Wanderungen durch die Heimat. Teil 2 - Landsberger Heimatblatt 1991 Nr. 3 S.04-09
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Wanderungen durch die Heimat
Tagebuchaufzeichnungen von Landsberg über Groß-Cammin bis Küstrin
von Helga Müller
Fotos und Text von Helga Müller
1. Teil

Fortsetzung aus Heft Nr. 2

Freitag, 10. August 1990:
Im Zug placiere ich notgedrungen meinen Rucksack auf dem Dienstsitz. Der Zugbegleiter lächelt, zustimmend. - Noch einnal Wepritz, Loppow, Gennin, Dühringshof, Döllensradung. Jetzt könnt gleich Vietz. Ich höre Omas und Opas Stimmen. Sie erzählen; von Vietz, Cannän, Blumberg, Zicher, Batzlow,bei jeden längeren Beisammensein. Auch sie haben nicht losgelassen. Und jetzt: ich hier! in Zug, kurz vor Vietz. Mir ist zum Heulen, und voller Spannung - mal wieder.

Nur wenige Personen steigen mit mir aus, durchqueren das kleine ländliche Bahnhofsgebäude mit wenigen Schritten und eilen nach links. Ich stehe in der Tür: nach links oder rechts? - Regen. - Bevor ich eine Entscheidung gefällt habe, hält ein heller Mercedes mit bundesdeutschem Kennzeichen in einiger Entfernung. Deutsche? - Polen? Da kann ich mir nicht so sicher sein. Der Wagen ist vollgepackt mit Menschen. Also Polen? Eine Tür geht auf, zwei Personen springen durch den Regen, ein Mann stellt sich in Position vor das Bahnhofsgebäude, die andere Person zückt die Kamera. Klick. Ein Bild für's Familienalbum. Das "riecht" nach Deutschen. Plötzlich habe ich großes Verlangen, meine Einsamkeit zu durchbrechen , diese Deutschen anzusprechen. "Familie Schadewald" aus Döllensradung. Großes Hallo - auch, wenn wir uns nicht kennen. Wir fühlen uns jetzt einfach verbunden; stehen auf deutschen, heimatlichem Boden. Mit der Tochter besonders; ungefähr mein Jahrgang, etwas jünger. Aber auch ihr ist alles hier so vertraut, weil in der "neuen Heimat" doch so viel "von zu Hause" gesprochen wurde/wird. Da kennt man doch fast alles - vom Erzählen her. Und im Kind, im Heranwachsenden, im Erwachsenen bleibt das eigene Ungewisse: was ist Heimat? Ein Aufwachsen zwischen Baum und Borke. Wir - Sie, ich, alle, die als Kinder mitgetragen haben, am Leid der Eltern, der Familie, wir, die wir deren Trauer mitgelebt haben - wie sollten wir eine stabile eigene Identität aufbauen?! Wohin gehören wir denn? Was nutzte es uns, wenn nach vielen Ungewissen Nachkriegsjahren endlich wieder eine Existenz aufgebaut war, ein Angepaßtsein an das Neue, wenn wir doch spürten, ahnten, fühlten, daß "dadrinnen" die Wunden längst nicht verheilt waren, ihre Gedanken und Gefühle so oft in eine andere Richtung gingen - wohin wir nicht folgen konnten - sie doch nicht begleiten konnten - Vergangenes. -

