Wanderungen durch die Heimat -
Tagebuchaufzeichnungen von Louisa über Landsberg bis Groß-Cammin
von Helga Müller
Fotos und Text von Helga Müller
1. Teil
Louisa, Freitag, (d. 3. Aug. 1990)
Habe Abschied von Zofia und Wladislaw genommen, verspreche zu schreiben und hinterlasse auch meine Adresse, falls sie mal nach Hamburg möchten. Mir scheint, Europa rückt zusammen. Besonders spürbar für mich: von Osten her.
Noch einmal: Mein lieber Fluß, du, Warthe, am Morgen. Du gefällst mir noch genauso gut wie gestern im Abendlicht. Jetzt sitzen noch die Nebel leicht auf deinem Wege. Sie versprechen, sich zu heben, der Tag beginnt sein Werk. Fichtwerder wirkt noch verschlafen. Ein paar Frauen kommen mir in Kopftüchern entgegen: Landfrauen. - Wohin zur Arbeit?
Die Warthe bei Fichtwerder, Blick von der Brücke Richtung LandsbergDie Sonne steigt schnell höher, während ich meinen Weg durch kleine Ortschaften, Felder und Gärten suche. Das Getreide steht zu Garben gebunden auf dem Feld, goldgelb - wartend auf die Landfrauen. Die Höfe wirken menschenleer.
Ein Straßendorf. Die kleine Kirche gleich an der Straße ist auffällig. Neugotisch, die Giebel in der Art der norddeutschen Backsteingotik. Kein Turm. Die Glocke hängt an einem Gerüst, etwas abseits. Ein Dächlein schützt sie vor Regen. Ich suche den richtigen Winkel, um ein Foto zu machen. Dabei entdecke ich eine Inschrift: Von der Gemeinde Spiegel am Jahr 1855 ang... Gegossen von ... in Klein W... Deutsche Gräber sind nicht mehr zu finden. Die Russen haben dafür gesorgt. Eine polnische Gemeinde - Pozrzadto - läutet ihren Sonntag mit einer deutschen Glocke ein. Wie ist das, wenn man hier Pole ist; wie ist das, wenn man hier Deutscher ist? Vielleicht eine Lösung, wenn sich beide Gemeinden zu einem Gottesdienst finden könnten! -
Spiegel, GlockenturmMein Weg führt bald an den Schienen entlang. Somit vermeide ich die Straße. Noch. Aber ich fühle mich schon kaputt. Die Hitze, jetzt keine Schatten von den Bäumen mehr. links hinter den Schienen, noch hinter der Reichsstr. I nach Gorzöw, erhebt sich der Höhenzug - später die Wepritzer Berge - nach Landsberg auslaufend in die Talsohle der KLadow, um noch einmal darm anzusteigen: "Grüß die Heimat, sag' ich komme, ich bin ja schon so nah."
Jetzt an der Straße von Dühringshof nach Blumenthal: erschöpft suche ich mir ein schattiges Plätzchen unter einem Baum. Von hier kann ich bis zum beschrankten Bahnübergang blicken, der Bahnhof wohl gleich rechts. - Ein Fahrrad hält gleich neben mir. Eine lebhafte Sechzigerin springt ab, fragt mich, ich antworte deutsch. Das kann sie auch. Ich erzähle ihr "woher" und "wohin", nach Landsberg, meine Geburtsstadt. Sie scheint begeistert von mir: "Kommen Sie mit, ich wohne gleich hier." - Im Garten, die Familie, Brot, Gurken Tee - und viel Wasser. "Bleiben Sie bei uns, bleiben Sie eine Nacht, zwei Nächte, soviel Sie wollen. - Sie wollen weiter? Na, dann vielleicht im nächsten Jahr, wir freuen uns." - Schon wieder "Zwangsarbeiter", die mir auf ganz natürliche Art ihre Geschichte erzählen. Ich muß das einfach aushalten, das ist mein Beitrag zur Geschichte. Die Sonne packt mich wieder, sobald ich das dürftige Strauchwerk an der Straße verlassen muß. Warum mache ich es mir so schwer? Schleppe mich mit 19 kg auf dem Rücken durch die brütende Sonne.
