Aus der „Naturwissenschaftliche Wochenschrift„, Organ der Deutschen Gesellschaft für Volkstümliche Naturkunde in Berlin, begründet von H. Potoniß, herausgegeben von Prof. Dr H. MIEHE in Berlin, Neue Folge. 18. Band, (der ganzen Reihe 34. Band), JANUAR — DEZEMBER 1919, JENA VERLAG VON GUSTAV FISCHER 1919.
Heute besteht in den Naturwissenschaften, den exakten wie den beschreibenden, und der ihnen nächstverwandten Wissenschaft, der Mathematik, ein reges philosophisches Interesse, und es ist daher natürlich, wenn die Vertreter und Freunde dieser Disziplinen von Zeit zu Zeit, sei es von einem einzelnen Problem geführt, sei es im Blick auf das Ganze ihres Gebietes, sich in philosophischen Dingen umsehen. Diese immer noch zunehmende Bedeutung der Philosophie ist neuerdings auch von offizieller Stelle anerkannt durch die Betonung, welche die philosophische Ausbildung in der neuen Prüfungsordnung für die Kandidaten des höh. Lehramts erfahren hat.
Dieses Eindringen der Philosophie wurde verursacht einerseits durch den Aufschwung der Naturwissenschaft im allgemeinen, sodaß es notwendig wurde, ihre Stellung im Gesamtgebiete des Geistesleben näher zu bestimmen und ihre Leistungsfähigkeit für das Ganze einer Weltanschauung abzuschätzen; andererseits durch die Verfolgung gewisser Einzelprobleme, welche auf die Grundlagen der Logik und Erkenntnistheorie zurückzugehen zwangen.
Von der gewaltigen Höhe, zu der sich die Forschung in unserem „naturwissenschaftlichen Zeitalter ” emporgeschwungen hatte, glaubte sie sich berechtigt, ein umfassendes Weltbild zu entwerfen und die letzten Welträtsel zu lösen. Wer erinnert sich nicht an die mächtige, im vorigen Jahrhundert über Deutschland hereinbrechende Welle des Materialismus, der in Kraft und Stoff die einzigen Substanzen der Welt sah und alle Lebensvorgänge, auch die Erscheinungen des Seelenlebens, mit dem Mechanismus von Atombewegungen erklären wollte. Die „ Überwindung des naturwissenschaftlichen Materialismus ” führte zu dem — weit genialeren — energetischen Weltbilde (Ostwald), in welchem die unklaren Vorstellungen von Materie und Kraft durch den exakten und viel umfassenderen Energiebegriff abgelöst waren, ohne daß aber dieses Wehbild mit jenen Unklarheiten auch zugleich die prinzipiellen Mängel solcher einseitigen Metaphysik überwunden hätte.
Wenn heute im allgemeinen von seiten der Naturforscher jene metaphysischen, d. h. über das tatsächlich naturwissenschaftlich Erforschte willkürlich hinausgehenden Naturphilosophien abgelehnt werden, so ist dafür ein Hauptgrund die Tatsache, daß wie wir schon sagten, innerhalb der Einzelforschung selbst an gewissen Stellen eine philosophische Vertiefung notwendig wurde, die ihrerseits die philosophische Kritik bei den Naturforschern wachrief. Diese Probleme sind heute ungemein zahlreich und stehen zum Teil im Vordergrund der wissenschaftlichen Erörterung, teils haben sie eine längere Entwicklung hinter sich. Nur einige Beispiele. In der Geometrie nehmen wir nicht mehr, wie die Alten, eine Anzahl von Grundsätzen als selbstverständlich hin und deduzieren von da. Was ist die Natur der geometrischen Axiome? Dies ist eine Frage, welche auch die Philosophie angeht, da sie auf den Ursprung unseres Erkennens zurückgreift. Ist die Geometrie, weit entfernt, eine bloße Ausspinnung reiner Denkbeziehungen zu sein, etwa auch eine Naturwissenschaft, basiert auf die Erfahrung, nur daß diese Erfahrungen viel allgemeinerer Art und leichter zu machen sind als etwa diejenigen der Physik und Chemie? Tatsächlich sind ihre Axiome, wo sie nicht einfach nur Definitionen enthalten, willkürliche, aber durch die Erfahrung als zweckmäßig nahegelegte Festsetzungen. Kein Wunder also, daß der Beweis des berühmten Euklidischen Parallelenaxioms so lange vergeblich gesucht wurde, bis hier, ähnlich wie bei der Konstruktion des perpetuum mobile, aus dem negativen Ergebnis eine positive Erkenntnis wurde.