Als wir jetzt so kurz nur, so aufgewühlt und doch fast im Vorrübergehen darüber sprechen, uns anblicken, habe ich das Gefühl: wir verstehen uns, mehr Worte bedarf es jetzt nicht. Vielleicht später einmal. Adieu, gute Wunsche; ja nach rechts, dort vorne nach links, dann käme ich direkt auf die Landsberger/ Kiistriner Str. - Kopfsteinpflaster, vorne lasse ich die Schranke rechts liegen. Es ist nicht weit und ich bin an der Hauptstr. Von rechts grüßt, nein, winkt ein auffallend hoher, spitzer Kirchturm. Also dorthin. Beim Eintritt, vorbei am alten Tauf stein, "bleibt mir fast die Spucke weg": der Innenraum der Kirche ist tiptop renoviert und prunkt scheinbar im alten Glänze. Besonders faszinierend: die zu drei Seiten umlaufende Empore, die Holzbalkendecke. Die kleine Seitenstraße, rechts am Kirchplatz, wirkt malerisch, gemütlich, nach "guter Stube" des ländlichen Städtchens. - Am Markt, das Gebäude mit dem kleinen Turm: Rathaus, Amtsgericht? Ich werde noch viel fragen müssen. - Gegenüber ein Haus aus der Jahrhundertwende , Jugendstil. Hier treffen sich Stadt und Land, vereinen sich harmonisch. - Küstriner Straße, die alten kleinen Dorfhäuser links und rechts des Pflasters. Zeugen der guten wie schlechten Zeit: Landleben, aufblühende Stadt, 1. Weltkrieg, Not, Wachstum, 2. Weltkrieg, Flüchtlingstrecks. Wir auch, Oma, Opa, Juliane, ich, hier im Juni 1945. Wie erträgt man - den Handkarren hinter sich herziehend - vorbei an der Abzweigung, die nach Hause führt? Einfach vorbei. Schluchzen im Herzen, stumme Schreie; Dank auch, daß man mit dem Leben davon gekeommen ist? Wer weiß um die Ängste eines kleinen 3jährigen Mädchens, das scheinbar "so sorglos nach Kinderart" schon wieder singt: "Kuckuck, Kuckuck ruft aus dem Wald!" Sich die Angst, die Verzweiflung, die Sehnsucht nach der Mutter vom Herzen singt. Hier trägt jetzt jeder seine Last - allein.

Reichsstraße l, Abzweig nach Blumberg

Links die goldgelben Felder, dahinter die Ostbahn: Ein Zug pfeift vorbei - Richtung Küstrin - heute. Als ob nichts geschen war'. Rechts der Wald, - "mein Wald" - der manchmal bis an die Straße tritt, manchmal auch Feldern und Wiesen den Vorrang läßt; hügeliges, ansteigendes Gelände, eiszeitliche Prägung. -"Kamien Wielki", 5 km, die einmündende Straße nach rechts, hinauf den Berg, der kürzere Weg, über Blumberg. Bald, schon bald werde ich in Groß-Cammin sein: - Oma mit den Fahrrad, bei Eis und Schnee, Wind und Sonne; die Männer rufen, die Frauen krümmen sich in Wehen - bis sie kommt, die Hebamme - oder auch schon vorher gebären - oder noch lange auf sich warten lassen bis sie ihr Kind hergeben, in die Welt entlassen, tot oder lebendig. Sie ist bekannt, die kleine energische Frau, wohl auch beliebt bei jung und alt - in Blumberg auch. Noch bevor ich das erste Haus erreiche, kommen mir zwei Kinder entgegen, ein Junge, ein Mädchen. So etwas wie mich scheinen sie noch nicht häufig hier gesehen zu haben. In meiner Aufmachung! Ich lächle ihnen freundlich zu, sagen kann ich eh' nichts. - Sie folgen mir. Erwarten sie etwas oder ist es nur meine Kuriosität? Ich habe Hunger. Meine Notration, Studentenfutter, will ich gerne mit ihnen teilen. Sie halten ihre kleinen Hände auf, lassen sie füllen. Kauend begleiten sie mich noch ein Stück, verschwinden auf einen Gehöft. Der Himnel ist bedrohlich dunkel geworden. Das schaff' ich jetzt nicht mehr bis nach Cammin. Linker Hand sind nun auch Häuser. Eine kleine Bank, ein uriger Typ hockt darauf: unrasiert und fern der Heimat. Dennoch gehe ich auf ihn zu. Das Einsetzten meiner Zeichensprache: Himmel, Regen, Haus. Seine Frau erscheint. Noch einmal: Himmel, Regen, ich. Haus? - Nicken! - Flur, gute Stube; die Frau verschwindet wieder. Nach kurzer Zeit stehen belegte Brote und zwei Gläser Schwarztee, Zucker vor mir. Draußen pladdert es, donnert, blitzt! Das Licht geht für einige Zeit aus, später wieder an. Wir gehen recht vertraut miteinander um. Meine innere Erregung lasse ich nicht zu. Aber ich möchte weiter! So nah an Camnin! Was werde ich finden, wie werde ich finden, werde ich überhaupt finden? - Ich winke, ziehe weiter, hinein ins Dorf Blumberg. Rechts eine stattliche Kirche, liegt verwunschen in ihrem roten Backsteinkleid. Der Schmuck ist noch angelegt, aber das "Gold" blättert schon eine Weile, ca. 45 Jahre. Die alte Friedhofsmauer, ausgesparte Kreuze; grasbewachsener Gottesacker . "Dornröschen" ; 1737 steht in großen Ziffern unterhalb der Turmfenster. Dahinter wohl die Glocken. Sie rufen sicher nicht mehr zum Gebet. Oder setzte ich falsche Normen? - Am Dorfausgang noch ein Blick zurück: geliebte alte Neumark!