Im Bruch zwischen Döllensradung und SpiegelFreiheit - mein Haus immer bei mir - Freiheit? Ich biege jetzt nach links, über die Gleise, will in den Ort. Die Reichsstraße - ich folge ihr noch eine kleine Weile. Jetzt bin ich wohl in Gennin. Die Kirche direkt an der Straße, fast schon in der Straße. Eine Haltestelle gleich daneben. Frauen, junge Mädchen kommen. Bald scheint der Bus fällig zu sein. - Ich bin noch ganz verzückt von der Kirche. Hier ist also Opa L. immer mit seinem Auto vorbeigedüst, von Küstrin nach Landsberg, von Landsberg nach Küstrin. Die Straße hat noch das alte italienische Pflaster, gute, beste Qualität. Oh, könnte ich doch die Zeit für eine kleine Weile noch einmal zurückdrehen, könnte ich doch einmal das alte Leben hier belauschen! - Und dennoch, was hat sich äußerlich eigentlich verändert? Die polnischen Bauersfrauen mit ihren leeren Taschen oder vollen Körben, in denen sie ihre Ware zum Markt nach Landsberg bringen - sind das nicht auch die deutschen Bauersfrauen? Die jungen Mädchen, die eine Erholung von ihrer dörflichen Langeweile suchen, in die Stadt ausbrechen ... Der Bus. Ich stelle mich in die Reihe. Der Fahrer sitzt hinter verschlossenen Scheiben. Er kann nicht und fragt nicht nach dem Fahrgeld. Will keiner? Der Bus ist vollgestopft. Mein Rucksack stört, auch mich. Aber ich muß jetzt gucken! Die Straße, Bäume, kleine Häuser. Schon wieder eine Kirche in der Straße: Loppow. Später gleich noch eine, in Wepritz. Bezaubernd! Am liebsten würde ich aussteigen. Übrigens Wepritz: sofort muß ich an "Christa Wolf" denken. Ihr habe ich durch das Buch "Kindheitsmuster" nicht nur lokale Orientierungen zu verdanken, sondern auch eine tiefgründige Aufzeichnung der Verhältnisse, die sich in Landsberg bis 1945 allmählich ausprägten, so daß ich auch einiges davon für meine eigene Familiengeschichte - der verschwiegenen - interpretieren kann. Kein Ort hier, um über Buch und Inhalt in Nachsinnen zu versinken, aber ich bin sehr, sehr dankbar für ihre offenen und doch so hintergründigen Darstellungen vom Erlebten, Gedachten und Gefühlten.
Zwischen Friedrichsberg und DühringshofWepritzer Bahnhof, Endstation, umsteigen in die Straßenbahn I: "Ich bin in Landsberg! Jetzt bin ich in Landsberg! Träume ich - wache ich?" - Auf jeden Fall kaufe ich mir erst einmal einen Fahrausweis. Meine Landsberger-Gorzower werde ich nicht beschummeln! Also, dann rein in den klapprigen, alten Wagen: Friedrichstadt, Kietz, Küstriner Straße, in die Altstadtmitte: Richtstraße. Ich erkenne euch alle, bin schon so oft hier langgegangen - ohne Blick. Jetzt aber unterwegs wieder mein hungriger Blick nach alten Häusern. - Die Straßenbahn hält, ich muß aussteigen - und stehe mitten im Verkehrsgewühl, mitten in der Richtstraße. Ich versuche zu begreifen, mir auch gefühlsmäßig faßbar zu machen: "jetzt bist du in deiner Stadt. Hier war aller Anfang für dich!" - Ich schaffe es nicht! Zu dick ist der Panzer noch, zu viele Eindrücke, die mich immer schon wie eine Woge zu überrollen drohten - seit damals. - Mein Blick klebt sich fest an dem dunklen, massiven Koloß der Marienkirche: Wie bekannt du mir scheinst, so oft betrachtet in den Monaten meiner intensiven Reisevorbereitungen. Habe deinen Grundriß, verzweifelt fast auf dem Marktplatz des "alten" und des "neuen" Stadtplans hin- und hergeschoben, um feststellen zu können, welche Straßenzüge sich nach der Brandschatzung im Februar 1945 verändert haben. Die große (Ihr zeigt gegen 14 Uhr. Geldumtausch, jetzt suche nach einem Nachtquartier. Der Stadtplan von 1977 sagt, daß in der Brückenvorstadt, direkt, an der Warthe das Haus liegt. - Das war einmal! Gegen 16 Uhr lande ich schließlich mit vielen Umwegen in der Nähe meines Ausgangspunktes, aber hoffnungsvoll einen abgerissenen Zeitungsrand mit dem Namen der Straße in der Hand haltend. Vor mir eine Dame. Zettel zeigen - sie verlangsamt ihren Schritt, heißt mich, ihr zu folgen. Endlich, endlich hält sie an, weist auf die gegenüberliegende Seite: eine Stadtvilla, dunkelrotbraun und gut anzusehen. Das soll eine Jugendherberge sein? Sie nickt bekräftigend zu meinem skeptischen Blick, packt mich dann aber am Ärmel, zieht mich hinüber. Die Tür ist auf. Ein paar Stufen, noch eine Tür, wir stehen vor einem Portiersfensterchen. Klingel. Ein grauer Pagenkopf erscheint, freundlich, energisch. Gesprochen wird zunächst in Polnisch. Dann bin ich dran. Also richtig. Ich höre einen Summer. Jetzt noch zweimal links und ich stehe ebenfalls hinter der kleinen Glasscheibe. "Oh, sie können auch deutsch?" "Ja, etwas!" Ich wage noch nicht nach der Zwangsarbeit zu fragen. Ich würde es eh wieder hören. Mein DJH-Ausweis wird anerkannt, 1,80 EM pro Nacht, eine Leihgebühr für die Wäsche. Ein Dreibettzimmer, Tisch, Schrank, Fenster zur Straße. Sogar ein Nachttisch für jedes Bett. Ich weiß, ich werde mich wohlfühlen. Das Zimmer steht mir allein zur Verfügung -mir geht es gut!