Mit der zunehmenden Genauigkeit der Messungen könnten sich also solche Axiome sehr wohl als nur angenähert brauchbar erweisen. Hier ergeben sich Ausblicke auf ganz neue Geometrien; wie sie in der Tat von der Wissenschaft bereits ausgebaut sind.
Auch die strenge Begründung der Arithmetik erfordert, ähnlich wie die der Geometrie, eine tiefere logische Durchdringung. Die neuere Mathematik endlich unterscheidet sich von der griechischen dadurch, daß sie freier mit dem Begriff des Unendlichen operiert; eben damit aber hat sie eine ewige crux der Mathematiker und der Philosophen eingeführt. Die Antinomien des Unendlichen haben seither nie aufgehört, die Geister zu beschäftigen.
In der Physik kommt man zunächst scheinbar ohne philosophische Untersuchung aus. Aber schon die Analyse des Trägheitsgesetzes, das auf die Voraussetzung einer absoluten Bewegung führt, häuft die Schwierigkeiten und beschwört die heute lebhafte Diskussion über die fundamentalen Begriffe Raum und Zeit herauf Die Entwicklung, welche die physikalische Erklärung der Erscheinungen der verschiedenen Sinnesgebiete durchmacht, der Streit zwischen dem mechanischen und elektrischen Bilde der Außenwelt, ist auch von philosophischer Bedeutung. Die Astronomie ist die Geburtsstätte desjenigen Begriffs, der seit Kepler die Naturforschung beherrscht: das ist der Begriff des aus der Erfahrung abgeleiteten „Naturgesetzes ”. Der Sinn der Naturgesetzlichkeit führt, namentlich durch den Konflikt mit der Willensfreiheit, zu einem berühmten philosophischen Problem. Aber auch die beiden aktuellsten Einzelprobleme der gegenwärtigen Physik, die man mit den Schlagworten Quantentheorie und Relativitätsprinzip andeuten kann, greifen mit ihren eigenartigen Vorstellungen in die letzten Grundbegriffe unserer Weltanschauung hinein. — Die Probleme, welche die Chemie über die Struktur der Materie aufgibt, fallen hinsichtlich ihrer philosophischen Bedeutung mit denen der Physik zusammen, Die biologischen Wissenschaften enthalten wieder eine große Zahl philosophisch wichtiger Probleme, in dem Maße, als sie dem schließlichen Ausgangs- und Endpunkte aller Philosophie — dem menschlichen Leben — näher kommen. Hier der Streit zwischen Mechanismus und Vitalismus, und die damit eng zusammenhängende Frage nach der Entstehung des Lebens, hier vor allem der über das engere Gebiet weit hinaus einflußreiche Entwicklungsgedanke. Die Psychologie endlich ist durch ihre grundsätzlichen Fragen nach dem Verhältnis zwischen Geist und Körper so eng mit der Philosophie verwachsen, daß ihre Abtrennung zu einer selbständigen Naturwissenschaft erst in jüngster Zeit und noch immer nicht vollständig erfolgt ist.
So bemächtigt sich die Philosophie in allen Einzelwissenschaften der Mitarbeit an gewissen Problemen. Diese Verschmelzung reiht sich ein in eine allgemeinere Erscheinung, die wir in unserer Zeit beobachten können: trotz aller Spezialisierung auf der einen Seite finden andererseits immer neue Synthesen zwischen den verschiedensten Gebieten statt; ihre Grenzen verwaschen sich, es entstehen Mischdisziplinen von zum Teil hervorragender Fruchtbarkeit. Als typisches Beispiel kann heute die physikalische Chemie gelten. Zweifellos müssen die Förderer dieser Gebiete besonders vielseitig sein, wie dies an dieser Stelle 1) Auerbach kürzlich ausgeführt hat; es müssen universelle Forscher sein vom Schlage eines Helmholtz, des Begründers der physiologischen Optik.
1) Auerbach, „Zur physiologischen Optik ”, Naturw. Wochenschr. N. F. XVU. S. 599 fif.