Blumberg, Kirche

Die Straße macht einen scharfen Knick nach links. In der Ferne bald eine Kirchturmspitze, weit in den Himmel. Ist das schon Cammin? Bin ich ...? Ich bin da! Weißes Schild, schwarze Schrift: Kamien Wielki: - Groß Cammin! Ich bin hier! Kein Mensch zum Teilen der Gefühle. Das ist schwer... Sooo schön bietet Cammin sich dar! Blühen am Straßenrand, die satte gelbe Farbe reifen Korns - Weide mit Kühen. Da, schon das erste Gehöft, der verheißende Kirchturm: ich bin die Mitte, hier findest Du noch mehr. Und ich finde. Spätestens seit der Ortstafel werde ich - auch in den folgenden Tagen - das Gefühl und Bewußtsein nicht mehr los, daß in jeder Straße, auf jedem öffentlichen Flecken dieses Dorfes meine Familie sich mit einer Selbstverständlichkeit bewegt hat, die mir im Moment einerseits zwar ganz abhanden ist, andererseits aber auch fordernd in mir lockt. Anders als in Landsberg - aber auch hier bin ich zu Haus' . Intimer noch, weil persönlicher, weil über die Zeiten hinweg. -

Groß-Canmin, Dorfstraße aus Richtung Stolberg

Die Kirche steht erhöht, als mahne sie zum Aufschauen. "Maria" auf Betonsockel und hinter Plexiglas befremdet mich, schreit zum Himnel. Feldstein bleibt Feldstein! - Wohin nun des Weges? links, rechts, geradeaus? Der Ortsplan muß her - also rechts, Straße nach Batzlow. Sie ist noch regennaß und leer, ein paar Gänse. Auf der linken Seite Gehöfte. Wer? Bur, Piper, Adams, Kobus? Namen schwirren mir durch den Kopf. Anekdoten. - Rechts der See. Der Sand-Pfuhl, von dickstämmigen Bäumen fast verdeckt. Enten schwimmen, paddeln durch's Wasser, rüber, zum Schloß. Links vom Park, hinter dem Wasser wieder Gehöfte. Langsam, ganz bewußt gehe ich weiter. - Anachronismus. - Mir wird beklommen: gleich knickt die Straße, an nördlichen Zipfel des Pfuhls, ab! Dann irgendwann, das letzte Gehöft im Ort, dort wo die Fliederhecke... So weiß es meine Erinnerung: Linker Hand verschwinden jetzt schon die Häuser. Felder steigen langsam an. Dort, gleich macht die Straße wieder einen Knick, nun nach rechts. Mir wird immer mulmiger. - Mein Gefühl sagt mir, daß ich jetzt, genau hier vor dem Müller'schen Gehöft stehe. Ein Hund bellt. Ich wage kann aufzublicken. Bin verwirrt. Warum dort, am Straßenknick noch ein Gehöft? Zweifel. Also doch dort? Achtung jetzt wird's noch spannender: ein Radfahrer, eben aus diesem letzten Gehöft. Alter Mann mit Schiebermütze. Wir steuern aufeinander zu, fragendes angedeutetes Lächeln. Zunächst fällt mir nichts Unverfänglicheres ein: übernachten? Übernachten? Auf seinem Gehöft? - Er steigt ab und führt mich zun Holztor - und von nun an überstürzt sich alles: Seine robuste Frau überprüft, reicht mir die Hand: "Ich Hendryka, das Bronek. Wir Kinder - Besuch, aber Platz. Du in meinem Bett schlafen." Sie spricht deutsch!! Mir ist alles recht! So nah' dem Geheimnis, so nah dem einstigen Familiensitz. Wo ist er denn nun eigentlich? Die Frage brennt in mir, aber nur nicht plump sein. Nicht auszudenken, wenn mich das Schicksal bereits in das großelterliche Haus geführt hat! - Ein dämmriger Flur, links durch die Küche, eine Stufe, eine Tür, Hendryka's Reich. Das Bett längs vor dem fast zugewachsenen Fenster. Es "muffelt" seltsam aber ich werde hier schlafen! - Nein, keine Umstände, ich pack mich mit meinem Schlafsack einfach oben drauf. Aber zunächst erst wieder in die Küche: Essen, Trinken. Hendryka plaudert, viel, sogar mit bayrischem Dialekt. Zwangsarbeit in der Nähe von Ansbach. Die erste Bäuerin war ein gemeines Aas, die zweite sehr nett. Die hat sie auch besucht, vor einigen Jahren, als sie mit ihrer jüngsten Tochter in Deutschland eingeladen war. Noch ahn' ich nicht die Namen, wer sie eingeladen hatte. Später werde ich viel von Knospes, Kobus und auch Fischer hören. - Meine Gedanken: wie komm' ich bloß hier raus, ich muß das Haus unbedingt von außen sehen! — Nein, dieses Haus ist verputzt. Vielleicht nachträglich? Ich bin immer noch verwirrt - und wage noch nicht zu fragen. -

Ein grüner alter Mercedes hält: Ryczard und seine Frau Danka, der älteste Sohn. Er wohnt in Küstrin. Ich flippe bald aus. Das ist zuviel auf einmal, plötzlich auch noch/ schon Küstrin. Und im Laufe des Abends wird mich Ryczard ein paarmal einladen, sie nach Küstrin zu begleiten. Gleich, noch heute abend. - Jetzt muß ich raus mit der Sprache, erzähle von Landsberg und, daß ich nicht zufällig in Groß-Cammin bin: Ich suche das Haus der Großeltern, Emma und Otto Müller. Hendryka, den Zeigefinger immer wieder nach unten pochend: "Aber das ist ja das Haus von Otto Müller!" - Mir schießen die Tränen in die Augen. Ich kann's nicht glauben - nicht nur wegen der vergangenen 45 Jahre. Da sind auch noch die anderen Zweifel. - Hendryka und Bronek erzählen, in welchem Zustand sie das Haus von den Russen übernommen haben: "Fenster raus, Türen raus, Scheißhaufen im Zimmer." Sie selber aus ihrer ukrainischen Heimat vertrieben - eine lange Odyssee, über Deutschland. Jetzt greift Ryczard ein, korrigiert: Dieses Haus nicht Otto Müller, Otto Lange! Drüben auf der anderen Seite, das letzte Haus! - Hendryka's Bruder wohnt dort. - Endlich - wohltuende Entspannung. Für den Moment jedenfalls. Gott sei Dank, es ist geklärt - und soweit geschafft. Nun weiß ich, und sie nehmen "Mein Thema" an, keine Tabus! Ich werde Hendryka bitten, mit den Verwandten zu sprechen. Vielleicht darf ich sogar....