Ich muß noch einmal in die Innenstadt, Proviant kaufen: Brot, Butter, Kaffee, Marmelade. Der Lebensmittelmarkt an der Hindenburgstraße, zwischen Woll-und Richtstraße, hat bis 21 Uhr auf. Der Einkauf macht mir Spaß. Lange Warteschlange. Ich beobachte die Menschen, bin dran. Aus dem Lexikon lese ich immer das entsprechende Wort, laut vor, die Verkäuferin zeigt mir zwei oder drei Artikel zur engeren Wahl. Bei Problemen mit der Aussprache guckt mir vorsichtshalber die Dame hinter mir über die Schulter, liest laut vor. Alles in guter Stimmung, ich bin begeistert! - Auf dem "Nach-Hause-Weg": Jetzt bist du hier in Landsberg - immer wieder! Ich begreife ganz langsam! Abends im Bett dann endlich der Blick auf den alt-neuen, selbstgebastelten Stadtplan, bekomme fast einen Schreck: Ich wohne Kladowstraße Nr. 8! Etwas weiter rauf, Nr. 82, war unsere letzte Wohnung im Sommer '45! Besitze noch eine Anmeldung vom 16. April 1945, polnische Meldestelle. Ich liege im Bett, falte die Hände hinter dem Kopf, der sich wie von alleine hin- und herschüttelt und eine Stimme flüstert: Ich bin in Landsberg, ich bin zu Hause. Endlich zu Hause. Der Kreis hat sich geschlossen. Mir rinnen leise die Tränen über die Wangen, leise - nichts kaputtmachen ... Noch einmal werde ich später aufstehen, das Fenster öffnen und mich hinauslehnen, so als ob ich das jeden Abend hier tue, immer schon. Ich sehe die nächtliche Straße rauf, runter: Wer kommt denn jetzt so spät nach Hause? Ein Betrunkener torkelt unter dem Fenster vorbei, ab und an ein Auto. Irgendwo, ganz gedämpft tickt auch die Angst in mir ... Welche?
Landsberg, 4. August 1990
Ganz früh am Morgen, noch ehe die Sonne kräftig ist, wache ich auf. Meine Glieder tun mir weh, mein Herz brennt in der Brust. Mir ist hundeelend. - Mir fällt ein, daß ich irgendwann in dieser Straße die Ruhr hatte. Gibt mir mein Körper Signale, erinnert er sich? Wenn mir nicht besser wird, werde ich zum Arzt müssen. Mir wird unheimlich bei dem Gedanken. - Diese Herzschmerzen werde ich auch einige Tage später noch wahrnehmen; nach dem Frühstück ist mir besser. Bevor ich das Haus verlasse: der Stadtplan - immer wieder die selben Straßen: Kladowstraße - Bülowstraße - Meydamstraße - Fernemühlenstraße. Irgendwo hier in dieser Gegend ist aber nicht nur das Direkte, Konkrete wie Geburt und Wohnung. Irgendwo hier ist auch eine traumatische Erinnerung, schwer einzuordnen, ein Fetzen: Meine Schwester Inge und ich, auf der Straße, unterwegs. Wir stehen, blicken auf ein Gebäude, das allein, wie auf offenem Felde steht. Das Haus wirkt wie die Krippe von Bethlehem, nach vorne, in unsere Richtung offen. Entsetzliches ist im Gange: Soldaten, Männer in Uniform, sie schlachten eine Kuh. Ich sehe Blut. Ich kann den Anblick nicht ertragen und versuche mich hinter meiner Schwester zu verstecken. Vehemente, existentielle Bedrohung. - Jetzt suche ich Spuren, möchte wissen, ob die Realität auch Anschluß an die Erinnerung findet. Zeit zum Aufbruch. An dem Portiersfensterchen reiche ich eine Tüte mit gebrannten Erdnüssen hinein. Sie wird freudig entgegengenommen. Ich habe das Bedürfnis zu teilen ... Was?
Auf zur Meydamstraße. - Ich wende mich nach rechts, die Kladowstraße in Richtung "Weinberg". Hinter den Häusern erhebt sich rechts die bewaldete Anhöhe Quilitzpark, ein paar Mietskasernen, der Weg zum Kosakkenberg. Hinter der Robert-Nehler-Straße ein Fabrikgelände. Freundlich anzusehen. Alt oder neu? Ich entscheide mich für "alt". Plötzlich bleibe ich erschrocken stehen: das Gebäude, mein Gott, ich kenne es, das muß es sein - meine furchtbaren Erinnerungen!
So schnell ... Das Walmdach zieht sich flach über die okergelben Wände. Vor den großen Fenstertüren eine Rampe ... Mein Verstand setzt sich langsam in Bewegung und zieht alles in Zweifel ... immer wieder der gleiche Kampf - und ich werde mich wie immer überlisten, nicht "wahr"haben wollen ... ich trotte weiter. .. Kladowstraße 82: eine Frau steht am Fenster im ersten Stock. Das macht mich scheu und schuldbewußt. Sie weiß, warum ich hier bin. So nehme ich jetzt nur dieses vertraute, dunkelgraue, zweigeschossige Wohnhaus in mir auf, frage mich, wo ich wohl im Hof gespielt habe und biege in die Bülowstraße, nach links. Aber all das wird mir keine Ruhe lassen. Ich werde zurückkehren, schon heute abend, die ganze Kladowstraße wieder entlang ... Vielleicht zieht es mich jetzt aber auch zu sehr zu meinem Geburtsort, ja, dort werde ich beginnen ...