Es wäre übrigens ein Irrtum, anzunehmen, daß die Verschwesterung der Philosophie mit den Einzelwissenschaften nur für die Gegenwart charakteristisch sei. Wenn auch zu verschiedenen Zeiten in wechselndem Maße, so hat doch immer wieder ein Kontakt zwischen beiden stattgefunden, der oft prinzipielle Fortschritte gebracht hat. So zeigt es die älteste der Wissenschaften, die Mathematik: Ihre größten Fortschritte, so urteilt der berühmte Historiker dieser Wissenschaft, H. Hankel, waren die pythagoräische Entdeckung des Irrationalen, Plato's Einführung der analytischen Methode, Descartes' analytische Geometrie und Leibniz' Differential- und Integralrechnung; und alle vier Leistungen verdanken wir Forschern, die gleichzeitig hervorragende Mathematiker und unsterbliche Philosophen gewesen sind.
Es ist also nur natürlich, wenn von naturwissenschaftlicher Seite der Philosophie Aufmerksamkeit geschenkt wird. Nun aber ist die Philosophie in ihrer Entwicklung eigene Wege gegangen, es haben sich bestimmte keineswegs miteinander übereinstimmende Richtungen herausgebildet; an welche wird sich der Naturwissenschaftler anlehnen? Von vorn herein ist nicht zu erwarten , daß sie alle in ihrem Verhältnis zur Naturwissenschaft gleichwertig sind.
Die bunte Mannigfaltigkeit des ersten Eindruckes beim Betrachten der philosophischen Richtungen weicht alsbald einer ausgeprägten Gruppierung in zwei vorherrschende Typen, die natürlich durchaus nicht immer unvermischt auftreten. Wir schalten dabei diejenigen unkritischen Systeme aus, welche überhaupt keine Erkenntnistheorie zulassen, wie z. B. jene eingangs erwähnten Naturphilosophien. Von den kritischen Richtungen hält sich die eine an die positiven, gegebenen Tatsachen und hat daher den treffenden Namen Positivismus erhalten; sie verwirft die Einmischung aller über die unmittelbare Gegebenheit hinausgehenden, metaphysischen Vorstellungen, sie stellt sich ganz auf den Boden einer einheitlichen, „monistischen ” Erkenntnisquelle: der Erfahrung. Von hier aus sucht sie die Erkenntnistheorie, die Ethik, die Kulturphilosophie zu begründen und eine gesamte Welt- und Lebensanschauung zu geben.
Das Gegenstück bildet jede Richtung, die den Boden der positiven Tatsachen verläßt, und hier sind natürlich weit mehr Mannigfaltigkeiten möglich. Nach dem ersten System, welches diese Richtung verkörperte und wegen der Vollkommenheit seines Baues und der Wucht seiner geschichtlichen Wirkung als typischer Vertreter gelten kann, nach der Lehre Plato's, pflegt man diese Tendenzen unter dem Namen Idealismus zusammenzufassen. Wir können uns hier eine genauere Definition, die notwendig mit einer ausführlichen Analyse der klassischen Philosophie verbunden wäre, ersparen. Jeder pflegt bei der Lektüre eines philosophischen Werkes sehr bald ein Gefühl dafür zu haben, welcher Richtung ein Denker vorwiegend angehört. Immer dort, wo von „absoluten” Wahrheiten die Rede ist, wo von der Erfahrung unabhängige, „a priorische ” Erkenntnisformen nachgewiesen werden, wo, sei es offen, sei es versteckt, auf die metaphysischen Wurzeln des Denkens zurückgegangen wird, liegt diese Richtung vor.
