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Aus »Logos« - Zeitschrift für Philosophie der Kultur
1910 Heft 2 Seite 257 bis 260

Gefahren modernen Denkens.
Von Karl Joel (Basel).

Nicht äußere Gefahren meine ich — sie sind der verfolgtesten der Wissenschaften, der Philosophie, immer vortrefflich bekommen: die Rache für Sokrates' Gifttrank war Platons Idealstaat, die Rache für Brunos Scheiterhaufen war Galilei, die Rache für Galilei Descartes und Newton. Nein, Gefahren meine ich, die das Denken sich selber bereitet. Ist doch das Denken mit Verlaub auch ein Leben, und jedes Leben trägt tausend Tode in sich. Die drohendsten Innengefahren liegen natürlich in den eigenen Einseitigkeiten, in den Richtungsextremen. Doch sonderbar, von daher droht unserem Denken heute am wenigsten Gefahr; wir erstarren weder vor Materialismus noch fiebern wir vor Idealismus, wir plätschern in der lauen Mitte — und darin eben liegt die Gefahr. Denn in der Mitte wohnt die zentrale Kraft, aber auch die Halbheit, die Herrschaft, aber auch der Verzicht.

Das 19. Jahrhundert hat wie kein anderes die dogmatischen Extreme des Idealismus und Naturalismus durchgelebt und hat uns am Ende entlassen wie nach zwei Ausschweifungen: nun wißt ihrs, Kinder, nun seid besonnen und reif. Und da stehen wir mit aller Greisenerfahrung und allem Jünglingsmut und wissen nicht was tun. Wir verstehen jede Richtung und werden vor lauter Belesenheit eklektisch, und wir verzeihen schließlich keine Richtung mehr und werden vor lauter Kritik skeptisch. Schon droht uns die Skepsis das Letzte, Schönste zu rauben, das uns das 19. Jahrhundert vererbt: den historischen Sinn. Den ersten Streich führte Nietzsches Schrift, die vom Nutzen und Nachteil der Historie sprechen wollte, aber nur vom Nachteil sprach. Und bald wird man ein Kapitel überschreiben: das Ende einer Wissenschaft. Die Geschichte der Philosophie, von der noch Monumentalwerke aus dem 19. Jahrhundert herüberragen, verkürzt sich in Darstellungen und Kollegien mehr und mehr zu handbuchmäßigen Uebersichten und erlebt allerlei Zeichen von Nichtachtung. Die Behandlung der antiken Philosophie geht mehr und mehr in die feine Kleinarbeit der Philologen über, deren fruchtbares Zusammenarbeiten mit den Philosophen zu verschwinden droht. Und hier wie auf anderen Gebieten macht der Spezialismus gegen Ideen skeptisch.

Die Welthistorie aber sucht vielfach Anschluß und Stütze bei den Naturwissenschaften und operiert namentlich in soziologischer Richtung gern mit biologischen Begriffen, und bald werden Historiker die letzten Darwinisten sein. Doch während Historiker bei den Biologen anklopfen, wandern die Biologen selber aus zu den Physikern und werden mechanistischer als die Mechanik, Und wiederum, während die »Biomechanik« vertrauensvoll die organische Welt möglichst auf physikalisch-chemische Prinzipien und schließlich auf mathematische Formeln zu bringen sich müht, rütteln die Mathematiker selber an ihren harten Begriffen, lösen die Chemiker ihre starren Atome auf, setzen die Physiker ihre von den Biologen angebeteten Prinzipien zu ökonomischen Symbolen herab, zu provisorischen Hypothesen von bloßem Arbeitswert. So werden die Physiker Erkenntnistheoretiker und als solche immer kritischer, immer skeptischer, und damit wird die Reihe der andern Wissenschaften, die sich an sie gehängt, mitgerissen. Kein Zweifel, daß dies Verwandlungsspiel moderner Wissenschaften, ihre Sucht mit erborgten Methoden zu arbeiten, statt sich selber zu trauen, ihre Stütze immer in andern zu suchen, schließlich zur Skepsis führen muß.

Es bedarf nicht noch Mauthners sprachkritischer Skepsis, man braucht nur so grundverschiedene Namen anklingen zu lassen wie Nietzsche, Ellen Key, Shaw, Mach, jeder umschwärmt von verwandten Bewegungen, um zu erkennen, daß heute der ganze geistige Boden durch lösende Geister unterwühlt ist, der moralisch-religiöse wie der soziale, der literarische wie der wissenschaftliche. Und die moderne Chemie zersetzt uns noch den sichersten Boden, die klotzige Materie und führt uns durch einen Rausch sich überstürzender Entdeckungen und Deutungen befreiend ins Ungreifbare, ins Nebelhafte. Das Letzte tut der soeben aus Amerika und England auf den deutschen Plan getretene Pragmatismus, der ausdrücklich sichs zum Programm setzt alle Theorien zu lockern, den geistigen Opportunismus auf seine Fahne schreibt, die Wahrheit nur noch relativ gelten läßt, sie gleichsam als Mädchen für alles vermietet, sie als Wahrheit des Je nachdem in Drehung und Wandlung setzt, die Wahrheit zur Windsbraut macht.