Landsberg, Hohenzollernstraße lPlötzlich fühle ich mich verloren, einsam, niemand, mit dem ich sprechen kann. Irgendwann einmal werde ich hoffentlich Elsa fragen können - oder andere Menschen erinnern sich ... für mich ... mit mir ... Hohenzollernstraße. Hier fährt die Straßenbahn, die uralte. Wieder nach links. Drüben, Nr. l, steht eine sehr gepflegte, hübsche Jugendstilvilla. Sie heitert mich etwas auf, stürmt mich wieder in die Umgebung ein. Und dennoch, ich weiß, gleich wird die Hohenzollernstraße enden und in die Meydamstraße übergehen, mir wird ganz ängstlich. Das erste Haus auf der linken Seite, Meydamstraße 42, die Arndt-KLinik.
Landsberg, Meydamstraße 42, Privatklinik Dr. ArndtDie Bäume scheinen groß geworden zu sein, verdecken fast die Front. Die Fensterscheiben zeugen von Renovierungsarbeiten, außen und innen. Das ist es! Ist es das? Mir wird heiß und kalt, meine Hände zittern leicht als ich von der gegenüberliegenden Seite rüberschaue. Hier also: "eins zwei drei ..., Mutti." Gisela, Inge, Dieter, sie wollen das Neugeborene sehen, an diesem Tag, Ende Juli 1942. Wo, vor dem Haus, hinter dem Haus? An der Straße standen sie ... so sagten sie. Was ist hinter dem Haus? - Ich habe Angst, daß mir jetzt etwas weggenommen wird. Was denn schon wieder? Du warst doch noch so klein. Ein Teil von mir möchte sich dennoch am liebsten weiterdrücken, die Meydamstraße hoch, in die Innenstadt, wo Menschen sind. Der andere Teil ruft: Wage es! Der siegt auch! Über die Straße, durch die breite Einfahrt, jetzt stehe ich hinter dem Haus - und einem Bauarbeiter gegenüber. - "Also los, mach schon! "Dzien dobry." Ich weise auf das Gebäude, bücke mich, schreibe 1942 in den Sand. Dann richte ich mich auf, strecke geballte "Fäustchen" gen Himmel, mache ein dünnes Gesicht und quake wie wohl ein Baby nie quakt. Aber scheinbar versteht er mich. Mir schießen die Tränen in die Augen, ich bin so dankbar. - Jetzt wage ich mehr. Ich weise wieder auf das Haus, auf mich, mache die Bewegung des Eintretendürfens. Er ruft einem Kollegen, der gerade aus dem Haus tritt, etwas zu. Wie wird die Antwort sein? - Er winkt - ja, er winkt. Ich folge schnell. Helle, kleine freundliche Zimmer zur Straße. Aus jedem Fenster versuche ich zu schauen: eines wird es schon gewesen sein. Hier also ... nach 48 Jahren. Ist das Erlösung oder Verdammung? Auf jeden Fall erst einmal greifbar, faßbar ...
Der Empfangsraum mit dunkler, massiver Holzverkleidung, Holztreppe, alles strahlt hier Noblesse aus. Wenn ich richtig verstehe, wird dieses Haus wieder eine Geburtsklinik, zumindest stationäre Patientenversorgung. Wirkliche Qualität, dieses Haus, auch die Renovierungsarbeiten. - Die Sonne blendet mich fast beim Heraustreten. Ich danke herzlich, habe es plötzlich eilig. Warum? Zu viele Gefühle, Gedanken bedrücken mich - ich muß mit mir allein sein - und hätte doch so dringend jemand nötig. Schillerstraße, Kladow und Wiese. Auf dem Spielplatz sitzen Frauen, die Kinder balgen sich um sie herum. An der Brücke Steinstraße kommt ein Mann auf mich zu. Eine "Fahne", das Problem der polnischen Männer, flattert ihm voran. Gespräch: "Tourist?" - Ich bedeute ihm, daß ich hier geboren wurde; bin noch so voll der Ereignisse. Da hebt er leicht die Schultern, läßt sie wieder fallen: "Ihr müßt bezahlen!" - Ich könnte schreien, schluchzen: Ja, ja, haben wir das nicht schon tausendfach?! - Mein Verstand holt mich wieder ein: Du hast Recht, ich verstehe dich, wir können an dieser Tatsache nicht vorbei. - Aber es schmerzt so. Will nur einmal, wenigstens einmal gesagt sein dürfen - und darf es nicht. - Es schmerzt schon die ganze Zeit, seit ich durch dieses schöne Land wandere. Nichts wie Zerrissenheit und Wissenwollen ist mir geblieben. "Es" treibt mich um und gibt mir keine Ruh'! "Es" ... das ist Zerrissenheit, Angst, Schmerz, Trauer, Wut. -Jetzt spüre ich die Wut: Was habt ihr leichtfertig aufs Spiel gesetzt, verspielt - nicht nur die eigene - auch, gerade die Heimat der Kinder. Dieses Recht hattet ihr nicht! Nein, und nochmals nein! - Ich kann diesem Menschen hier, diesen Menschen hier, wie ich ihnen und wo ich ihnen begegne und in den nächsten Wochen noch begegnen werde, nichts als Mitgefühl entgegen bringen. Wir sind Geschwister im Schicksal. Wenn ich es so nehme, dann ist das richtig, was dort unter dem großen Baum geäußert wurde: "... dann bist Du ja eine Polin." - Hilflos nicke ich diesem Mann zu, zucke ebenfalls die Achseln: Ja, soll das bedeuten. - Es würgt im Hals, als ich weiter an der Kladow entlanglaufe, scheinbar ein sorgloses Schlendern, scheinbar ein reicher Tourist.