Im allgemeinen läßt sich nun sagen, daß der Positivismus ein weit innigeres Verhältnis zu den Naturwissenschaften einnimmt. Es ist daher nicht verwunderlich, daß wir die großen philosophierenden Naturforscher unserer Zeit vorwiegend im positivistischen Lager antreffen. Hier stehen z. B. die großen Physiker wie Kirchhoff, der das Ziel der Physik in einer möglichst einfachen und vollständigen Beschreibung der Vorgänge sah; wie Maxwell, Hertz und nicht zuletzt Ernst Mach, einer der wenigen Naturforscher, die einen philosophischen Lehrstuhl innehatten und so gleichsam persönlich die Synthese zwischen Naturwissenschaft und Philosophie verkörpern. Ernst Mach hat mit seinem Kampf gegen metaphysische Vorstellungen eine dauernde Wirkung, mit seiner auf das Prinzip der „Ökonomie des Denkens ” gegründeten Erkenntnistheorie einen ziemlich ausgedehnten Einfluß auf die Gegenwart ausgeübt. Von den Vertretern der biologischen Wissenschaften nennen wir hier den Physiologen Verworn, dessen Kritik des Kausalbegriffes und sonstige philosophische Erörterungen sich ganz im positivistischen Sinne halten. — Einer der Größten, Helmholtz, bekennt sich zwar als Kantianer, aber seine Auffassung ist in Wahrheit von der transzendentalen Erkenntnislehre Kant's weit entfernt; überdies ist das Kantische System selbst, das auf den ersten Eindruck wie aus einem Guß erscheint, von den widersprechendsten Tendenzen durchsetzt; es finden sich bei Kant so viele positivistische Seiten, daß ihn einer der treuesten Schüler Comtes (des Begründers des neueren Positivismus) sogar als einen Vorläufer seines Meisters betrachten konnte.
Auf der anderen Seite steht der Idealismus den Naturwissenschaften fremder gegenüber. Seine Stärke liegt mehr auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften und der Kulturprobleme; außer in der Erkenntnistheorie wirkt er erfolgreich in der Begründung der Ethik, der Rechtsphilosophie, der Kunst, der Religion. Durch die Erkenntnistheorie kommt auch der Idealismus mit den Naturwissenschaften in Berührung, aber seine Wirkung auf sie ist sichtbar geringer. Unter den selbständig philosophischen Naturforschern findet man weit weniger Vertreter der idealistischen Richtung.
Die idealistischen Philosophen pflegen heute die Naturwissenschaften keineswegs gering zu achten. Es scheint, als wollten sie die Fehler wieder gut machen, welche der Idealismus in seiner letzten Blüteperiode begangen hat. Durch diese, namentlich durch Schelling und Hegel, war die Philosophie bei den Naturforschern in Mißkredit gekommen. Die neue idealistische Bewegung ging, wie die klassische, von Kant aus, aber sie nahm eine mehr kritische Entwicklung. Die einflußreiche Marburger Schule mit den Führern Cohen und Natorp hat in ihrer Erkenntnistheorie sogar gewisse mathematisch-naturwissenschaftliche Probleme in den Vordergrund gestellt. Auch sonst wird von idealistischer Seite der prinzipielle Unterschied zwischen Natur- und Kulturwissenschaften herausgearbeitet. Indessen so scharfsinnig und geistvoll oft die hier vorgebrachten Gesichtspunkte sind, haben sie sich doch nicht mit den lebendigen Naturwissenschaften amalgamieren können.
Es bleibt aber immer noch für den Naturwissenschaftler wertvoll, gelegentlich in einzelne dieser oft tiefgreifenden Spekulationen einzudringen. Hier mag, neben den uns näher stehenden deutschen Forschern, auf den kürzlich (Oktober 1918) verstorbenen französischen Philosophen Emile Boutroux hingewiesen werden, der übrigens ein vortrefflicher Kenner des deutschen Geisteslebens war; bedauerlicherweise hat er während des Krieges nicht immer die objektive Haltung gegen Deutschland gewahrt. Dieser Denker hat in einer Aufsehen erregenden Arbeit „De la contingence des lois de la nature ” das Problem Naturgesetz und Willensfreiheit in origineller Weise angegriffen, die einer Weiterentwicklung fähig ist und auch in weiteren Kreisen bekannt zu werden verdient. Hier kann auf die speziellen philosophischen Untersuchungen nicht eingegangen werden.
Der Positivismus hat also für den Naturwissenschaftler von seinem Standpunkte aus einen Vorzug, aber gerade darin liegt eine Gefahr. Dem Positivismus ist es bisher nicht gelungen, ein befriedigendes Weltbild aufzustellen; schon die Begründung der Ethik stößt wie es scheint, auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Diese entgehen oft demjenigen, der der Philosophie nur von ferne folgt. So bewirkt der Posivitismus für alle, die über die Einzelforschung hinaus das Streben nach einer einheitlichen Weltanschauung nicht verloren haben, die Gefahr der Einseitigkeit oder aber jenes Zwiespaltes, der zwischen naturwissenschaftlichen und ethisch-religiösen Dingen eine unüberwindliche Kluft errichtet.
