Er sieht „die Lebewesen als chemische Maschinen an, die wesentlich aus kolloidalem Material bestehen, und die die Eigentümlichkeit besitzen, sich automatisch zu entwickeln, zu erhalten und fortzupflanzen”.2) An anderer Stelle sagt der gleiche Forscher: „Es spricht nichts gegen die Möglichkeit, daß den technischen oder experimentellen Naturwissenschaften auch die künstliche Herstellung lebender Maschinen gelingen wird”. (Zitiert nach Schaxel)
Mit rastlosem Eifer gingen unsere bedeutendsten Biologen in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts daran, die Ernte der umfassenden Ideen einzuheimsen, bzw. andere Forscher in mühsamer Kleinarbeit die Wahrheit der materialistischen Lehren zu erweisen. Es liegt mir fern, die befruchtende Wirkung der Darwinschen Lehre und des Haeckel'schen Mechanismus auf unsere gesamten organischen Naturwissenschaften zu leugnen. Sie waren jedem Forscher der letzten Jahrzehnte bewußt oder unbewußt Richtlinie, und der Wert des Mechanismus als Arbeitshypothese dürfte wohl erwiesen sein. Das zeigt die glänzende Entwicklung der biologischen Wissenschaft in den letzten 60 Jahren. Immer weitere Kreise zogen die Wunderdinge, die da erschaut wurden, in ihren Bann. Es begann die Periode der Popularisierung der Biologie. Aber mit den Ergebnissen der Naturbeobachtung wanderten auch die materialistisch - mechanistischen Ideen in die breiten Massen, wurden nun aber nicht mehr als Arbeitshypothesen, wie sie es dem ernsten Gelehrten immer blieben, aufgefaßt, sondern als unumstößliche Wahrheiten geglaubt, als ewige Gesetze, die auch das Handeln des Einzelnen beherrschten, wenn er sich auch keine Rechenschaft darüber geben konnte. Die Halbbildung feierte Orgien und — feiert sie noch. Los und ledig aller eigenen Verantwortung — das Handeln des Menschen war ja nur ein Spiel mechanischer Kräfte, wer konnte ihn dafür zur Rechenschaft ziehen —, gibt sich der Durchschnittsmensch völlig seinen Neigungen und Trieben hin. Erziehung und Autorität schwinden in ihrem Ansehen. Der Mensch ist ja doch nur ein Produkt seiner Verhältnisse, völlig der Macht des Zufalls unterworfen und nur von Selbsterhaltungstrieb erfüllt. Der Nützlichkeitsstandpunkt ist der einzig logisch berechtigte Wegweiser im Leben. Der Egoism us herrscht. Auch die sozialen Tugenden sind nur Ausflüsse eines verfeinerten Egoismus und haben nur in den Gemeinschaften Daseinsberechtigung, wo sie auch den einzelnen Mitgliedern derselben von Nutzen sind. Nationalbewußtsein tritt hinter dem Klassenbewußtsein zurück. Der Kampf aller gegen alle wird zum Klassenkampf. „Freie Bahn dem Tüchtigen” heißt hier freie Bahn der stärksten Ellenbogennatur. Der politische Kampf nimmt die häßlichsten Formen an. Der Nutzen entscheidet, die Mittel zur Erreichung des Zieles sind gleichgültig. Rücksichten auf die menschliche Kultur brauchen nicht genommen zu werden. Die biologischen Gesetze lehren ja, daß diesem Kampf ums Dasein die fortschreitende Entwicklung der gesamten Organismenwelt, also auch der menschlichen Kultur zu verdanken ist. Vergebens sucht Haeckel in seinem Monismus die mechanistischen Denkformen zu einer wahren Sittlichkeitslehre auf „natürlicher Grundlage” auszubauen. Den schwierigen Gedankengängen vom Mechanismus und Materialismus zum „Idealismus” nachzugehen, ist nur dem Gebildeten und innerlich wahrhaft religiösen Menschen möglich. Die Masse sieht nur den Gegensatz zur christlichen Religion, deren Ethik bisher ihre Triebe im Zaum hielt.
Doch genug der Konsequenzen aus Darwins, Haeckels und der Materialisten Lehren, wie sie sich in den Köpfen der breiten Masse und der Halbgebildeten darstellen.
Ihr Wirken sahen wir schon vor, besonders aber während des Krieges in allen Schichten der Gesellschaft aller Völker, ihr Wirken sahen wir vor allem bei uns in den zur Revolution treibenden Kräften, und jetzt scheinen ihre Wirkungen unumschränkt in der Welt Geltung zu haben, bei unseren Feinden vielleicht noch mehr als bei uns.