Groß-Cammin, Schloß

Samstag, 11. August 1990:
Es bummert an die Tür - Hendryka's Stimme, in aller Herrgottes Frühe: Riegel auf; Hendryka wühlt in der Anrichte. Schließlich zieht sie triumphierend mit einer Tüte Nudeln ab. Als ich später in die Küche trete, zeigt sie auf einen riesigen Pott mit Milchnudeln: Frühstück. Wider Erwarten sehr schmackhaft. - Gemeinsamer Gang zum Kaufmann - vorbei an dem Haus "dort drüben". Ich wage inner noch nicht hinzublicken! Seltsame Scheu... Aber Hendryka weiß nun, was ich möchte - und will mir helfen. Noch muß ich mich gedulden - dafür weiß ich aber bald, wo einst der Bürgermeister Berndt wohnte. Ich will noch zum Schloß, ein bißchen stromern. Am Eingang des Parkes wieder ein Blick über den Sand-Pfuhl: drüben die Dorfstraße, die erste Kurve nach Batzlow. Rechts das Kossätenhaus. Und weiter in den Park hinein, das Schloß, jetzt vor mir Verblichene Pracht. Hendryka sagt, manchmal tönen von dort die Schreie der Frauen! Ich habe nicht recht begriffen: Heimunterbringung für Frauen- aber warum Schreie? Darf ich mich dem Hause nähern? Grenzüberschreitungen - Vertriebenwerden? Ich will wagen. Am Nordeingang zwei, drei Frauen auf einer Bank. Starren mich lächelnd an. Ich blicke in ihre Augen - das Lächeln, fernes Lachen: jetzt kenn' ich ihre Schreie. Schreie der Angst. Ihre Schreie, viele Schreie in der Welt; zeugen der Lebensangst, der Verrückheit in der Welt. Der Schrei, den ich nicht wage, den wir nicht wagen - aus der anderen Angst heraus -vor der Endlosigkeit. Mir ist, als ob sie nach mir greifen, mich festhalten wollen. Vielleicht nur eine harmlose Frage - ich weiß keine Antwort, nicht für mich, nicht in ihrer Sprache und beschleunige meinen Schritt, schuldbewußt. Hinein in die Bäume, Schloßpark - Erbarmen. Die Blätter schützten mich. Es nieselt. Irgendwo muß ein kleiner See sein, nein zwei. Und unerwartet stehe ich schon am Ufer. Romantisches Gewässer, eingebettet in die hohen alten Bäume. Ganz in der Nähe klingt das Geräusch eines rollenden Pferdefuhrwerkes zu mir rüber. Ich entdecke einen Fußweg in Richtung Blumberg, wende mich wieder dem Dorfe zu. Hinter dem gemähten Feld, aus den Stoppeln ragt eine desolate Mauer. Halbrunde oder dreieckige Aufbauten: der Friedhof. Ein schmaler Pfad - nun stehe ich mittendrin, im Gebüsch, in hohen Gras, zwischen verdorrten Halmen. Auf der Westseite Holzkreuze, Gräber: die Toten der jetzigen Dorfbewohner. Unsere müssen schweigen. Die Gedenktafeln aus der Mauer gerissen. Die Gräber entfernt - wie überall. Ich kenne meine Urahnen nicht, habe sie nie durch die Familienmünder sprechen hören. Aber irgendwo hier, in einer Familienecke müssen sie noch ruhen - haben sie geruht - die Müllers und Sommerfelds, die Fischers, Schuberts, und Budaks aus Groß-Cammin. Ein Impuls. Die Ärmel hochzukrempeln, das Unkraut zu jäten, zu suchen.... Ehre erweisen. -

Zurück zum Puhl. Das Kossätenhaus . Zwei Stiefgeschwister hat es jetzt bekommen, an der Straße nach Wilkersdorf künden die vom "Fortschritt der sozialistischen Einheitskultur". Wie vertraut liegt der Sand-Puhl, ragt in der Ferne der Kirchturm über die Wipfel. Gänse suchen schnatternd im seichten Uferwasser nach Futter, ein paar kurze Flugstöße, Rauschen über dem Wasser, platsch, platsch, platsch... Krieg? - Hat es nie im Leben gegeben.