Hier ist es nun von Interesse, daß gegenwärtig versucht wird, den Gegensatz zwischen Positivismus und Idealismus zu überbrücken und zwischen den aus den Naturwissenschaften gewonnenen positivistischen Anschauungen und den damit unverträglichen, von den Idealisten betonten Forderungen des ethischen Lebens eine Synthese herzustellen. Ein Versuch, der sich dieses Ziel von neuem stellt, kann, außer der Aufmerksamkeit der Fach-Philosophen, auch das Interesse der Naturforscher beanspruchen.
Dieser Versuch ist gemacht in einem eigenartigen, in kurzem berühmt gewordenen Werke „Die Philosophie des Als ob ” 2) von Hans Vaihingen Es gehört zu jenen bemerkenswerten Werken der Philosophie, die, wie Leibniz' Essais, durch Zufall erst lange Zeit nach ihrer Entstehung ihren Weg in die Öffentlichkeit gefunden haben und dann doch von einer außerordentlichen Wirkung gewesen sind. Es begründet eine Synthese zwischen den beiden sich bekämpfenden Strömungen, einen „idealistischen Positivismus ”; der Standpunkt, den das vor etwa 40 Jahren geschriebene Buch vertritt, ist durch die seitherige Entwicklung von Wissenschaft und Philosophie mehr und mehr provoziert worden, so daß die Weiterarbeit in dieser Richtung,3) die von Vaihinger angekündigt wird, sehr aussichtsreich erscheint.
2) 191 1; 3. Aufl. 191S, Leipzig.
3) In den „Annalen der Philosophie ” (Im Erscheinen.)
Vaihinger's eigenartiger Standpunkt ist, daß eine Kritik des Wahrheitsbegriffes zu seiner Aufhebung führt. Nicht nur die absolute Wahrheit der Idealisten ist sinnlos, sondern streng genommen jeder Wahrheitsbegriff überhaupt. Eine Vorstellung hieß wahr, wenn sie mit ihrem Gegenstand übereinstimmt; diese „Übereinstimmung ” aber ist tatsächlich nirgends vorhanden, weil sie unmöglich ist. Wenn sich eine Vorstellung „bewährt ”, so ist ihre Anlehnung an die Wirklichkeit oft am wenigsten die Ursache dazu. Wo finden wir imaginäre Zahlen, unendlich kleine Größen, ausdehnungslose Massenpunkte? Wir arbeiten im Gegenteil oft mit unwirklichen, notorisch falschen Begriffen und kommen doch damit zu richtigen Resultaten. Die bisherige Logik hatte besonders die Schlußweisen gepflegt, die ihren alten, traditionellen Regeln entsprachen. Vaihinger richtet umgekehrt seinen Blick auf die Wege des Denkens, welche nicht in das alte Schema passen. Er verhält sich hier wie der Naturforscher, der instinktiv fühlt, daß gerade dort, wo ein Experiment nicht mit dem Erwarteten stimmt, der Hebel zu neuen Entdeckungen verborgen liegt.
Die Gedankenwendung, welche Vaihinger studiert und nach der er sein Werk benennt, läßt sich auf die Formel bringen: ein Begriff A wird betrachtet, als ob er B wäre. Vaihinger untersucht ihre Bedeutung. Mit diesem falschen Begriff, mit der „Fiktion ”, kommen wir auf Umwegen zu richtigen Ergebnissen. Diese Fiktionen sollen nicht wahr sein; es genügt, wenn sie zweckmäßig sind. So merkwürdig es nun klingt, Vaihinger zeigt in seinem Buche, daß diese Fiktion der Typus alles Denkens ist. Die alten Schlußweisen, die Allgemeinbegriffe, der Syllogismus, enthalten im wesentlichen neue Fiktionen. Sie sind zweckmäßig, d. h. für uns wahr. Es gibt also keine neue Wahrheit, die entdeckt werden müßte; sie muß erfunden werden. Natürlich betrifft dies nicht die positiven Tatsachen selbst, das wirklich existierende Mit- und Nacheinander der Sinnesempfindungen; aber schon jeder abstrakte Begriff geht darüber hinaus, verfälscht die Wirklichkeit und formt aus jenem Rohmaterial einen Baustein zu einer fingierten Außenwelt.