Kehren wir wieder zurück zu den stillen Gelehrtennaturen, die in planmäßigem Schaffen unser Wissen am Weltweben zu mehren suchen. Auf die glänzende Entwicklung der Biologie in den letzten 60 Jahren habe ich bereits hingewiesen. Und dennoch sagt J. Schaxel in seiner oben erwähnten Schrift mit Recht: „Wen Liebe zu den Tieren und Pflanzen antreibt, ihr Wesen und ihre Welt kennen zu lernen, der hat von der gegenwärtigen Biologie keine Anleitung zu hoffen, auf geradem Wege in Leben und Beziehungen einzudringen. Die Wissenschaft, wie sie da ist, belasten Traditionen des Betrachtens, Deutens und Denkens, die unbefangene Erfahrung eher stören als fördern. Den Suchenden bewegt der scheinbar leitende Faden irgendeiner Theorie, der er sich wohl mehr aus Neigung als mit Gründen zuwendet, nur im Labyrinth der Meinungen umher.” Und dann beginnt Schaxel mit scharfsinniger Kritik das unmethodische Gebaren der Biologie der darwinschen und nachdarwinschen Zeit darzustellen in ihrer mehr oder weniger deutlichen Abhängigkeit von den anorganischen Wissenschaften.
Schaxel unterscheidet drei Grundauffassungen vom Lebendigen:
a) die energetische, für die alles Geschehen in der Natur, also auch im Reiche des Lebendigen nur in Änderungen der Energie in Raum und Zeit besteht,
b) die historische, die besagt, daß die Lebewesen geschichtliche Gebilde sind, indem sie ihren gegenwärtigen Zustand im Laufe der Zeit durch Umbildung erreicht haben und
c) die organismische, die im Lebendigen Naturdinge besonderen Wesens, das sind die Organismen im strengen Sinne, anerkennt.
Die energetische Grundauffassung ist nach Schaxel bezüglich der Lösung des Lebensproblems unabwendbar an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit angelangt, und, so meinen wir, ohne ihr Ziel zu erreichen. Sie scheitert an dem inneren logischen Widerspruch, der in dem Begriff eines „autonomen Mechanismus des Lebens”, einer „lebendigen Maschine”, die „Selbstbewegung”, „Selbstveränderung” und „Selbstbestimmung” hat, zu deren Annahme sich die heutigen Vertreter dieser Richtung nach Erschöpfung aller Denkmöglichkeiten gedrängt sehen. Zur Erläuterung greife ich ein Hauptproblem der Zoologie heraus, das sich vor allem die E n t w i c k l u n g s mechanik, eine in den 80er Jahren des verflossenen Jahrhunderts von dem Hallenser Anatomen W. Roux begründeter Zweig der Biologie, gestellt hat. Es ist „die Frage nach den Ursachen, den Faktoren der Gestaltung der Lebewesen, sowie von den Wirkungsweisen und Wirkungsgrößen dieser Faktoren”,(Zitiert nach Schaxel) Man hat daher auch die Entwicklungsmechanik geradezu als die Maschinentheorie des Lebens bezeichnet. Ihre konsequenteste Durchführung erfuhr sie in A. Weismanns — des berühmten Freiburger Biologen — „Keimplasmatheorie”.
Nach Weismann liegen alle später im Organismus in die Erscheinung tretenden Eigenschaften (körperliche und seelische) in dem Ei als Anlagenkomplexe (Determinanten) vor. Die Entwicklung endet mit der vollzogenen mosaikartigen Verteilung aller Anlagen auf die einzelnen Organe des Lebewesens (Erbungleiche Teilung der Eizelle und der aus deren Tochterzellen durch weitere Teilung entstehenden Körperzellen). Nur denjenigen Zellen, die zu den künftigen Keimzellen werden, verbleibt der gesamte Anlagenkomplex als geschlossenes Erbgut. Durch sie allein wird die Vererbung der Eigenschaften auf die Nachkommen gewährleistet. Die Gesamtheit der Zellen, welche während der Ontogenie den Anlagenkomplex unverändert behalten haben, wird als „Keimbahn”, von dem Körper (Soma) unterschieden. Letzterer enthält in seinen Zellen nur Teile des ursprünglichen Anlagenkomplexes, eben die, deren Eigenschaften die betreffenden Zellen in die Erscheinung treten lassen.