Auf dem ehemaligen Musterplatz, zwischen Goethe- und Burchardtstraße steht ein massives Steinmonument: Flieger, Bomben, Maschinengewehre und Granatrohre drängen sich, fast unauffällig, im Relief - die Wirkung jedoch bleibt auffällig, bis zu diesem Jahr, diesem Sommer 1990. Die übrige Gestaltung oder Un-Gestaltung dieses Platzes spricht ebenfalls davon. - Bevor mich diese ausgelösten Gefühle noch weiter einengen, wende ich mich wieder nach außen. Fachwerkgiebel in der Fernemühlenstraße, gleich daneben eine gepflegte Villa, Baujahr 1894. Die weiße Schrift auf dem rotemaillierten Schild sagt mir, daß hier ein öffentliches Amt die notwendigen Renovierungsarbeiten ständig unternimmt. In der Heinersdorfer Straße dann das Hotel Mieszko -mir fällt nicht viel dazu ein. Nur froh bin ich, daß ich in Kladowstraße 8 wohne. - Mit einer Tüte "lody" (Eis) ziehe ich mich schließlich für eine Sitzpause in den Park zurück. Wieder dieses herausragende Bewußtsein in mir: Jetzt begegne ich der Geschichte dieser Stadt. Warum gerade hier? Beim Hinabsteigen der Stufen: rechts der See, eingehegt von großen stämmigen Bäumen, die Zweige weit und tief ausladend. Der Weg, die Rosenbeete, ein Spielplatz. Die Sonne meint es gut: Spaziergänger, Rastsuchende, so wie ich jetzt, auf den Bänken. Ende Januar 1945 waren diese Baume kahl, boten die Sträucher wohl wenig Schutz den zu Tode erschrockenen Frauen, die sich vor dem Zugriff der russischen Soldaten hierher flüchteten. Einzig der Abend, die Nacht stand ihnen zu Hilfe, während die Kälte sie mehr und mehr umklammert hielt - erstarren ließ. Was ist aus ihnen, diesen Frauen geworden? Wo und wie befanden sich Mutter und Tante mit den vier kleinen Mädchen in diesen Nächten? Verkrochen und verbarrikadiert in der Kladowstraße? - Du trügerisches Angesicht, jetzt, in der Sonne! Deine Bäume müßten aufheulen, deine Sträucher wimmern und die Erde verschlossen bleiben! Ich ahne einen winzigen Zipfel dieses Geheimnisses! Die Kinder spielen am See, ergreifen das Brot aus den Händen der Alten und füttern die Scharen der Enten, schmeißen Stöckchen und Steinchen ins Wasser, hampeln an den Treppen, den Ufern. Trügerisch? Nein - das nicht. Hier versuchen Generationen eine Heimat zu finden. Haben sie gefunden!?
Landsberg, Küstriner Straße / Ecke Heinersdorfer StraßeMeine Suche nach Heimat geht weiter, treibt mich hoch. Ausgang zur Küstriner Straße. Werde immer wieder überrascht durch die liebevolle Pflege historischer Bauten, z.B. die Gebäude an der Küstriner/Ecke Heinersdorfer und die Villa, in der jetzt eine Polizeistation ist. Wer wohnte einst dort? Arm war Landsberg ganz gewiß nicht, auch - oder gerade weil es, "hinten-raus" in der Zechower Straße ein Armenhaus hatte. - Aber ich suche jetzt die Wollstraße. Familiäre Gründe. Nochmal den südlichen Stadtpark. Dann stehe ich vor der Rückseite des alten / "neuen" Postgebäudes. Schießgrabenstraße. Der nächste, innere Stadtring muß es sein. Rosenstraße, Wollstraße. Welche Nr. denn? Aus Opas Aufzeichnungen kann ich nur soviel entnehmen, daß er hier in den 30er Jahren eine Filiale eröffnet hatte. Geschäftsleitung hatte Emil Matthäus (Monate später fahre ich zu Herrn Siebke nach Herford, Landsberger Museum. Er sucht einen Ausweg aus meiner Wissensnot, reicht mir den Stadtführer 1927. Mein Jubelschrei läßt ihn zusammenfahren und macht mich erschrocken: "Ostdeutsches Fahrradhaus, Poststraße 7, Eingang Wollstraße, eine Minute vom Markt, Hauptgeschäft Cüstrin A, gegründet 1904 ... usw.") - In der Poststraße ist noch Leben. Hier wird immer angeboten, getauscht, gehandelt. Meist Bäuerinnen aus den Vororten, vom Land, mit Obst, Gemüse - auch Blumen. Dem