All dies ist als Segen zu begrüßen; denn es bringt Freiheit und Fortschritt. Aber all dies wird zum Fluche, wenn es das Letzte ist. Wenn die Skepsis sich selber genügt, wird sie zu ihrem Gegenteil, zum Dogma. Wenn die Befreiung immer nur von etwas und nicht auch zu etwas befreit, wird die Freiheit zur Fessel, und es gibt nichts Intoleranteres als einen Freiheitsfanatiker. Die Freiheit ist das Herrlichste auf Erden, wenn sie zugleich Bindung, Selbstbindung ist, Autonomie. Freiheit aber ohne Bindung tobt ins Leere, verfällt schließlich der Knechtschaft, wie die Revolution Napoleon verfiel. Doch es gibt nun einmal solche Fanatiker, Menschen eines Wortes, Parolemenschen, die nicht Willen haben, die gleich Molieres Figuren Verkörperungen eines Triebes sind, destruktive Naturen, denen die ganze Welt nur ein Knoten ist, den sie zu lösen sich berufen fühlen. Aber Entwicklung ist Wechsel von Lösung und Bindung, und der immer nur Lösende ist wie ein Schneider, der immer nur schneidet, ist nicht ein Schneider, sondern nur eine Schere, ein kurz gebrauchtes Instrument der Entwicklung. Lösung und immer nur Lösung führt von selber zur Bindung, und wenn nicht zur eigenen, dann zu fremder, zur Tyrannei. Den Boden zu lockern ist gut, wenn nachher gesät wird ; sonst machts nur die Wiese zur Wüste; sonst schaufelt der immer nur Lockernde bloß sich selber das Grab. Die Steine tüchtig zu klopfen ist gut — zum Bau; aber klopfen und immer nur klopfen gibt Staub. Der Pragmatismus hat recht gegen den starren Rationalismus; aber wenn er immer nur Theorien lockert, hebt er schließlich die Theorie auf; wenn er immer nur je nach dem praktischen Bedürfnis wechselnder Weg zu allen Lehren, immer nur »Korridor« sein will — in einem Korridor kann man nicht wohnen, und so muß der Pragmatismus sich selbst überwinden. Wenn er die Theorien stets den praktischen Interessen unterwirft, so erklärt er das sacrificium intellectus in Permanenz; wenn er die Wahrheit zum Mittel herabsetzt, so muß der Zweck das Mittel heiligen, so ist der vollendetste Pragmatist der Großinquisitor.

Es ist die größte Verblendung zu meinen, daß die Skepsis sich selber genüge. Sie ist nur die laute Negation zu einer stillen Position. Sie kommt mit einem Rückhalt, sie lockert mit einer festen Waffe. Sie schwächt einen Glauben aus einem oder für einen stärkeren Glauben, und der Zweifel war immer der beste Weg zum Glauben. Der Begründer der antiken Skepsis, Pyrrhon, war Oberpriester, und gleich ihm forderten die Begründer der modernen Skepsis, Montaigne und der bischöfliche Großvikar Charron Anerkennung der geltenden Glaubensmeinungen. Ob nun die reine Skepsis dem Denken das Selbstvertrauen nimmt, ob der Pragmatismus das Denken den praktischen Interessen, ob Nietzsche es den Instinkten, Mach es den Empfindungen unterwirft, es liegt in alledem eine Herabsetzung des Denkens — und des freut sich die Reaktion, der nichts erwünschter ist als eine dienende Demut des Denkens, als die philosophia ancilla. So erwachsen dem modernen Denken gerade aus seinen frischesten, fortschrittlichsten Trieben die größten Gefahren, so droht gerade aus der Befreiung die Knechtschaft. Die Modernen meinen das Denken zu befreien, aber sie befreien vielmehr das Leben auf Kosten des Denkens. Sie haben recht gegen den Rationalismus, der das Denken selbstherrlich vom Leben abschnürt oder gar die Allmacht des Denkens über das Leben proklamiert. Aber sie haben Unrecht, wenn sie das Gegenteil tun, wenn sie die Flut des Lebens über alles Denken wegströmen lassen, wenn sie es ganz dem Leben unterwerfen. Doch die Wahrheit will nicht vergewaltigen; sie will, daß beiden Teilen Genüge geschehe, daß das Denken selber ein Leben sei, ein Faktor, eine besondere Hochform des Lebens, und das Heil liegt darin, daß Leben und Denken sich organisch durchdringen, sich gegenseitig bereichern in wechselnder Führung und Hingebung. Aber das Denken kann dem Leben nur spenden, wenn es im Gesamtorganismus des Lebens sich als selbständiges Organ auswächst und erhält, wenn es nicht bloß der Flut des Lebens nachgebend sich löst und erweicht und zersetzt, sondern das nutende Leben auch formt und bindet, wenn es seinen Inhalt zur Gestalt bringt, wenn es sich erhebt zum Bau, zum System.


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Erstellt am 09.10.2015.