Folgerichtig führt diese präformistische Auffassung zur Konstanz der Arten, steht also mit der Darwinschen Lehre von der Veränderlichkeit der Formen und wohl auch mit der von Tier- und Pflanzenzüchtern gemachten Erfahrung im Widerspruch. A. Weismann greift daher zu der Hilfshypothese der Keimesauslese (Germinalselektion), nach welcher dem Anlagenkomplex im Keim jedesmal vor ihrem eigenschaftsbestimmenden Wirken Gelegenheit zu Neu- und Umbildungen gegeben ist. Diese sind aber — und das ist wieder echt mechanistisch gedacht — völlig dem Spiel des Zufalls unterworfen. Die Auslese erfolgt dadurch, daß nur die Formen wieder zur Fortpflanzung und daher Vererbung der Neuerwerbungen des Anlagekomplexes kommen, welche eben durch ihren Anlagekomplex in der Lage sind, dem sich entwickelnden Organismus solche Eigenschaften zu übermitteln, die ihn den Kampf ums Dasein bestehen lassen. Vererbung von Eigenschaften, die vom Soma im erwachsenen Zustande erworben werden, lehnt Weismann scharf ab. Die Anpassungen an die Lebensbedingungen der Umwelt sind keine gerichteten, zweckmäßigen Erscheinungen, sondern nur eine Folge zufälliger Keimesveränderungen. So weit scheint alles sich dem energetischen Prinzip zu fügen. Nur die Ursachen der Keimesveränderungen sind nicht erklärt. Der „Zufall” will uns nicht befriedigen. Hier setzt die „Autonomie des Lebens” ein. Der Organismus zeigt die Fähigkeit zur „Selbstveränderung”, eine Eigenschaft, die kein anorganischer Stoff zeigt. Das Gesetz von der Erhaltung des Stoffes ist durchbrochen. Soweit dieses eine Beispiel! Eine genauere Untersuchung der Erscheinungen der Anpassungen, die Wiederherstellung verlorener Organteile (Regeneration), der Fähigkeit des Organismus Störungen in seiner Entwicklung wieder auszugleichen (Regulation), der Wachstumsbeziehungen zwischen den verschiedenen Organen desselben Individuums im Laufe der Entwicklung (Korrelation), wie sie die moderne experimentelle Biologie in langen Versuchsreihen kennen gelehrt hat, haben in ähnlicher Weise die Unhaltbarkeit der Weismannschen Maschinentheorie des Lebens ergeben, ganz abgesehen davon, daß die Möglichkeit der Vererbung erworbener Eigenschaften durch Kammerers Versuchen an Feuersalamandern und neuerdings B. Durkens Versuchen an Schmetterlingspuppen trotz Weismanns Ableugnung bewiesen zu sein scheint. Näheres Eingehen hierauf würde mich zu weit führen.
Bezüglich der historischen Grundauffassung in der Biologie weist Schaxel daraufhin, daß vor allem die Unterlassung einer festen methodischen Begründung die Zweifel an ihrer prinzipiellen Berechtigung in neuerer Zeit wieder anschwellen läßt. Die Verankerung der Abstammungslehre (Transformismus) im Mechachanismus, welche Darwin und Haeckel vorgenommen hatten, erweist sich mehr und mehr als unhaltbar, und es ist nicht zu verkennen, daß die Angriffe auf den „Darwinismus” sich in erster Linie gegen die mechanistische Selektionstheorie und ihre Ergänzungs- und Zusatzhypothesen, sowie gegen das sog. biogenetische Grundgesetz richten. Hierher gehört besonders der Lamarckismus, nach dem französischen Naturphilosophen Jean Baptiste Lamarck benannt, dessen Sätze, „der Gebrauch stärkt die Organe, der Nichtgebrauch schwächt sie”, wohl am bekanntesten geworden sind. Während aber in diesen Sätzen noch kein direkter Widerspruch zu Darwins eigenen Anschauungen (wohl aber vielen seiner Nachfolger) liegt, tritt der Gegensatz in jenem anderen Satze Lamarcks deutlicher hervor, in welchem von dem allmählichen Entstehen von Eigenschaften oder Fähigkeiten infolge des Bedürfnisses, und zwar hervorgerufen durch den sich selbstanpassenden Organismus, gesprochen wird. Hier wird deutlich die Zielstrebigkeit (Teleologie) im Gegensatz zu dem Spiel des Zufalls in Darwins Selektionslehre zum Ausdruck gebracht.
Die Schärfe dieser Widersprüche machen es nach Schaxels Ansicht zur unabweisbaren Notwendigkeit, die historische Betrachtungsweise in der Biologie auf eine ganz neue Grundlage zu stellen. Vielleicht wird sie dann befähigt sein, Fragen zu bewältigen, die für die energetische Auffassung unfaßlich bleiben müssen.