mittelalterlichen Reiz der Mauerstraße kann ich mich nicht entziehen. Liebevoll habe ich vor Monaten den Merianstich von 1650 koloriert. Die Mauer ist natürlich grau, so wie ich es mir dort in der Theorie ausgemalt habe. Grau-braun-rotes Feldgestein mit gemauerten Türmen und abschließendem Rand. Diese Faszination der Jahrhunderte läßt es dennoch zu, daß ich die Mietwohnungen auf der anderen Seite der Straße bemerke. Sie sind vernachlässigt, verwahrlost wie in den "schlechten Stadtteilen von Frankfurt/Oder. Hier eher erstaunlich, wenn auch nur wenige Gebäude fein herausgeputzt sind, so sind doch die meisten Wohngebäude in einem trüben, aber soliden Zustand. - Freundlich und mißtrauisch zugleich grüßen die geöffneten Fenster-Platznehmer zurück. Was sie wohl denken? Mit meinem Fotoapparat konzentriere ich mich jedenfalls auf die Historie. Das Elend muß ich nicht vorführen, jedenfalls dann nur zum Verändern, zum Wachrütteln, Verantwortliche zu mahnen. - Jetzt bin ich müde, kaputt, überfordert an Leib und Seele. Es tut mir gut, die Freude der Herbergsmutter zu spüren, als ich die Apfelsinen mit ihr teile. Die Begegnung im Obstgeschäft fällt mir dabei wieder ein: Sehr unsicher, ohne Sprache deutete ich dabei auf die Früchte. Die Rückfrage bedeutete wohl, wieviel ich haben wolle. Noch bevor ich nach mit Zeichen verständlich machen konnte, sprach mich eine gepflegte ältere Dame in tadellosem Deutsch an, wollte behilflich sein. Mein Blick suchte irritiert den ihren. Sah ich so deutsch aus? Warum war sie dann so freundlich zu mir? Als unsere Augen sich trafen, meinte ich aus ihnen zu lesen: Ich weiß alles von dir. Ich kenne dein Schicksal, dein Geheimnis. Ich weiß, warum du hier bist und ich nehme dich so an. Bruchteile einer Minute - und doch bin ich nie wieder so wissenden Augen begegnet. - Das will verarbeitet sein: Freude und Trauer, Schmerz und Unsicherheit, Spannung und nochmals Spannung.
Sonntagabend, 5. August 1990:
Der Badetag am Schützensee liegt hinter mir. Jetzt schlendere ich, ganz offen mit den Sinnen, mit dem Herzen durch den sonntäglichen Abend in Richtung Warthe. Theaterstraße - Theater, leider Ferienzeit. Durch den letzten Bahndammbogen an dem alten Speicherhaus vorbei. Dort werden Kleidungsstücke zu Großabnehmer Preisen angeboten. - Oben am Kai bleibe ich stehen. Ich habe alles vergessen, schaue auf den Fluß in seiner abendlichen Ruhe. Sie überträgt sich wohltuend auf mich. Sein geschwindes Gleiten durch die Brücke, in die Ferne, durch die Auen, das Bruch: Ziehe deinen Weg, bis Küstrin - Oder. Drüben erhebt sich die Brückenvorstadt, der Turm der Lutherkirche. Weiter links erstrecken sich schon bald die Wiesen und das Grün der Büsche, Bäume. Die Abendsonne läßt alle Farben und Konturen in warmer Intensität hervortreten. Heute abend noch liegt das Bollwerk verlassen da. Morgen schon tobt wieder der Schwarzmarkt unter dem Brückenbogen. Ich entdecke noch einen alten Wasserstandsmesser, gleich links neben der Brücke. Noch aus der Kaiserzeit?
Montag. 6. August 1990:
Heute habe ich Schwung, wieder etwas zu unternehmen: Brückenvorstadt. - Meydamstraße/Hin-denburgstraße, der Marktplatz hinter der Marienkirche. Ein Teil von dem alten Paucksch-Brunnen steht noch. Für Uneingeweihte scheint die neue Lösung/Gestaltung des Brunnens ganz sinnvoll. Mit Wasser wird gespart. Aber ich freue mich an den Kindern, die um den Brunnen herumtoben. Daneben: Kleine diebstahlsichere Blechverschläge. Jetzt sind sie geöffnet: Aldi-Ware, Gewürze und allerhand Diverses, auch Tee und Kaffee. Abends wird der Stand wieder wie ein "auf dem Kopf stehender Koffer" zusammengeklappt und sicher verbarrikadiert.