Es scheint, als sei dieser Positivismus noch radikaler als der gewöhnliche und noch weiter vom Idealismus entfernt. Aber eben diese Aufhebung der Wahrheit im gewöhnlichen Sinne läßt Raum für Ideen, welche dem positivistischen Standpunkt sonst widersprechen. Formal ist z. B. die Fiktion der Willensfreiheit nicht unrichtiger und nicht unberechtigter als die ihr entgegenstehende der Naturnotwendigkeit. Die Begriffsgebilde der Religion, auf ihrem Gebiete angewandt, können so wenig widerlegt werden wie die Axiome der Geometrie, die man in einem bestimmten Bereich als zweckmäßig gewählt hat.
Es kann hier nicht auf eine Kritik dieses radikalen Standpunktes eingegangen werden, zumal hierüber in der Philosophie noch keineswegs das letzte Wort gesprochen ist. Jedenfalls wird in V a i h i n g e r's Werk das Problem, die Forderungen des Idealismus mit den einseitigen Beschränkungen des Positivismus in Einklang zu bringen, in denkbar deutlichster Weise hervorgehoben. Es ist möglich, daß die besondere Lösung dieses Problems und der Beweisgang Vaihinger's der weiteren Analyse nicht standhalten wird. Es könnte sehr wohl sein, daß der extreme „Fiktivismus ” abgelehnt werden müßte und man sich auf die Fiktionslehre zu beschränken hätte.
Diese Methodologie der Fiktionen bleibt aber ein unverlierbares Ergebnis. Es gibt kaum ein philosophisches Werk, das eine solche Anzahl aus den Einzelwissenschaften herausgegriffener Begriffe analysiert und den Kennern dieser Disziplinen eine solche Fülle von Anregungen bietet.
Klarheit über Denkmethoden ist immer auch von pädagogischem Wert; diese pädagogische Seite der Philosophie des Als-ob ist bisher noch nicht genügend hervorgehoben worden. Ich erinnere mich aus meiner Schülerzeit der Frage eines Mitschülers in einer Mechanikstunde der Prima: wie soll ein ausdehnungsloser Massenpunkt, den es nirgends gibt, uns doch zu richtigen Formeln führen? Dies war nichts anderes als in concreto das Ausgangsproblem der Philosophie des Als-ob. Die Einsicht in die fiktiven Wege des Denkens räumt viele scheinbaren Schwierigkeiten für den Lernenden mit einem Schlage hinweg, so, wie sie den Forscher von zahlreichen Scheinproblemen befreit.
Einen besonders hervorragenden Platz nimmt in den Erörterungen Vaihingers die mathematische Fiktion des Unendlichkleinen ein. Mit diesem widerspruchsvollen Begriff erreicht man doch richtige Resultate, weil der erste Fehler durch einen entgegengesetzten aufgehoben wird. Vaihinger erhebt die alte Berkeley'sche Theorie der Fehlerkompensation zu einem allgemeinen Denkprinzip, das den Mechanismus aller Fiktionen beherrscht.
Es besteht ein scharfer Unterschied zwischen Fiktion und Hypothese und diese Scheidung ist ein wesentlicher Punkt der Fiktionslehre. Eine Hypothese sucht die Wirklichkeit darzustellen, eine Fiktion ist nur ein logisches Hilfsmittel, eine Vorstellung, der nichts Wirkliches zu entsprechen braucht. Hypothese und Fiktion gehen historisch oft ineinander über. (Vaihingers Gesetz der Ideenverschiebung.) Die elektromagnetische Lichttheorie ist eine Hypothese, denn sie behauptet, daß die Strahlungsvorgänge wirklich in elektromagnetischen Störungen bestehen; die alte Ondulationstheorie ist deshalb aber, besonders didaktisch, durchaus nicht wertlos geworden, sondern eine einfache, anschauliche Hilfsvorstellung; doch vermag sie nicht mehr alle bekannten Erscheinungen darzustellen. Sie ist heute zu einer Fiktion degradiert worden. — Die geradlinige Ausbreitung des Lichtes hat zu dem Begriff des Lichtstrahls geführt. Aber ein solcher hat keine reale Existenz. Versucht man, aus einem Strahlenbündel einen immer kleineren Querschnitt herauszuschneiden, so gelingt dies nicht, weil bei engen Offnungen das Licht sich nicht mehr geradlinig ausbreitet; es entsteht, als Folge seiner Wellennatur, das bekannte Phänomen der Beugung. Trotzdem behält für viele Vorgänge die Fiktion des Lichtstrahls ihren großen Wert. Das Licht verhält sich dann so, „als ob ” es aus unendlich vielen geradlinigen Strahlen zusammengesetzt wäre.