Besonders lesenswert sind Schaxels Ausführungen über die organismische Grundauffassung vom Lebendigen. Ihr Ursprung liegt nach ihm in der gleichen Erkenntnisquelle, aus der der unbefangene und unbelehrte Mensch schöpft, wenn er etwas als lebendig bezeichnet. In allen Lebenstheorien, die sich nicht wie der strenge Materialismus selbst verleugne, spricht die organismische Grundauffassung mit. Andererseits aber verfügt die Biologie über eine ganze Reihe nur ihr angehörender Fragestellungen, die sich aus gewissen Hauptbegriffen ableiten lassen, die den anorganischen Wissenschaften völlig fremd sind.
Solche sind : Autonomie, Einheit, Ganzheit, Individualität, Organismus, Seele (Entelechie), Zielstrebigkeit, Typus, Regulation, Potenz (d. i. Fähigkeit zur Entwicklung zu einem bestimmten Ziele), Determination (d. i. Vorausbestimmtheit für einen gesetzten Zustand), Korrelation, Mittel (d.i. „Alles das, was zur Herstellung und zum Betriebe des Organismus dient” und den energetischen Gesetzen unterworfen ist. — Für die strengen Energetiker gibt es diesen Begriff natürlich überhaupt nicht, da ja alles den Energiegesetzen gehorcht, bzw. für den Energetiker gibt es nur Mittel).
Die folgerichtige Erfassung dieser Begriffe und der daraus zu folgernden Probleme führen nun unbedingt zur organismischen Grundauffassung, zu der Annahme einer Lebenskraft, Entelechie, Psychoid, Seele oder mag man den elementaren organischen Naturfaktor nennen, wie man will, kurz zum Vitalismus. An einigen der obengenannten Begriffe glaube ich, es in den vorangegangenen Zeilen bereits erwiesen zu haben, zum mindesten, daß weder die energetische (d. h. mechanistische) noch die historische Grundauffassung in ihrer mechanistischen Verankerung ihnen völlig gerecht werden kann. Im übrigen muß ich auf Schaxels Schrift selbst verweisen.
Zum Schluß nur noch einen Satz Schaxels, der mir die augenblickliche Krise in der Biologie in ihrem Wesen zu kennzeichnen scheint: „Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts schaffte der Materialismus für die Biologie, die noch nicht wieder aufgehobene Verquickung organismischer und energetischer Denkelemente unter dem rücksichtslosen Druck dogmatischer Forderungen. Gleichzeitig leiten Darwins um Überkommenes unbekümmerte Anregungen die historische Auffassung der Lebewesen ein. Es beginnt das in der Gegenwart auslaufende Ringen der Kräfte, an dem unsere Arbeit teilnimmt.”
Es ist aber zugleich auch das Ringen um die gedankliche Beherrschung der menschlichen Kultur. Materialismus und Utilitarismus auf der einen, Idealismus auf der anderen Seite. In der Biologie spitzt sich dieser Kampf zu unter dem Ruf hie Mechanismus, hie Vitalismus. Ersterer schien bereits auf der ganzen Linie gesiegt zu haben. Aber immer größer wird, vor allem unter den jüngeren Biologen, die Zahl der Vitalislen (mögen sie sich als Neovitalisten, Psycholamarckisten bezeichnen oder mehr dem intuitiven Vitalismus eines Bergson ergeben sein) seit H. Driesch in seiner Schrift: „Die Biologie als selbständige Grundwissenschaft, Leipzig, Engelmann 1893 die logischen Prinzipien zu seinem „kategorischen Vitalismus” legte. (Wobei nicht verkannt werden soll, daß vielfach der Vitalisnnus oft noch mit mechanistischen Denkelementen arbeitet.)
Und es ist wieder ein Zeichen für die Richtigkeit des Hegelschen Wortes vom Fortschreiten der Geschichte in Gegensätzen, wenn diejenige Wissenschaft, welche wohl von anderen den Materialismus als wissenschaftliche Erkenntnis in den Augen der breiten Masse gestützt hat, in dem Augenblick sich vor ihm deutlich abzuwenden beginnt, wo dieser in der Kulturwelt seine größte Machtentfaltung zeigt.
Geschrieben an dem Tage, an welchem Ernst Haeckels Asche der Erde überantwortet wurde.
------- ENDE --------
Erstellt am 17.02.2012 - Letzte Änderung am 17.02.2012.