Am Bollwerk summt der Schwarzmarkt. Ich schlendere hindurch, will mich aber nicht aufhalten. Kurze Blicke in junge und alte Gesichter. Hier bietet jeder jedes an, was zu entbehren ist. - Der Blick von der Gerloff-Brücke und später vom Rundungswall auf Warthe, Marienkirche, Stadtsilhouette begeistert mich. Eigentlich nichts schön - außer dem Fluß - aber alles vertraut, heimatlich. Hier am Rundungswall, Brückenvorstadt, starrt mir Armut entgegen. Hinter abgetakelten Häusern vermute ich Fabrikanlagen. Die Probstei, eine enge, graue Straße, führt mitten hinein. Ich verweigere mich, bleibe noch am Wasser. Dort hinten folgt die Straße schon der Uferböschung, biegt nach rechts. Ich schaue rüber zum anderen Ufer, vorbei an den beiden Anglern, die hier, wie sonst auch in Europa, natürlich im Trüben fischen. Drüben das Gebäude muß zur Versuchsanstalt gehören. Ein langgestreckter gelber Fachwerkbau leuchtet in der Sonne. Mein Blick folgt dem Warthebett, gleitet flußaufwärts. Dort hinten im Dunst irgendwo die Netze, der Bogen. Über die Felder - noch mehr Sehnsucht. Ich werde über die heimatstädtischen Grenzen hinaus müssen, irgendwann. - Ein Stichkanal nach rechts. Noch weiß ich nicht, daß hier der Winterhafen liegt. Noch muß ich erst das prunkvolle Haus entdecken. Total verblüfft, als ich hinter einem schmiedeeisernen Zaun die Prunkvilla entdecke. Wie kommt die denn her? Blöde Frage - steht mir als "Entdeckerin" jedoch zu. An der Pforte zwei ineinander verflochtene Buchstaben: "P" und "H" - nein "H" und "P", das macht Sinn.
Landsberg, Die Pauck'sche VillaPaucksch-Brunnen, Paucksch-Fabrik, klar, das muß die Paucksch-Villa sein. - über der Eingangstür eine große Schrifttafel. Ich lese etwas von "Kultura". Fachschule? Seminar? - Ich wage es einfach. Betrete das Grundstück. Wenigstens eine Aufnahme machen. An dem Haus vorbei, in den hinteren Teil des Gartens. Ein ... zwei Kokshaufen stören meinen Schönheitssinn. Besser so als gar nicht. Klick. Ein kleiner Mann in Hemdsärmeln "schießt" aus dem Haus, direkt auf mich zu. Aufgepaßt! Stelle mich dumm; gleich gibt's Ärger. Ein verschlossenes Gesicht fragt auf polnisch. Ich läch'le - läch'le zurück, weise, auf das Haus, den alten Obstgarten; eine Geste, die Bewunderung ausdrückt; zeige auf den Fotoapparat und sage: "dobry". Der merkt glatt, daß ich Deutsche bin. Gleich schmeißt er mich raus. Denkste, ich soll ins Haus ihm folgen. Jetzt sieht er schon freundlicher aus, und ich bezweifle, ob er überhaupt ein abweisendes Gesicht machen kann. - Die Diele des Hauses ist prunkvoll. Überall dunkle Täfelung. Die Treppen winden sich an den Wänden hinauf, gestatten einen weiten Blick bis ins oberste Geschoß. Wahrlich ein Herrenhaus! Mein Begleiter öffnet eine Tür: eine Schulklasse oder Jugendgruppe guckt in den Fernseher, starrt mich aber sofort beim Eintreten an. Ich bin irritiert . Mein Führer weist gegen die Zimmerdecke, die Augen folgen : "oooh!!" Bewunderung und Überraschung platzen aus mir heraus. Die Kinder lachen - ich auch. Aber mein Blick bleibt begeistert an der Decke hängen: wie kunstvoll, wie liebevoll restauriert! Wir gehen durch die nächste Tür: Viele Fenster, Blick auf eine große Terrasse. Wieder der Finger an der Decke. Noch beeindruckender - wenn das möglich ist. Zur nächsten Tür: Die Bibliothek. Wertvolle Hölzer, überall: Mobiliar, Schrankwände und -regale. Wieder eine wundervolle Stuckdecke. Hier hat Jemand verstanden zu leben, hier hat Jemand aus dem Vollen schöpfen können! Welch krasser Gegensatz zu den grauen Häuserreihen! - Die Terrasse draußen läßt mich denken: "Schloß Mirabelle". Springbrunnen, zwischen den Steinplatten wuchert das Unkraut. Die beiden nackten Kerlchen streiten sich noch immer um das erhobene Schwert. Über allem ein achteckiger Turm, steigt in den Himmel, krönt sich mit einer Balustrade, den Späher, den Weitblicksucher zu schützen.
Landsberg, WinterhafenIm Winterhafen liegen - dem Worte trotzend - dennoch Kähne: Sind es die alten Warthekähne - noch immer? Es reizt mich, näher zu treten, aber das Gelände ist abgezäunt. Der Rundungswall macht seinen Namen alle Ehre, denn schon wieder entschließt er sich, in die Rechtskurve zu gehen. Vor mir ein ganz friedliches Bild: Der Brenckenhoff-Kanal. schilfbewachsenes Ufer, das bald in saftiges Gras übergeht. Drüben ein paar Kühe. In südöstlicher Richtung ahne ich noch einmal Zielenzig, Drossen. - Die Stille gilt nur hier. Dort hinten, auf der Kanalbrücke donnern die Autos, Pkws und Kleinlaster in Richtung Eulam, Kernein, Altensorge. Auf der Brücke stehend erkenne ich schon die nächste in der Ferne, die Eisenbahnlinien Schwerin - Meseritz - Zielenzig, heute aber auch nach Küstrin über Kriescht. Am Brückenende/Dammstraße steht ein Restaurant. Der Veranda-Vorbau erscheint mir so vertraut und so typisch für deutsche Restaurationsbetriebe. Wenn ich die Zeit wieder einmal um 50 Jahre zurückdenke, sehe ich das Lokal geöffnet. Ein paar Fuhrleute trinken ihre Molle, bevor sie die Fahrt ins Land, über die Brücke antreten; vielleicht eine Schar Arbeiter, so gar ein oder zwei Arbeiterinnen aus der Jute-Fabrik oder der Pauckschen Maschinenfabrik - auf dem Weg nach Hause; vielleicht noch ein paar verirrte Stadtbesucher, Wanderer. Dort hinten aus den Bäumen ragt der Turm der Luther-Kirche weit hervor. Dort muß der Priester wohnen, Wachsbleiche.