Es gibt viele Erscheinungen, die sich dadurch einfach und anschaulich darstellen lassen, daß sie aus zahlreichen oder unendlich vielen fiktiven Elementen zusammengesetzt gedacht werden. Die Anwendung der Fiktion kommt also auf ein Summations- oder Integralprinzip hinaus. Die wirklichen Elemente können ganz anderer Art sein, aber ihre Summation ergibt dasselbe Resultat. So läßt sich die Fiktion eines Lichtstrahlenbündels nur deshalb anwenden, weil die wirklichen Wellen (nach dem Huygen'sehen Prinzip) in einem Punkte des Schattenraumes durch Interferenz in ihrer Gesamtintensität die Summe Null ergeben. Ähnlich kann man die magnetische Wirkung eines linearen elektrischen Stromes so berechnen, „als ob ” jedes unendlich kleine Stromleiterstück ein magnetisches Feld erzeugt, das unter anderem dem Entfernungsquadrat umgekehrt proportional ist. (Gesetz von BiotSavart). Dieses Fernwirkungsgesetz führt durch Integration auf die gleichen Formeln, welche sich aus der elektromagnetischen Theorie Maxwells ergeben. — Die kinetische Gastheorie leitet die Gasgesetze her durch elementare Berechnung des Druckes eines Gases aus dem Anprall der Moleküle gegen die Gefäßwände. Diese Berechnung kann, nach Joule, ganz einfach erfolgen, indem man die Stöße der Moleküle gegen die Wände eines Würfels betrachtet und dabei sich die Bewegung der Moleküle so denkt, „als ob ” sie 1. mit gleicher Geschwindigkeit und 2. nur in den drei Richtungen der Würfelkanten erfolgte - obwohl dies offenbar gezwungene und physikalisch unmögliche Annahmen sind. Beides sind Fiktionen, die der Wirklichkeit nicht entsprechen, aber sie führen doch zu dem wahren Gesetz. In der Tat hat Clausius gezeigt, daß man bei Zulassung aller möglichen Richtungen, wie sie der Wirklichkeit entsprechen, durch Integration zu genau dem gleichen Resultate kommt. Maxwell hat auch die Geschwindigkeit nach wahrscheinlichkeitstheoretischen Gesichtspunkten variiert, und es zeigt sich, daß man auch jetzt zu den gleichen Formeln gelangt, wenn das Quadrat der früheren einheitlichen Geschwindigkeit nunmehr das mittlere Geschwindigkeitsquadrat bedeutet. Durch diese Ergebnisse werden also jene vereinfachenden Fiktionen gerechtfertigt.
Den größten Triumph feiert die Fiktion, wie schon Vaihinger zeigt, in der mathematischen Wissenschaft. Ganze Disziplinen sind hier durch Erfindung einer genialen Fiktion entstanden. Die Infinitesimalrechnung, die Vektoranalysis sind Beispiele hierfür. Die erstere beruht, formal betrachtet, auf der fingierten Anwendung des Divisionszeichens, die letztere auf einer solchen des Additionssymbols. Der Hauptbegriff der ersteren ist der Differentialquotient, wodurch der Limes eines Quotienten selbst als Quotient (von „unendlich kleinen” Größen) gedeutet wird; bei der letzteren ist grundlegend der Begriff des Vektors als „Summe ” seiner Komponenten, bzw. der Begriff der sog. geometrischen Addition. Innerhalb dieser Disziplinen selbst macht man wieder oft vom fiktiven Verfahren Gebrauch; es sei erinnert an das Symbol des Hamilton'schen Differentialoperators, mit dem ganz so gerechnet werden kann, „als ob ” es selbst einen Vektor darstelle. Die fiktive Denkoperation ist in der Tat von grundlegender Wichtigkeit und ihre systematische Betrachtung in der „Philosophie des Als-ob ” bildet einen entscheidenden Fortschritt. Dieses Verdienst bleibt ihr erhalten, auch wenn die von ihr entwickelte Philosophie sich nicht als haltbar erweisen sollte und wenn somit das alte Problem, die Kluft zwischen Positivismus und Idealismus zu überbrücken, noch bestehen bleiben wird.
------- ENDE --------
Erstellt am 17.02.2012 - Letzte Änderung am 17.02.2012.