Die Dorfstraße ist immer noch leer. Selbst in den großen Gehöften regt sich nicht viel. Die Kirche, die Schule: Lehrer Noak ruft den kleinen Johannes auf - ermahnt den kleinen Andreas. Ich möchte nach Hause. Es zieht mich nun mit aller Macht an den Ort, der mir der wichtigste im ganzen Dorf ist und an dem ich schon zweimal so zaghaft vorbeigeschlichen bin. Welch seltsame Scheu... Der Hund bellt wieder hinter dem grünen eisernen Hoftor. Ein bunter, kleiner Vorgarten, Blumen, das Wohnhaus. Die berüchtigte Fliederhecke, durch die man heimlich krauchen und entwischen kann. Der große Garten für die vielen Sommergäste der Familie aus der Stadt, wo? Ich schleiche jetzt auch um die Fliederhecke... sehe die Tür zum Haus, die Fenster, sehe die Großeltern, - der Großvater säubert sich die Stiefel an der Matte, versonnen, eingesponnen, versunkenen Blickes. Die Großmutter, immer eilig, der Sohn ...; später, viel später dann der zweite... "Hendryka, hilf mir!" Sie erkennt wohl meinen sehnsüchtigen Ausdruck: "Komm'." -

Der Hund schlägt laut an. Hendryka öffnet das Tor, klopft an die Tür, schaut durchs Fenster. Vergeblich? - Da, von der neuen Scheune her: Mann und Frau... Begrüßung auf polnisch. Für mich ein Händedruck und zwei freundliche Gesichter. Hendryka dolmetscht: "Ja, Haus von Otto Müller. Frau Kinder aus dem Bauch holen." - Woher sie das alles wissen? - "Papiere, Dokumente, Hauskauf." - Man kennt sich gut aus, kennt die Familiengeschichten der Ehemaligen. Ich bin so aufgeregt, mein Gott, wie aufgeregt! Darf ich denn..?" Ich darf!! Die gute Stube links, die gute Stube rechts, die kleine hier gleich am Eingang. Die Küche, dahinter - jetzt erst? - ein Bad. Selbstverständlich, auch Boden und Keller. Suchender, gieriger Blick, ein Lebenszeichen, bitte, ein ganz kleines altes Lebenszeichen ... Es geht so schnell, viel zu schnell! Könnte doch die Zeit jetzt stehenbleiben, könnten doch die Dinge hier sprechen! Ich bin so aufgeregt, so freudig erregt, wie ein kleines Kind auf Entdeckungsreisen - und so dankbar, daß man mich gewähren läßt. - Der Schmerz trifft mich erst später. Im Moment habe ich dafür keine Zeit. - Gerne wäre ich noch geblieben, bei Oma und Opa - bei Helena und Stanislaw. Aber solche Annäherungen brauchen Zeit, viel Zeit - vielleicht wird sie mir gegeben...

Ach wäre ich doch hier zu Hause! - Will ich das wirklich? Das alte Spiel, die alte Frage: "Was wäre, wenn....?" Noch ohne Antwort.

Ryczard und Danka, sie warten schon, wollen mich nach Küstrin holen: im deutschen Mercedes noch einmal durch das Dorf, hinunter nach Stolberg, die Reichsstr. 1. Alles geht wieder so schnell, zu schnell. Ich bin noch gar nicht wieder zurück, aus der Vergangenheit. - Halt, halt! Das Schloß, die Kirche; war das nicht Tamsel? Wie kann man da so achtlos vorbeifahren, Ryczard, hörst Du nicht mein Schreien? ... uns trennen Welten. - Der Wagen hält. Ich folge - nun irgendwo - einige Stufen hinauf. Ein russisches Ehrenmal. Eine Brüstung, Wasser... Das muß die Oder sein. Das muß die Oder sein! Ich stehe auf den Kasematten! Jenseits russische Soldaten - diesseits polnische Soldaten... Dann müßte doch... - langsam drehe ich mich um...: "nein - NEIN!" - Ich wußte es - ich will's nicht wissen: nichts - nichts mehr -gar nichts mehr! Buschwerk!" Mein Gott, was habt Ihr getan!" Der Krieg ist noch lange nicht zu Ende.......

Helga Müller
W-2000 Hamburg 60 Alsterdorfer Str. 163

Alle Fotos: H. Müller 1990

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Erstellt am 14.10.2016 - Letzte Änderung am 14.10.2016.