Viel unbebaute Flächen hier, links und rechts der Dammstraße. Altlasten? Gegenüber der Kirche, gleich an das Mietshaus geklatscht: ein bäuerliches Anwesen, ein Stall - heute Vulkanisieranstalt. Wachsbleiche, das violette Klinkergemäuer der Kirche - die Sonne läßt es auf-
leuchten. Im nächsten Jahr werde ich hingehen, jetzt bin ich zu müde. Möchte aber unbedingt noch zum Bahnhof. Als ich davorstehe, weiß ich, daß ich "es" eigentlich nicht mehr so nennen kann. "Wenig Bahnhof", aber Perons und Gleise, ein altes 00-Häuschen. - Die Bahnsteige füllen sich. Schichtwechsel? Das Bier schmeckt auch hier - Feierabend. Einfahrt hat der Zug nach Küstrin! Wieder dieses seltsame Gefühl: Hier - ich - Landsberg - Küstrin - ein Traum ist wahr. Trauer, Freude, Abenteuerlust; Sehnsucht - nach was? Irgendwo eingebettet zu sein? Vergangenheit, Familiengeschichte zu haben. Nicht, überall "bodenlos", reingeborgt, zerrissen zu sein. - Zimmerstraße, Turrastraße, Wall. Noch einmal der beeindruckende Bau des Proviantamtes. Riesig, gut in Schuß. - Gegenüber der Marienkirche das Selbstbedienungsrestaurant. Es ist voll. Ich stelle mich in die Schlange: Kartoffeln, Tomatensalat, Landeier. Oh, ehe ich es vergesse: Vanillepudding mit Kirschen. Alles für 80 Pfennig. Warum ich nur einen leeren Tisch gesucht habe? Vielleicht weil ich noch zu befangen, zu "neu" bin. In den nächsten Tagen, schon morgen werde ich für Gesellschaft sorgen. - Die "Himmelspforten" der Marienkirche stehen einladend offen. Einige Touristen, einheimischer Art, einige Beter. Die protestantische Kirche ist katholisch geworden, ganz eindeu tig. Ich fühle mich nicht sonderlich berührt von dem mit Schummerlicht gefüllten Kirchenschiff. Mich beeindruckt mehr, daß an der nördlichen Außenfassade Restaurationsarbeiten ausgeführt werden - und werfe einen Geldschein in den Opferstock. Dafür. - Heimweg Kladowstraße 8: Ein Cafe an der Ecke Neustadt/ Hindenburgstraße. Gute Idee, aber da tauchen genau an den beiden Gartentischen die torkelnden Gestalten auf. Schade, so nett gelegen, so ein interessanter Beobachtungsposten. - Ich tröste mich mit einer Tüte voll Äpfeln.
Landsberg, Friedhofskapelle
Freitag, den 10. Aug. 1990
Gegen 9 Uhr trete ich auf die Straße. Der Himmel ist grau, und es nieselt. Mein Rucksack drückt auf den Rücken. Wie ist mir? Landsberg - Gorzów, ein Traum? Nein, nun ist es auch meine Wirklichkeit geworden. Ich werde zurückkehren. Ich verlasse die Stadt wie eine warme Stube, in die man zur Winterzeit zurückkehren will. Auf dem Weg zum Bahnhof noch ein paar Gedankensplitter, Orte der letzten Tage: Die "Provinziale", der Friedhof, das Gut. Die Friedhofskapelle steht noch. - Soldiner Straße, Stadion und Kasernen. Zechower Straße: Konkordienkirche, Heilig-Geist-Kirche. "Treppenrutschen" in der Schröder'schen Villa, weil die breiten Holzstufen dazu einladen, weil niemand in der Nähe ist. -
Ich löse eine Fahrkarte bis Witnica, bis Vietz. Vom Bahnsteig aus schaue ich den Firmem zu, die gerade den alten Wasserturm demontieren. Laßt das doch! Ich möchte immer alles festhalten . . . doch es gelingt mir nicht. - Auf die Karte an Else schrieb ich vor ein paar Tagen: Der Sommer ist heiß, die Ernte steht gut. In der nächsten Woche werde ich in Groß-Cammin, bei Oma M. vorbeischaun. Sie wird schon warten . . .
Fortsetzung folgt
Helga Müller * 1942 in Landsberg
jetzt: Alsterdorfer Straße 163, W 2000 Hamburg 60
Alle Fotos: H. Müller, 1990
Erstellt am 14.10.2016 - Letzte Änderung am 14.10.2016.